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Raftel (1)

When Spirits Are Calling My Name ...
von

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48 - Nationalgalerie

Einst als Komplex für Nobelappartements aus dem Boden gestampft, ruhte das überdimensionale Gebäude nun verwahrlost auf dem Hügel des teuersten Stadtviertels von Fyrby, wo sich einst Reiche, Schöne und jene, die sich dafür hielten, die Klinke in die Hand gaben. Wie ein Hufeisen umschloss es sanft einen nun verwilderten, parkähnlichen Innenhof mit mittlerweile trockenem Swimmingpool. Obwohl die Anlage sich in eine Höhe von fünf Stockwerken empor streckte, schmiegte sie sich elegant an die angrenzenden Berghänge an und wirkte für den Betrachter kleiner, als sie im eigentlichen war. Die Architektur war schlicht, aber dennoch edel. Hohe Fenster, große Balkone und Freiterrassen zierten die jetzt heruntergekommene Fassade und boten den ehemaligen Mietern viel Platz für Stehpartys, Cocktailgeschlürfe und Smalltalks über den herrlichen Ausblick weit über die Dächer der Stadt bis hinüber zum Meer am Horizont.

Gegenwärtig war jedoch von all dem Luxus vergangener Tage nichts mehr zu sehen. Müllcontainer quollen über und hatten mittels Wind und Wetter ihren Inhalt über das gesamte Areal verteilen lassen. Hier und da wehten schwere Samtvorhänge durch eingeworfene Fensterscheiben, Poolliegen waren zerschlitzt, Briefkästen überfüllt von Post, die niemand abholen würde, und Dreck lag in allen Winkeln und Fluren. Kreuz und quer moderten Möbelstücke und Sperrmüll in den Treppengängen vor sich her. Regenwasser tropfte durch die Decken und zerstörten die wertvollen Tapezierungen. Ein bestialischer Geruch von Versiffung durchzog das ganze Haus. Es glich im Großen und Ganzem dem Heim von Mietnomaden mit Messie-Syndrom, welche längst Reißaus genommen hatten.

Weit oben im Westflügel des Gebäudes reihten sich Einzimmerwohnungen eng aneinander den Flurgang entlang. Auch wenn die Korridortüren längst verdreckt waren und bei jeder Bewegung in den Angeln lärmten wie ein Quietschentchen, trugen sie immer noch stolz auf einem mittig angebrachten Schild ihre Zimmernummer in goldenen Hochglanzziffern. Eine dieser Türen führte in den Raum 529 und ließen den Besucher auch sogleich mitten im Chaos stehen. Eine längst getrocknete Blutlache hatte den guten Teppich verdorben und den Mietpreis empfindlich gedrosselt. Rechter Hand war ein riesiges Loch in der Wand und gab den Blick in das Zimmer 530 frei. Linker Hand knickte der Raum hinter einem massiven Garderobenschrank in einen Wohn- und Schlafbereich weg, an dessen Ende eine Kochzeile und die Tür in ein Bad führte. Den einzigen Blick ins Freie konnte man durch zwei große Glasflügeltüren auf den Balkon erhaschen. Mehr als eine antike Kommode, einen zierlichen Holzesstisch und eine kompakte Schlafcouch gab es nicht. Weiteres Inventar war entweder geklaut oder im Raum zertrümmert worden. Vielleicht mag die Couch einst seinen Besitzer wie auf Wattewolken ruhen gelassen haben. Jetzt war sie nass vom einbrechenden Regenwasser, der feste Stoff abgewetzt und die Sitzfedern hatten sich ihren Weg durch den Bezug nach oben erkämpft. Alles zusammen war es mehr als ungemütlich.

Selbst Zoro konnte auf so einer abgewetzten Sitzgelegenheit nicht schlafen, obwohl genau das ihm eigentlich immer und überall gelang. Mit dem Gefühl auf einem Nagelbett geschlafen zu haben, rappelte er sich gähnend auf und staunte nicht schlecht, wo er gelandet war. Erst jetzt bemerkte er, dass die Federn des Sofas schuld für die schlechte Liegequalität waren und seine Kleidung nicht nur feucht, sondern auch extrem miefig war. Genau wie das Sofa. Überhaupt war die Luft mehr als bestialisch stinkend und abgestanden, weshalb er auf der Stelle überzeugt war, diesen Raum zu verlassen. Aber wohin?

Während er sich erhob und seine Schwerter wieder an seinem Haramaki befestigte, konnte seine Nase schnell die Ursache der Geruchsbelästigung ausmachen. Ein geschicktes Anschubsen mit dem Fuß verschloss die geöffnete Tür zum Bad, worin es aussah, als hätte es über die gesamten Badausstattung von der Zimmerdecke her Erbrochenes geregnet. Was für ein abstruser Ort!

Der Schließmechanismus der Korridortür war eingerostet und da man nie wissen konnte, was einen auf der anderen Seite erwartete schlüpfte Zoro leise durch den Durchbruch in der Wand in den Nebenraum. Sauberer war es hier auf keinen Fall, nur die Einrichtung unterschied sich von der Nachbarwohnung. Aber interessanter war es hier auch nicht. Wenigstens ließ sich die Tür zum Gang problemlos öffnen.

Er spähte aufmerksam zu beiden Seiten in den dunklen Gang und mutmaßte, zumindest augenscheinlich allein zu sein. Noch einen Moment verharrte er an Ort und Stelle, dann machte er sich auf. Viele Geister riefen und schwirrten umher, von denen er nichts wissen wollte. In seinem Kopf drehte sich alles. Vor seinen Augen verschwammen Konturen und erleichterten seinen Weg im Halbdunkeln nicht sonderlich. Nur mit Mühe hielt er sich auf den Beinen und wankte voran. Noch nie gehörte er zu denjenigen, die sich Schwäche hätten jemals anmerken lassen, aber es ging definitiv nicht anders. Sein Gesicht glühte wie ein Stück Kohle. An die nasskalte und verschimmelte Flurwand gelehnt, suchte er Kühle, die etwas Linderung brachte. Seine körperliche Schwäche konnte er sich nicht erklären. Er wollte nur raus aus diesem merkwürdigen Gebäude. Da verzichtete er lieber auf einen Gefühlswellencheck, um die innere Verwirrung nicht noch größer zu machen.

Stunde um Stunde waren bereits vergangen, doch die Gänge von einer Treppe zur nächsten schienen kein Ende zu nehmen. Immer wieder versperrten verschlossene Türen, Sperrmüll, eingestürzte Wände und Decken den Weg, so dass er gezwungen war, sich über Umwege durch die verlassenen Wohnungen kämpfen musste. Sonderbares kam da zum Vorschein. Manch ein Appartement war frisch renoviert, manch ein anderes wieder vollkommen abgewohnt und verstaubt, dann wieder eines total zerstört und vermüllt. Da war einmal eine Küche, in welcher noch Wasser aus dem Hahn lief oder eine Stube, in welcher noch Licht brannte und ein aufgeschlagenes Lesebuch auf seinen Leser wartete, der ewig verschollen schien. Dann waren da ein Fotolabor mit frisch entwickelten Bildern auf einer Trockenleine. Doch die Gesichter waren alle kreisförmig verzerrt. In einem anderen Raum hatte jemand Insekten präpariert und in Rahmen aufgehängt. Es flog kein einziges Tier, doch man konnte sie hören wie ein Wespennest im Angriff. Doch am sonderbarsten empfand er den Raum, wo eine alte Kinokamera eine Endlosschleife abspielte. Sie zeigte nichts anderes, als eine flackernde Glühbirne, die von Motten umkreist wurde. Da war der Raum nebenan mit seiner weißen Tapete und den roten Klecksen in Form von Blutspritzern nichts dagegen. Und so zog Zoro weiter und weiter durch das Haus.

Orientierungssinn hin oder her: Abgesehen von den mehr als verrückten Raumausstattungen hatte er das dumpfe Gefühl, hier mehr als an der Nase herumgeführt zu werden. Schon einige Treppen war her hinabgestiegen. Aber dem Erdgeschoss schien er nicht näher gekommen zu sein. Zimmernummern und Wohnungen wiederholten sich, obwohl er nicht ein einziges Mal kehrt gemacht hatte. Das Haus war verhext. Mittlerweile bestand seine Strategie aus nichts anderem, als in jedem Gang auf jede Klinke zu drücken und die nächste Wohnung unter die Lupe zu nehmen. Der Versuch, einfach eine Wand ins Freie einzureißen, war schon beim ersten Schlag gescheitert. Er zielte auf wackeligen Beinen, führte seinen Angriff aus und landete auf dem dreckigen Fußboden. Tatsächlich hatte er das Gleichgewicht verloren. Auf diese Art und Weise war es noch nie um ihn geschehen gewesen. Seine Körperkontrolle war mehr als außer Kraft gesetzt. Also wankte er weiter, sich nun bereits schon dauerhaft an der Flurwand abstützend.

Noch eine Klinke und noch eine Treppe. Zimmer 112. Die letzten fünf Male war diese Tür verschlossen. Nun sprang sie auf, als wäre es das einfachste von der Welt. Zoro hatte aufgehört, sich über so etwas zu wundern und es als verdächtig einzustufen. Die Wohnung dahinter war ordentlich, gewöhnlich und verlassen, so wie alle anderen Wohnungen auch. Aber zur Abwechselung stand die Balkontür sperrangelweit auf. Endlich ein Ausweg. Er zog den Vorhang beiseite und konnte sich gerade noch rechtzeitig daran festhalten. Anderenfalls wäre er ein Stockwerk in die Tiefe gestürzt, wie bereits der Balkon vor ihm, der nun dort unten auf den Pflastersteinen zerschmettert lag. Weiter sah man im Innenhof nur den leeren Swimmingpool, ein paar der Gartenliegen und Beistelltische. Der Rest ließ selbstlos sich vom Nebel verschlucken.

Die frische Luft tat gut in den Lungenflügeln, beseitigten aber nicht die Schwindelanfälle. Dennoch stand es für den Schwertkämpfer außer Frage den Sprung in die Freiheit zu wagen. Es glich jedoch mehr dem Sturz eines Mehlsackes, wie er unten auf dem Boden aufschlug und böse Schmerzen in unzähligen Knochen empfand. Vollkommen zeitlos blieb er alle Viere von sich gestreckt eine Weile auf dem Rücken liegen, starrte in die Nebelschwaden über ihm und begann sich mit geschlossenen Augen zu konzentrieren. Wenigstens wollte er wissen, ob seine Freunde in der Nähe wären. Es gelang ihm nicht und mit jeder Übung, um zur inneren Ruhe und Mitte zu gelangen, hämmerten Schläge in seinem Kopf los, die sich mit Kumas Schmerzblasen auf eine Stufe stellen könnten. Die Pflastersteine unter ihm waren eiskalt und er drehte seine Schläfe zu diesen mit der irrsinnigen Annahme, die Kälte würde den Schmerz einfrieren. Leicht öffnete er die Augen, als er meinte, ein Geräusch vernommen zu haben. Die Welt um ihn herum war plötzlich schwarz geworden. Ja, das kannte er, wenn sich sein zweites Ich durchsetzte. Und diesmal wurde ihm auch klar, was da jedes Mal passierte. Einzelne Konturen vom Innenhof in Komplementärfarben hoben sich umrisshaft aus dem Schwarz hervor. Es war die Welt in der er eben noch war und doch nicht: Er konnte in einer Parallelwelt wandern.

Um diese Erkenntnis reicher, aber ohne einen Sinn darin zu sehen, wozu man so etwas jemals gebrauchen könnte, drehte er sich auf die Seite. Seinen unterkühlten Rücken spürte er nicht mehr. Grüne Funkenlichter stiegen von ihm auf. Langsam, warm und vertraut. Nein, er wollte nicht ausblühen. Ein Steinbrocken vom Balkon lag in der Nähe. Mit einem verzweifelten Ausholen ergriff er das Stück Beton und drückte es in seiner Hand wie eine Zitrone zum Auspressen. Der Brocken zerbröselte und zerschnitt seine Handfläche. Blut quoll hervor und tropfte auf den Boden. Doch es half und der Spuk verschwand. Besser ging es ihm davon aber nicht. Langsam rappelte er sich hoch und kroch von Schwindelanfällen geplagt auf Händen und Füßen vorwärts bis zur nächsten Liege.

Wie lange er dort gelegen haben mochte, war absolut belanglos. Es war nur von Bedeutung, dass seine Lebensgeister wiederkehrten und ihm erlaubten, seinen Weg ins Nirgendwo fortzusetzen. Gerade wollte er gehen, als sein Blick auf den kleinen Beistelltisch fiel. Dort lag ein Brief, der vorhin noch nicht dort gelegen hatte.

„Für Zoro“, war auf dem Kuvert in einer künstlerischen Schnörkelschreibschrift zu lesen. Der Adressat wunderte sich über nichts mehr. Weder warum er sich hier mutterseelenallein in einer verhexten Wohnanlage aufhielt, noch dass ihm jemand einen Brief schrieb, obgleich hier niemand war, der ihn kennen könnte. Unbewusste blieb sein Blick am Poststempel hängen und wünschte sich im nächsten Moment, lieber ein Analphabet zu sein, um solche Informationen nicht lesen zu müssen. Der Stempelort war unkenntlich, jedoch nicht das Datum vom 11.11.1502. „Die Post hat wohl länger mit der Zustellung gebraucht“, dachte er zynisch bei sich.

Durch das Büttenpapier fühlte er einen Gegenstand in dem Brief eingeschlossen. Emotionslos riss er den Umschlag mit den Fingern auf. Ein kleiner Schlüssel rutschte heraus und mit ihm eine kleine Nachricht:

„Ich warte auf dich, mein Schatz! Wir treffen uns in der Nationalgalerie. Die Karte findest du im Briefkasten in der Eingangshalle.“

Zoro verzog das Gesicht. Auch wenn er nicht so recht wusste, was er sich von dem Inhalt versprochen hatte, so war es sicherlich kein Date mit einer anonymen Person an einem Ort voller Tod und Horror gewesen. Es war auch mehr als schleierhaft, warum er nun wieder in dieses widerliche Gebäude hineingehen sollte, um Briefkästen zu durchwühlen. Die Post fremder Menschen ging ihn nun wirklich nichts an. Immerhin war er doch gerade eben recht froh, dem Komplex endlich entkommen zu sein. Man hätte zudem aus reiner Freundlichkeit die Karte auch diesem Brief beifügen können. Nein, so was ging gar nicht und Zoro war kurz davor, den Brief einfach liegen zu lassen. In Gleichgültigkeit war er sehr gut geübt.

Andererseits fraß sich der Gedanke in seinem Kopf fest, wer seit seiner Geburt ausgerechnet an diesem Ort hier auf ihn warten würde. Und zudem wäre der Blick auf eine Karte sicherlich nicht der Verkehrteste. So wüsste er wenigstens, wo er auf der gesamten großen Welt gelandet war. Redline, Calm Belt? Grandline? Einer der Blues? Seufzend wandte er sich der Eingangstür zu, die gnädigerweise offen war. Zur Eingangshalle mit den vielen hunderten Briefkästen waren es nur wenige Meter und „hundert“ war wirklich nicht untertrieben. In langen Reihen rechts und links der großen Eingangstür hing Kasten neben Kasten wie Perlen an einer Schnur aufgefädelt. Langsam ging er an den Kästen entlang und versuchte die verblichenen Namen zu lesen. Nicht jeder Kasten war beschriftet oder aber dessen Schild unleserlich geworden. Zoro hatte genug und riss nun genervt den Inhalt der Postfächer heraus. Alles was er davon nicht brauchte oder nicht nach dem Gesuchtem ausschaute, fiel achtlos auf den Fußboden. Wen würde es schon stören?

Nach einer halben Ewigkeit hielt er den richtigen Brief in den Händen: selbes Kuvert, selbes Papier und selbe Schrift. Tatsächlich war ein Stadtplan enthalten und ein mit dickem Rotstift umkreister Ort kennzeichnete die Nationalgalerie. Allerdings wurde er nicht so recht schlau aus der Karte, wo er selbst sich befinden würde. Also steckte er den Plan ein und trat durch den Haupteingang ins Freie. Der Nebel war dicker als Erbsensuppe. Es war kaum möglich über den Vorplatz zu sehen, an dessen Ende sich nahtlos der Kiefernwald anschloss. Der Logik folgend, hielt er sich Hügel abwärts, wo er eher eine Galerie im Stadtzentrum vermutete als in Richtung Wald. Der Nebel wurde dichter und dichter. Mittlerweile lag die Sichtweite unter 25 Metern. Zoro hatte keine andere Wahl, als den Straßenschildern glauben zu schenken, die ihm den Weg ins Stadtzentrum wiesen. Man selbst hatte das Gefühl durch Wolken zu laufen.

Die einsame Landstraße zog sich in die Länge und nichts gab den geringsten Anhaltspunkt, wo er sich befand. Kiefernwald und Sandboden säumten den Straßenrand. Alle paar Kilometer gab ein Meilenstein die zurückgelegte Entfernung an und dann tauchte eine Kreuzung auf. Ohne irgendein Hinweisschild. Verdammt. Ratlos stand der Schwertkämpfer in Kreuzungsmitte und drehte sich langsam um sich selbst. Es war kaum etwas zu sehen. Nur ein Leichter Schatten in der einen Ecke hob sich gegen die weißen Schwaden ab. Der Schatten versprach unerhofft Hilfe: eine Haltestelle für den Pferdebus. Neugierig trat Zoro näher und kramte wieder den Plan hervor. An dem Halteschild waren Fahrpläne angeschlagen und tatsächlich eine Route.

„Gammel Vej/Klitvej“, entzifferte Zoro seinen Standort laut. Das war doch mal Glück! Tatsächlich fand er nun auch die Kreuzung seinem Plan und schätze mit der Handbreite am Maßstab ab, wie weit es noch bis zum Ziel sein mochte. Vielleicht eine gute halbe Stunde. Zumindest schien er bereits Dreiviertel des Weges geschafft zu haben.

Und wieder machte er sich auf den Weg. Immer entlang der Haltestellen und nun auftauchenden Straßenschilder. Die ersten Vorstadthäuser tauchten aus dem Nebel auf. Leere Fenster gähnten den einzigen Besucher in den Gassen an und ließen ihn willenlos passieren. Zoro irrte umher. Entweder passte die Karte nicht mehr oder seinem Orientierungssinn war auch mit einem Plan nicht mehr zu helfen. Stunde um Stunde schlenderte er durch das Straßengewirr, ließ seinen Blick über die Häuserfassaden streifen und nahm nicht einmal zur Kenntnis, dass die Dunkelheit über ihn hereinbrach. Die Nacht senkte sich wie eine große Käseglocke des Vergessens über allem. Erst als sich die Straßenlaternen entflammten, stellte er fest, wie lange er hier schon umhergegangen sein musste. Dieser Ort war merkwürdig. Er nahm einem jegliches Zeitgefühl, war heruntergekommen, menschenleer und machte einen mehr als depressiv und gleichgültig.

Die Häuser hörten auf und die Straße änderte sich abrupt. Sie war zwischen den Kopfsteinpflastern aufgerissen. Heißer Dampf strömte dort aus und kochte die Umgebung. Bäume und Sträucher waren verkohlt wie nach einem Waldbrand und von einstigen Gebäuden sah man nur noch die Grundmauern, wenn nichts sogar nur noch die Bodenplatten.

Etwas ganz anderes rauchte dort in der Ferne unter einer Straßenlaterne, wo eine Parkbank stand. Oben auf der Lehne hockte jemand und hatte die Füße auf der Sitzfläche stehen, was wegen dem Dreck auf der Bank nur allzu verständlich schien.

Man hätte wohl jeden auf der großen, weiten Welt antreffen können, aber man traf meist nur die Negativgestalten. Aber so war es nun einmal.

„Was treibst du hier?“ kam es von dem Zigarettenraucher herüber.

„Selber!“ gab Zoro zurück und ging auf den Smutje der Strohhutbande zu. Auch wenn er es nicht zugab, war er doch etwas froh, jemanden gefunden zu haben, der nicht orientierungslos war. Von seinem mysteriösen Treffen wollte er Sanji jedoch erst einmal nichts sagen. Hohn und Spott wollte er sich derzeit nicht anhören.

„Wo ist der Rest? Hast du etwas von Namilein, Robinchen oder Tashigi-Maus gehört?“ fragte Sanji nachdenklich ernst und versankt dann sogleich in Sorge. „Wenn ihnen doch nur nichts passiert ist an diesem schrecklichen Ort?“

Zoro tat mehr als unschuldig und antwortete nur: „Schrecklich?“ Und schluckte den Funken Ärger und Eifersucht herunter, als Sanji Tashigi mit einem albernen Kosewort betitelte.

„Hast wohl wieder die ganze Zeit gepennt, Marimo? Die ganzen `rumrennenden Monster und merkwürdigen Dinge, die hier passieren, kann man doch gar nicht übersehen!“ blaffte der Koch nun los. Für soviel Ignoranz der eigenen Umgebung hatte er absolut gar kein Verständnis.

„Aha“, gab der andere nun doch merklich erstaunt zurück. Wenn Sanji die Umgebung auch als so horrormäßig wahrnahm, dann waren es keine Einbildungen, sondern tatsächlich Realität. Es hatte also diesmal nichts damit zu tun, dass er im Gegensatz zu anderen Menschen Geister sehen konnte. Zoro hockte sich zu seinem Nakama auf die Banklehne und kramte die Karte hervor.

„Guck’ mal, wo wir hier sind“, beauftragte er abfällig seinen Banknachbarn, sich den Plan genauer anzusehen.

„Wo hast du die denn her?“ Nun lag das Erstaunen auf Sanjis Seite. „Was soll der rote Kreis da?“

„Kein Plan, aber da geht’s hin“, gab der Gefragte tonlos zurück.

Unter aufflackerndem Protest des Smutjes zogen beide weiter die Straße hinunter in die neblige Dunkelheit, nachdem der Jüngere mittels der Karte den Weg klar gemacht hatte. Schweigend und wachsam.

Nur gute zwanzig Minuten später standen sie vor einem Haus, welches zu recht die umgangssprachliche Bezeichnung „alter Kasten“ tragen müsste. Ein Stockwerk maß sicherlich an die drei bis vier Meter Höhe und davon gab es geschätzt an die drei. Der alte Schuppen schloss obig mit einem kupfernden Kuppeldach ab, das aber über die Jahrzehnte bereits zu einer grünlichen Farbe oxidiert war. Der Schlüssel aus Zoros Brief passte wie frisch gefeilt in das Schloss und ließ sich so leicht drehen, als hätte es nur auf den Schlüssel gewartet.

Sanji verschluckte die Frage, woher in aller Welt sein Mitstreiter den passenden Schlüssel besaß. Kaum waren beiden in der großen Innenhalle angekommen, fiel auch schon die schwere Eichentür hinter ihnen krachend ins Schloss.

Es roch muffig in den weitläufigen Räumen, aber das elektrische Licht brannte schwach und flackerte gelegentlich. Die Wände waren zugepflastert mit Malereien, die man im Halbdunklen aus der Ferne kaum zu erkennen vermochte. Jedes Bild war eingefasst von einem schweren, breiten Goldrahmen. Alles in allem war die Nationalgalerie tatsächlich ein Museum für richtig alte Bilderschinken, die sich hier schon seit Jahrzehnten abhingen und den Besuchern ihre Kunst darboten.

„Schau dich mal mit um, ob du hier entweder so einen Brief oder eine Person findest.“ Dabei schwenkte er Sanji mit dem Kuvert vor der Nase herum. „Ich bin aufgewacht und da lag dieser Wisch.“

Die Nationalgalerie war groß und verlassen. Dennoch hatte sich kaum Staub abgesetzt und es wirkte alles sehr gepflegt, obwohl der ein oder andere helle Fleck an der Wand vermuten ließ, dass Kunstdiebe sich hier bereits schon einmal kräftig bedient hatten. Von einander getrennt schlenderten Zoro und Sanji suchend durch die Gänge, doch mehr als Bilder und Erklärungstafeln gab es nicht. Als sie nach gut zwei Stunden wieder in der Eingangshalle aufeinander trafen, waren sie nicht schlauer als zu Beginn. Sie ließen sich nachdenklich an einer Wand nieder und starrten gedankenlos auf den alten Schinken ihnen gegenüber. Sanji qualmte genüsslich an seinen Zigaretten, während Zoro nichts anderes zu tun hatte, Als ein Nickerchen zu halten.

Auf dem alten Schinken hatte der Maler eine Kunstvolle Vase malte, in welcher ein großer Strauß Sommerblumen steckte. Sicherlich war das Bild mal sehr farbenfroh, aber der Fixierer hatte die Farben gedunkelt. Nur noch leicht konnte man die Margeritten und Sonnenblumen erkennen, während die grünen Stängel und Blätter im Braunschwarz untergingen. Sanji schätze das Gemälde als wertvoll ein, denn es war sehr photorealistisch umgesetzt worden, aber so viel Ahnung von Kunst hatte er dann doch nicht. Seine Blicke wanderten weiter über das Bild und seine gleichmäßig Fläche. Aber was war das denn? An der unteren Ecke hatte sich jemand irgendwann einmal zu schaffen gemacht und Farbe abgetragen. Doch darunter kam nicht die Leinwand zum Vorscheinen, sondern es machte den Eindruck, als gäbe es darunter noch ein Motiv. Er zündete sich wieder eine neue Zigarette an und erhob sich. Nun dicht vor dem Bild stehend, fing er an, vorsichtig mit den Finger an dem Loch zu kratzen, um die obere Schicht von der Unteren zu lösen. Es gelang ihm nicht, sondern die untere Schicht zerstörte sich ebenfalls. Ärgerlich!

„Hey, Marimo! Wach auf!“ sagte er laut, immer noch auf das Bild starrend. „Was siehst du da?“

Schläfrig gähnte der Aufgeweckte und blinzelte zu seinem Nakama hinüber.

„Lass es bloß wichtig sein, wenn du mich weckst!“ drohte er grummelnd.

„Quatsch nicht. Was sieht du da?“ fragte Sanji noch einmal.

„Was soll da sein? Ein Strand. Nee, ...“ Zoro blinzelte. „... Blumen?“

Nun war er wach. Das Bild änderte sein Motiv und blieb nun der Blumenstrauß in der Vase. Immer noch von Kopfschmerzen und Schwindelgefühlen geplagt, erhob er sich und berührte sanft das Bild mit den Handflächen. Ein Blitz durchzuckte ihn. Er hörte Meeresrauschen, spürte die wärmenden Strahlen der Sommersonne auf seiner Haut und schmeckte das Salzwasser im Munde. Erschrocken fuhr Zoro zurück und stierte auf seine Hand. Für den Bruchteil einer Sekunde war er in der Landschaft unter dem Vasenmotiv gewesen.

„Es sind die Bilder“, stellte Sanji nüchtern fest. „Vielleicht musst du nur das richtige Bild finden.“

„Mir ist aber nichts ungewöhnlich aufgefallen, als ich durch die Gänge ging.“

„Du warst ja auch nicht oben in den Gängen, wo ich war.“

Das stimmte wohl. Also stiegen sie die breite Marmortreppe ins oberste Stockwerk und schritten bedächtig den Flur hinab. Ein Gemälde mit spielen Kindern hatte ein Doppelbild in sich, jedoch verbarg es nur einen lichten Frühlingswald. Es gab nichts, was bis dahin die Aufmerksamkeit der beiden erregt hatte bis der Schwertkämpfer plötzlich vor einem riesigen Bild stehen blieb, welches direkt an der Fußleiste unten begann und fast am die Decke reichte. Man blickte in eine lange, nicht enden wollende Herbstallee mit knallbuntem Laub und weichen Lichteinfällen. Jedoch nicht das Motiv war interessant, sondern:

„Dahinter ist eine Tür.“

„Aha,“ kam es von Sanji zurück, der ohne großes Bitten umgehend das Bild mit einem gezielten Drehkick von der Wand beförderte. Krachend fiel es vorn über auf den blitzblanken Fußboden. Der Rahmen zerschellte, wenigstens war das Kunstwerk ganz geblieben. Die kleine Holztür dahinter war wenig einladen, quietsche unangenehm laut und führte durch einen schmalen Holzgang, über eine ebenso schmale Holztreppe auf den Dachspeicher. Hier stapelten sich große Kisten mit Kunstschätzen, waren verhängte Bilder gelagert und viel Staub. Wieder trennten sie sich und suchten den Dachboden systematisch ab.

Und dann stand es im hintersten Winkel. Zwischen vieler anderer Gemälde. Zoro zog es heraus und lehnte es an die zugige Dachschräge. Den am Rahmen steckenden Brief knüddelte er in seine Hosentasche, denn das Bild hatte schlagartig seine Geschichte erzählt, als er es berührte. Ein unglaublicher Kinofilm spielte nur für einen Moment in seinem Kopf ab, aber das mehr als genug. Mehr als er jemals sehen wollte. Ja, da war er wieder in diesem Raum gewesen, wo er heute früh erwacht worden war. Zimmer Nummer 529. Es waren nur vier Personen in diesem Raum anwesend, doch es war ein unglaublich großes Teil seines Mosaikpuzzles. Und mit dieser Sequenz wurde ihm schlagartig klar, dass mindestens die Hälfte seines kleinen, unbeutenden Lebens eine Lüge gewesen war. Eine gottverdammt Lüge.

Wütend, kreidebleich und verstört machte er auf dem Absatz kehrt und stapfte wieder den Pfad im Staub zurück.

„Sanji, wir gehen!“ rief er streng durch den halben Dachboden. Bemüht, nicht die Beherrschung zu verlieren.

„Was ist los?“ fragte der Koch.

„Später!“ kam es als Antwort tonlos zurück und für Sanji war es mehr als klar, dass hier jegliche Art von Konversation mehr als unangebracht wäre. Schweigend und mit eiligen Schritten verließen sie die Nationalgalerie.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Rhea
2008-12-30T21:54:15+00:00 30.12.2008 22:54
Bitte schnell weiterschreiben... ich liebe deinen Schreibstil
Rhea
Von:  LadyTashigi
2008-12-23T20:25:51+00:00 23.12.2008 21:25
Ahh, weiter weiter! Was ist da passiert? Ist soo interessant!
Von:  Soud
2008-12-12T11:59:28+00:00 12.12.2008 12:59
Gott ist das spannend!!!!
O___O
Ich muss unbedingt wissen wie es weiter geht!
Von:  Joka
2008-12-08T13:12:50+00:00 08.12.2008 14:12
endlich bin ich mal dazu gekommen das kapitel zu lesen.
*klatscht*
wirklich klasse. sehr interessant... ich verstehe zwar nur bahnhof, aber ich bin begeistert xD
Von:  einfach_Antonia
2008-12-01T13:26:22+00:00 01.12.2008 14:26
*Stille*


*immernoch stille*

*hust* *räusper*

Wow, ich bin sprachlos.
Mal wieder einsame spitze!
Ein super Kapitel.
Und das was mich am meisten intressiert:
Was hat Zorro gesehen??????
^-^


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