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Eine Reihe betrüblicher Erinnerungen

Im Gedenken an Beatrice
von

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Meiner geliebten Beatrice
 

Mein Herz ist voller Liebe zu dir,

auch wenn deines nie mehr schlagen wird.
 

Lieber Leser,

es tut mir ausgesprochen leid, dir nun sagen zu müssen, dass es wohl besser wäre, wenn du diese unerfreulichen Schriften nicht weiter lesen würdest. Garantiert ist dir dieser Bericht nur durch Zufall zwischen die Finger geraten. Denn mit dem vollen Wissen, was dich hier erwartet, hättest du diese unglückselige Geschichte bestimmt niemals freiwillig lesen wollen.

Zu deinem eigenen Schutz, da du sonst nur die kommenden Tage weinen würdest, solltest du lieber zu einer weniger betrüblichen Lektüre greifen. Ich habe bereits des Öfteren auf das Buch über das winzigste Elflein von Monty Kensicle verwiesen und werde es auch nun tun. Zwar erlebt dieses Elflein nur langweilige Abenteuer, wenn man diese Erlebnisse überhaupt so nennen kann, dafür wirst du aber nicht übermäßig traurig sein, wenn du diese liest.

Also bitte, lass ab von dieser deprimierenden Lektüre, die nicht nur dir das Herz brechen wird, sondern auch meines während des Verfassens dieser Zeilen noch einmal brach. Nachdem ich die traurige und schreckliche Geschichte der Baudelaire-Waisen berichtet habe, sehe ich mich nun gezwungen, einige schwermütige Erinnerungen an meine geliebte Beatrice zu Papier zu bringen. Allein in diesem kurzen Bericht werden ein zerbrochenes Tintenfass, ein zweihundertseitiger Brief, ein zerrissenes Spitzentaschentuch, unerträglicher Kummer aufgrund eines gebrochenen Herzens und zuletzt ein verheerendes Feuer vorkommen.

Dies ist also deine letzte Gelegenheit vielleicht doch das Treiben des winzigsten Elfleins zu verfolgen und dich dabei zu langweilen, anstatt die grausame und jammervolle Geschichte von Beatrice zu lesen. Und sage hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt…
 

Mit vorzüglicher Hochachtung

Lemony Snicket
 


 

In der erdrückenden Stille der Einsamkeit sucht der Verstand jene Orte des flüchtigen Glückes auf, um der grausamen Realität zu entkommen. Und von meiner geliebten Beatrice bleiben mir nur Erinnerungen, die sogar zum größten Teil äußerst schmerzvoll sind. Aber schmerzvolle Erinnerungen erscheinen mir glücklicher als die tiefe Einsamkeit, die der Verlust dieses geliebten Wesens auf mich einstürzen ließ.

Oh, wie wäre ich froh, wenn etwas anderes eingestürzt wäre, wie zum Beispiel das Haus, in dem ich mich befand, als ich die schreckliche Nachricht bekam. Aber stattdessen stürzte die bedrückende Gewissheit, dass ich niemals mehr Beatrices zauberhaftes Antlitz sehen würde, auf mich ein. Und das war weitaus schmerzhafter, als von einem einstürzenden Haus getroffen zu werden. Das kann ich zumindest mit Bestimmtheit sagen, denn auf meiner Reise, um die Aufenthaltsorte der Baudelaires zu erforschen, war das Arbeiterquartier der Sägemühle Glück & Partner über mir zusammengebrochen.
 

Als ich Beatrice vor vielen Jahren zum ersten Mal sah, wusste ich sofort, dass sie die Richtige für mich war. Was hier bedeutet, dass ich vom ersten Augenblick an davon träumte, sie eines Tages zu heiraten.

Ihre langen braunen Haare fielen wie ein Schleier in ihr Gesicht und schirmten ihren Blick, der gebannt auf die Buchseiten der Sage von der schläfrigen Schlucht gerichtet war, von der Umwelt ab.

Während ich langsam an ihr vorbeiging, sah sie kurz von dem Buch hoch und genau in meine Richtung. Dieser kurze Blick reichte aus, damit ich meine Augen nicht mehr von ihr lassen konnte. Das soll heißen, dass ich nicht darauf achtete, wohin ich ging, gegen eine Laterne lief und meine Schultasche fallenließ, woraufhin das Tintenfass in der Tasche zerbrach und meine Notizbücher vollkommen ruinierte.

Die Begegnung mit Beatrice hatte mich absolut kopflos gemacht. Was nicht heißen soll, dass ich so kopflos war wie der kopflose Reiter in jener Geschichte von Dietrich Knickerbocker, die sie gerade las. Schließlich saß mein Kopf noch auf meinen Schultern. Vielmehr bedeutete es, dass ich gedankenverloren, verwirrt und unruhig war und deshalb nicht auf den Weg achten konnte. Der einzige klare Gedanke, den ich noch fassen konnte, war der, dass ich dieses bezaubernde Mädchen unbedingt kennenlernen wollte.

Von da an verbrachte ich meine Pausen damit, auf einer Bank in Beatrices Nähe die wundervollen Romane der russischen Literatur zu lesen. Erst die von Dostojewski, dann von Bulgakow und schließlich von Tolstoi. Und endlich, als ich Anna Karenina beinahe zu Ende gelesen hatte, waren Beatrice und ich ins Gespräch gekommen. Zufälligerweise zählte Tolstoi zu ihren Lieblingsautoren und wir diskutierten darüber, dass er als zentrales Thema seiner Romane auserkoren hatte, dass ein Landleben in moralischer Schlichtheit, trotz seiner Eintönigkeit als individuelle Biographie, dem wagemutigen und von impulsiver Leidenschaft erfüllten Leben vorzuziehen war, denn das endete in einer Tragödie.

Bald darauf verband Beatrice und mich eine innige Freundschaft und wir lasen nun in den Pausen gemeinsam literarische Werke wie Tolstois Krieg und Frieden.
 

Je älter wir wurden, desto tiefer wurde unsere Zuneigung zueinander. Ich wähnte mich der Erfüllung meines Traums, Beatrice eines Tages zu heiraten, immer näher.

Oh, wie konnte ich nur glauben, dass meine Träume sich erfüllen könnten! Aber damals wusste ich noch nicht, was ich heute weiß. Und es schmerzt mich, zu schreiben, wie kopflos ich zu jener Zeit war. Auch hier ist nicht die wortwörtliche Bedeutung von kopflos gemeint, denn ich hatte meinen Kopf noch immer nicht verloren oder gar vielleicht zu Hause vergessen. Dafür aber war ich unüberlegt und sinnlos in meinem Handeln, da die glückliche Zweisamkeit mit meiner geliebten Beatrice mir meine Sinne vernebelte.

Als wir einen romantischen Ausflug zum Seufzersee unternahmen und bis zur grauen Grotte spazierten, um dort ein Picknick zu machen, schien nichts und niemand uns jemals trennen zu können. Nicht einmal die Nähe der schrecklichen Seufzerseesauger, die bekanntlich Menschen, die nach dem Essen nicht eine Stunde lang warten, bis sie schwimmen gehen, angreifen, fürchtete ich. Zumindest war ich in meinem kopflosen Zustand der festen Überzeugung, dass ein Picknick mit Beatrice am Ufer des Seufzersees niemals gefährlich sein könnte, aber das tragische Ableben von Ike und Josephine zeugt davon, dass die Sauger doch kein Erbarmen kennen.

Schließlich überreichte mir Beatrice vor unserer Rückkehr zur Stadt ihr Spitzentaschentuch, das sie sonst nahe an ihrem Herzen trug, als Unterpfand ihrer Liebe. Was hier bedeuten soll, dass sie meine überschwänglichen Gefühle, die meine Gedanken so durcheinander brachten, vollkommen erwiderte.
 

Auch als wir gemeinsam das Museum in der Stadt aufsuchten, welches gerade eine Ausstellung über berühmte Erfinder eröffnete, war unser Glück perfekt. Hand in Hand schlenderten wir an einer Reihe kopfloser Statuen aus Griechenland entlang. In diesem Fall ist tatsächlich die wortwörtliche und nicht die übertragende Bedeutung von kopflos gemeint, denn die Statuen waren weder verwirrt, noch gedankenlos, sondern hatten einfach keinen Kopf.

Vor den Ausstellungsstücken zu Thomas Alpha Edison blieb meine geliebte Beatrice stehen und betrachtete die Apparaturen interessiert. Einige Jahre später würde genau vor einer dieser Maschinen das Interesse für Erfindungen von Violet Baudelaire erwachen, aber das konnten wir zu dieser Zeit noch nicht wissen.

Beatrice lächelte mich an und ergriff meine Hand, um mich zu dem nächsten Mechanismus zu ziehen und lachend den Kopf zurückzuwerfen, so dass ihr braunes Haar schwungvoll tanzte.

An jenem Abend kontaktierte ich ein bekanntes Weingut und reservierte die Örtlichkeit für den kommenden Frühling für eine Hochzeit. Ja, ich war so kopflos, dass ich Beatrices Antwort auf eine Frage, die ich ihr noch gar nicht gestellt hatte, nicht abwartete, sondern davon ausging, dass ich sie bereits kannte. Wäre ich doch nur ein wenig gedankenvoller gewesen. Noch heute bekomme ich wütende Briefe von dem Verwalter des Weingutes zugeschickt, weil die Reservierung vollkommen unnötig war.
 

An einem sonnigen Tag besuchten Beatrice und ich eine Teegesellschaft von F.F., der geheimen Organisation, die, durch ein Schisma gespalten, sowohl Feuer legte, als auch bekämpfte und sämtliche Geheimnisse der Welt erforschte. Nach einer Tasse Tee, die so bitter wie Wermut und so scharf wie ein zweischneidiges Schwert war, und einigen Mandel-Zitronenplätzchen stahlen meine geliebte Beatrice und ich uns von der Gesellschaft fort und zogen uns in die riesige Bibliothek zurück, die das Hauptquartier am finsteren Felsen beherbergte.

In der Ruhe des Büchersaales abgeschieden, schließlich lautete das Motto eben dieses auch „Die Welt steht stille hier“, machte es sich Beatrice in einem der Sessel gemütlich und fing die Lektüre von Vita Nova des Dante Alighieri an, während ich an der Sessellehne gelehnt über ihre Schulter mitlas. Gerade in einem dieser Momente entstand eine Photographie von uns, die heute zu meinen wertvollsten Besitztümern zählt. Obwohl ich jedes Mal kummervoll weine, wenn ich das Abbild meiner geliebten Beatrice und meines kopflosen Ichs betrachte, das auf diesem Bild sogar wortwörtlich keinen Kopf hat. Aber dennoch bin ich mir ziemlich sicher, dass ich zu diesem Zeitpunkt wie zu allen späteren meinen Kopf noch hatte, und dass der Bildausschnitt einfach nicht ausgereicht hatte, meinen Kopf ebenfalls darzustellen, da mein Bruder Jacques die Kamera in einem abenteuerlichen Winkel gehalten hatte, als er auf den Auslöser drückte.

Oh, welch dramatische Ironie, dass Beatrice gerade dieses Buch zu unserer Lektüre erwählte. Dramatische Ironie, wie du, verehrter Leser, bestimmt weißt, bedeutet hier, dass sie damals das Buch einfach zu ihrem Vergnügen gelesen hat, ohne von den düsteren Schatten zu ahnen, die sich über unser Glück legten und die Fiktion von Dantes Werk in unserem Leben verwirklichen wollten. Aber du und ich wissen nun bereits, dass ich Beatrice niemals heiraten konnte und alles in einem niederschmetternden Debakel endete.

In Dantes Vita Nova begegnet einem beklagenswerten Jungen ein wundervolles Mädchen namens Beatrice, in das er sich sofort und für den Rest seines Lebens unsterblich verliebt, doch die beiden finden einfach nicht zueinander und schließlich verstirbt die holde Beatrice und lässt den jammervollen Mann alleine zurück. Zu meinem Leidwesen kenne ich das Schicksal des Mannes genau, da es doch auch mein eigenes ist.

Trotz der grausamen Vorzeichen dieses Buches wagte ich es, Beatrice jene Frage zu stellen, die mir seit unserer ersten Begegnung auf der Seele brannte und deren Antwort die Erfüllung meiner Träume bedeuten konnte. Überrascht bat sie mich um etwas Zeit, da ihr die rechten Worte fehlten.
 

Drei Nächte später überbrachten mir gleich Dutzende von Brieftauben Beatrices Antwort, die aus einem zweihundertseitigen Brief bestand. In einem kopflosen Zustand und mit wild klopfendem Herzen las ich die Zeilen meiner Geliebten und wurde dabei immer kopfloser und wünschte mir, tatsächlich im wortwörtlichen Sinne kopflos zu sein. Denn der Brief war äußerst betrüblich und grauenvoll herzzerbrechend. Sie schilderte auf zweihundert Seiten ganz genau, warum sie mich nicht heiraten könnte, und dass ich sie niemals umstimmen könnte, obwohl sie mir sehr zugetan wäre.

Kopflos ergriff ich die Flucht, den Brief und das Foto in meiner linken Brusttasche verborgen, schlug mich durch das dichte Gehölz des Finsterwaldes, Beatrices Taschentuch an meine tränenden Augen gepresst, so dass es von den Zweigen zerrissen wurde, und tauchte unter. Dabei vergaß ich natürlich die Reservierung des Weingutes für den kommenden Frühling zu stornieren, denn in solch kummervollen Augenblicken denkt man nicht an so etwas.

Nach einiger Zeit in meinem selbsterwählten Exil, fernab von meiner holden Geliebten, die mein Herz auf so furchtbare Weise gebrochen hatte, und dafür im geheimen Einsatz von F.F., um meinen Kummer über die Erfüllung wichtiger Aufgaben zu vergessen, erfuhr ich, dass Beatrice, in dem festen Glauben, ich sei nicht mehr am Leben, einfach einen anderen geheiratet hatte. Zumindest vernahm ich auch ihre Absicht ihr Erstgeborenes Lemony zu nennen, falls es ein Junge würde, was bedeutete, dass sie zumindest noch immer an mich dachte.

Sofort beließ ich meine Geheimidentität, die zur Observierung eines gewissen, gräflichen Schurken diente, bei reiner Fiktion und kehrte als ich selbst zurück zur Stadt. Natürlich hatte das zur Folge, dass Beatrice ihr Erstgeborenes nicht nach mir benannte, sondern auf den Namen Violet taufte, schließlich war es doch ein Mädchen, und auch nicht auf die Idee kam ihren Zweitgeborenen Lemony zu nennen und stattdessen Klaus. Auch das dritte Kind, wieder eine Tochter, bekam einen ganz anderen Namen, nämlich Sunny.
 

Ich hatte mir geschworen, Beatrice niemals mehr aufzusuchen, um den Schmerz eines gebrochenen Herzens nicht noch zusätzlich zu verstärken, und nur in besonders sehnsuchtsvollen Stunden, die eigentlich immer andauerten, aus der Ferne über sie zu wachen. Ich versuchte sogar, mich an ihrem Glück zu erfreuen, obwohl mir dadurch noch elender zu Mute war, da ich noch immer der festen Überzeugung bin, dass unser Glück ewig gewährt hätte.

Zu meinem Erschrecken musste ich feststellen, dass eben jener Schurke, den ich zuvor beschattet hatte, nach Beatrice trachtete. Auf einem Maskenball, verkleidet als Stierkämpfer, sah ich meine Gelegenheit, sie zu warnen, doch bevor ich den Satz „Graf Olaf ist…“ mit „…hinter dir her“ beenden konnte, wurden wir unterbrochen und Beatrice, als zauberhafte Libelle kostümiert, entschwebte meiner Warnung.

Oh, welch grausames Schicksal ereilte sie! Meine geliebte Beatrice!
 

Wenige Tage später, die ich damit zugebracht hatte, darüber nachzudenken, wie ich meine Warnung überbringen konnte, bekam ich die Nachricht, dass ein verheerendes Feuer die Baudelaire-Villa zerstört und Beatrice, wie ihren Gemahl dahingerafft hatte. Die Einsamkeit, die seit jenem zweihundertseitigen Brief auf mir lastete, stürzte erneut und um ein hundertfaches schlimmer auf mich ein, während ich mir wünschte, dass lieber das Haus, in dem ich mich befand, über mir einstürzte, damit ich Beatrice folgen könnte.

Einzig Beatrices Kinder hatten den Brand unbeschadet überstanden, hielten sie sich doch während dieses betrüblichen Ereignisses an der kahlen Küste auf, wie ich nach einigen Nachforschungen erfuhr. Und ich machte es mir zur Aufgabe, das Schicksal der Baudelaire-Waisen Violet, Klaus und Sunny auf das Genauste zu recherchieren und zu dokumentieren.
 

Ach, Beatrice, wärst du doch meine Frau geworden, so wärst du nicht in diesem Feuer umgekommen. Beatrice, meine geliebte Beatrice, noch immer macht mich der Gedanke an dich ganz kopflos…



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Teilchenzoo
2010-11-11T15:03:37+00:00 11.11.2010 16:03
Oho, das ist also die berüchtigte Beatrice. Ich habe die Geschichten noch nicht bis zum letzten Band gelesen, es fehlt mir also noch einiges.

Du hats dich wirklich sehr bemüht, den Ton des Erzählers zu treffen, und im Großen und Ganzen gelingt dir das auch sehr gut. Nur die Stelle mit der Diskussion über Tolstoi fällt aus dem Rahmen.

Wunderbar geworden.

Lg neko
Von:  _Delacroix_
2010-11-01T13:52:32+00:00 01.11.2010 14:52
Hi,

Ich gebe zu, dass ich keine Ahnung vom Fandom habe, aber die Geschichte hat mir wirklich sehr gut gefallen. Sowohl von der Wortwahl als auch vom Aufbau her. Es hat mir Spaß gemacht die Geschichte zu lesen, weil sie gut durchdacht war und die Stimmung prima rüberkam. Nur die Darkfic sehe ich zugegebenermaßen nicht.

Herzlichen Glückwunsch zum YUAL.


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