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Fensterschreiben

Every day is writing day
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Abbreviation II (23.02.09)

Kurz nachdem er Platz genommen und begonnen hatte seine Sachen auf dem Tisch zu verteilen, betrat sein Dozent, ein Mann mittleren Alters mit schütterem Haar, den Saal und schloss die Tür hinter sich. Es blieb ruhig, man nickte sich gegenseitig zu und das Gemurmel verstummte langsam, während der Professor einige Daten an die Tafel schrieb. Als er fertig war, deutete er auf den ersten Punkt, ein Datum.

„Klausurtermin“ - den zweiten Punkt - „Abgabe der Hausarbeit“ - und den letzten Punkt „Lektüre für nächste Woche.“ Er sah sich einen Moment fragend um, dann ging er zum Pult und nahm eine abgegriffene Textausgabe voller Zettel und Eselsohren in die Hand.

„MF 126, 8. Seite 38. Lesen. Übersetzen.“ Er zeigte hintereinander auf zwei Studentinnen vorne in der Fensterreihe. Die erste, ein dunkelhaariger Lockenkopf mit kariertem Schal, sah ihn ängstlich an, nahm dann jedoch ihre eigene Textausgabe vom Tisch und räusperte sich sehr melodisch.

„Von den elben wirt entsehen vil manic man, sô bin ich von grôzer liebe entsên von der besten, die íe dehein man ze vriunt gewan.“ Sie blickte vorsichtig auf wie ein kleines Tier, über das gerade der Schatten eines viel größeren Lebewesens gefallen ist. Der Professor nickte lächelnd und zeigte auf ihre Sitznachbarin.

„Von den Elfen werden viele Männer nicht gesehen, so wie ich von der Liebe der Besten nicht gesehen werde, die jemals irgendeinem Mann nahe stand“, übersetzte die blonde Nachbarin in gebrochenen Abständen. Der Professor sah erst sie, dann seinen Text, dann den Kurs nachdenklich an.

„Einverstanden. Fragezeichen.“ Eine Hand ging nach oben. Der Professor nickte.

„Elben. Nicht Elfen“, stellte eine langhaarige Gestalt mit Metal-T-Shirt aus der hinteren Reihe mit missbilligender Stimme fest.

„Unklar. Weitere. Fragezeichen.“ Er meldete sich. Der Professor nickte in seine Richtung.

„Erster Satz. Vil manic man, Subjekt. Passive Verbkonstruktion, Bezug auf Subjekt, nicht Objekt“ korrigierte eine langhaarige Gestalt mit Strickpullover aus der hinteren Reihe.

„Übersetzung. Fragezeichen.“ Er drehte kurz den Kugelschreiber zwischen den Finger und dachte nach.

„Von den Elben werden viele Männer geblendet, so wie ich von der Liebe geblendet bin von der Besten, die je einem Mann nahe stand.“ Er sah nachdenklich das Papier an, in der Hoffnung die Druckerschwärze würde ein Geheimnis preisgeben, das sie unter ihren schwarzen Fittichen verbarg.

„Präzisierung. Fragezeichen“, erkundigte er sich vorsichtig und blickte dabei den Professor an.

„Gerne.“ Dieser nickte nur lächelnd und ließ sich in den Stuhl hinterm Pult sinken.

„Mir fällt keine angemessene Übersetzung für diesen Passiv ein. Es ist nicht einfach, als würde dort stehen 'Von Elben wurden viele Männer gewaschen' oder so etwas. Entsehen, das hieße paraphrasiert die Wegnahme oder Negation von Sehen wird von übernatürlichen Wesen auf passive Art und Weise vollführt und im Bezug auf besagte Männer.“ Seine Hände zappelten mit dem Stift in der Luft umher.

„Aber es könnte doch auch genau so gut dort stehen 'Elben entsehen viele Männer'“, gab der Professor zu bedenken.

„Tut es aber nicht. Heinrich scheint bewusst auf die Passivität der Handlung hinzuweisen, die tatsächlich nur aktiv denkbar ist. So kommt es mir zumindest vor. Uns fehlt womöglich das Wort bzw. das Satzgefüge oder der Phraseologismus, mit dem wir so etwas im Neuhochdeutschen ausdrücken können.“

„Gründe, Zustimmungen, Gegenmeinungen. Fragezeichen.“ Ein junger Mann mit Bürstenschnitt auf der Türseite meldete sich.

„Ich könnte mir vorstellen, dass unserer modernen und differenzierten Sprache einfach die Notwendigkeit fehlt einen Ausdruck dafür zu haben, dass ein Wesen durch seine reine Präsenz Handlungen vollführen kann. Wir könnten vielleicht bestenfalls etwas sagen wie 'Männer werden in Anwesenheit von Elfen die Sinne geraubt' oder 'Männer verlieren durch Elfen den Verstand'. Die Vorstellung, dass Lebewesen eine solche Macht besitzen ist einfach bei uns nicht mehr so präsent.“ Gemurmel ging durch den Saal, eine weitere Hand in die Höhe.

„Ich glaube, wir überinterpretieren gerade. Vielleicht wollte Heinrich einfach das lyrische Ich als Subjekt stehen haben, um die Objektrolle der besungenen Frau im Minnesang zu wahren.“ Der Professor lachte.

„Ich bin schon froh, dass wir im Neuhochdeutschen noch zumindest darüber spekulieren können, wie die Konstruktion gemeint sein könnte und wo die Gründe liegen. Was sollte ich denn in Abbrevia darüber sagen? 'Zeile 1. Übersetzung unklar, vielleicht unmöglich. Kein Ausdruck für Passivkonstruktion. Gründe. Fragezeichen.'“ Der Kurs lachte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Ito-chan
2009-07-28T18:11:39+00:00 28.07.2009 20:11
Ich muss sagen, ich fühle mich in eine Vorlesung zum Thema Minnesang versetzt. Auffällig dabei, dass alle die Fragezeichen als solche aussprechen, du sie nie setzt. Schöner Kontrast zwischen Minnesang und Neuhochdeutsch und ein guter Hinweis auf Übersetzungsproblematiken.


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