Den Samstag konnte Johannes wirklich vergessen, der war für ihn gelaufen, denn er schaffte es nicht, sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Weder auf die ungeheure Masse an Hausaufgaben, auf das geistreiche Fernsehprogramm, auf die netten Beleidigungen der Internetuser von einer der 10.000 lahmarschigen Internetseiten noch auf das Gerede seiner Mutter, die alle zehn Minuten in sein Zimmer schneite, von Kevins ungewöhnlichem Verhalten schwärme, seine Wäsche stahl oder die Pflanzen goss.
Und das lag ganz allein an der Unverschämtheit eines pubertierenden Blödmanns, der selbst in hundert Jahren nicht verstehen würde, dass er nicht alles, was sich bewegte, anhüpfen und sexuelle belästigen durfte.
Kein Wunder, dass er keine richtigen Freunde hatte.
Und wieso dachte er jetzt schon wieder über T.L. nach? Das war doch genau das, was er die eigentlich verhindern wollte. Ziel verfehlt, dumm gelaufen. Irgendwann würde er ihn wirklich verklagen, selbst wenn sich der Richter, der diesen Fall behandeln würde, dabei totlachte, das interessierte ihn zur Zeit kein bisschen.
Wegen Tobi konnte er nicht mal Fernsehen! Und das konnten sogar Leute, die krank im Bett lagen und sonst nichts Anderes tun durften. Hatte er ja auch schon öfters mitbekommen.
So, Krankheit und Tobi waren keine schönen Themen zum Nachdenken, da sah Johannes ein, also benötigte er Ablenkung, viel Ablenkung. Vielleicht sollte er mal Tanja anrufen, um ihr von der neusten Entwicklung zwischen sich und dem fehlorientierten Typen zu berichten.
Jetzt dachte er schon wieder an ihn. Gestört.
Und nun dachte er, dass er an ihn dachte! Bald würde er noch wahnsinnig werden, weil er an nichts Anderes mehr dachte. Na super, tragischer Tod eines Minderjährigen wegen Doofheit und Überbelastung des Gehirns mit gewalttätigen Inhalten. Das druckte doch keine Zeitung der Welt, nicht einmal für Geld.
Ziemlich verwirrt durch seine unlogischen Gedanken schnappte er sich das Telefon aus dem Flur, warf sich auf sein Bett und tippte die vertraute Nummer der Kufenbergs an. Mutierte er langsam zur Frau, weil er so oft dort anrief? Das musste er längere Zeit beobachten, hoffentlich nicht. Schwanger werden war eine der vielen Dinge, die er nicht unbedingt sein wollte. Und mit Schminken konnte er nichts anfangen, genauso wenig wie mit Kleidern und Kitschfilmen.
Nein, er hatte überhaupt keine Vorurteile gegenüber der weiblichen Bevölkerung.
„Kufenberg?“
Oh nein, nun begann wieder die störende Telefonnervosität. Konnte man die nicht abstellen oder per Päckchen an jemand anderes verschicken? Zur Not auch im See versenken, Hauptsache, sie ging anderen auf den Zeiger.
„Hallo, hier ist Johannes, ist Tanja da.“ Sagen Sie ja!
„Nein, die ist schon den ganzen Vormittag weg, ich weiß auch nicht, wohin. Soll ich ihr etwas ausrichten?“
„Nein, nicht nötig.“ Ja, sagen Sie ihr, ich habe durch verschiedene Arten homosexueller Handlungen mein Hirn verloren, sie soll mir helfen, es zu suchen. Klang das nicht schön und vernünftig? „Auf wiedersehen.“ Schon doof, dass er hier am Telefon mit Tanjas Mutter schwätzte, aber solche Feinheiten fielen ihm leider meistens eine halbe Minute später auf. Naja, die Frau würde es gerade so überleben. Wenn nicht: er war unschuldig.
Allerdings fragte Johannes sich, wo zum Geier sein Bruder und seine Freundin abhingen, während er hier so ziemlich alles versuchte, um nicht durchzudrehen. Scheiß Samstag, dummer Tobi, alles bescheuert.
Was hatte dieser Frosch auch für gestörte Probleme und küsste ihn einfach ohne Erlaubnis? Da konnte ja jeder kommen.
Obwohl es sich ja gar nicht so fürchterlich wie erwartet angefühlt hatte, theoretisch hätte er es sich schlimmer vorgestellt. Immerhin war der Kusspartner Tobi, Feingefühl gehörte ja nicht zu seinen überragenden Talenten – und wieder fragte er sich, ob Tobi überhaupt Talente besaß – und außerdem war er ein Junge. Oder sollte zumindest einer sein.
Küssende Mädchen fand die Gesellschaft in Ordnung, aber bei Jungs ging sie auf die Barrikaden. Irgendetwas stimmt da nicht.
Wann merkte man als Junge eigentlich, wenn man in einen anderen Jungen verknallt war? Kann irgendwann nachts im Schlaf die Erkenntnis? Klebte einem ein Zettel mit 'homosexuell' auf der Stirn? Oder verstand man es gar nicht? Schwere Frage, die er hoffentlich nie beantworten musste und Tobi würde er nicht fragen, der lachte sich höchstens tot. Obwohl das ja auch gut wäre, dann hätte er seine Ruhe vor ihm...
So vergingen auch die folgenden Stunden; Johannes kam zu keinem eindeutigen Ergebnis – er hatte ja nicht einmal eins gesucht – und wartete, dass ihn möglicherweise Tanja zurückrief, was sie nicht tat. Wunderbares Wochenende.
Aus Protest versuchte er schon um neun Uhr einzuschlafen, doch hatte sich seine gesamte Familie gegen ihn verschworen und veranstaltete bis um elf einen solchen Lärm, dass Johannes genervt wieder aufstand und begann, sein Bücherregal umzusortieren, damit er überhaupt etwas tun konnte.
Am Sonntagmorgen weckte ihn seine Mutter mit einem fröhlichen „Guten Morgen, Johannes, wir machen heute einen Ausflug!“ und übersah dabei gekonnt die nicht vorhandene Begeisterung ihres Sohnes. Familienausflüge endeten meist in gähnender Langweile, weil seine Eltern ihre drei Kinder zwangen, durch kleine Käffer oder XXL Wälder zu laufen und die Natur zu bewundern. Welcher Teenager fand das toll? Genau, keiner.
Vor allem hatte Johannes zum wiederholten Mal ziemlich beschränkte Dinge geträumt – Tanja und Tobi waren mit ihm verheiratet, aber Tobi betrog ihn mit Kevin und Tanja fing eine Affäre mit Vera an – und wollte einfach nur weiterschlafen statt sich mit seiner Familie zu befassen.
„Sagt mal, Jungs, was ist im Moment mit euch los?“, ragte Vera, als ihre Brüder beim Frühstück nicht wie sonst den ganzen Brötchenkorb allein plünderten; Kevin malte komische Kreise mit dem Löffel in seinem Kakao und Johannes starrte wie hypnotisiert auf die Butterdose, als würde sie ihn bald in alle Geheimnisse des Lebens einweihen.
Plötzlich veränderte sich Veras Gesichtsausdruck zu einem verständnisvollen Grinsen. „Hatte euer kleiner Partyausflug doch Erfolg? Habt ihr endlich ein nettes Mädchen kennen gelernt?“
Kevin reagierte gar nicht und Johannes hustete so gekünstelt, dass Vera beleidigt das Thema fallen ließ. Männer konnten ihrer Meinung nach wirklich nicht mit Frauen über ihre Gefühle reden, sogar ihr Freund schaffte das nicht.
Gegen halb eins scheuchte Frau Sander ihre Kinder ins Auto, diskutierte noch schnell mit ihrem Mann, wohin sie überhaupt fahren wollten und schließlich kurvten sie fast eine Stunde durch ein Gebiet, noch unbekannter als Hintertupfingen, bis sie an einem x-beliebigen Wäldchen hielten und Johannes sich fragte, weshalb sie für diese fünf Tannen ihr Benzin zum Fenster rauswarfen. Und außerdem gab es hier keine Ablenkung, seine Gedanken würden ihm wieder schön auf die Nerven gehen.
Genau so kam es auch; aus Langweile überlegte er, ob Tobi vielleicht schwanger werden konnte, ob er ihn am Montag wieder belästigen würde und weshalb ihn das überhaupt interessierte, da er es spätestens morgen erfuhr. Außer er schwänzte die Schule.
Als es schließlich anfing, leicht zu nieseln, entschlossen drei Fünftel der Familie endgültig zu streiken und somit musste sich der Rest geschlagen geben.
Fazit dieses Ausflugs: Dumm Gedankengänge, hoher Benzinverbrauch und nasse Kleidung.
„Das habt ihr echt gut geplant“, murmelte Johannes und beobachtete Kevin, der schon die ganze Zeit nicht wirklich anwesend war. An was der wohl dachte? Sicher nicht an Mathematik. Aber hoffentlich nicht an solche tollen Dinge wie Johannes selbst, es reichte, wenn einer von ihnen pausenlos an ein und denselben Typ denken musste, ob er wollte oder nicht.
Nein, er war nicht verknallt, das war... geistige Verwirrtheit! Genau, sowas passierte sicher öfters in der Pubertät, also brauchte er sich keine Sorgen zu machen, morgen war das wahrscheinlich verschwunden.