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Die Welt im Wandel

Oneshot-Sammlung zu "Dunkelheit/Vergeltung"
von

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Joseph Bell

Irgendwie wieder schon ewig lange her, dass ich was hochgeladen habe <.< Tut mir ehrlich leid.
 

Hier jetzt zumindest wieder ein kleiner Oneshot. Wer den Namen ‚Joseph Bell‘ bereits kennt, kann sich vielleicht ungefähr denken, in welche Richtung diese kleine Geschichte geht. Wem dieser Name nichts sagt (wie mir, bis zu Anfang dieses Jahres, auch), wird es unter Umständen womöglich im Laufe der Story erkennen :D Ich bin zumindest gespannt, wann bei dem ein oder anderen der Groschen fällt ;p
 

So, dann hoffe ich, dass es euch wenigstens ein bisschen gefällt!
 


 


 

Joseph Bell


 


 

Edinburgh, Schottland (1879):
 

Der Tag konnte eigentlich nie gut beginnen, wenn Necroma einen um einen Gefallen bat.

Das war Sharif schon klar, als sie sich zu ihm setzte, auf eine unschuldige und gleichzeitig auch irgendwie versteckt verschlagene Weise lächelte und zu rekapitulieren begann, wie oft sie ihm schon unter die Arme gegriffen, geholfen oder gar das Leben gerettet hätte, zum Teil, ohne dass er überhaupt etwas davon bemerkt hatte. Sharif nickte, hörte ihr mit halbem Ohr zu und fragte sich, welcher Gefallen es wohl sein könnte, den sie von ihm einfordern würde. Unter Umständen etwas normales, wie etwa einen Krieg zu beginnen oder einfach jemanden zu töten, der tags zuvor Necromas Frisur kritisiert hatte. Aber vielleicht würde sie, wie so oft bei ihr, wieder eine sonderbare Bitte äußern, der Sharif niemals im Leben hätte nachkommen können, selbst wenn er es wirklich gewollt hätte.

Somit rechnete er bereits damit, dass sie ihn bat, die Wäsche der Zwerge auf einem blauen Scheiterhaufen zu verbrennen und dabei die Nationalhymne rückwärts zu singen oder sich auf die Suche nach dem Heiligen Gral von Hinterlandhausen zu begeben, der aussah wie ein schimmeliges Stück Brot.

Als sie ihm jedoch einen Brief übergab und ihn ganz freundlich danach fragte, ob er ihn bei einem Professor in der Universität abgeben könnte, war Sharif sofort überrascht angesichts dieses seltsam normalen Gefallens, aber gleichzeitig auch wieder misstrauisch.
 

„Gib ihn Prof. Bell“, erklärte Necroma nachdrücklich. „Und richte ihm von Harriett Potter liebe Grüße aus.“ Sie begann zu kichern, als sie ihren falschen Namen benutzte, den sie seit ihrer Ankunft in Großbritannien vor einigen Jahren verwendete, um lästigen Fragen zu entgehen. „Harry Potter! Ich liebe diesen Namen!“ Erneut grinste sie, als wüsste sie etwas, das allen anderen verborgen blieb. „Aber er wird dich durchschauen, Sharif. Oh, er wird dich sowas von durchschauen!“

Sharif runzelte verwundert die Stirn. „Wer? Dieser Bell?“

„Und er wird einen Namen suchen“, fuhr Necroma fort, ohne auf seine Frage einzugehen. „Einen guten und starken Namen. Du solltest ihm von diesem Zwerg aus Manchester erzählen, der immer so lustig gelispelt hat. Und von dem Hund, den Oscar hier in Edinburgh beim alten Brunnen gefunden hat.“

Sharif hatte, wie eigentlich immer, absolut keine Ahnung, worauf Necroma eigentlich hinauswollte. Aber anstatt weiter nachzuhaken und trotzdem keine Antwort zu bekommen, nickte er einfach und würde tun, wie ihm geheißen. Denn am Ende ergab vieles, was sie sagte, trotz alledem einen Sinn. Und sei es nur, indem er Polizisten und Hunde erwähnte.

„Dann mach dich auf, ehe der gute Herr Feierabend hat!“, meinte Necroma lächelnd. „Geh und schreib Geschichte.“

Sharif hielt inne und musterte sie skeptisch. „Bitte was?“ Er verengte seine Augen zu Schlitzen. „Schickst du mich etwa da hin, weil dort irgendetwas geschehen wird? Ein Krieg, eine Bombe, irgendwas?“

Necroma wirkte vollkommen unschuldig, als sie erwiderte: „Es wird dort wirklich nichts Gewalttägiges passieren.“

„Sondern?

„Du wirst es schon sehen. Irgendwann, in ein paar Jahren.“

Weitere Ausführungen blieben aus. Und somit konnte Sharif im Grunde nichts anderes tun, als ihrer Bitte nachzukommen und zu hoffen, dass er tatsächlich in einigen Jahren die Antwort erhalten würde.
 

Die Universität befand sich am George Square, wie Sharif bereits vor geraumer Zeit erfahren hatte. Früher waren die einzelnen Fakultäten und Lehrstellen eher lose ohne richtigen Campus verteilt gewesen, doch vor ein paar Jahren hatte man ein großes Gebäude am besagten Standort errichtet, wo unter anderem auch die Medizin untergebracht war. Prof. Joseph Bell, so erzählte der Hausmeister dem Vampir, als dieser sich nach dem Büro des Gesuchten erkundigte, war eine Koryphäe auf seinem Gebiet und schon regelrecht eine Berühmtheit an der Universität. Ein Mediziner und ausgezeichneter Chirurg, der mit seinem Wissen sogar ab und an den zuständigen Behörden dabei half, Unfälle oder Verbrechen aufzuklären.

Sharif selbst hatte von dem Mann noch nie zuvor gehört, was aber, wie der Hausmeister ihm versicherte, auch kein Wunder war. „Er mag’s nicht, wenn viel von ihm geredet wird. Er ist ein Genie, hasst es aber, seinen Namen in der Zeitung oder so zu lesen. Bescheiden, der Mann, absolut bescheiden.“

Bells Büro mochte man auch als bescheiden oder zumindest als nicht allzu extravagant bezeichnen können. Es war großzügig geschnitten, mit wahrscheinlich Dutzenden von Regalen, die mit Lehrbüchern zu den verschiedensten Themen nur so überquellten. Der Großteil war verständlicherweise medizinischer Natur, soweit das Sharif nach einem kurzen Blick zu erkennen vermochte, aber auch geistes- und rechtswissenschaftliche sowie theologische Abhandlungen fanden sich unter seiner Sammlung. Ebenso befanden sich in dem Raum zahlreiche chirurgische Gerätschaften, deren Sinn und Zweck Sharif bei den meisten nicht direkt erfassen konnte und, wenn er ehrlich zu sich war, auch gar nicht wollte.
 

Begrüßt wurde Sharif von einem jungen Burschen, vielleicht gerade mal zwanzig Jahre alt, der sich zuvor mit einigen Studien beschäftigt hatte und sich nun von seinem Platz erhob, als sich die Tür öffnete.

„Ich bin Prof. Bells Assistent“, stellte er sich mit einem Lächeln vor. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Mein Name ist Ethan Smith“, sagte er, während ihm sein falscher Name immer noch etwas holprig über die Lippen kam. Er mochte ihn nicht mal besonders gern, hatte aber schon früh gelernt, dass ein englischer Name sehr viel weniger Fragen oder argwöhnische Blicke nach sich zog als ein ägyptischer. „Eine Freundin schickt mich. Harriet Potter.“

„Harriet?“, ertönte eine Stimme aus dem hinteren Bereich des Zimmers. Ein Mann schaute hinter einer geöffneten Schranktür hervor und musterte Sharif. Der Vampir hatte schon beim Eintreten dank seiner übersinnlichen Fähigkeiten bemerkt, dass sie nicht alleine im Zimmer waren, doch, um seine Tarnung auch weiterhin zu wahren, zuckte er ein wenig zusammen, als wäre er tatsächlich überrascht.

Joseph Bell entpuppte sich als Mann in den frühen Vierzigern mit markanten Gesichtszügen, die ihn ernst und seriös, aber gleichzeitig auf gewisse Weise auch wieder sympathisch wirken ließen, einer Kurzhaarfrisur und einem drahtigen Körperbau, der zumindest darauf schließen ließ, dass er dem leiblichen Wohl nicht ganz so überschwänglich zugeneigt war wie manche seiner Kollegen.
 

„Es freut mich wirklich sehr, von Harriet zu hören“, meinte er, als er Sharifs Hand ergriff und dabei einen festen Händedruck erkennen ließ. „Wie geht es ihr?“

„Bestens.“

Bell schien ehrlich erfreut angesichts dieser Nachricht, auch wenn Sharif nicht entging, dass sein Blick kurz zur Tür huschte, als erwartete er, dass Necroma doch noch hereintreten würde.

„Sie ist eine wahrhaft bemerkenswerte Frau“, fuhr Bell in einem Tonfall fort, der Sharif sich sofort wundern ließ, was Necroma wohl angestellt haben mochte, dass er auf diese Art und Weise von ihr schwärmte. „Aber das wissen Sie sicherlich selbst, nicht wahr?“

Sharif konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. „Absolut.“

Bell nickte, ehe er sich an seinen Assistenten wandte. „Würden Sie uns bitte einen Tee bringen, Mr. Doyle?“

Der Junge machte sich sofort an die Arbeit, während Bell Sharif zu einer kleinen Sitzgruppe führte.

„Ich wollte eigentlich nur einen Brief abgeben“, versuchte sich der Vampir zu erklären, auch wenn er wusste, dass es im Grunde keinen Sinn machte. Die Briten waren stets über die Maßen gastfreundlich und gerade mit ihrem Tee alles andere als geizig. Es wäre Bell wahrscheinlich niemals im Leben eingefallen, Sharif ohne jedes bisschen Freundlichkeit einfach wieder seiner Wege gehen zu lassen.
 

„Sie hat mir von Ihnen erzählt, Mr. Smith“, sagte Bell. „Sie nannte Sie ‚Familie‘, auch wenn ich ehrlich gesagt nicht sehr viel Familienähnlichkeit erkennen kann.“

„Wir sind nicht blutsverwandt“, entgegnete Sharif. „Und dennoch sind wir Familie.“

Bell nickte. „Es gibt sicher zahlreiche Menschen auf dieser Welt, die sich sehr gerne ihre Familie aussuchen würden.“ Er lachte auf und musterte Sharif einen Augenblick. „Sie haben keine genaue Ahnung, warum Sie überhaupt hier sind, Mr. Smith, nicht wahr?“

Sharif schmunzelte. „Harriet hat Sie bisher noch niemals erwähnt gehabt.“

Bell wirkte nicht besonders verwundert. „Wir sind uns vor zwei Monaten begegnet. Sie tauchte aus heiterem Himmel hier in meinem Büro auf und erzählte mir, dass sie einigen meiner Vorlesungen gelauscht hätte. Sie schien ganz fasziniert und ich war es ehrlich gesagt schon sehr bald von ihr. Sie hat eine enorme Auffassungsgabe, begreift Gedankengänge außergewöhnlich schnell und war in vielen Dingen weit informierter als meine besten Studenten. Man könnte fast annehmen, sie wäre nicht menschlich.“

Er lachte auf angesichts seines Witzes, während Sharif sich fragte, warum Necroma ihre neuste Leidenschaft für Medizin ihm gegenüber bisher nicht erwähnt hatte.

„Besonders interessiert sie sich für Rechtsmedizin und Diagnostik“, erklärte Bell. „Wir tauschen uns inzwischen regelmäßig über dieses Thema aus. Ich weiß zwar nicht, woher eine junge Frau wie sie solch ein Wissen herhat, aber im Grunde ist es mir einerlei, solange es mir anregende und inspirierende Gespräche beschert.“
 

Während Doyle daraufhin den Tee auftrug und sich kleinlaut dafür entschuldigte, dass er wohl nicht das Teekochtalent seiner Mutter geerbt hatte, öffnete Bell Necromas Brief und begann, ihre anscheinend langen und ausführlichen Notizen zu lesen. Mit jeder Minute schien sein Lächeln ein wenig breiter zu werden, ehe er plötzlich innehielt und verwundert seine Stirn runzelte.

„Sie schreibt mir hier, dass ich mich die nächsten Wochen von Kirschen fernhalten soll“, meinte er. „Wissen Sie, was das bedeutet?“

Das bedeutet, dass Sie ansonsten wahrscheinlich in absehbarer Zeit an einem Kirschkern ersticken würden, dachte Sharif bei sich. Doch stattdessen lächelte er leicht und sagte: „Hören Sie am besten einfach auf sie. Das ist in der Regel viel gesünder.“

Bell schien noch immer verwirrt, entschied sich aber, nicht weiter darauf einzugehen, sondern stattdessen den Brief zu Ende zu lesen.
 

„Und wieder einmal beweist sich, dass Ms. Harriett Potter ein Genie ist“, lautet schließlich sein Fazit, während er gleichzeitig den Kopf schüttelte, als könnte er es nicht fassen, dass jemand auf seinem Spezialgebiet besser Bescheid wusste als er selbst. „Sie könnte eine Meisterin ihres Faches werden.“

„In der Medizin?“, hakte Sharif skeptisch nach. Necroma war gut darin, Dinge zu zerstören. Heilung gehörte hingegen nicht zu ihren Stärken.

Bell hob seinen Blick. „Mr. Smith, ich bin im Grunde nicht die Art von Arzt, die Husten und Schnupfen behandelt“, erklärte er. „Ich bin Chirurg und Rechtsmediziner und es ist meine Aufgabe, mehr zu sehen als alle anderen.“

Sharif hob eine Augenbraue. „Und das wäre genau?“

Bell blieb einen Moment still und lehnte sich zurück, während er den Vampir gleichzeitig konzentriert musterte. „Manchmal sind es Kleinigkeiten, die uns alles über einen Menschen verraten. Nehmen wir Sie und Harriett zum Beispiel. Sie wirken gewöhnlich und würden in einer großen Menschenmenge absolut nicht auffallen. Niemand würde erkennen, dass Sie Ihre wahre Identität verschleiern und falsche Namen benutzen.“

Sharif wurde auf der Stelle hellhörig, ebenso wie Bells Assistent, der bereits in seinem Notizbuch zu schreiben begann und ausgesprochen interessiert erschien.

„Hat Ihnen Harriett das erzählt?“, wollte Sharif wissen. Es wäre sicher nicht allzu verwunderlich gewesen, hätte sich Necroma diesem Mann, zu dem sie offenbar derart engen Kontakt pflegte, anvertraut.

„Sie musste mir gar nichts erzählen“, erwiderte Bell. „Aber es ist offensichtlich.“

Sharif runzelte die Stirn. „Und wie kommen Sie darauf?“
 

Bell hielt kurz inne und schaute dem Ägypter nun direkt in die Augen. „Viele Menschen sehen nur das, was sie sehen wollen, Mr. Smith“, meinte er und klang dabei beinahe so, als würde er eine seiner Vorlesungen halten. „Aber dabei gibt es so viel mehr. Indizien, winzige Kleinigkeiten, die uns mehr über eine Person verraten können als alles andere.“ Seine Miene wurde ernst. „Sie wirken wie ein einfacher Mann in Ihrer Arbeiterkluft, doch allein an Ihrer Haltung und der Tatsache, dass Sie selbst mit Autoritätspersonen wie mir, einem anerkannten Universitätsprofessor, Blickkontakt halten, lässt auf etwas anderes schließen. Sie sind es gewohnt, dass man Ihnen gegenüber Respekt walten lässt, Ehrfurcht, vielleicht sogar Angst.“ Er legte seinen Kopf schief. „Aber das war nicht immer so, nicht wahr? Sie haben alte Narben an den Händen, kaum wahrnehmbar. Man könnte natürlich vermuten, dass sie – angesichts Ihrer Kleidung – ein Resultat von den Arbeiten in den hiesigen Fabriken sind, doch die Schwielen sind überaus untypisch. Nein, es scheinen eher Zeugnisse eines harten und anstrengenden Lebens zu sein, fernab jeder Fabrik. Sie waren wirklich einst am Rande der Gesellschaft, ein Mann, der tagtäglich um sein Überleben kämpfen musste.“

Sharif betrachtete den Mann eine Weile stillschweigend. Wenn er nicht absolut sicher gewesen wäre, dass Bell durch und durch menschlich war, hätte er ihn glatt für einen Hellseher gehalten.

„Sie wissen sehr viel, Prof.“, sagte er schließlich und konnte dabei seine Bewunderung nicht völlig verbergen.

Und plötzlich musste er wieder an Necromas Worte denken: Aber er wird dich durchschauen, Sharif. Oh, er wird dich sowas von durchschauen!
 

Bell zeigte keinerlei Reaktion, als wäre er solcherlei lobende Worte bereits gewohnt. Stattdessen erwiderte er: „Es würde Sie unter Umständen überraschen, was ich alles über Sie weiß.“

Sharif lächelte leicht. „Dann versuchen Sie’s. Ich werde gerne überrascht.“

Bell sagte zunächst nichts, doch seine Mundwinkel verzogen sich leicht nach oben. Dass sich in seiner Gesellschaft ein Mann befand, der vorgab, jemand zu sein, der er gar nicht war, schien ihn derweil gar nicht zu stören.

„Dass Ihr Name nicht Ethan Smith lautet, ist mehr als offensichtlich“, begann er daraufhin in einem gefassten Tonfall. „Auch wenn es Ihnen vielleicht nicht bewusst ist, reagieren Sie einen Sekundenbruchteil zu langsam, wenn Sie jemand anspricht. Als wären Sie diesen Namen einfach nicht gewohnt. Es fällt kaum auf, das gebe ich zu, sodass man annehmen darf, dass Sie dieses Pseudonym in der Vergangenheit bereits öfters verwendet haben, aber dennoch haben Sie sich noch nicht völlig angepasst. Dies ist mir ebenso bei Harriett aufgefallen.“ Bell verschränkte die Arme vor der Brust und intensivierte seinen Blick. „Ganz abgesehen von der Tatsache, dass Sie gewiss nicht europäischen Ursprungs sind. Vielleicht aus einer der britischen Kolonien, das wäre durchaus möglich. Sie haben einige indische Merkmale, aber viel zu schwach, um wirklich dieser Abstammung zu sein. Vermutlich haben Sie bloß indische Vorfahren, deren Namen Sie gewiss nicht einmal mehr kennen. Nein, ich würde Sie eher in den afrikanischen Raum einordnen, wahrscheinlich Libyen oder Ägypten. Es ist natürlich durchaus möglich, dass Sie dennoch hier geboren sind und Ihre Eltern Ihnen einen britischen Namen gegeben haben, das will ich gar nicht bestreiten. Zumindest scheinen Sie eine längere Zeit in England verweilt oder sich wenigstens mit englischen Menschen umgeben zu haben, da Sie einen starken Londoner Akzent besitzen, den man nicht mal eben übernimmt, wenn man zwei Wochen im Lande ist. Ich würde sagen, Sie haben zumindest ein paar Jahre in der Nähe der Hauptstadt gewohnt und sind aber bereits auch seit einiger Zeit hier in Schottland, wie man an manchen Ihrer Ausdrücke feststellen kann. Aber für eine genauere Untersuchung müsste ich Sie schon etwas mehr als fünf Minuten kennen.“
 

Sharif schmunzelte. All diese winzigen Kleinigkeiten – die Art, wie er sprach oder wie er auf seinen falschen Namen reagierte – waren ihm persönlich absolut nicht aufgefallen, hatten Bell aber offensichtlich völlig ausgereicht, um mindestens seine halbe Lebensgeschichte daran analysieren zu können.

„Die meisten Menschen sind nicht so mysteriös und geheimnisvoll, wie sie es gerne hätten“, erklärte Bell. „Auch Sie nicht, Mr. Smith. Die Salzverkrustungen an Ihren Stiefeln verraten mir, dass Sie erst kürzlich am Meer waren, wahrscheinlich beim Hafen von Leith. Ihre Kleidung ist, wie bereits gesagt, eine typische Arbeiterkluft, obwohl Sie nicht in den Fabriken arbeiten. Wahrscheinlich haben Sie sie irgendwo günstig aus zweiter Hand erstanden. Generell scheint Ihnen nichts, was sie an Ihrem Körper tragen, großartig am Herzen zu liegen, abgesehen von diesem Lederarmband an Ihrem rechten Handgelenk. Es ist alt und abgenutzt, aber dennoch tragen Sie es weiterhin und berühren es immer wieder instinktiv. Ich schätze, es war ein Geschenk von jemandem, der Ihnen sehr wichtig ist.“

Sharifs Blick wanderte automatisch auf das schon leicht ramponierte Armband, das ihm Necroma vor einer halben Ewigkeit geschenkt hatte.

„Sie wissen wohl alles über mich, Prof. Bell“, meinte er amüsiert.

Bell schmunzelte leicht. „Wie gesagt, ich kenne Sie ja erst fünf Minuten.“

„Und nach einer halben Stunde könnten Sie wahrscheinlich anhand der Krümel auf meinem Hemd erkennen, welchen Mädchennamen meine Mutter hatte, nicht wahr?“ Sharif hätte das nicht mal wirklich überrascht. Dieser Mann brauchte nicht mal Magie oder andere übersinnliche Fähigkeiten, um sein Gegenüber zu durchschauen.

Und mit einem Mal verstand er, warum Necroma diesen Mann sosehr mochte.
 

„Und, wissen Sie auch, weswegen wir unsere wahre Identität verbergen?“, hakte Sharif interessiert nach.

Bell nippte ganz ruhig an seinem Tee und ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. „Ich könnte höchstens Mutmaßungen anstellen und das tue ich eigentlich relativ ungern. Sie sind ein Mann, der wahrscheinlich auf eine gewisse Art wichtig ist, nicht etwa als Geschäftsleiter, Unternehmer oder dergleichen, sondern auf eine andere Weise. Ich kann es schlecht beurteilen, aber unter Umständen hat es etwas mit Beziehungen zu tun und wie andere Menschen Sie selbst sehen. Zumindest kann ich mir nicht vorstellen, dass es um Geld geht, eher um Status und Macht. Gleichzeitig sind Sie sich aber nicht zu fein, sich kleiner zu machen und das Leben eines einfachen Fabrikarbeiters zu führen. Vielleicht wurden Sie durch bestimmte Umstände dazu gezwungen, das wäre durchaus möglich, aber warum sollten Sie sich zum Beispiel dann dazu herablassen, Botengänge für Harriett zu unternehmen? Nein, Sie haben keinerlei Probleme mit Ihrer derzeitigen Situation und haben es sich wahrscheinlich sogar selbst so ausgesucht.“ Bell rieb sich nachdenklich am Kinn. „Warum also? Ich weiß es nicht. Leider kann ich diese Antwort nicht an ihrem Gesicht oder Ihren Schuhen ablesen. Im Grunde kann ich nur so viel sagen: Sie sind ein seltsamer Mann, der ein Leben unterhalb dessen führt, was er eigentlich haben könnte, aber erstaunlicherweise nicht unglücklich darüber zu sein scheint.“

Sharif lachte auf. In der Tat fasste ihn das ganz gut zusammen. Er trug die Kleidung eines Arbeiters und hatte sich mit seiner Sippe in einer bescheidenen Wohnung einquartiert, wo er doch den Buckingham Palace in seine Gewalt hätte bringen können, wenn er es nur gewollt hätte.
 

„Sie denken jetzt bestimmt, ich bin verrückt.“

„Ich denke, Sie sind ein weiser Mann, Mr. Smith“, entgegnete Bell und betonte dabei Sharifs falschen Namen nochmal überdeutlich. „Nicht viele vermögen einzusehen, dass Glück wichtiger ist als alles andere.“

Sharif schmunzelte. „Und nicht viele vermögen mich zu beeindrucken, Prof. Bell. Und dennoch sitzen Sie hier und tun es.“

Bell ließ nicht erkennen, ob er sich in irgendeiner Weise geschmeichelt fühlte. „Das haben mir schon viele Leute gesagt“, entgegnete er. Jedoch nicht großspurig oder arrogant, sondern bloß, als würde er eine nüchterne Tatsache widergeben. „Mr. Doyle will aus mir sogar eine Romanfigur machen.“

Sharifs Blick wanderte augenblicklich zu Bells Assistenten, der die ganze Zeit über auf seinem Stuhl gesessen und eifrig in sein Notizbuch geschrieben hatte, offenbar sehr erpicht, kein einzelnes Wort seines Mentors zu verpassen. Nun, bei der Erwähnung seines Namens, hob er den Kopf und musterte die beiden Männer neugierig.

„Werde ich dann bald Die Abenteuer des Joseph Bell an jeder Straßenecke zu lesen bekommen?“, hakte Sharif amüsiert nach, während er aus den Augenwinkeln bemerkte, dass Bell seine Mundwinkel leicht nach unten verzog.

Doyle währenddessen schien sich ein wenig zu zieren. „Ich suche noch nach einem Namen für meine Figur, Sir“, gab er zu.

Erneut kamen Sharif daraufhin wieder Necromas Worte in den Sinn: Und er wird einen Namen suchen. Einen guten und starken Namen.

Sie hatte damit offensichtlich gar nicht Bell gemeint, sondern Doyle. Doyle, der nach Namen für seinen Romancharakter Ausschau hielt.
 

Sharif seufzte und versuchte, sich wie so oft nicht über Necromas Fähigkeiten zu wundern. Stattdessen tat er, wie sie ihm aufgetragen hatte, und dachte an den besagten Liliputaner aus Manchester, dem sie vor einigen Jahren begegnet waren und der trotz seines Sprachfehlers und seiner O-Beine eine erstaunlich autoritäre Figur abgegeben hatte, als er Alec wegen dessen dreisten Sticheleien kleinwüchsiger Menschen gegenüber mit beeindruckender Kraft gegen das Schienbein getreten hatte.

„Sherlock“, schlug Sharif somit dem jungen Mann vor.

Der Angesprochene zögerte einen Moment und wiegte seinen Kopf leicht hin und her, als würde er in Gedanken austesten, ob dieser Name passte. Schließlich schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen. „Sherlock“, murmelte er. „Ja, das ist nicht schlecht. Ganz und gar nicht.“ Er rieb sich am Kinn. „Es hat zumindest einen guten Klang.“

„Außerdem habe ich einen Freund, dessen Hund Watson heißt.“

„Ein Hund?“

Sharif zuckte mit den Schultern. „Es ist ein schöner Name“, entgegnete er und ignorierte dabei Bells Blick, der deutlich machte, dass er es nicht unbedingt belustigend fand, dass Sharif das Vorhaben des jungen Mannes auch noch unterstützte. „Sie sollten zumindest darüber nachdenken.“

Immerhin hat mich eine Hellseherin darauf gebracht, dachte er bei sich.
 

Doyle schien von der Idee angetan und begann sogleich, die Namen in sein kleines Buch zu schreiben, während Bell sich räusperte und somit Sharifs Aufmerksamkeit wieder auf sich lenkte. „Wie auch immer, es freut mich wirklich sehr, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, mir Harriets Brief zu überreichen“, erklärte er auf typisch höfliche Art und Weise. „Ich weiß es sehr zu schätzen.“

Der Ägypter schmunzelte. „Nicht der Rede wert.“

„Und richten Sie ihr aus, dass sie brillant ist!“

Sharif musste sich wirklich zusammenreißen, um nicht laut aufzulachen. „Glauben Sie mir, Prof. Bell, dessen ist sie sich durchaus bewusst.“

Bell zog seine Mundwinkel kurz nach oben. „Oh, das weiß ich, Mr. Smith. Das weiß ich nur zu gut.“ Er schwieg einen Moment, lehnte sich zurück und musterte den Vampir eingehend. „Wird sie mir eines Tages ihren wahren Namen verraten?“

Sharif zögerte einen Augenblick. „Eigentlich trägt sie ziemlich viele. Den, den ihre Eltern ihr gegeben haben. Den, den sie sich selbst gegeben hat. Und dann noch zahllose andere, die man sich in dunklen Gassen hinter vorgehaltener Hand zuraunt.“

Sharif bemerkte, wie Doyle beim letzten Satz innehielt und offenbar zu erfassen versuchte, was damit eigentlich gemeint war. Bell hingegen ließ sich nicht das Geringste anmerken.

„Ich würde nur gerne den Namen kennen, der ihr am wichtigsten ist“, sagte er leise.

Sharif lächelte. „Und Sie haben eine gute Chance, ihn zu erfahren. Und wenn es auf ihrem Totenbett sein sollte.“

Bell lachte auf. „Dann habe ich etwas, auf das ich mich freuen kann.“ Er streckte Sharif die Hand entgegen. „Es hat mich sehr gefreut, Mr. Smith!“

„Mich ebenso, Sherlock.“

Und mit diesen Worten stand er auf, nickte dem jungen Doyle noch einmal kurz zu und verschwand aus dem Büro.
 

„Und, inwiefern haben wir jetzt die Geschichte verändert?“, fragte er schließlich sofort bei Necroma nach, als er wieder in seiner Wohnung angekommen war.

Diese hatte es sich auf einem Sessel bequem gemacht und lachte auf, als sie seine Frage hörte. „Du wirst es schon bald verstehen. Zumindest den einen Teil der Geschichte. Der andere wird noch ein paar Jahrzehnte auf sich warten lassen.“

Sharif schüttelte seufzend den Kopf, ehe er meinte: „Es hat gar nichts mit Bell zu tun, sondern mit dem Jungen, nicht wahr? Dieser Doyle.“

„Es hat mit beiden zu tun“, erwiderte Necroma amüsiert.

„Sein geplanter Roman“, führte Sharif die Puzzleteile zusammen. „Seine Charaktere, die er wahrscheinlich nach Zwergen und Hunden benennen wird. Es wird irgendwie Einfluss auf die Zukunft nehmen, habe ich nicht Recht?“

Necroma antwortete zunächst nicht, man sah jedoch an dem Blick, dem sie ihn daraufhin zuwarf, dass er mit seiner Vermutung nicht allzu falsch lag.

„Bell ist irgendwie beeindruckend, nicht wahr?“, hakte sie schließlich nach, nachdem sich Sharif seufzend auf dem gegenüberliegenden Sessel niedergelassen und einmal tief durchgeatmet hatte. „Ein Meister der Forensik. Richtig CSI-mäßig!“

Sharif runzelte die Stirn. „Bitte was?“

„Er braucht nur ein Staubkorn, mehr nicht, und schon weiß er so gut wie alles über einen“, fuhr Necroma fort und ignorierte seine fragende Miene vollkommen. „Und Doyle wird ihn berühmt machen, auch wenn Bell das gar nicht gefallen wird. Ganz und gar nicht. Aber so ist nun mal das Schicksal.“

Sharif lehnte sich zurück und nickte bloß, während er merkte, dass eine Müdigkeit seinen Körper ergriff, die ihm zuvor gar nicht aufgefallen war.

„Aber es ist wirklich zu schade, dass niemand den Witz hinter dem Ganzen erkennen wird“, warf Necroma ein.

Sharif hob seine Augenbrauen. „Welchen Witz?“

Sie kicherte. „Es war Harry Potter, der soeben Sherlock Holmes seinen Namen gegeben hat!“

Daraufhin grinste sie derart breit, dass Sharif nicht umhin kam, ebenfalls zu lächeln, auch wenn er absolut keine Ahnung hatte, was daran lustig sein sollte.

Und es dauerte noch sehr viele Jahre, ehe er es vollends begreifen sollte.
 


 

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Joseph Bell (1837-1911) war Mediziner, Chirurg und lehrte von 1874-1901 an der University of Edinburgh. Wegen seines kriminaltechnologischen Gespürs wurde er auch des Öfteren für die Aufklärung von Verbrechen oder Unfällen zur Hilfe gerufen. 1888 unterstützte er etwa u.a. Scotland Yard bei der Suche nach Jack the Ripper. Er gilt allgemeinhin als Pionier der heutigen Forensik.

1878 wurde ein junger Student namens Arthur Conan Doyle zu seinem Assistenten. Doyle war von Bells Fähigkeiten sehr beeindruckt und nutzte ihn u.a. als Vorbild für seine spätere Romanfigur Sherlock Holmes (1887 Erstveröffentlichung A Study in Scarlet).



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von: abgemeldet
2014-09-29T19:38:40+00:00 29.09.2014 21:38
Wow... Necroma kann ja wirklich mal ganz normale Dinge tun. Ich bin voll geflasht. XD
Aber ich finde, Sharif hat sie doch recht gut im Griff... also kann sie so halbwegs einschätzen zumindest. Ganz schaffen wird er es wohl nie, aber das muss er auch gar nicht. Wäre ja langweilig. ;)
Sharif also nun als Namensgeber für Sherlock, ja?
Das ist echt der Hammer. XD
Ich habe mich zwar nie wirklich mit Sherlock Holmes beschäftigt. Kenn bloß so einige Abenteuer von ihm, aber dass sich das so zugetragen haben könnte mit der Namensgebung, kann ich mir voll und ganz vorstellen. Super Sache. ;D
Ich mag den OS~
Ich mag Necroma.
Und ich mag Sharif. Eigentlich gibt es keinen, den ich nicht mag. Erstaunlich. XD
Von:  SamAzo
2012-08-13T15:05:08+00:00 13.08.2012 17:05
Hach, endlich!
Und dann auch direkt Necroma. Das ist schön. ^^
Manchmal frage ich mich ja, was man sich bei ihr alles merken muss, um dann irgendwann mal eine Antwort oder Erklärung zu bekommen. Das könnte allein sicherlich schon Bücher füllen. Zumindest, wenn man nichts vergessen will und alles wirklich erfassen.
Is ja fast ein Ding der Unmöglichkeit.
Aber jedesmal schön zu lesen, wie Sharif damit umgeht.

Über Joseph Bell hatte ich mal was gesehen... naja, sein Name wurde in einem Bericht erwähnt, als es halt über Sherlock ging. Hat aber ne Weile gedauert, bis mir das wieder gedämmert ist. xD
Von:  DoctorMcCoy
2012-08-13T15:02:50+00:00 13.08.2012 17:02
Ich muss zugeben, ich kannte den Namen nicht xD ... auch wenn er mir bekannt vorkam, aber Bell ist ja nicht gerade ein ungewöhnlicher Name. Da ich aber keine Lust hatte, mir stundenlang den Kopf zu zermatern, habe ich einfach gelesen xD
Und ab Doyle war es zumindest schon einmal klar, in welche Richtung es gehen sollte, da du ja schon erwähnt hast, dass mir das Thema gefallen würde ;) Als dann Bell auch noch so schön wissenschaftlich geredet hat, habe ich mir fast gedacht, dass er das Vorbild für Sherlock sein wird und dass Necroma ihren lieben Sharif nur dahingeschickt hat, um diese Namen zu geben. Warum sie ausgerechnet Sharif geschickt hat und nicht einfach einen Brief an Doyle geschrieben hat, ist schon komisch, aber das ist natürlich Necroma *haha*

Mir hat der OS mal wieder sehr gut gefallen. So viel Sharif *hihi*
Aber auch dieser Bell war wirklich richtig geil (hat mich ein wenig an Sherlock erinnert ;)) Dass Sharif beeindruckt war, kann ich mir gut vorstellen. Hätte echt nur noch gefehlt, dass er die Beiden als Vampire enttarnt hätte xD Aber dazu müsste er wohl noch einiges lernen, denn das ist ja nicht alltäglich.
Aber das Beste war wirklich der Schluss. "Harry Potter hat Sherlock Holmes seinen Namen gegeben." Ist schon irgendwie lustig und diese Ironie *haha*

Hätte wirklich nichts gegen etwas mehr von dieser Sorte. Ich liebe deine Charaktere :D
HDL Becky


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