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Weidenrute

Die Geschichte einer wundersamen Freundschaft
von

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Prolog

Karate war ihre Lieblingssportart. Sie liebte vor allem die Kata, die Bewegungsabläufe, die man überall und in jeder Kleidung machen konnte. Heute jedoch war sie zu spät zur Trainingseinheit gekommen und musste daher ohne Gi angrüßen, was der Trainer aber mit Nachsicht erlaubte. Danach durfte sie sich dann umziehen – schnell raus aus den engen Klamotten und vor allem den Schuhen und rein in den weiten, weißen, festen Gi, der Bewegungsfreiheit versprach. Noch schnell den Gürtel umgebunden, Sachen in die Halle mitgenommen, Handtuch beriet gelegt, sodass es nach dem Training direkt ihr schweißnasses Gesicht trocknen konnte – fertig! Mochte die Einheit beginnen!

Doch der Trainer war anderer Meinung über die Nützlichkeit des Handtuches an dieser Stelle. Er schimpfte mit all jenen, die ihr Handtuch auf die Seite gelegt hatten und nach dem Training nicht einmal verschwitzt genug waren, dies zu rechtfertigen.

„Wenn ihr genug geschwitzt habt, beweist es! Eure Handtücher müssen an der Hallenwand hängen bleiben, wenn Ihr sie daran werft! Das tun sie nur, wenn sie nass genug sind!“, rief er und warf ihr Handtuch, bevor sie irgendwelchen Einwand erheben konnte, mit voller Wucht an die glatte Wand. Wie zu erwarten gewesen war, blieb es nicht kleben, dafür verfing es sich aber im Basketballkorb der Turnhalle.

„Was für ein Blödsinn ist denn das, Sensei?“, rief sie ihre Empörung heraus. Das Handtuch, das bestimmt an einigen Stellen feucht war, konnte sie später mit einem Sprung zurückerlangen.

„Kein Handtuch wird, egal, wie nass geschwitzt es ist, an der Wand hängen bleiben! Das liegt in der Natur der Sache!“, schimpfte sie weiter. Während des Trainings waren ihre Worte respektvoller und sie sprach nicht ungefragt. Doch hatten sie bereits abgegrüßt und waren nicht mehr Sensei und Schüler, sondern einfach zwei Menschen.

„Natürlich wird es das! Es würde genug Feuchtigkeit haben, die es hängen lässt – wie bei den Saugnäpfen!“, erwiderte der Trainer erbost und fuchtelte mit seinen Händen herum. Die Ablenkung ihres Senseis hatten einige Schüler, wie sie bemerkte, genutzt, um irgendeinen Trick zu finden, dass ihre Handtücher hängen blieben.

„Etwa so, Sensei?“, wies sie ihn provozierend auf die Tücher an der Wand hin, bei denen sie nun feststellte, dass sie mit Stecknadeln festgesteckt worden waren. Raffinierte Biester, die kleinen Karatekas! Die Sprachlosigkeit ihres Trainers zeigte ihr deutlich, dass er trotz seiner Worte nicht damit gerechnet hatte und sie alle nur schikanieren hatte wollen.

Endgültig holte sie nun ihr eigenes Handtuch aus dem Basketballkorb und begab sich in die Umkleidekabine, wo sie sich umzog, noch immer aufgewühlt vom Verhalten ihres Trainers.

Der war auch nicht besser als ihre Familie, die sie, wenn sie sie überhaupt bemerkten, nur herum scheuchte, anschnauzte oder kritisierte. Das einzige, was sie ihr lassen wollte, waren ihre Karatestunden, doch wenn der Trainer sich über sie beschwerte, war es auch damit aus.

Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie schon viel zu spät dran war. Ihre Mutter, die sie gnädigerweise abholte, wartete nicht gerne. So stürmte sie aus der Umkleide und auf den Parkplatz vor der Halle.

Dabei blieben ihre schönen festen Bergschuhe in der Halle zurück.

Wie gedacht, wartete ihre Mutter schon und ließ sie grimmig einsteigen. Sofort spürte sie, dass ihr Trainer wohl doch gepetzt hatte, denn sonst waren ihr wenigstens ein paar Worte – wenn auch griesgrämige – zur Begrüßung gegönnt. Diese aber und alle anderen blieben aus und auch zaghafte Versuche ihrerseits, ein Gespräch zu beginnen, blieben fruchtlos. So lehnte sie sich resigniert zurück und betrachtete die Landschaft aus dem Fenster.

Dabei fiel ihr auf, dass ihre Mutter nicht die üblichen kurzen Straßen heimwärts nahm, sondern aufs Land raus fuhr. Da sie wusste, dass Fragen unbeantwortet blieben, akzeptierte sie es und schob die Fragen beiseite, die ihr durch den Kopf geisterten. Ihre Mutter musste bestimmt irgendeinen Termin in irgendeiner entfernten Stadt einhalten und kümmerte sich nicht darum, ob ihre Tochter dabei vor Langeweise im Auto starb oder nicht. Die war ja eh nur ein Dorn im Auge mit ihren trotzigen Worten und dem Mut zum Widerstand.

Tatsächlich stieg ihre Mutter in einer großen Stadt weit weg von zu Hause aus und schloss sie ohne ein Wort zu verlieren im Auto ein. Das konnte ja wieder was werden…

Sie beobachtete die Leute, die an ihr vorbei liefen und noch weniger Notiz von ihr nahmen als ihre Familie. Immerhin mussten die sich nicht mit ihr auseinander setzen. Doch auf Dauer war dies keine Beschäftigung für ein Mädchen mit so viel Energie wie sie sie hatte. Die Lider wurden ihr schwer und die Fensterscheibe bot ihr eine angenehme Kopfstütze. Nun nahm sie nur noch am Rande des Bewusstseins die Außenwelt wahr und glitt langsam in einen traumlosen Schlaf.

Plötzlich war sie wieder vollkommen wach. Eine Hecke zur Begrenzung eines Vorgartens hatte auf unerklärliche Weise ihre Aufmerksamkeit erregt. Sie sah genauer hin. Es war eine der seltenen Weidenhecken. Weiden alleine waren hier schon extrem selten. Die Bewohner dieses Hauses mussten furchtbar reich sein, wenn sie es sich leisten konnten, diesen Baum in Heckenform zu halten.

Bei genauerer Betrachtung fiel ihr auf, dass es nicht die ungewöhnliche Hecke war, die ihre Aufmerksamkeit fesselte, sondern ein ganz bestimmter Ast, der daraus hervorragte. Schnell sah sie sich nach allen Seiten um, aber ihre Mutter kam noch nicht wieder. So schnallte sie sich ab, öffnete die Tür und lief zu der Hecke. Der Stock saß nicht besonders fest in ihr und so war es leicht, ihn heraus zu ziehen und mit sich ins Auto zu nehmen. Zufrieden schnallte sie sich wieder an, verschloss die Türen von innen und schlief nun endlich mit dem Stock in der Hand ein.

Er hatte eine wunderbar glatte Oberfläche, stellte sie auf der Rückfahrt fest, so als sei er mit Schmirgelpapier bearbeitet worden. Außerdem hatte er genau die richtige Größe, um ihr als Wanderstab zu dienen. Was für ein herrlicher Weidenstock!

Sie wanderte gerne. Manchmal, wenn sie es zu Hause nicht mehr aushielt, lief sie eine Weile durch die Stadt, bis sie den angrenzenden Hügel erreichte, auf dem sie dann hin und her lief, um alle Geheimnisse zu erkunden, die sie hier vermutete. Allein, versteht sich. Nach Stunden des Laufens kam sie dann erfrischt nach Hause zurück, nur um festzustellen, dass sich nichts geändert hatte. Ihre große Schwester wurde nach wie vor wie eine Prinzessin behandelt und sie ignoriert.

Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch, als ihre Mutter unerwartet hielt und ausstieg. Mitten in der Pampa, rechts und links des kleinen Feldweges waren nur dünne Birken und Felder. Kein einziges Haus war weit und breit zu sehen. Dann wurde die Tür an ihrer Seite aufgerissen und sie aufs Gröbste aufgefordert, den Wagen zu verlassen. „War das noch ihre Mutter?“, schoss es ihr durch den Kopf, während sie hastig ihre Tasche und den Stock schnappte und heraus sprang. Sie beantwortete sich selbst die Frage mit „Nein“, als vor ihrer Nase die Autotür wieder zugeschlagen wurde und ihre Mutter mit vollem Karacho den schmalen Weg zurück donnerte. Sicher fuhr sie jetzt allein nach Hause. Dort würde alles so sein wie immer, wer kümmerte sich schon, ob sie da war oder nicht?



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