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Verbrannte Erde

Aus dem Leben eines Soldaten
von

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Akt.V *** Scharlachroter Osten: Geheimnisse und Heuchelei

Glossar:

"kafteinn" bedeutet "Hauptmann"

"herstjóri" bedeutet "General"

"leiðtogi" bedeutet "Anführer"

"ofursti" bedeutet "Oberst"

"refur" bedeutet "Fuchs" (negativ besetzt)
 

Projekt X 2008: Verbrannte Erde

Aus dem Leben eines Soldaten
 

Akt.V *** Scharlachroter Osten: Geheimnisse und Heuchelei
 

Ein einziges Klischee, das verräterische Rascheln der Laken und das übliche Stöhnen und Keuchen, der penetrante Geruch von Schweiß und Lust, den er aus den Bordellen im Rotlichtviertel kannte, und dennoch hatte es keinerlei Effekt auf ihn.

Sein Körper reagierte nicht, trotz der langen Abstinenz.

Zum Glück – ein solches Problem konnte er im Augenblick nicht gebrauchen.

Für bedenklicher hielt er, dass der Fuchs sich die Prostituierten mit aufs eigene Zimmer nahm, diese unangebrachte Intimität, und momentan empfand er es vor allem als Störfaktor und Hindernis, als eine unnötige Zeitverschwendung.

„Oh, Eldur…“

Auch das noch.

Ihm blieb wirklich nichts erspart.

Missmutig verschränkte der kafteinn die Arme vor der Brust, versuchte, die anrüchige Geräuschkulisse auszublenden.

„Ah… meine Güte!“

Ohne nennenswerten Erfolg, was ihm ziemlich sauer aufstieß.

Als ob Refur nicht schon alleine gut und gerne für zwei oder drei schwätzte, nein, das reichte nicht, für seine Bettgeschichten wählte er die redseligste Dirne, die ihm über den Weg lief.

Nun, jeder hatte seine persönlichen Vorlieben.

Wobei er Voyeurismus nicht unbedingt zu den seinen zählte.

Zugegeben, er war bezüglich dessen kein unbeschriebenes Blatt, aber er hatte damals, als Jugendlicher, nicht gewusst, auf was er sich einließ, und schließlich hatte ofursti Múspell in dazu gedrängt. Wahrscheinlich, weil er der wesentlich älteren Frau mit seinen Blicken nachgelechzt hatte wie ein verhungerter Hund aus der Gosse.

Peinlich.

„Mh… hey! W-warte, das… warte!“ quiekte die weibliche Stimme auf einmal hysterisch, und übertrieben schrill, „Nicht! Nicht… da! Das ist… oh mein Gott!“

Nein.

Er hatte sich geirrt. Definitiv kein Straßenmädchen.

„Heh, Eldur ist vollkommen ausreichend“, kam auch prompt die raue Replik darauf, etwas zu selbstgefällig für seinen Geschmack.
 

Eldur saß im Schneidersitz auf dem Bett, die dünne Zudecke im Schoß und lediglich mit einem Paar Gamaschen und Stulpen bekleidet, grinsend wie ein Honigkuchenpferd, eine beinahe verstörende Mischung zwischen absoluter Befriedigung und Selbstzufriedenheit.

Vermutlich hatte er ihn bereits zuvor wahrgenommen.

Das Mädchen reagierte nicht so gelassen auf Logis plötzliche Störung.

Für einen Moment schien sie unentschlossen, als würde sie überlegen, ob sie schreien oder in schallendes Gelächter ausbrechen sollte, angesichts der heiklen Situation, und zum Leidwesen der beiden männlichen Feuerdrachen entschied sie sich binnen weniger Herzschläge für ersteres.

Logi widerstand dem vehementen Drang, sich die Ohren zuzuhalten, während die junge Heilerschwester – er erkannte sie an der dunkelgrünen Robe, mit der sie panisch ihre Blöße bedeckte - aufsprang, den Rest ihrer über den Boden verstreuten Kleidung zusammen klaubte, simultan dazu den Eindringling mit ihren bitterbösen Blicken erdolchend, und im Nebenzimmer verschwand.

„Was gibt’s, Logi?“ ergriff Eldur kurzerhand das Wort, wies mit einer einladenden Gestik auf die nunmehr unbesetzte Hälfte der Matratze.

„Wir hatten eine Abmachung“, entgegnete der Soldat kühl und bedachte Refur, der sich in seiner nackten Glorie sichtlich wohl fühlte, mit einem kritischen Blick, distanziert, die Arme vor der Brust verschränkt.

Sein Gegenüber blinzelte, setzte zu einer Erwiderung an, die ihm jedoch nicht über die geöffneten Lippen kommen mochte.

„Oh“, machte er nach einer Weile des Schweigens wenig hilfreich, hob den Zeigefinger seiner rechten Hand und blickte Logi verblüfft an: „Du meinst das ernst!“

Nein, er war zum Spaß hier!

Innerlich murrend verbat sich der kafteinn einen sarkastischen Kommentar; der Fuchs irritierte ihn, nachhaltig, und das nicht nur durch seine Augen, nein, viel mehr noch durch seine eigenwillige Persönlichkeit. Schwer einzuschätzen, undurchsichtig. Ein unbekannter Faktor in der Rechnung.

Als Krieger schürte das ein gewisses Unwohlsein in ihm, das alsbald in Nervosität resultierte.

„Wie geht’s dir?“

Eldur konnte Logis Anspannung erahnen, in seinem defensiven Auftreten und seiner abweisenden Haltung.

„…“

Anscheinend verstand er seine Frage in diesem Kontext nicht als Versuch, die Stimmung aufzulockern, vermutete wohl einen psychologischen Trick dahinter, ihm durch eine Antwort mehr zu entlocken, als er freiwillig preisgeben würde.

„Herforingi Fölskvi hat mich dazu verpflichtet, mich um deine medizinischen Belange zu kümmern. Deshalb will ich dir ein paar Routinefragen stellen“, versicherte der Heiler aufrichtig und seufzte, „Sonst nichts. Keine große Sache.“

Obwohl Logi seine Distanz so gründlich wahrte wie seinen Widerwillen und den Kopf betont abwandte, nickte er zaghaft.

Mehr würde er von ihm als Einverständnis nicht erhalten.

„Sag einfach ‚ja’ oder ‚nein’“, vereinfachte der Feldheiler die Angelegenheit, um dem wortkargen Soldaten wenigstens ein bisschen entgegen zu kommen, „Also: Bist du körperlich wieder voll belastbar?“

„Ja.“

„Hast du noch Schmerzen?“

„… hm.“

„Appetit?“

„Nein.“

„Schlafstörungen?“

„Hm.“

„Alpträume?“

„…“

„Libido?“

„… hä? Was?“

Das versprach ein langes Gespräch zu werden.
 


 

***
 


 

„Eldur, Eldur… ich wusste, du reitest mich irgendwann, eines netten Tages, in Schwierigkeiten“, lamentierte der herforingi gespielt theatralisch, seine dramatische Pose ernstlich zu viel der Inszenierung, doch der seriöse Unterton in seiner Stimme, der unterschwellige Tadel, strafte seine Sorglosigkeit Lügen.

Fölskvi war ein verdammt guter Akteur – gleichgültig, ob er seinen wahren Gemütszustand oder seine körperliche Verfassung kaschierte.

Was er damit allerdings bezwecken wollte, blieb Eldur unbegreiflich.

„Es…“ begann der Heiler, verstummte jedoch abrupt; es tat ihm nicht leid, den Befehl der Heeresleitung ignoriert und Logi über ofursti Múspells Anwesenheit in Kenntnis gesetzt zu haben.

Unwillkürlich zog er die Augenbrauen zusammen.

Wozu sollte er sich entschuldigen…?

Er bereute es nicht im Geringsten, und er würde es wieder tun.

„Keine Panik“, winkte Fölskvi großzügig ab und faltete die Hände in seinem Schoß, „Um ehrlich zu sein, ich hatte mit so etwas gerechnet.“

„Ja…?“ hakte der Heiler verwundert nach, unsicher, studierte eingehend das milde Lächeln, das der Kompaniechef ihm schenkte.

Dessen grüne Iriden leuchteten vor heimlichen Vergnügen.

„Ja! In der Hinsicht bist du berechenbar“, eröffnete der ihm bereitwillig, „Du meinst es gut mit deinen Kameraden. Vielleicht zu gut.“

Dahinter verbarg sich kein Vorwurf.

„Ich beneide dich um diesen Respekt vor dem Leben. Als Krieger kann man sich das nicht leisten, nicht auf Dauer.

Deswegen taugst du auch nicht zum Soldaten, Eldur. Selbst wenn es ums Überleben ginge, du könntest niemanden töten. Niemals.

Man sieht dir an, dass du bis jetzt drum herum gekommen bist.“

Schweigen.

Zwischen Verlegenheit und tiefgehenden Schamgefühlen schwankend, wandte Eldur sich ab und starrte in seine leere Teeschale.

Einerseits verdiente er jene Anschuldigung der Heuchelei, denn es stimmte, er hatte seine Pflicht auf dem Felde nicht ausreichend wahrgenommen und seine Feinde stets verschont; andererseits hatte ihn dies vor der charakterlichen Verrohung behütet, der man zwangsläufig anheim fallen musste, wenn man permanent mit dem Tod konfrontiert wurde.

Eine Zwickmühle, der er sich über all die Jahre gewahr gewesen war.

„Was wisst Ihr eigentlich nicht…?“ entfuhr es ihm, bevor er es verhindern konnte.

Sein Gesprächspartner aber blickte in die Ferne, abwesend, sehnsüchtig, und es war ihm abermalig offensichtlich, wie sehr ihm sein derzeitiger Status missfiel.

Hier mit ihm auf der Veranda zu sitzen und sich zu unterhalten, in die Handlungsunfähigkeit verbannt zu sein, widerstrebte seinem eigenwilligen Wesen. Es war demütigend für jemanden, der sich aus Überzeugung zum Kämpfen verpflichtet hatte, und umso frustrierender, mit einem Verweigerer, einem Hypokriten wie ihm zu sprechen.

Der Augenblick verging, mit ihm die Impression einer leidenden Feuerseele.

„Allwissend bin ich nicht, doch viel ist mir bewusst.“ schmunzelte Fölskvi in sich hinein, seine Züge unleserlich, und der Feldheiler zügelte seine Zunge, sparte sich die dreiste Randbemerkung, die ihm durch den Kopf geisterte.

Schreib’s auf, veröffentliche ein Buch…

In warmen Rotnuancen spielte der Schein der späten Nachmittagssonne auf den Dächern der umliegenden Gebäude, in den Wipfeln der Zierkirschbäume, und entfachte dort ein glühendes Inferno, wie ein Kupferfirnis, ein vergängliches Gedenken an das in unzähligen Schlachten vergossene Blut.

Metallisch glänzende Libellen kreisten über dem Fischteich.

„Es wäre besser, wenn ihr eine Zeitlang verschwindet. Sollte es hier hässlich werden, dann seid ihr wenigstens aus der unmittelbaren Schussbahn.“

„Wie meint Ihr das?“ fragte Eldur verdutzt nach, aus seinen Gedanken gerissen, und sah auf.

„Nimm dir frei, und schaff Logi weg von hier, für ein oder zwei Wochen. Den Rest regle ich“, erklärte der herforingi amüsiert, „Diese engstirnigen Chauvinisten in der Heeresleitung sind nicht erbaut darüber, dass ihre Befehle missachtet wurden.

Hiermit habe ich dich ausdrücklich gewarnt, verstanden?“

Eldur nickte langsam und erhob sich.

„Nutze deine Freizeit, Eldur, und denk darüber nach, was du wirklich willst. So kannst du nicht ewig weitermachen, es wird anderen auffallen.

Du solltest deine momentane Beschäftigung endlich als Berufung anerkennen.“

Ich beneide dich um deine Fähigkeit des Heilens, um die Gabe, etwas erhalten zu können. Mir ist es nicht vergönnt, mit meinen Händen etwas anderes als Chaos und Zerstörung zu bringen…
 


 

***
 


 

Ein vages Rascheln ließ den Abt aufblicken, über die abschüssige Gebirgswiese hinweg zum Rande des Waldes, wo ein Goldfasan erhobenen Hauptes durch das Unterholz des Bambusdickichts schritt, das bunte Gefieder auf sanftem Grün eine Augenweide, aber ebenso auffällig und nachteilig in den Augen eines potentiellen Feindes.

Gleichsam eine Warnung und eine Herausforderung.

Trügerische Realität.

Die Wahrheit verbirgt sich oftmals unter dem Deckmantel eines flüchtigen ersten Eindrucks…
 

Im Hauptsaal des winzigen Bergklosters herrschte beklommenes Stillschweigen.

„Womit diese Angelegenheit geklärt wäre“, folgerte der junge Drachensouverän sachlich, und wies beiläufig auf den leblosen Leib seines Artgenossen, des Attentäters, der nunmehr nicht nur sein Blut auf die blank polierten Holzdielen ergoss.

Ein Auftragsmörder aus dem Norden, so offensichtlich.

Die übrigen Abgeordneten des geheimen Kongresses, Gesandte der vier Reiche und zum größten Teil pazifistisch gesinnte Diplomaten, vermochten ihre Betroffenheit, ihre schiere Fassungslosigkeit schwerlich zu verbergen.

Hraunar hingegen fuhr unbeirrt fort: „Genau das ist es, was aufhören muss, und was ich mit all der mir zur Verfügung stehenden Macht zu vermeiden versuchen werde.

Wir müssen endlich aufhören, uns gegenseitig zu bekämpfen und damit beginnen, unseren wahren Feind zu erkennen.

Während wir uns immer mehr in interne Sippenfehden verstricken, verlieren wir den Überblick und unseren Sinn für die wirkliche Gefahr, die die Existenz unseres Clans bedroht; dieser Feind stammt nicht aus unseren eigenen Reihen!

Er kommt von außen, klammheimlich, und zurzeit geben wir, aus Unwissen, unseren Brüdern die Schuld für die Schandtaten eines anderen.

Wie viele unserer Krieger verschwinden auf den blutigen Schlachtfeldern? Wie viele kehren von den abgelegenen Außenposten nicht wieder zurück?

Das sind keine Zufälle!

Das sind keine ‚üblichen Verluste’!

Auf infame Weise versucht der Feind uns gegeneinander aufzuhetzen und von innen heraus zu zermürben, und den Grundstein dafür legte er bereits mit dem Tod Helvítis, mit dem Zerbrechen unserer Einheit.

Dadurch, und ausschließlich dadurch, funktioniert seine Taktik bis heute – wir dürfen nicht der Spielball feindlicher Kräfte bleiben!

Wir müssen jenen Status der Paralyse als Nation überwinden, um unserer Unabhängigkeit und des Fortbestandes der Feuerdrachen willen!

Wir wollen nicht so enden wie die Mongolen, die hinterrücks angegriffen und abgeschlachtet wurden, deren Blindheit ihren Frauen und Kindern zum Verhängnis wurde.

Dem Treiben von Roks Nachfolgern muss Einhalt geboten werden!“

Wohlerwogen pausierend, labte sich Hraunar an der Verunsicherung, die er mit seiner Ansprache gestiftet hatte, lauschte dem Raunen und erregten Flüstern, das in den Reihen der Delegierten ausbrach.

„Zu diesem Zweck schlage ich die Bildung eines überregionalen Sonderkorps vor, zum Schutz und zur Verteidigung, die Aufhebung der Grenzen und einen umfassenden Friedenspakt. Ich hoffe auf die Kooperation aller Reiche, ohne die ein solches Vorhaben nicht realisierbar ist.

Nicht als Verbündete wollen wir gemeinsam, Seite an Seite für unsere Zukunft streiten, sondern als Brüder im Blute und im Geiste!“
 


 

***
 


 

Tiefe Wagenrillen und dutzende verschiedene Pferdespuren zeugten von der Popularität der Route, die in den weiten Osten hinein führte, die Wegesränder entlang der Hauptstraße von Plantagen und Feldern aller erdenklichen Variationen gesäumt.

Der dichte Strom der Reisenden und Händler brach hier niemals ab, auch nicht in der Nacht, wenn die Mehrzahl der Karawanen rastete und an den unbewirtschafteten Seitenarealen kampierte.
 

Nach einem etwa fünftägigen Ritt ohne längere Unterbrechungen zügelte Eldur sein Pferd und deutete gen Horizont.

„Das wär’s, wir sind da!“

Elegant schwang er ein Bein über die Kruppe seines Falben und saß ab, ein sonniges Lächeln auf den Lippen, und tätschelte Logis Reittier den Hals.

Der kafteinn selbst schwieg, betrachtete anstatt dessen eingehend die unmittelbare Umgebung, die Herde Wasserbüffel, die im Schatten einiger Chinesischer Kastanien döste.

Mittlerweile waren sie im Vorort der prosperierenden Provinzmetropole des Ostens angekommen, ein ruhiges Städtchen wie aus dem Bilderbuch, nahe der großen Handelsstraße und direkt an einer breiten Flussader gelegen, und wo man auch hinschaute, kein Anzeichen von Armut oder Elend.

Das Blendwerk einer gehobenen Gesellschaft.

Makellos. Vorbildlich.

Im Gegensatz zu mir…

Stumm folgte er dem vor sich hin gestikulierenden Feldheiler, der wohl bereits seit geraumer Zeit über klimatische Bedingungen der Gegend berichtete, zwischendrin irgendetwas über Wein, und von dem nicht weit entfernten Binnensee schwärmend, zu sehr einvernommen von seiner eigenen Begeisterung, als dass er die nachdenkliche Abwesenheit des Soldaten bemerkt hätte.
 

Logi war erstaunt über das herzliche Willkommen, das die Stadtbewohner ihnen bereiteten.

Offensichtlich kannten vor allem die jüngeren Frauen Refur mit Namen, grüßten ihn mit freundlichen Worten und gewogenen Blicken, und nicht selten schenkten sie ihm im Vorbeigehen ein Körbchen mit Mondkuchen oder kandierten Früchten.

Und der Fuchs schöpfte die Aufmerksamkeit, die man ihm entgegenbrachte, vollständig aus, bedankte sich eifrig für die Komplimente, die nach einer Weile seine sommersprossigen Wangen röteten.

Dennoch gefiel es ihm augenscheinlich, im Mittelpunkt der Dinge zu stehen.
 

Dann hielt der Heiler plötzlich inne.

Um den Brunnen hatte sich ein Grüppchen tuschelnder und kichernder Mädchen versammelt, die die beiden männlichen Neuankömmlinge aus der Entfernung mit regem Interesse beobachteten; lediglich eine hielt sich zurück und wirkte verschüchtert, was ihre Kameradinnen mit allgemeinem, begeisterten Quieken registrierten.

„Bleikja!“ rief der Fuchs daraufhin, hob die rechte Hand zum Gruß, doch die besagte Dame wandte sich schlagartig um und verschwand fluchtartig hinter dem nächsten Haus.

„Sie ist ein wenig schüchtern“, beteuerte er Logi gegenüber grinsend und setzte sich wieder in Bewegung.
 


 

***
 


 

Vor einem halben Jahr war er das letzte Mal hier gewesen, nun schien es ihm wie eine halbe Ewigkeit.

Und trotz dessen hatte sich nichts verändert.

Erleichtert atmete Eldur auf, dankbar für diese Konstante in seinem Leben, die ihm Halt und Sicherheit gewährte seit er denken konnte, und er genoss die Glückseligkeit, die damit einherging und ihn erfüllte, die sein Herz schneller schlagen ließ.

Seine Heimat.

Die frühesten, einigermaßen kohärenten – und die schönsten - Kindheitserinnerungen in seinem Gedächtnis spielten sich im Obergeschoss dieses Hauses ab; seine Eltern wohnten längst nicht mehr hier.

„Ich hoffe, es macht euch beiden keine Umstände, dass ich noch jemanden mitgebracht habe. Unangekündigt“, meinte der Feldheiler langsam, als er liebevoll über das glatte Holz des Treppengeländers fuhr, in sich gekehrt, und blickte Hrapa in die dunklen Augen.

Womöglich wäre es besser gewesen, einen Eilboten voraus zu schicken.

„Nein, nein. Mach dir keine Sorgen, wir haben wahrlich Platz genug“, antwortete sein Gegenüber beschwichtigend, während sie sich die Hände an ihrer Schürze säuberte, „Ah, also deswegen ist Bleikja vorhin so aufgeregt zurückgekommen.“

Hrapas Lachen war das einer einsamen Witwe, verloren in der Welt, die wenig Kontakt zu ihren Nachbarn pflegte, und sich mit anderen bloß aus Höflichkeit unterhielt, die den Tod ihres Gatten nach Jahrzehnten nicht überwunden hatte und innerlich litt wie am Tage des Unglücks.

Eldur bemitleidete sie aufrichtig.

„Tut mir leid, dass ich so hereinplatze, aber ich konnte es kaum erwarten. Als ich von meiner Beurlaubung erfahren habe, musste ich sofort los“, versuchte er, seinen regelrechten Überfall zu rechtfertigen, obwohl ihm dabei nicht wirklich wohl war, denn seine oberflächliche Begründung stimmte nicht unbedingt mit der Wahrheit überein, die ihn zu jenem Besuch gedrängt hatte.

„Du musst dich nicht entschuldigen, Eldur. Ich bin froh, dass du da bist. Du bringst Leben in die unerträgliche Stille, du hilfst mir mit der Arbeit und nebenbei machst du mein Kind glücklich.

Was will ich mehr?“
 


 

***
 


 

Eher nebenher entledigte Logi sich im Eingangsbereich seiner Stiefel und stellte sie ordentlich neben Eldurs, ungeachtet des weiteren Paares, das in der Ecke vor dem Absatz stand, eingestaubt, das Leder alt und rissig, von der Zeit heimgesucht.

Er wusste, was das bedeutete.

Wortlos richtete er sich auf und erkundete die Räumlichkeiten, sich der Impertinenz seines Verhaltens bewusst.

Kriegergewohnheit.

Konzentriert schritt er durch die leeren Zimmer, die er sauber, aber wie verlassen vorfand, und ihm war, als könnte er die Gespenster der Vergangenheit auf den Fluren spüren.

Erst in der Wohnstube stockte er unverwandt.

Sein Blick schweifte von dem spartanischen Mobiliar zu dem Schrein, der hingebungsvoll an der Wand arrangiert worden war. Blumen, eine Schale Obst und Wachskerzen schmückten die verblichene Kohlezeichnung, umrahmt von edlem Holz, und der intensive Geruch von Räucherstäbchen durchwob die Luft.

Zögerlich trat Logi näher, bewahrte jedoch seinen respektvollen Abstand.

Das Gesicht der Person auf der amateurhaften Skizze konnte man nicht mehr erkennen, und der schlechte Zustand des Pergaments bestätigte sein hohes Alter.

Wie ein Déjà-vu.

Nein. Eine perfekte Kopie meines-

Seine Selbstbeherrschung geriet ins Wanken, und er ballte die Hände zu Fäusten, schloss nach einem Moment die Augen und schöpfte einen zittrigen Atemzug.

All dies…

All dies, was nicht mehr existieren sollte, was angeblich nicht mehr auf Erden weilte – schlief er? Träumte er?

Gaukelte ihm sein zerrütteter Verstand eine heile Scheinwelt vor, eine Halluzination in der Wüste seiner Einsamkeit…?

„Das ist… unmöglich…“ wisperte er ungläubig, um seine Fassung ringend.

Plötzlich zuckte der kafteinn zusammen, wurde sich mit einem Mal der Präsenz zu seiner Rechten gewahr und wich perplex einen Schritt zurück.

Er fühlte sich ertappt und brachte im Folgenden keinen Laut über die Lippen.

„…“

Der weibliche Drache schüttelte nur unmerklich den Kopf, die Finger im Stoff ihrer Schürze vergraben, und ein bitterer Ausdruck ergriff kurzzeitig Besitz von ihren Gesichtszügen, ehe sie sich wieder sammelte und nichts als ungerührte Neutralität ihr Antlitz beherrschte.

Logi schluckte.

Sie ähnelte ihr ungemein.

So sehr es ihn innerlich schmerzen mochte, er kam einfach nicht umhin, die beiden miteinander zu vergleichen: eine durchaus hübsche Frau, verwitwet, Mutter, gezeichnet von den schweren Verlusten, die ihr auf der Seele lasteten. Jemand, der zurückgezogen lebte, und sich seinen Kummer nicht anmerken ließ, der sich seines Kindes wegen an eine erbärmliche Existenz klammerte…
 


 

***
 


 

Es war spät am Abend, als Eldur schließlich von seiner Stippvisite bei den Nachbarn zurückkehrte.

In seinem ehemaligen Elternhaus brannte kein Licht mehr.

Geräuschlos schloss er die Eingangstür hinter sich und schlich auf leisen Sohlen in die Wohnstube, der Zugrichtung der lauen Nachtbrise folgend, und bemerkte im Stillen, ohne ernstliches Erstaunen, dass Logi noch nicht schlief.

Vorsichtig näherte er sich der Silhouette des Soldaten, stolperte in der Dunkelheit über eines der Sitzkissen und fluchte ungehalten über sein Ungeschick.

„Was musst du dich hier auch ins Düstere hocken“, schimpfte er halbherzig und tastete sich mit mehr Umsicht weiter vor. Er musste sich neben Logi auf die Zehenspitzen stellen, um die Kerze in dem Lampion zu entzünden, der am Stützbalken der Überdachung befestigt worden war.

Der kafteinn saß auf der Veranda, die Beine überkreuz und das Schwert auf dem Schoß, neben sich hatte er die – bis auf den eingelegten Rettich - leeren Schüsseln vom Abendessen penibel ineinander gestapelt.

Eldurs Lächeln verschmolz mit dem Zwielicht.

„Gefällt's dir hier?“ fragte er aufmerksam und blickte in den Garten, wo das Leuchten unzähliger Glühwürmchen mit dem sternenklaren Himmelszelt konkurrierte, wo sich das Zirpen der Zikaden und das Quaken der Frösche zu einem harmonischen Kanon verbanden.

„Es ist verdammt laut“, gab Logi knapp zurück und zuckte die Schultern.

„Achso?“ erwiderte der Heiler etwas verständnislos, dann lachte er, „Ich finde es entspannend.“

Vielleicht mochte er keine Frösche.

„Naja, ist nicht so, als hätte Fölskvi mich nicht vorgewarnt. Er erwähnte, du wärst ein Hinterwäldler der speziellen Sorte.“

Zugegeben, herforingi Fölskvi hatte ihm mehr als nur das erzählt und insofern eingebläut, ein wachsames Auge auf ihn zu haben; zum Beispiel von Logis eigenwilliger Angewohnheit, plötzlich zu verschwinden und nach zweitägiger Abwesenheit oder gar mehr aus dem Nichts wieder auf der Bildfläche zu erscheinen.

Einfach so.

Offenkundig wanderte er zu diesen Gelegenheiten durch die abgelegenen Stadtviertel oder mutterseelenallein durch die Natur.

Wozu das auch immer gut sein sollte.

Seltsamer Bursche.

Logi schnaubte unwirsch, eine Erwiderung zu seinem unüberlegten Kommentar, und Eldur wechselte beflissen das Thema: „Dieses Haus gehörte früher meinen Eltern, ich bin hier die ersten Jahre aufgewachsen. Es war eine schöne Zeit, wirklich. Allerdings hat das Stadtleben genauso was für sich.“

Er überspielte das Desinteresse seines Gesprächspartners fachgemäß, lenkte ein, als er nicht antwortete.

„Lassen wir's, ein andermal.“

Erschöpft gähnend streckte er seine müden Glieder, das Knacken seiner Gelenke vernachlässigend, eine Übersprungshandlung, und setzte sich an den Außenrand der Verandadielen, ließ die Beine baumeln.

Logi schenkte er dabei ein halbseitiges, schiefes Grinsen.

„Bleikja ist übrigens meine Verlobte.“

Dazu sagte er besser nichts, entschied der kafteinn.
 

Eine weiß melierte Motte flatterte im schummerigen Lichtschein des Lampions, umschwirrte diesen mit erratischen Flügelschlägen, und Logi fixierte sie mit einem finsteren Blick.

Eldur wohnte dem schweigend bei, stieß jedoch einen überraschten Laut aus, als der Falter an ihm vorbei, auf Logi zuflog und der ihn augenblicklich mit einer einzigen Bewegung, die er spürte, aber nicht sah, aus der Luft fing.

In der hohlen Faust hielt er das Tierchen gefangen, und der Heiler konnte erkennen, wie sich die Muskeln im Arm des Soldaten anspannten.

„Mach das nicht“, meinte er gedämpft und umfasste sanft Logis Finger, zwang sie auseinander.

Die Motte wich nicht vom Fleck.

Das letzte Mal…
 


 

***
 


 

Während Eldur sich einem Großteil der häuslichen Pflichten annahm, um Hrapa und ihre Tochter ein wenig zu entlasten, hielt sich Logi geflissentlich aus diesen Tätigkeiten heraus.

Der Heiler empfand dies nicht als verwunderlich.

Hausarbeit war für die meisten Krieger Frauensache, ein überflüssiges und lästiges Übel, mit dem sie sich nicht auf einer täglichen Basis auseinander setzen mussten und es außerhalb ihres Dienstes tunlichst vermieden.

Reines Proletengehabe – und damit hatte er bei Logi gerechnet.

Anstatt sich in den Alltag der beiden Frauen zu integrieren wie Eldur, der hinsichtlich dessen keine Hemmungen hegte, gesellte sich der kafteinn lediglich zum Essen zu ihnen, verschwiegen, aber höflich, und widmete sich ansonsten einem ausgiebigen Training.

Er testete wohl seine körperlichen Grenzen aus.

Nach der wochenlangen Verhinderung durch seine Verletzungen wirkten seine Bewegungen steif und unkoordiniert, und es verdross ihn im höchsten Maße, dass ihm nicht einmal die Grundübungen mit dem Schwert fehlerfrei gelingen mochten.

Das konnte Eldur sogar aus der Distanz erkennen.

Doch im Punkte Ehrgeiz bewies Logi eiserne Disziplin: er begann im Morgengrauen und beendete seine kämpferischen Betätigungen erst, wenn die Schwärze der anbrechenden Nacht ihm die Sicht verwehrte.

Ohne sich irgendwelche Nachlässigkeiten zu erlauben.

Der Feldheiler respektierte diese Konsequenz bedingungslos, und auch die in ihm aufkeimende, leise Bewunderung konnte er nicht abstreiten.

Deswegen hatte er einst Soldat werden wollen, als Idol für andere, als Schutzpatron für Schwächere...

Eine kindische Vorstellung.
 

Das feine Haar zu einem Zopf zusammengefasst, die Ärmel hochgekrempelt, beugte sich Eldur erneut über die Holzschüssel und wrang seinen Putzlappen erneut aus. Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn, und sein Blick schweifte abermals über Bleikjas schlanke Gestalt.

Zusammen mit ihr schrubbte er bereits seit zwei Stunden die Bodendielen in der oberen Etage, und die durchaus ansprechende Aussicht auf das junge Mädchen verleitete seinen von Langeweile und Eintönigkeit geplagten Verstand immer öfter dazu, seine Augen auf etwas Ansehnlicheres als seine mittlerweile aufgequollenen Finger zu richten.

Er mochte sie, keine Frage.

Bleikja war eine Sandkastenfreundin, hübsch und mit guten Manieren, vorzeigbar, aber sie reizte ihn absolut nicht über eine physisch fixierte Begierde hinaus.

Kurzum, er liebte sie nicht.

Sein Vater hatte damals den Beschluss betreffs ihrer Verlobung mit einem seiner langjährigen Freunde gefasst, ihm war keinerlei Mitspracherecht zugestanden worden, und so hatte er sich gefügt, zwangsläufig.

Keine Seltenheit, es gab Schlimmeres - und was er in der Stadt, fernab von zu Hause zuweilen trieb, musste und würde sie ohnehin niemals erfahren.

Freilich durfte der sprichwörtliche Haken an der Sache nicht fehlen: sie brachte es ihm gegenüber zwar nicht offen zum Ausdruck, doch ihr Verhalten sprach Bände über ihre wahren Empfindungen.

Sie war schlichtweg zu schüchtern, um es zu verlautbaren oder sich überhaupt selbst einzugestehen.

Daher betete er zu den höheren Mächten, dass ihre Verlobung und alles Nachfolgende nicht in Tränen auseinander brechen würde...

„Hey!“

Im nächsten Augenblick traf ihn, gänzlich unvorbereitet, etwas Kaltes und ziemlich Nasses klatschend im Gesicht, und Eldur blinzelte perplex, als der unförmige Lumpen vor ihm zu Boden fiel.

„Eh?“ machte er verwirrt und blickte auf.

Schäumend vor Wut hatte sich Bleikja am anderen Ende des Korridors aufgebaut und drohte ihm mit geballten Fäusten. Ihre geröteten Wangen jedoch bezeugten ihre Scham.

„Hast du nichts anderes zu tun, als mir auf den Hintern zu glotzen, du perverses Schwein?!“ fauchte sie ihn an, ehe sie beleidigt die Treppe hinunter stürmte und die Tür der Wohnstube hinter sich geräuschvoll zuschlug.

Eldur kratzte sich überfragt am Kopf.

Frauen.

Das musste er nicht verstehen.
 

Hrapa besorgte auf dem Markt die wöchentlichen Einkäufe, und Bleikja verbarrikadierte sich mittlerweile in der Küche, sodass sich der Heiler wohl oder übel dazu genötigt sah, sich alleine um die Wäsche zu kümmern.

Den kafteinn um Hilfe zu bitten, wagte er sich nicht.

Wenig begeistert schritt er im Garten hinter dem Haus zur Tat, das Wasser des großen Bottichs reichte ihm bis über die Ellbogen, und Eldur entschied, dass er Waschen nicht ernsthaft zu seinen Lieblingsbeschäftigungen zählte.
 

Derweil hatte sich Logi auf dem Dachfirst postiert, ausnahmsweise zufrieden mit seinem heutigen Trainingsfortschritt, die Ruhe der Kleinstadt und die unbeschränkte Aussicht auf die weite, relativ flache Umgebung genießend.

In der Ferne konnte er die Silhouetten der Weinberge ausmachen.

Trotz dessen störte ihn etwas, ein undefinierter Faktor am Rande seiner Wahrnehmung, wie ein schwarzer Fleck, der die Komposition eines Bildes nachhaltig verfremdete, und dies beunruhigte ihn.

Zu benennen vermochte er es nicht.

„Hey, Logi“, unterbrach Eldurs Stimme seinen Gedankengang, und er wandte den Kopf in die Richtung des Fuchses.

„Könntest du mir einen Gefallen tun?“

Der Soldat zuckte die Schultern.

„Ist das ein Ja?“ hakte er grinsend nach, und Logi nickte.

„Du könntest zum Brunnen gehen und Wasser holen. Wenn Bleikja sich schon in der Küche einsperrt, kann sie auch gleich mit dem Kochen anfangen.“
 


 

***
 


 

Skeptisch musterte Hrapa die drei jungen Männer, nach ihrer Kleidung zu urteilen offenkundig Fremde, die auf der anderen Straßenseite den Hafervorrat für ihre Pferde aufstockten und lautstark um den Preis feilschten.

Sie waren bewaffnet und trugen keine sichtbaren Symbole auf ihren langen Roben.

Für die Bewohner dieses Vorortes stellten Durchmärsche von Garnisonen oder größeren Truppenteilen keine Besonderheit dar, sie gehörten ebenso zum Alltag wie das Passieren der ein oder anderen zwielichtigen Person, aber diese drei...

„Das sind keine Soldaten“, murmelte sie abwesend zu sich selbst.

„Verdächtig, he?“ ergänzte die Frau hinter der Theke flüsternd, „Die drei Jungspunde kamen hier im Morgengrauen an, aus dem Westen und sie sind definitiv nicht von der östlichen Armee.

Trotzdem stolzieren sie öffentlich mit ihren Schwertern umher und machen keinen Hehl daraus. Solange die sich hier rumtreiben, lasse ich meine Kinder sicher nicht auf die Gasse.“

Mit verengten Augen betrachtete die Ältere der beiden die Neuankömmlinge, ihr Ausdruck geprägt von Furcht und Abscheu, bevor sie ein „Dreckiges Pack!“ zischte und sich wieder ihrem Gemüse zuwendete.

Hrapa schätzte die Präsenzen der drei Feuerdrachen als bedrohlich ein, eine eindeutige Warnung, ihnen aus dem Weg zu gehen.

Söldner. Oder Schlimmeres.
 

Lässig lehnte sich der ranghöchste der drei Feuerdrachen wenig später an die hölzerne Brüstung des Brunnens, überließ das Tränken der Pferde seinen beiden Kameraden.

„Habt ihr mitbekommen, was Ákafi über die Aktion an der mongolischen Grenze erzählt hat?“ fragte er mit einem belustigten Grinsen auf den Lippen in die kleine Runde, und da seine Genossen sich dazu nicht verbal äußerten, fuhr er fort: „Die unfähigen Deppen, die die Heeresleitung dort stationiert hatte, wussten gar nicht, wie ihnen geschieht!

Und ratet mal, wen sie am letzten Posten umgelegt haben!

Na? Na?“

Der Feuerdrache ignorierte das überforderte Schulterzucken seiner Untergebenen und beantwortete sich seine Frage postwendend selbst – dass er sich dabei nicht noch selbst ins Wort fiel, war alles.

„Glaubt es oder nicht: das arrogante Schoßhündchen aus Múspells Kindergarten, das der sofort zum kafteinn berufen hat.

Jetzt sitzt Múspell in einem ganz schönen Schlamassel, und das hat er sich selbst zuzuschreiben.“

Dann wich der grimmige Ausdruck von seiner Miene und er lachte schallend auf.

„Jedem das, was ihm gebührt.“

Zu diesem Zeitpunkt ahnte er noch nicht, wie Recht er damit behalten sollte.
 

Zuerst dachte er sich bei dem dumpfen Aufschlag zu seiner Linken nichts.

Als ihm ein Schwall Brunnenwasser über die Stiefel schwappte, ärgerte er sich zugegebenermaßen über die Unfähigkeit des Verantwortlichen, ging jedoch von einem Missgeschick aus.

Als keine Entschuldigung erfolgte, fuhr er verstimmt auf und holte Atem, um dem dämlichen Tölpel die Leviten zu lesen, und stockte augenblicklich, als er dessen Antlitz erblickte.

Nein.

Weder ein Missgeschick noch ein Zufall.

„Wie...?“

Er verstummte, starrte ungläubig den Übeltäter an, plötzlich blass und wie erstarrt.

„Das kann nicht sein“, brachte er noch verwirrt hervor, ehe sein Gegenüber ein Jagdmesser zückte und ihn mit den dunklen Iriden fokussierte...
 


 

***
 


 

Eldur seufzte wohlig auf und schloss den zierlichen Körper des Mädchens fester in seine Arme, vergrub die Nase in ihrem langen, rostroten Haar.

Es galt die Chance des Momentes zu nutzen, derart ruhig und anschmiegsam würde sie sich ihm gegenüber nicht auf Dauer zeigen. Dafür war sie zu scheu – und zu stolz.

Wie es dazu gekommen war?

Nachdem er die Wäsche gewaschen und aufgehängt, und seines Erachtens nach viel zu lange auf Logi gewartet hatte, war er, einsichtig, zu Bleikja gegangen und hatte sich entschuldigt.

Durch die Küchentür hindurch.

Nach einer Weile des Schmollens hatte sie ihm widerwillig nachgegeben und die Schiebetür geöffnet, und seitdem weigerte sie sich tunlichst, ihm auch nur annähernd in die Augen zu sehen.

Er hatte sie umarmt, frei heraus.

Was hätte er sonst tun sollen?

„Eldur... du kannst mich jetzt wieder loslassen“, merkte sie verlegen an, und der Feldheiler gab sie frei.

„Ich, also... weißt du, äh... ich...“ stammelte sie betreten, durcheinander, was Eldur ein ehrliches Lächeln entlockte.

„Schon gut“, sagte er behutsam und legte seinen Zeigefinger über die Lippen des stotternden Drachenmädchens, das daraufhin konsterniert zusammenfuhr.

Ihr Herz raste, schlug beinahe schmerzhaft gegen ihren Brustkorb.

Was...?

Zunächst begriff sie nicht; was versprach er sich von einem solchen Spielchen?

Oder... meinte er es in der Tat ernst?

Unschlüssig hob sie ihre rechte Hand und berührte zögerlich seine Wange, und dem Feldheiler wurde bewusst, dass er diese Partie gewonnen hatte.

Und das, ohne unlautere Methoden angewandt zu haben.

Sie schloss die Augen, gewährte ihm den unschuldigen Kuss, kurz und zaghaft, und all ihr Widerwille war dahin.

Eldur hingegen hatte sich mehr erhofft, doch dann forderte mit einem Mal etwas anderes seine Aufmerksamkeit ein.

„Eldur? Was ist?“

Er spürte das Aufflammen von Logis Feuerenergie, den unbändigen Zorn, der sich dahinter verbarg, und das verhieß nichts Gutes.

Was zur Hölle hatte das zu bedeuten?

Hatte Logi den Verstand verloren?

Wenn er hier ein ähnliches Massaker anrichtete, wie zuvor unter den Ordensmitgliedern...

„Tut mir leid, Bleikja, wir müssen das verschieben“, informierte er sie nüchtern und mit den Gedanken längst bei der Schadensbegrenzung, die garantiert notwendig sein würde.

Als er das Haus daraufhin hastigen Schrittes verließ, spürte sie erneut wiederholt eine siedend heiße Wut in sich aufwallen.

„Idiot.“
 

Was spielte sich bloß in Logis Hirn ab?

Seinem unüberlegten Agieren nach nicht sonderlich viel. Er war drauf und dran, sich zum Gespött zu reduzieren, Eldurs Ruf als Gastgeber und Mitbürger zu ruinieren.

Zähneknirschend eilte er durch die schmalen Seitenstraßen, empört, bis ihm der Geruch von Blut in die Nase stieg, und seine Besorgnis die Oberhand gewann.

Ein schlechtes Zeichen, wenn er bedachte, dass der kafteinn sein Schwert im Haus gelassen hatte.
 

Kurz darauf erreichte Eldur den Dorfplatz, und er stockte abrupt, als er der Szenerie gewahr wurde, die sich dort zutrug.

Logi kniete über einem auf dem Rücken liegenden Feuerdrachen, hielt ihn so mit seinem Gewicht am Boden, das Schienbein gegen dessen Brust gesetzt und drosch unbarmherzig, mit den baren Fäusten, auf ihn ein; zwei andere lagen regungslos neben der Tränke, Blut verfärbte die Lache verschütteten Wassers und die Fragmente einer geborstenen Klinge glitzerten verräterisch im Sonnenlicht.

In den Schatten der umstehenden Häuser standen, dicht an dicht aneinander gedrängt, die entsetzten Frauen und Kinder.

Der Heiler musste sich sammeln – Gewalt, unausweichlich auf dem Schlachtfeld, war eine Sache, aber mutwillige Grausamkeit entschuldigte nichts.

Das konnte und würde er Logi nicht durchgehen lassen!

Entschlossen näherte er sich dem Soldaten und packte diesen am Schwertarm, zerrte ihn von seinem Opfer weg.

Logis verzerrter Ausdruck verfinsterte sich, doch sein vergeblicher Protest erstarb alsbald, erwägend, dass die Knochen in seinem Unterarm eine harsche Bewegung entgegen Eldurs Griff nicht überstehen würden.

„Bist du von allen guten Geistern verlassen, Logi?!“ herrschte er den keuchenden Drachen an, zitternd vor Rage und Bestürzung.

Sein Gegenüber schwieg, wandte trotzig den Blick ab.

„Wag es nicht, dich von der Stelle zu rühren“, diktierte Eldur in einem für ihn ungewöhnlich resoluten Ton, der keinen Widerspruch duldete, „Solltest du auch nur Anstalten machen, werde ich dir diesmal wirklich weh tun. Kapiert?“

Für den unbekannten Drachen kam unglücklicherweise jegliche Hilfe zu spät.

Verdammt.

Eldur sank an seiner Seite kraftlos in die Knie, warf dem kafteinn einen verständnislosen Schulterblick zu.

„Du blutest“, stellte er sachlich fest, doch Logi gab sich unbeeindruckt.
 

Bis sie nach Hause zurückgekehrt waren, und Eldur die Wunde genäht und einigermaßen verbunden hatte, verlor Logi mindestens dreimal das Bewusstsein.

Wortlos und in sich gekehrt versorgte der Heiler den Verwundeten, half danach dabei, die drei fremden Männer am Stadtrand zu begraben.
 


 

***
 


 

Drei Tatsachen waren es, die ihn hinsichtlich der toten Feuerdrachen nachdenklich stimmten.

Erstens: die absichtlich ungezeichnete Kleidung.

Folglich wollten oder sollten sie unerkannt bleiben. Aber warum?

Waren sie Auftragsmörder gewesen? Oder hatten sie einen geheimen Auftrag ausführen sollen, im Namen eines Unbekannten?

Zweitens: die erstaunlich umfangreiche Sammlung an Identitätsplaketten, die die drei gehortet hatten.

Selbst hatte keiner von ihnen eine getragen, und Eldur bezweifelte, dass sie ihre eigenen noch besessen hatten.

Dies fügte sich perfekt an die Symbollosigkeit ihrer Roben, und deutete auf das Metier der Kopfjäger hin.

Drittens: der grobe Versuch, ihre Herkunft zu vertuschen, indem man das Rangabzeichen auf ihrem rechten Oberarm entfernt hatte.

Die Narben, die nun anstatt dessen an dieser Stelle prangten, weiß wie Perlmutt, waren ein ebenso präzises Erkennungsmerkmal – sie stammten ursprünglich alle drei aus dem Osten.

Deserteure?

Hatten sie ihrem Reich entsagt und waren lediglich ihrem persönlichen Willen unterstellt gewesen?

Eher nicht.

Doch etwas an dem Kopfjägermotiv irritierte ihn noch immer.

Desillusioniert hob Eldur den Blick und fixierte Logis breiten Rücken; der kafteinn hatte sich von ihm weg, zur Wand gedreht, natürlich ohne Rücksicht auf seine verletzte Schulter zu nehmen, und bewies abermalig seine grenzenlose Sturheit.

Logi wusste die Antwort.

„Hast du sie deswegen getötet?“ brach er die angespannte Stille der Wohnstube und schwenkte die Plaketten in seiner Hand, sodass sie klimperten wie ein Windspiel.

„Nein...“ presste der nach einer Weile knapp hervor, unwillig, die Thematik zu vertiefen.

„Mir wurde erzählt, du hättest sie angegriffen, grundlos. Wozu?

Ich verstehe das nicht. Davon hättest du nichts, und ein Anlass ist verdächtiges Wirken allein sicher nicht. Niemand tötet ohne Grund. Auch du nicht.“

Schon gar nicht auf so eine bestialische Art und Weise.

Dahinter steckte mehr, wesentlich mehr.

„Was ist los mit dir, Logi?“ fragte der Feldheiler ernüchtert, „Ich hatte das Gefühl, es würde dir allmählich besser gehen.“

„Nichts“, erwiderte der Soldat dumpf und erklärte das Gespräch somit offiziell für beendet.

Gar nichts.
 

Er hätte ihm gerne Vorwürfe gemacht, aber er konnte es nicht.

Niemand tat es.

Insgeheim waren die Stadtbewohner erleichtert, ja, froh über Logis impulsives Vorgehen, im Endeffekt hatte er die Gefahr gebannt und niemand von ihnen hatte sich die Hände mit Blut besudelt.

„Sobald du aufstehen kannst, gehen wir.“

Hrapa beobachteten ihn besorgt aus dem Nebenzimmer, die uncharakteristische Härte in Eldurs Worten, in seinen Augen mochte ihr nicht gefallen.

Als er zu ihr auf den Gang trat, fasste sie ihn am Handgelenk: „Sei nicht zu streng mit ihm, Eldur. Um die drei ist es nicht schade.“

„Tut mir leid. Aber das sehe ich anders“, teilte er gefasst mit.

„Ich kann ihn nicht frei hier rumrennen und irgendwelche Fremden abstechen lassen, weil es ihm beliebt.“

„Eldur“, warnte sie kalt, „du hast nicht das Recht dich in die privaten Angelegenheiten deiner Genossen einzumischen.

Du weißt mindestens so gut wie ich, dass das heute nicht die Tat eines armen Irren oder geistig Verwirrten war.“
 


 

***
 


 

In weitläufigen Bögen schlängelten sich die Serpentinen den Berghang hinauf, steile Kreidefelsen und üppige Vegetation ein kontrastierender Hintergrund von nahezu malerischer Qualität.

Ein Habichtsadler auf Nahrungssuche kreiste weit oben am Himmel.

Blinzelnd, und mit der Hand die zusammengekniffenen Augen abschirmend, spähte der junge Drache in die Ferne.

„Ich glaub das einfach nicht!“ brauste das voran reitende Mädchen plötzlich in beachtlicher Lautstärke auf, sodass er sie in sage und schreibe fünfzig Schrittlängen Entfernung noch einwandfrei vernehmen konnte.

Finster dreinblickend drehte sie sich im Sattel um und zog, offenkundig ausgenommen verstimmt, die Augenbrauen zusammen.

„Was denn?“ winkte er verständnislos ab und zuckte die Schultern, „Reg dich ab.“

Eingeschüchtert von ihrer nun erbosten Miene hob er beschwichtigend die Hände: „Immerhin bist nicht du diejenige, die laufen muss.“

Mitnichten hatte er das geplant. Und er musste zu seinem Leidwesen einräumen, so anstrengend hatte er sich das Reisen zu Fuß nicht vorgestellt.

Seine vermaledeite Pechsträhne hatte ihm das beschert!

„Das wär ja noch schöner!“ zeterte sie daraufhin und verschränkte die Arme vor der Brust, bis sie sich anschließend in wilder Gestikulation verlor, um ihrer Frustration gebührenden Ausdruck zu verleihen.

„Du verscheuerst mein Pferd-“

„Schon verstanden.“ unterbrach er sie versöhnlich, ein erzwungenen Lächeln auf den Lippen, da ihm bereits der Gedanke an einen Streit mir ihr Unbehagen bereitete, wissend, dass sie im Notfall - sollte es ihm gelingen, ihre Argumentation als hinfällig zu entlarven - auf Gewalttätigkeiten zurückgreifen würde.

Unberechenbar.

Unheimlich, bisweilen.

„War ’ne blöde Idee…“

„Saublöd!“ korrigierte sie ihn barsch und stieß der braunen Stute die Fersen in die Flanken.

Beschämend, wie manipulativ das Temperament seiner Schwester auf ihn einwirkte…
 

Stunde um Stunde verstrich.

Die Schatten der Bäume wurden stetig dunkler und kühler.

„Sag mal, Aska… wo genau sind wir gerade?“ wagte er nach einer Weile des angespannten Schweigens die Frage, die ihm bereits seit einiger Zeit auf der Zunge lag.

Aska schnaubte.

„Ich weiß, was ich tue!“ versicherte sie schroff, kramte jedoch die zerschlissene Landkarte aus der Satteltasche und warf sie ihm zu.

„Schaut selbst nach, Eure allwissende Heiligkeit, die Ihr beim Glücksspiel unseren Kompass verscherbelt habt!“

Ihr Begleiter runzelte bloß die Stirn und musterte sie skeptisch, nachdem er das abgenutzte Stück Pergament entfaltet hatte.

„Aska…“ begann er langsam.

„Was denn noch?!“

„Dir ist schon bewusst, dass das eine Europakarte ist…?“
 


 

***



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2009-05-15T22:16:11+00:00 16.05.2009 00:16
Wie fieß, jetzt hast du meine Neugierde bezüglich Logis Vergangenheit noch mehr geweckt und dabei sind nur noch zwei Kapitel übrig T___T.
Eldur ist wirklich furchtbar. Hinter jedem Rockzipfel her....oder zumindest kommt er so rüber.
Die Drachengeschwister sind aber auch gut *gg*. Wo die wohl letztendlich ankommen werden?!
Ich weiß gar nicht, was ich lesen soll, wenn die Geschichte abgeschlossen ist, nachdem ich mich schon durch deine restlichen Geschichten gelesen habe (ich werd dir auch noch Kommentare hinterlassen. Im Moment habe ich nur fast keine Zeit).
Eine Frage hätte ich: Warum nennt Logi Eldur "Refur"?


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