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Der alte Wolf

von

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Der alte Wolf
 

Nun lag der alte, graue Wolf also im sterben.
 

Viele Sommer und viele Winter hatte er schon erlebt, er war der Älteste seiner Sippe, der Erfahrenste, vielleicht der Klügste. Alle hatten auf seine Weisheit gehört.
 

Da lag er zwischen dem duftenden, grünen Gras, in dem es vor Leben nur so wuselte. Um ihn herum leuchteten gelbe Blumen und summten Bienen, leise rauschte das Gras bei jedem Windhauch. Umringt von Leben wartete der einsame Graue auf sein Lebensende. Traurig wanderten seine Augen über die Gräser und Bäume, am Himmel blieben sie stehen. Selbst seine Todesstunde sollte er allein verbringen. Sehnsüchtig lauschte er dem ausgelassenen Bellen der jungen Wölfe, die nicht weit von ihm spielten. Wie gerne wäre der Alte noch einmal so jung gewesen und wäre unbeschwert herumgetollt. Und doch… Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust. Schon lange hatte ihn niemanden mehr verstanden. Ehrfürchtig hatten sie seinen Rat befolgt, aber es gab niemanden, der ihn wirklich mochte. Alle hatten Angst vor ihm, jedem war er unheimlich, der alte Eigenbrötler. Dabei war er sehr gutmütig und im Grunde freundlich. Nur – gemerkt hat es niemand. Er war der seltsame Graue, der alles düster sah, der keinen um sich herum duldet. Knurrend hatte er die Jungenwölfe abgewehrt. Dabei war ihm nur ihr Spiel etwas zu toll.
 

Ein letztes Mal nun dachte er über sein langes Leben nach, noch pulsierte etwas Leben in ihm. Wieder seufzte er, ein wenig schwächer zwar, aber fast noch sehnsuchtsvoller als zuvor. Da tauchte plötzlich ein kleines Wölfchen im hohen Gras auf, das eher einem braunen Wollknäuel glich als einem heranwachsenden Wolf. Der Graue betrachtete den Kleinen. Ein leises Gefühl der Freude glomm in ihm auf. War doch noch jemand, der an ihn dachte?
 

„Hallo Großvater!“, meinte der kleine und tapste tollpatschig durch die Gegend. „Warum liegst du da so still und spielst nicht?“ „Weißt du, ich bin jetzt sehr, sehr müde.“, antwortete der Graue sanft. „Ach so.“ Das drollige Junge setze sich und starrte den Alten mit großen Augen an. „ach so. Wie schade. Ich bin eigentlich nie richtig müde.“ Der Graue lachte leise, und sein Lachen kam ganz tief aus seiner Kehle. „Ja, du bist noch jung. Als ich jung war, war ich auch nie müde. Aber jetzt bin ich alt.“ „Mhm.“, Nickte das Wölfchen und legte den Kopf leicht schief. „Kannst du mir nicht etwas erzählen, Großvater? Bitte! Erzähl mir eine Geschichte.“, bettelte es dann. „Nun gut.“, kam die nachdenkliche Antwort. „Ich werde dir etwas erzählen, eine wahre Geschichte. Sie ist nicht sehr schön, aber du kannst viel daraus lernen. Du musst mir nur gut zuhören.“ – „Ich werde dir sogar sehr gut zuhören!“, versicherte der Keine eifrig. „Schön. Frag mich, wenn du etwas nicht verstehst. Dies ist die letzte Geschichte, die ich dir erzähle. Ich will dir von den Menschen erzählen. Weißt du, wer die Menschen sind, kleiner Wolf?“ „Ich habe gehört, dass sie sehr stark sind. Stimmt das?“ – „Du hast bisschen Recht. Die Menschen sind sehr schlau, weil sie so schlau sind, sind sie stark, stärker als wir. Im Grunde sind sie aber auch schwach.“ – „Wie kann jemand stark und schwach zugleich sein?“, wunderte sich das Wölfchen. Der Graue versuchte, es zu erklären. „Selbst sind sie nicht stark. Die Dinge, die sie sich in ihrer Klugheit schaffen, machen sie stark. Das Gewehr ist ein Beispiel dafür. Aber ich will dir eine Geschichte erzählen. Vor sehr langer Zeit jagten die Menschen uns Wölfe nur, wenn sie froren und unser Fell benötigte. Das war vor vielen, sehr vielen Jahren. In der Zeit, als ich jung war, töteten die Menschen Wölfe, sie Angst vor uns hatten oder aus Gier, weil sie unsere Felle gegen andere Dinge eintauschen konnten. Auch machte es ihnen Spaß, zu jagen. Damals lebte ein Wölfchen, das ungefähr so alt war wie du jetzt. Es hatte Freude am Leben und hatte noch nie etwas von den Menschen gehört. Es lebte glücklich mit seinen Geschwistern und der Mutter – bis zu dem Tag, an dem die Menschen kamen: Jäger. Alle anderen Rudelmitglieder flohen vor dem stechenden Menschengeruch, der Gefahr verhieß. Die Wolfsjungen jedoch waren nicht schnell genug, und die Mutter ließ sie nicht im Stich. So kam es, dass die Jäger sie einholten und die Mutter erschossen. Einer der Männer entdeckte die hilflosen Jungen. Er nahm sie alle, vier an der Zahl, mit sich nach Hause, zu seiner Frau und seine Kindern. Die Familie sorgte sich sehr um die Wölfe, aber zwei von ihnen vermissten die Mutter so sehr, wollten nicht mehr fressen und starben schließlich. Die anderen beiden, darunter das junge Wölfchen, wuchsen bei der Menschenfamilie auf.“
 

Der Graue unterbrach seine Geschichte. „Bis hierher kannst du zwei wichtige Dinge über die Menschen lernen. Weißt du welche?“ – „Ich glaube, das eine ist, dass es nicht nur böse Menschen gibt.“ – „Richtig. Das andere, was ich meine, ist: meide die Menschen dennoch alle. Denn viele von ihnen sind gefährlich. Wenn du Menschengeruch witterst, ist es Zeit, so weit wie möglich fortzuziehen.“ Er nickte versonnen. „Ja, die beiden Wölfe waren nun schon fast erwachsen. Das Weibchen fühlte sich bei den Menschen wohl, es freute sich über jedes freundliche Wort und war dankbar, gehorchen zu dürfen. Unser Wolf aber spürte einen großen Freiheitsdrang. Er hasste die Menschen, die ihm ihren Wollen aufzwangen. Aus Ärger begann er, die Hühner der Familie zu jagen. Er wurde dafür eingesperrt und tat umsomehr alles, wenn es nur nicht das war, was man von ihm wollte. Während also die Wölfin geliebt wurde, fürchteten und hassten allen den Wolf und schlugen ihn. Das ist ein weiteres Merkmal der Menschen: Sie lieben nur, was sie beherrschen. Ihr Verständnis für Freiheitswünschen ist gering. Sie müssen stets ihren Willen haben und wollen geliebt werden. Ohne Liebe keine Gegenliebe.“ Der Alte sah den kleinen an, der aufmerksam die Ohren gestellt hatte. „Wenn sie nur Geduld und Verständnis für den Wolf gehabt hätten, ihn so angenommen hätten, wie er war, wäre er vielleicht zutraulicher geworden. Aber so hielt er nur Ausschau nach einer Fluchtmöglichkeit. Eines Tages war sie da. Die kleine Tochter des Jägers wollte mit dem Wolf spielen und ließ ihn heraus. Der Wolf rannte sie um und floh. Das Mädchen fiel um, schlug mit dem Kopf auf dem Boden auf und verletzte sich. Da begann eine unbarmherzige Jagd auf den flüchtigen Wolf. Die Menschen sagten, der Wolf hätte das Mädchen angegriffen und verletzt; dafür sollte er getötet werden. Daraus kann man wieder zwei Dinge lernen.“ „Die Menschen verstehen uns nicht!“, fiel der Kleine eifrig ein. „Sie wissen nicht, wann wir wirklich angreifen wollen.“ – „Ja.“, stimmte der Graue zu. „Richtig. Und sie kennen Gefühle, die uns unbekannt sind, wie zum Beispiel das, was sie Rache nennen. Sie wollten den Wolf töten, weil das Mädchen verletzt war. Sie waren sehr nachtragend. Sie verfolgten die Spuren des Wolfes viele Tage lang, sie schossen ihn sogar an, aber gefangen haben sie ihn nicht. Unser Wolf lebte nun einige Zeit in Freiheit. Er schloss sich einem Rudel an. Doch eines Tages witterte er wieder Menschen. Das Rudel wollte fliehen, aber ein neuer, interessanter Geruch lockte sie an. Auch unseren Wolf. Die Menschen hatten Hunde mitgebracht, eine Art zahme Wölfe. Diese Hunde gehorchen ihren Besitzern bedingungslos. Sie setzten sich auf die Wolfsfährten, spürten die Wölfe auf, da diese Neugier sogar näher gekommen waren und – du wirst es kaum glauben kleiner Wolf – die Hunde jagten die Wölfe, die doch fast ihre Artgenossen waren. Was solltest du daraus über die Menschen behalten?“ – „Sie sind schlau.“, meinte das kleine Wölfchen zögernd. „Ja. Aber ich meinte mehr die Macht, die sie auch über Wölfe haben können. Sie haben sogar so viel Einfluss und sind so mächtig, dass sie Wölfe dazu bringen, ihre Artgenossen zu verraten, freudig zu uns die Freiheit und erziehen uns so, dass wir für sie alles tun, obwohl wir es anfangs nicht wollen.
 

Aber nun zum Ende meiner Geschichte. Das Wolfsrudel merkte erst später, was für eine Gefahr drohte. Viele von ihnen wurden getötet. Unser Wolf und einige wenigen andere entkamen noch einmal mit knapper Not, indem sie sich verzweifelt wehrten und die Menschen ihrerseits angriffen. Seit dieser Zeit lag der Wolf ständig auf der Lauer; er sammelte noch viel Erfahrung und wurde ein Einzelgänger. Wegen seinem Misstrauen zog er sich zurück. Sobald er auch nur einen Menschen witterte, zog er sich zurück. Er wurde Leitwolf in einem Rudel, das er stets von den Menschen fernhielt, und das schien ihm gut. Nur dadurch, dass sein Rudel nie selbst Erfahrungen mit Menschen machte, nahm es sich dach dem Tod des Wolfes nicht genug in Acht. Bei den Menschen genügt als Vorsichtsmaßnahme nicht nur der angeborene Instinkt, der vor ihnen warnt. Hast du alles genau verstanden? Weißt du, worauf es ankommt?“, fragte der alte Graue mit eindringlicher Stimme. Das unerfahrene Wölfchen nickte beeindruckt. „Ich werde die Menschen auch meiden.“, sagte es. „Eine gute Geschichte, Großvater. Aber woher kennst du sie, da sie doch war ist?“ Der Alte lächelte still. Ein Gefühl das Friedens und der Zufriedenheit erfüllte ihn. „Ich bin der Wolf aus der Geschichte.“, gab er leise zu. Er war durch seine lange Erzählung schon recht schwach geworden. „Du?“, wunderte sich das Wölfchen. „Aber du bist doch gar nicht tot. Woher willst du wissen…?“ – „Nein ich bin noch nicht tot“, der Wolf lächelte unergründlich. Seine tiefe Stimme war zum ersten Mal in seinem Leben sehr ruhig und warm. „Aber ich bin jetzt müde, kleiner Freund. Lass mich ausruhen und gehe wieder spielen. Vergiss meine Geschichte nie!“ – „Nein.“, das Wölfchen schüttelte heftig den Kopf. „Bestimmt nicht. Aber du kannst sie mir ja vorsichtshalber noch öfters erzählen.“ Es stand auf und schüttelte sich, dann ging es langsam davon. Irgendetwas bewegte es dazu, noch einmal stehen zu bleiben und sich umzudrehen. „Geh!“, forderte der Graue sanft, aber bestimmt. Der Kleine ging zögernd davon.
 

Zurück blieb ein glücklicher Wolf im duftenden Gras, umringt von gelben Blumen und summenden Bienen. Der alte, einsame Grauen wartete auf seinen letzten Atemzug, der schon nah war. Doch noch nie in seinem langen Leben hatte er mehr gelebt als in diesem Augenblick. Ein leiser Windhauch strich über die Gräser.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  nightwing79
2008-03-05T21:53:25+00:00 05.03.2008 22:53
Hallochen,
toll, genial, traurig,
ein wunderschönes FF, kompliment

Grüsse
Von:  Yami-Tsubasa
2008-02-04T19:50:08+00:00 04.02.2008 20:50
*hach*
Das geht echt ans Herz.
Echt schön.
Von:  Sherry_16
2008-01-27T20:08:31+00:00 27.01.2008 21:08
*schnief* :'(((
oh man wie traurig..
trotzdem war das kapi ganz tooooooll!!!
x333
weiter sooo~~

lg Sherry


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