Sakura
Als Sakura in das Schloss zurückkehrte, erwartete sie eigentlich nicht, ihren Lehrer bei der Untersuchung einer unbekleideten menschlichen Leiche vorzufinden. Sie blieb perplex in der Tür stehen.
Neigi sah auf: „Oh, meine Schülerin. Schön, dass du zurück bist. Wie war der Aufenthalt bei meinem alten Freund?“
Aus antrainierter Disziplin erwiderte sie. „Danke, sensei. Ich habe viel gelernt, was menschliche Gefühle und deren Auswirkungen auf Krankheiten angeht. Soll ich Euch helfen?“
„Bring zunächst deine Sachen in deine Kammer. Hast du Hunger oder Durst?“
„Nein, danke.“ Er achtete wie immer auf sie.
„Dann komme anschließend her. Wir haben einen Mordfall.“
„Oh.“ Sakura beeilte sich. Mord im eigenen Schloss war sicher nichts, was der mächtige Inu no Taishou schätzte. Er würde gewiss Lord Sesshoumaru anweisen, die Sache aufzuklären, wenn er es nicht gar in die eigenen Klauen nehmen wollte.
So war sie nur kurz darauf wieder bei dem dämonischen Heiler.
„Kennst du ihn, Sakura?“ fragte dieser.
„Er kommt mir bekannt vor,“ gab sie zu: „Ein hoher Beamter, nicht wahr?“
„Ja. Goro Tanaka, der Leiter der Vermögensverwaltung des Herrn. Er wurde erwürgt, wie du hier sehen kannst.“ Er deutete auf die dunklen Male um dessen Kehle: „Die anderen Flecken entstanden durch die Totenstarre, denn er wurde in eine Kleiderkiste gesteckt. Genauer, in die seines Mitarbeiters Umeko Kobayashi. Der müsste in ungefähr zwei Stunden aufwachen, denn ich gab ihm gestern einen starken Mohnsaft. Er war völlig außer sich, als er den Toten fand. - Allerdings kann man zwischen den Schulterblättern einen schmalen, rötlichen, länglichen Abdruck erkennen, der wohl vor Tanakas Tod entstand. - Was schließt du aus diesen Verletzungen?“
Sakura betrachtete das zurecht als Prüfung: „So wie die Male an seinem Hals liegen, muss er von vorn angegriffen worden sein. Das hier sind die Spuren der Daumen, neben jeweils vier anderen Fingern. Die längliche Spur....“ Sie musterte den Rücken der Leiche, die ihr Lehrer anhob: „Das könnte bei dem Mord passiert sein. Wenn der Mörder ihn rücklings über und in die Kiste drückte...deren Ränder sind doch scharfkantig.“
„In der Tat. Weiter.“ Neigi gab sich zu neugierig zu sein, was sie bei den Ermittlungen mit Lord Sesshoumaru gelernt hatte.
Sakura überlegte kurz die Sachlage, ehe sie meinte: „Ich würde sagen, dass der Angreifer kein Dämon war. Dieser hätte nicht solange gebraucht um einen Menschen zu töten, dass solche Male entstanden wären. Umgekehrt: jemand, der so nahe auf sein Opfer zugehen kann und will, hat als Mensch gewiss ein nahes Verhältnis zu ihm, sehr emotional. Und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sich Tanaka nicht gewehrt hat.“
„Der Meinung bin auch ich, meine Schülerin. Ein Mensch hat ihn getötet – und trug gewiss Abwehrverletzungen davon. Das Problem dürfte sein, dass so gut wie jeder Mensch hier im Schloss Kratzer oder ähnliche kleinere Verletzungen bei seiner Arbeit erlebt.“ Er warf einen Blick auf ihren Unterarm: „Sieh dich an.“
„Das ist nur eine kleine Verbrühung....Ja, Ihr habt Recht, mein verehrter Lehrer.“ Das würde die Aufklärung des Mordes kaum erleichtern.
„Was meintest du mit einem nahen Verhältnis?“
Sakura zögerte, ehe sie sagte: „Es mag dumm klingen, aber jemanden zu erwürgen ist.....nun ja, näher als jemanden zu erstechen. Es dauert länger, das Opfer wehrt sich...Ich glaube, ein Mensch braucht sehr viel Gefühl, um so zu töten.“
„Sehr viel Hass, meinst du? Nun, ich bin kein Mensch, ich werde dir da glauben. Auf jeden Fall war der Angreifer stark genug, ihn rückwärts zu drücken und zu erwürgen, sei es aus Zorn, Hass oder sonst einem Grund. Komm, decken wir ihn zu. Ich werde dem Herrn Bericht erstatten. Siehst du nach Kobayashi? Falls er erwacht, melde dies mir oder eher, dem Taishou. Kobayashi wohnt im ersten Stock des Quertraktes, das dritte Zimmer von links. - Oh, du denkst daran, dir die Hände zu waschen?“ Da sie nickte, lächelte er: „Verzeih. Ein alter Lehrer vergisst manchmal, wie aufnahmefähig seine Schülerin ist.“
„Oh, Ihr braucht Euch doch nicht zu entschuldigen, sensei.“ Sakura wurde rot. Sicher, er lobte sie öfter, wenn sie etwas richtig machte, aber das war ja schon wirklich ein großes Lob. Übrigens: er wollte dem Inu no Taishou Bericht erstatten? Dann ermittelte gar nicht Lord Sesshoumaru? Nun ja, sie hatte ja schon angenommen, dass der Herr zornig wäre.
Nachdem sie sich die Hände ebenso wie Neigi im Löschwasserteich gewaschen hatte, ging sie in den Quertrakt und blieb etwas irritiert stehen. Das dritte Zimmer von links – aber aus welcher Richtung? Eine Frau, die sie traf, wies ihr den richtigen Raum. Sakura klopfte. Da niemand antwortete, nahm sie an, dass Kobayashi noch immer unter der Einwirkung des Mohnsaftes schlief und schob leise die Tür beiseite, um bei ihm zu bleiben bis er erwachte.
Nur, um unwillkürlich die Hände vor den Mund zu schlagen.
Umeko Kobayashi würde nie mehr erwachen. Sie hatte schon viele Tote gesehen in den letzten beiden Jahren, sei es während ihrer Ausbildung bei Neigi, sei es bei den Ermittlungen unter Lord Sesshoumaru, aber an die Nebenwirkungen und den Anblick gewöhnt hatte sie sich noch immer nicht. Und schon gar nicht an so etwas. Auch er war erwürgt worden – anscheinend noch während seines Betäubungsschlafes. Sie wich sofort zurück und schloss die Tür. Davon mussten der Herr und ihr Lehrer erfahren.
So beeilte sie sich, in das Vorzimmer des Hundefürsten zu kommen. Den diensthabenden Dämon fragte sie höflich ob sich ihr Lehrer noch bei dem mächtigen Inu no Taishou aufhalte.
„Ja. Du wirst warten müssen.“
„Ich...ich muss unverzüglich Bericht erstatten.“ Und aus mittlerweile jahrelanger Erfahrung mit Dämonen fügte sie hinzu: „So lautet meine Anweisung.“
„Du wirst doch wohl einsehen, dass Neigi-sama im Moment keine Zeit für dich hat.“
Da musste sie deutlicher werden: „Ich soll dem Herrn selbst Bericht erstatten! Bitte, bittet für mich unverzüglich um Gehör.“
Der Hundedämon überlegte nur kurz. Wenn der Fürst ihren Bericht für nicht wichtig genug hielt ihn zu stören, würde sie bestraft werden. War es jedoch wichtig, und er selbst zwang sie zum Warten, würde er Ärger bekommen. Überdies: wenn der Prinz zurückkehrte und sie würde ihm erzählen, dass er sie einer möglichen Strafe ausgesetzt hatte...Nun, Lord Sesshoumaru hatte durchaus seine eigenen Ansichten über tödliche Beleidigungen.
„Ich werde dich melden.“ Er stand auf.
Nur Sekunden später kehrte er zurück: „Komm.“ Er war erleichtert, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Neigi-sama hatte unverzüglich fast entsetzt den Herrn an gesehen – und dieser hatte nur mehr geknurrt:
„Wo ist sie?“
Sakura verneigte sich höflich, ehe sie niederkniete und die Stirn auf den Boden legte. Das war der Fürst, nicht der Prinz, und deutlichere Höflichkeit war sicher angebracht, auch, wenn der Herr mit Strafen nicht so leicht zur Hand war wie sein Erbe.
Der Inu no Taishou fragte prompt: „Was ist mit Kobayashi?“ Denn dass dieser so rasch erwacht wäre, war auszuschließen. Neigi hatte gesagt, dass der noch mindestens zwei Stunden schlafen würde – und Neigi beging keine derartigen Fehler.
„Er ist tot, mein Herr.“
„Mord? - Du darfst dich aufrichten.“ Ihm wurde bewusst, dass sie keine Bewegung wagen würde, die ihr nicht ausdrücklich erlaubt war. Neigi, oder eher sein Sohn, hatten sie wohl perfekt gedrillt. Er kannte Sesshoumarus Ansprüche an Dienstboten, hatte es doch eines ausdrücklichen Befehls bedurft, ehe er sie bei Fehlern am Leben ließ.
„Danke, Herr,“ erwiderte sie höflich, ehe sie sich aufrichtete und fortfuhr: „Er wurde erwürgt, während er im Mohnschlaf lag, vermute ich. Ich habe nichts berührt.“
Neigi atmete tief durch: „Darf ich es mir ansehen gehen, Herr?“
„Wir gehen alle drei.“ Der Herr der Hunde erhob sich. Zum Glück hatte er noch keinen Boten an Sesshoumaru gesandt. Jetzt waren es bereits zwei Morde – und bis dieser zurückkehrte würde es selbst mit Hilfe eines Dimensionsportals Abend werden. Das gab es doch fast nicht. Jemand massakrierte seine menschlichen Angestellten, noch dazu seiner Vermögensverwaltung – wo war er denn hier?
Noch im Vorzimmer befahl er Dämonenkrieger zu den drei verbliebenen Mitarbeitern der Vermögensverwaltung: „Sie haften mir dafür, dass die Drei am Leben bleiben und noch hier sind, wenn ich sie zu sprechen wünsche. Oh, und einer zu Akina Tanaka. Mit dem gleichen Befehl. - Und, wer ist der fähigste Buchprüfer, der im Moment hier ist, Myouga? Er soll sich doch einmal die Akten meiner Vermögensverwaltung genauestens ansehen.“
Neigi und Sakura tauschten einen Blick. Ja, davon war auszugehen. Wenn es zu gewaltsamen Todesfällen in einer Vermögensverwaltung kam, lag der Verdacht nahe, dass Unterschlagung oder Betrug am Herrn die Ursache gewesen sein könnten.
Im Zimmer Kobayashis angekommen, blieb Sakura höflich an der Tür, während die beiden Dämonen zu dem Toten traten. Neigi ließ sich nieder:
„Es scheinen die gleichen Fingerspuren zu sein wie bei Tanaka, Herr,“ berichtete er: „Ich müsste sie noch genauer vergleichen, aber...“
„Nun, zwei Mörder mit gleicher Methode innerhalb von zwölf Stunden in meinem Haus wären mir wirklich zu viel,“ gab der Inu no Taishou zu: „Auch er wurde von vorn angegriffen.“
„Ja, wobei das nicht schwer gewesen sein dürfte. Er schlief ja betäubt. - Hier, das Zungenbein ist gebrochen. Erwürgen ist also die Todesursache, eine andere auszuschließen. Ebenso war es bei Tanaka.“
„Neigi, sorge dafür, dass die beiden ordnungsgemäß bestattet werden. Ich werde mich mit den anderen Männern der Vermögensverwaltung unterhalten müssen.“ Und Sesshoumaru herzitieren. Leider befand der sich im Moment weit in den nördlichen Wäldern bei Bokuseno: „Sakura kommt mit mir.“ Dann könnte sie seinem Sohn berichten und ihm selbst diese Arbeit abnehmen.
Als sich der Hundefürst in seinem Arbeitszimmer niederließ, Sakura auf ihrem gewohnten Platz neben der Tür, nickte er etwas: „Neigi erwähnte, dass dein Gedächnis hervorragend sei. Darum zu deiner Erklärung: da ich Handel mit Menschen betreibe, benötige ich Geld. Du stammst aus dem Takaeda-Schloss und wirst wissen, dass ich dort zum Beispiel regelmäßig Seide der Spinnendämonen einkaufe. Dieses Geld betreute meine Vermögensverwaltung, aber im Laufe der Zeit stellte sich heraus, dass es günstiger wäre, wenn das nicht allgemein bekannt ist. Niemand von außen, schon gar kein Mensch, sollte mehr wissen, dass es sich um mein Geld handelte. Daher sollte Tanaka vor fünf Jahren eine eigene Bank gründen, um, sagen wir, Geschäftsausfälle zu vermeiden, wenn Menschen nicht mit einem Dämon handeln wollten. Goro Tanaka leitete meine Vermögensverwaltung seit Jahren. Er war ein sehr fähiger Finanzier und hatte mir nie Anlass zur Sorge gegeben, so dass die erste Wahl auf ihn fiel, diese neue Bank zu gründen. Allerdings besaß er so gut wie kein eigenes Vermögen und er lehnte es, vielleicht aus falsch verstandenem Stolz, ab, meines dafür zu verwenden. Stattdessen nahm er Kouhei Tokawa als zahlungskräftigen Teilhaber mit zu sich. Ich stimmte zu, da sich Tanaka bei mir für ihn verbürgte, und so nahm die Bank vor fünf Jahren ihre Arbeit auf. Erfolgreicher als zuvor, das gebe ich zu. De facto sind sie nach wie vor hauptsächlich meine Vermögensverwaltung, erledigen Steuerfragen, geben Kredite und so weiter, ohne dass mein Name mit eingebracht werden muss. Für entferntere Menschen, wie auch Fürst Takaeda, gelte ich nur mehr als Kunde dieser Bank.
Kobayashi war Tanakas Schreiber und engster Mitarbeiter, bei Tokuwa ist es Matsumura. Der fünfte Mann heißt Kato.“
„Danke, Herr,“ erwiderte Sakura höflich, ohne ihre Verwunderung zu zeigen. Aber anscheinend wollte der Herr der Hunde selbst den Fall voranbringen, noch ehe sein Sohn eingetroffen war.
„Dann gehe zu Akina Tanaka. Sie erwähnte mir gegenüber bereits, dass sie ein Verhältnis mit Tokuwa hatte, aber ihr Ehemann nichts dagegen gehabt hätte. Ich will dafür eine Erklärung. Und wie war ihrer Meinung nach das Verhältnis der fünf Männer der Bank untereinander.“ Erfahrungsgemäß benahmen sich Menschen unter ihresgleichen anders als gegenüber einem Dämonenfürsten.
„Ja, Herr.“ Also, im Vergleich zu den knappen Anweisungen, die Lord Sesshoumaru ihr zu erteilen beliebte, war das ja eine mehr als ausführliche Anleitung.
„Geh. Und sage draußen, ich will unverzüglich einen Schnellboten. - Überdies will ich mit Tokuwa sprechen.“
Sie verneigte sich schweigend und erhob sich.
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Der Schlossherr scheint gewillt, seinem Sohn so viele Informationen wie möglich auf dem Silbertablett zu präsentieren.
bye
hotep