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Das Maleficium

von

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Erst auf der Treppe, die in das obere Geschoss führte, merkte er, wie schwer seine Füße waren. Doch dies mochte eher von der ausgiebigen Mahlzeit und vom schweren Bier gekommen sein, dachte er, während er Stufe um Stufe überwand. Zu Fuß waren sie heute nicht viel gegangen; nichtsdestotrotz hatte ihn die Fahrt mit der Rebellengruppe ermüdet.

Er brauchte einen Moment zur Orientierung, in dem er feststellte, dass das Fremdenzimmer in dem Stockwerk aus einem langen Raum bestand, in dem schmale, einfache Betten in Reih und Glied standen. Weitere Gäste außer ihnen gab es hier offenbar nicht, und so fand er nur Nadim und auch Hargfried in dem Raum vor. Nadim lag da, die Decke bis zur Nase gezogen; es klang, als würde sich eine Truppe Holzfäller an einem Wäldchen zu schaffen machen.

Von dieser Geräuschkulisse unbeeindruckt lag Hargfried mehrere Betten weiter. Neben seiner Liegestatt lehnte sein Schwert an der Wand, die Teile seiner Rüstung lagen geordnet davor. Im Halbdunkel des Raums, das nur vom kargen Licht einer vereinzelten Glühdrahtlampe im Gang erhellt wurde, erkannte Dorian, dass er schlief und nur hin und wieder mit den auf der Brust gefalteten Händen zuckte.

Dorian betrachtete dieses friedliche Bild eine Weile. Er spürte die Müdigkeit ebenso, doch etwas hinderte seinen Entschluss, es ihnen gleichzutun. Nach einem Moment des Zögerns schloss er die Tür wieder.
 

Seine Schritte führten ihn durch den Flur, ohne ein Ziel erraten zu lassen. Dorians Gedanken bewegten sich langsam im Kreis, auf angenehme Weise, wie ein Schiff, das sich auf sanften Wellen wiegt. Sein voller Magen und das Bier versetzten ihn zusätzlich in eine entspannte Dumpfheit. Doch etwas hinderte ihn daran, sich schlafen zu legen, was im Moment das Vernünftigste gewesen wäre.

Einen Moment wälzte er den Gedanken, wieder hinunter in den Gastraum zu gehen. Doch dafür war sein Kopf, in dem die Geräusche seiner Umgebung mehrfach widerhallten, schon zu schwer. Am Ende des schwach erleuchteten Flurs sah er eine Tür einen Spalt offen stehen. Sie lag an der Wand, in der auch eine Reihe von in Zinn gefassten Fenstern war. Das Licht der Straßenlaternen brach sich in ihnen und warf dunkelrote Schatten in den Flur. Aus einem Impuls heraus ging er auf die Tür zu und öffnete sie ganz.

Sie führte auf einen schmalen Balkon, wie er herausfand. Von diesem aus konnte man die Straße überblicken, die sie am späten Nachmittag entlanggegangen waren. Die Luft hier draußen war kühl und kitzelte ihn in seinen müden Augen. Dann fiel sein Blick auf Iria, die am Ende des Balkons stand. Sie hatte ihn offenbar gleich gesehen und blickte ihn nun traurig an.

„Ich kann auch wieder gehen, wenn du allein sein willst“, sagte Dorian eilig. Er wollte schon die Tür zuziehen, doch Iria schüttelte den Kopf und wandte sich ab.

„Es macht mir nichts“, antwortete sie mit gleichgültiger Stimme. Dorian nickte als Antwort, obwohl sie ihn gar nicht mehr ansah. Einen Moment blieb er unschlüssig auf der Schwelle stehen. Er merkte aber, wie erfrischend die Luft hier draußen war im Vergleich zur verrauchten Gaststube. Die kühle Nachtluft prickelte auf seinen unbedeckten Oberarmen; sie roch nach dem Eis ferner Gletscher.

„Tja… Vielleicht finden wir das Maleficium morgen“, sagte Dorian, um die Stille zu durchbrechen. In der Tat war es ruhig auf den Straßen, und das einzige Geräusch, das zu ihnen heraufdrang, waren die lauten Gespräche aus der Gaststube, die gedämpft durch den Holzboden klangen.

„Wenn er es uns nicht vor der Nase wegschnappt“, antwortete Iria, als er es gar nicht mehr erwartet hatte. Erstaunt blickte er sie an. Sie hielt den Kopf gesenkt, und es sah aus, als würde sie jemanden erwarten, der unterhalb des Balkons auf der Straße auftauchen mochte. Doch die Straßen waren wie ausgestorben, und aus einem ihm selbst unbekannten Grund tat sie Dorian plötzlich leid.

„Wie meinst du das?“

„Na ja… Diese ganzen Geschichten. Es ist doch offensichtlich.“ Dorian sah im Licht der Straßenlaterne, wie sie die Augen verdrehte.

„Geschichten“, wiederholte Dorian, der in seinen zähflüssigen Gedanken nach der damit verbundenen Erinnerung suchte.

„Na, diese Geschichten, dass das Maleficium einen bösen Geist hat und so gefährlich ist“, sagte sie und rief ihm damit Sariks Ausführungen ins Gedächtnis. „Wenn du mich fragst, er will uns nur Angst machen.“

„Glaubst du?“ Dorian lehnte sich auf das gemauerte Geländer, das sich angenehm kühl anfühlte. „Warum sollte er das tun? Er hat uns bis jetzt auch nicht geschadet.“

„Glaubst du denn, er wird es so tun, dass wir uns nachher noch darüber beklagen können!?“

Ihre Stimme wurde schrill. Auf ihrem Gesicht loderte heller Zorn, der aber schnell wieder versiegte. Nach einem Moment, in welchem sich ihr Blick von verärgert zu resigniert wandelte, blickte sie wieder auf die nächtliche Straße hinab. Dorian blinzelte unschlüssig und schämte sich, wenngleich er nicht wusste, wofür.

„Es… Es tut mir leid“, sagte sie einige Augenblicke später. „Ich wollte dich nicht anschreien.“

„Äh, keine Ursache“, antwortete Dorian, der verwirrt war, über ihren plötzlich aufflammenden Ärger genauso wie über sich selbst.

„Es ist nur… Dieser Sarik weiß mehr, als er sagt. Er benützt uns, und er weiß, wie er uns von sich abhängig machen kann.“

Dorian sah, wie sie die Fäuste ballte. Er versuchte, sich die Einzelheiten ihres Gesprächs heute bei Tisch in Erinnerung zu rufen, um nach dem Quell ihres Ärgers zu forschen. Er gab dies bald aber wieder auf und rieb sich seufzend den Nacken.

„Das glaube ich weniger. Wenn er sich unser entledigen wollte, hätte er das schon tun können.“

„Glaubst du das im Ernst?“ fragte sie ihn und sah ihn mit schmalen Augen an. „Er braucht uns nicht, aber wir brauchen ihn. Irgendwas steckt dahinter…“ Ihre letzten Worte verloren sich in einem Murmeln, das schließlich in Schweigen überging.

„Du willst das Maleficium unbedingt finden, nicht wahr?“

Dorian sah sie nicht an, während er diese Worte sprach. Sein Blick ging zum Himmel, an dem hinter dichten Wolken der Mond fahl leuchtete. In der Ferne konnte er die Wüste erahnen, die sie durchquert hatten, und allein der Gedanke, jetzt dort draußen zu sein, ganz allein in dieser kargen Einöde, ließ ihn frösteln.

„Pielebott ist keine große Stadt, wie ich dir ja schon erzählt habe“, begann Iria nach einer Weile. Dorian vermied es, sie anzusehen. Sein Blick war auf die endlos anmutende Ebene gerichtet, die er zwischen den Dächern der Häuser auf der anderen Straßenseite erblicken konnte. „Nach dem Krieg damals kamen viele Flüchtlinge durch. Manche blieben und siedelten sich an, andere zogen weiter… Angeblich waren meine Eltern unter ihnen. Sie kamen aus Urakand und brachten mich nach Pielebott. Sie sind dann- “ Ihre Stimme stockte. Dorian hörte sie tief durchatmen. Dann sprach sie weiter. „Noch als ich ganz klein war, wurde ich von unserer Diebesgruppe aufgenommen. Meister Paltram hat mir alles beigebracht.“

Dorian, der immer noch zwischen den Hausdächern nach der Wüste schaute, konnte sie lächeln hören. Der Wind strich ganz leicht über die Dächer, und Irias Stimme mischte bei diesen Erinnerungen einen wohltuenden Klang in das leise Geräusch. Ganz anders als vorher, wo ihr unterdrückter Ärger durchgeklungen war.

„Meister Paltram hat immer dafür gesorgt, dass wir das Notwendigste haben. Vor allem für uns Mädchen in der Gruppe. Ich habe oft daran gedacht, wenn wir in den Straßen unterwegs waren und Frauen sahen, die an den Straßenecken standen und warteten. Männer kamen dann vorbei, laute und schmutzige Kerle oft. Die Frauen gingen dann mit diesen Männer mit.“

Leiser Abscheu trübte den Klang ihrer Stimme, und Dorian schauderte es. Weniger wegen dem Sinn ihrer Worte, sondern mehr, weil nun in dieser Nacht, die sich wie eine kühle Hand über Kurrel gelegt hatte, etwas fehlte. Als hätte der Klang ihrer Stimme den in Dunkelheit liegenden Häusern ringsum eine eigene warme Farbe verliehen, die man weniger sehen, sondern eher spüren konnte.

„Sie mussten es tun. Jeder will überleben, irgendwie. Aber trotzdem fand ich es schlimm… Es machte mich traurig. Meister Paltram hat dafür gesorgt, dass es uns besser ging als diesen Frauen.“

Die bittere Farbe, die ihre Stimme angenommen hatte, lichtete sich wieder. Dorian schloss die Augen und atmete die frische Luft tief ein. Es war ihm, als wäre nun, da ihre Stimme die Farbe wieder aus glücklicheren Erinnerungen gewann, alles um sie herum in ein sanftes Licht getaucht. Er wunderte sich einen Moment, als er die Augen öffnete, dass es dunkel war.

„Du hattest den Plan von Anfang an, richtig?“ fragte er sie. Sofort merkte er die Änderung, im Licht und im Klang, der nicht nur das Außen, sondern auch ihn selbst zu erfüllen schien.

„Es fiel Meister Paltram schwer, aber er musste ein paar von uns zu einem befreundeten, zu eurem Gildenhaus schicken. Er hatte auch Angst um uns, wegen des Krieges. Kurz nach unserer Ankunft habe ich die Gerüchte über das Maleficium gehört, dass es nun in Galdoria sein soll. Von da an wusste ich, was ich tun würde.“

Zum ersten Mal, seit Iria von ihrer Heimat zu erzählen begonnen hatte, blickte Dorian sie an. Die Haut ihrer Wangen schimmerte in einer Farbe ähnlich des Sonnenaufgangs im schwachen Licht der Straßenlaterne, die unter dem Balkon stand. Ihre Augen blickten klar und fest in die Ferne, ihre Haltung war aufrecht, beinahe stolz.

Er spürte keine Müdigkeit mehr, und die Schwere in seinem Kopf, hervorgerufen durch das dunkle Bier, war ebenfalls in den Hintergrund gedrängt. Dies rührte nicht nur von der erfrischenden Nachtluft her, dessen war er sich sicher. Darüber hinaus war ihm die Quelle dieser plötzlichen Klarheit, dieses Friedens, den er empfand, unklar.

Es war nicht der Frieden, den das Vergessen den Menschen schenkt, die von ihren Sorgen gebeugt durchs Leben gehen. Es war die Zuversicht, wie sie auch in den Bäumen und Trieben wohnt, die unter Schnee verborgen liegen und doch wissen, dass sie der Frühling mit seinen lebensspendenden Sonnenstrahlen wecken wird.

Auch hatte er Irias Erzählung klar vor Augen: Ihre Kindheit in einem vom Krieg zerrütteten Land, ähnlich der seinen, das Gefühl der Heimat, das ihr die Diebesgilde gegeben hatte, und die Tragik, die der mögliche Verlust derselben in sich trug. Und doch hatten ihn diese Worte aufgemuntert, ja geradezu mit einem warmen, angenehmen Gefühl erfüllt, fast so, wie die reichliche Mahlzeit seinen Magen mit Wärme versorgt hatte.

Doch dies war anders. Anders selbst noch als der Rausch, der im Alkohol wartet. Es war ihre Gegenwart, ihre Stimme, ihr Gesicht, ob traurig oder auch ärgerlich- es war etwas, das in ihrem Wesen lag und von dem er ahnte, dass es ihm schwer fallen würde, darauf in Zukunft zu verzichten. Dorian erschrak über sich selbst.
 

„Ich lege mich jetzt hin“, hörte er Iria sagen. „Es ist spät, und morgen wird wahrscheinlich ein langer Tag. Und wenn wir verschlafen, ist dieser Sarik womöglich schon über alle Berge.“

Bei den letzten Worten zeichnete sich ein vorsichtiges Lächeln auf ihrem Gesicht ab, das im Licht der Straßenlaterne schimmerte. Dorian sah sie verwirrt an. Es gelang ihm gerade noch, das Lächeln unbeholfen zu erwidern und ihr eine gute Nacht zu wünschen, bevor sie den Balkon verließ. Zurück blieb Dorian, der die Welt- vor allem aber sich selbst- nicht mehr verstand.
 

Die Schwere in seinem Kopf und in seinen Gedanken kehrte zurück; Dorian benötigte einen Moment, um zu realisieren, dass Iria gegangen war.

Der Wind, der immer noch in kaum spürbaren Böen über die Dächer strich, war derselbe wie vorhin, ebenso wie die Straßenlaterne unter dem Balkon, die ihr bernsteinfarbenes Licht auf das Kopfsteinpflaster darunter warf. Auch die kahlen Ebenen, die sich von hier aus in kalte, lebensfeindliche Fernen erstreckten, wie auch die Felsriesen aus Stein und Eis, die sich unsichtbar in seinem Rücken hinter der Gaststube auftürmten- all diese Dinge waren unverändert und würden es auf Zeitalter hin auch bleiben. Aber in ihm, in Dorian Alberink, hatte sich etwas verändert.

Eine Weile stand er noch am Balkongeländer, blickte nach dem hinter einem dunklen Vorhang verborgenen Mond und vermisste die Sterne, die er so oft vom löchrigen Dach am Bucket-Weg aus beobachtet hatte. Schließlich wurde ihm kalt, und er trat wieder in den Flur.

Die Wärme des Gasthauses umfing ihn. Jetzt erst spürte er die Schwere seiner Schritte, in die die Müdigkeit des Abends zurückkehrte. Sie führten ihn in das Fremdenzimmer, indem nun auch Iria schlief. Zumindest lag sie in einem Bett, ihre Schuhe davor, die Decke bis an ihre Schulter gezogen. Sie wandte ihm den Rücken zu, und ihr dunkles Haar fiel in unordentlichen Strähnen über das vergilbte Leintuch. So stand Dorian da und betrachtete sie, um immer wieder aufs Neue von Nadims plötzlichen Schnarchern aus seinen Gedanken gerissen zu werden.

„Wie soll ich da schlafen?“ fragte er halblaut und betrachtete den Nachfahren der Wenzelsteins, der mit offenen Mund und zitternden Augenlidern dalag, und dessen Schnarchlaute von den kahlen Wänden des Fremdenzimmers widerhallten.

„Man gewöhnt sich an alles“, hörte er eine Stimme hinter sich sagen. Erschrocken fuhr er herum.
 

Sarik stand in der halboffenen Tür. Dorian ärgerte sich darüber, ihn nicht gehört zu haben, und Irias Verdacht befeuerte nun seine von Erschöpfung und Bier zähen Gedanken. Im selben Moment schämte er sich vor Sarik für diesen Verdacht, während sein Blick nervös durch den Raum tastete.

„Hoffentlich“, sagte er verlegen. Dabei entschied er sich für eines der freien Betten und ging dorthin.

„Als Soldat lernt man, bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu schlafen. Denn man weiß nie, wann die Nächste kommt“, erklärte Sarik mit sanfter und zugleich ernster Stimme. Dabei stellte er seine Waffe neben einem freien Bett ab. „Aber er schnarcht wirklich furchtbar.“

Dorians drehte sich bei dieser Bemerkung um und bemerkte die Mischung aus Hilflosigkeit und Erheiterung auf Sariks Gesicht, das im Schein der Glühdrahtlampe aus dem Flur lag. Einen Augenblick blinzelte er verwirrt, bis Sarik leise zu lachen begann. Dorian lachte ebenso und dachte daran, dass er Sarik so noch nie erlebt hatte.

„In diesem Gasthaus gibt es keine Einzelzimmer, so müssen wir wohl hiermit Vorlieb nehmen“, sagte Sarik darauf und richtete sich das bereitliegende Bettzeug her. Dorian, von diesem unerwarteten Scherz aufgemuntert, wandte sich ebenso dem Herrichten seiner Schlafstätte zu. Ein fröhliches Lächeln hielt sich hartnäckig auf seinem Gesicht; schließlich setzte er sich auf sein gemachtes Bett.

„Darf ich Sie was fragen?“ fragte er leise, aber gedankenvoll. Sarik, der gerade seine Stiefel auszog, warf ihm einen kurzen Blick zu, bevor er sie vor seinem Bett abstellte.

„Frag nur.“

„Warum- “ Für einen Moment wurde Dorian unschlüssig. Dann schüttelte er seufzend den Kopf und sprach die Frage geradeheraus aus, ohne den Versuch, sie umzuformulieren. „Warum begleiten Sie uns? Warum lassen Sie zu, dass wir sie begleiten? Ich meine…“ Dorian zögerte erneut, blickte zu Boden und rieb sich den Nacken, in banger Erwartung der Antwort. „Ich meine… Sie brauchen uns nicht. Aber wir brauchen Sie.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  fahnm
2010-09-08T22:31:48+00:00 09.09.2010 00:31
Klasse Kapi!^^
Freue mich schon aufs nächste kapi!^^


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