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Leben ist tödlich

Soll denn das Zucken deines Zeigefingers tatsächlich der letzte Akt in deinem Leben sein?
von

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Jan stand an seinem Fenster, blickte hinaus.

Er sah den Garten, sah, wie Rodrigo dort versuchte, Herr über die Gießkanne zu werden.

Sein Blick glitt über die Umgebung, er starrte einige Zeit lang nachdenklich auf die stark befahrene Straße, welche an ihrem Haus vorbeiführte, sah die Menschen da draußen an.

Jan seufzte.

Seit Monaten stand er hier, verließ seinen Platz am Fenster nur zum Schlafen und manchmal zum Essen. Das kam aber eher selten vor.

Noch seltener kam es vor, dass er sprach.

Das tat er nämlich seitdem es passiert war, gar nicht mehr. Kein einziges Wort.

Er schrie nur. Nachts. In seinen Träumen. Wenn sich diese eine Szene, dieser eine Abend wieder abspielte.

Wie oft war er schon schweißgebadet aufgewacht?

Wie oft stand Rodrigo schon an seinem Bett, selbst von Jans Schreien aus dem eigenen gejagt, und versuchte den Blonden zu beruhigen?

Jan wusste es nicht.

Er seufzte erneut.

Die Lippen fest aufeinandergepresst lehnte er an dem Fenster, starrte hinaus, beobachtete Rodrigo, beobachtete ihn, wie er mit dem Nachbar sprach, beobachtete die beiden, wie sie lachten.

Bestimmt über irgendwas banales, alltägliches.

Wie konnten sie nur?

Wie konnten sie nur lachen?

Jan schlang seine Arme um sich selbst, spürte, wie sich alles in ihm verkrampfte. Doch er weinte nicht. Jan Vetter weinte nicht. Seit Monaten nicht mehr.

Seitdem es passiert war, gar nicht mehr. Keine einzige Träne.

Er hatte nichtmal geweint, als es passiert war.

Als sie diesen schrecklichen Autounfall hatten.
 

Sie hatten einen schönen Abend verbracht.

Farin und Bela waren etwas essen. Etwas, was viel zu selten vorkam.

Sie hatten Spaß, blödelten rum, lachten. Taten, was beste Freunde halt mal machten.

Was Seelenverwante halt mal machten.

Sie gingen aus dem Restaurant, Hand in Hand, damit Bela nicht allzusehr wankte. Es regnete. Es regnete furchtbar. Innerhalb weniger Augenblicke waren sie auf dem Weg zu Farins Auto vollkommen durchnässt.

Und Bela kicherte, drehte sich, als Farin gerade das Auto aufschloss, um, breitete die Arme aus, schlang jene um den Gitarristen und küsste ihn einfach grinsend.


 

Jan lächelte bitter, als er daran zurückdachte.

Dieser Kuss bedeutete nichts, dieser Kuss war nur einer von vielen. Nicht dass sie ein Paar gewesen waren, niemals. Aber das zwischen ihnen war etwas besonderes. Viel intensiver als eine Freundschaft. Auch viel intensiver als Liebe.

Da war so ein Kuss doch selbstverständlich.

Doch Jan erinnerte sich an diesen Kuss, als wäre er gerade eben geschehen. Er erinnerte sich daran, wie ihre Lippen aufeinandertrafen, wie Regen auf sie herabprasselte. Er konnte sich an jeden Wassertropfen auf seiner und Belas Haut erinnern.

Warum dieser Kuss dennoch so wichtig für ihn war?
 

Farin lachte gegen Belas Lippen, strich dem Kleinen durch die Haare, löste sich schließlich von ihm und schüttelte amüsiert den Kopf.

"Steig ein..du holst dir ja noch den Tod."

Wie recht er hatte.

Sie stiegen in den Wagen und Farin fuhr los. Bela machte das Radio an, trommelte mit den Handflächen den Takt auf seinen Oberschenkeln mit, starrte abwesend hinaus in die dunkle Umgebung.

Regen, nichts als Regen.

Und dann passierte es, wie im Film.

Aus dem Nichts tauchte ein Tier auf, Jan wusste bis heute nicht, welches, und sie krachten frontal in den entgegenkommenden Wagen.

Das nächste woran er sich erinnern konnte, war ein unbändiger Schmerz, welcher sich hüftabwärts breit machte. Doch das war nebensächlich.

Genauso wie das Blut, welches von seiner Schläfe tropfte.

Das einzige, woran Farin denken konnte, war Bela. Bela.

Bela neben ihm. Bela, welcher keinen Laut von sich gab.

"Dirk?", flüsterte er heiser und drehte sich so gut wie möglich zu ihm, was sich als äußerst schwierig erwies. Immerhin war sein Bein zwischen den Trümmern des Wagens eingeklemmt und schmerzte höllisch.

"Dirk?...Bitte sag doch was..."

Seine Stimme nahm einen etwas panischen Unterton an und ihm wurde schwummrig, er sah Belas bleiches, blutiges Gesicht doppelt.

Farin kniff die Augen fest zusammen, öffnete sie dann wieder.

"Dirk...!"

Doch nichts.

Stille.

Nur von weit, weit weg hörte er ein Geräusch. Sirenen. Anscheinend war er doch etwas länger bewusstlos gewesen.

"Dirk..." Er keuchte leise, als er ein ekelhaftes Krachen hörte, welches von seinem Bein ausging. Das Krachen, wenn Knochen an Knochen rieb.

Die Sirenen wurden lauter und Farin ließ sich wieder nach hinten sinken, hatte einfach keine Kraft mehr.

Die Ärzte würden ihnen schon helfen...

...bestimmt.


 

Weil es ihr Letzter war.

Er hatte Belas Grab nie besucht. Nie hatte er den Mut aufgebracht, an solch einen unheimlichen Ort zu gehen. Obwohl er bis zu diesem einen Abend Friedhöfe furchtbar beruhigend und friedlich gefunden hatte.

Schmerzlich dachte er daran zurück, wie sie beide, Bela und er, früher auf Friedhöfen rumgelungert hatten. Bela fasziniert von der Tatsache, Hunderte von Leichen hier anzutreffen, Jan eher genervt und gelangweilt von dem ganzen Aufstand, den Bela deswegen machte.

Heute würde er alles, alles dafür geben, Bela noch einmal so glücklich zu sehen.
 

Er musste sich setzen. Sein Bein schmerzte wieder fürchterlich.

Seit dem Unfall konnte er das Bein kaum belasten, konnte kaum gehen. Doch am Fenster stehen, das funktionierte. Der Schmerz lenkte ihn wenigstens von dem Seelischen ab.

Eine etwas andere Art und Weise von selbstverletzendem Verhalten.

Jan wollte sich nicht ansehen. Seit Monaten hatte er in keinen Spiegel mehr gesehen. Er wollte sich nicht sehen, wollte nicht sehen, wie mager er geworden war, wollte nicht sehen, wie tief seine Augenringe, wieviel mehr seine Falten geworden waren.

Es reichte schon, wenn Rodrigo erschrak, sobald sie sich wieder gegenüberstanden.
 

Seufzend sah er sich in seinem Zimmer um. Alles beinahe steril, die Kleidung fein säuberlich im Schrank gefalten, gestapelt, der Schreibtisch bis auf einen Stoß weißes, teilweise beschriebenes Papier und ein paar Stifte leer.

In der Ecke stand seine Gitarre, verstaubt, seit Monaten unbenutzt.

Und auf dem kleinen Nachttisch befand sich ein Bild, weder eingerahmt, noch irgendwie anders geschützt.

Es lag einfach da und machte Jan noch trauriger.

Doch weggeben würde er es nie. NIE.

Es war viel zu wertvoll, um es in einer Schublade verschwinden zu lassen.

Jan griff danach, betrachtete es zum ersten Mal seit Monaten wieder.

Es tat so weh.

Das Foto wurde vor Jahren geschossen. Es zeigte sie beide. Damals noch Farin und Bela. Niewieder hatte Jan mit diesem Namen unterschrieben. Farin. Das war eine andere, ihm schon fast fremde Person.

Er hatte sich auch nicht mehr die Haare gefärbt. Das Platinblond war schon lange her.

Heute hatte er seine Naturhaarfarbe wieder. Dunkelblond, fast schon grau.

Und als er das Bild so betrachtete, sie beide, Arm in Arm, wie sie in der Sonne stehen, Bela seine Stirn an Farins Kinn gelehnt, sie beide lachen...da fing Jan an zu weinen. Zuerst tropften nur stumme Tränen auf das Bild, dieses verschwamm vor seinen Augen.

Er blinzelte, Tränen rannen über seine Wange und er zog die Schublade des Tisches auf, nahm die Waffe darin heraus.

Jan schluchzte.

Sollte er?
 

Mit einer Waffe an der Schläfe willst du dich für alle Ewigkeit von deinem Schmerz befreien.

Soll denn das Zucken deines Zeigefingers tatsächlich der letzte Akt in deinem Leben sein?


 

Farin schluchzte erneut. Seine unsichtbare Schutzmauer fing an zu bröckeln, ganze Steine fielen aus ihr heraus.

Er hatte verloren.

Verloren gegen sich selbst.

Und er hasste sich dafür, nicht stark genug zu sein. Für Bela.

Die Waffe war kalt, schwer lag sie in den so dünn gewordenen Händen Jans.

Sein eigener, nein, Farin Urlaubs Song ging ihm durch den Kopf, Jan lachte bitter auf. Oh ja, damals... er hätte nie gedacht, dass es so weit kommen würde.

Dass sich der selbstbewusste, immerzu fröhliche Strahlemann Farin Urlaub umbringen würde.

Dass er sich einfach eine Waffe an die Schläfe halten würde und abdrücken würde.

War es nun soweit?

War es heute soweit?

Er hatte keine Angst.

Ganz naiv war er, dachte er selbst. Ganz naiv glaubte er, im Jenseits wieder zu Bela zu finden.

Er hob die Waffe ein Stückchen hoch, strich über das kalte Material, strich über den Abzug.

Er würde eine furchtbare Sauerei hinterlassen, das hatte er aus den unzähligen Horrorfilmen gelernt, die er damals mit Bela gesehen hatte.

Bela.

Fast schon müde hob er die Waffe an seine Schläfe, presste die Lippen aufeinander und drückte ab.

Vielleicht würden Rodrigo und der Nachbar jetzt aufhören zu lachen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (6)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  P-Chi
2009-07-21T20:54:00+00:00 21.07.2009 22:54
Scheiße, ich vergessen wie traurig die Story ist ;___;
Fuck, wehe ich fang an zu flennen >_<"
*tret*
Du bist so böse! *schnief*
...ändert aber leider nichts an der Tatsache das deine Schreibstil mal wieder 1A war und ich nur vor dir zu Boden kriechen kann um etwas von deinem Talent aufzusauen xDD
Farin...dieser Dr.House-Krüppel xDD *grins*
*Farin knuddel* Er war so süüüß und bemitleidensweeert xDD *lach*

lg Lali
Von: abgemeldet
2009-05-17T13:07:12+00:00 17.05.2009 15:07
Ich bin ... sprachlos. Mir fehlen wirklich die Worte. Du bist Schuld daran, dass ich gerade mitten in der Geschichte abbrechen musste und weggerannt bin, um bei meinem Kater zu sitzen und zu weinen ... verdammt, die Geschichte ist so traurig, aber irgendwie auch schauderhaft schön. Wie machst du das? Ich habe gerade wirklich ca. eine Viertelstunde geweint ...
Von: abgemeldet
2009-05-08T13:01:16+00:00 08.05.2009 15:01
Sehr sehr traurig und sehr sehr schön.
Alles wunderbar be- und geschrieben, ich hab nur eine kleine Sache anzumerken, die mir persönlich nicht ganz so passend vorkam.
Der letzte Satz "Vielleicht würden Rod und der Nachbar jetzt nicht mehr lachen". Ich fand, dass klang ein wenig, als wollte er sich Rächen oder Rod eins auswischen oder so. Man kann schon nachvollziehen, dass er nicht versteht, wie Rod lachen kann, aber der letzte Satz lässt es ein wenig so klingen, als hätte er deshalb einen richtigen Hass auf Rod. Wenn das so beabsichtigt war, dann hätte ich das vorher schonmal deutlicher als in der Frage "Wie konnten sie nur lachen?" erwähnt.

So, das war aber wie gesagt nur meine persönliche Meinung und bis auf das fand ich die story wahnsinnig toll und mitreßend *Lob* ;-)

glg vampy
Von: abgemeldet
2009-05-08T06:12:37+00:00 08.05.2009 08:12
Ich kann cooking_butty nur zustimmen:
Mitreißend und schauderhaft schön...
Von:  Toozmar
2009-05-07T17:51:55+00:00 07.05.2009 19:51
die Story ist echt gut geschrieben. Auch mit dem Flashback, passt da richtig gut in die stimmung rein...
Von:  cooking_butty
2009-05-07T11:08:50+00:00 07.05.2009 13:08
wow...einfach nur wow!
So traurig und doch soo wunderschön geschrieben

aber der Schlusssatz ist...puh...


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