Es war einer der turbulenteren Freitag-Abende im Gryffindor-Gemeinschaftsraum. Die jüngeren Schüler hießen das Wochenende aufgrund des regnerischen Spätherbst-Wetters innerhalb der Schlossmauern, aber nichtsdestotrotz laut und ausgelassen, willkommen und selbst die bereits wenige Wochen nach Schuljahresbeginn lerngeplagten älteren Jahrgänge wirkten mit der Aussicht auf zwei Tage zur freien Verfügung entspannter als unter der Woche und störten sich kaum am sie umgebenden Lärm.
Natürlich gab es wie immer Ausnahmen und als Hermine ihren konzentrierten Blick von ihrem Aufsatz über den Einfluss altsumerischer Schriftformen auf das Erscheinungsbild mittelfrüher Runen hob, fiel er auf Ginny, die in der entgegensetzen Ecke mit angezogenen Knien auf einem Kissen saß und mit verkniffenem Blick auf ihren Fingernägeln herumzukauen schien.
Dieser Anblick alarmierte Hermine; war Ginny doch normalerweise unter den lebhaft herumalbernden Gryffindors zu finden. Etwas gravierendes musste passiert sein, wenn sie so niedergeschlagen dasaß.
Einen Moment lang rang Hermine mit sich, ob sie erst ihren Aufsatz fertigstellen sollte, bevor sie Ginny darauf ansprach, was sie beschäftigte. Doch sie hatte ihn erst zur Hälfte fertig und wollte nicht riskieren, dass das Mädchen, das in den letzten Jahren sowohl Ersatz-Schwester als auch gute Freundin für sie geworden war, in der Zwischenzeit mit ihren Sorgen zu Bett ging.
Also rollte sie ihr Pergament auf und erhob sich, unbeachtet von Ron und Harry, die in eine hitzige Diskussion über das letzte Quidditch-Training und Harrys Kritik an Rons Leistungen vertieft waren.
Während sie sich ihren Weg zu Ginnys Ecke bahnte, erkannte sie, dass die Augen des rothaarigen Mädchens gerötet waren und sie bereits den dritten Nagel ihrer linken Hand bearbeitete. Irgendetwas zog sich in Hermines Brust schmerzhaft zusammen. Es tat ihr weh, Ginny so zu sehen und sie fragte sich, was ihr so zusetzte. Hatte sie einen schlimmen Streit mit Dean gehabt? Allerdings, jetzt wo sie darüber nachdachte, konnte Hermine sich nicht erinnern, wann sie Dean und Ginny überhaupt das letzte Mal zusammen gesehen hatte...
Über diesen Gedanken hatte sie ihr Ziel erreicht und setzte sich neben Ginny, die ihre Anwesenheit nicht zu bemerken schien und weiter in die Luft vor sich starrte, auf den Boden. Ein paar Sekunden überlegte Hermine, wie sie ein Gespräch beginnen konnte, ohne mit der Tür ins Haus zu fallen und zu taktlos zu wirken. Ein 'Du sieht zum Fürchten aus, was ist denn passiert?' war vielleicht ehrlich, aber wohl wenig angebracht. Schließlich räusperte sie sich dezent und sagte wie beiläufig: „Wenn du nach diesem Massaker meine Nagelfeile brauchst, dann findest du sie in der obersten Schublade in meinem Nachttisch.“
Aus den Augenwinkeln sah sie wie Ginny erst zusammenzuckte und dann den Kopf in ihre Richtung drehte. Nur mühsam ein Grinsen ob dieser Reaktion unterdrückend, schaute sie nun zu Ginny, die sie mit geweiteten Augen anblickte und offenbar überlegte, wie lange Hermine schon neben ihr saß. „Was meinst du!?“ fragte Ginny schließlich und Hermine deutete auf ihre ausgefransten Nägel. „Ich weiß zwar nicht, was der Grund dafür ist, aber ich würde das nicht so lassen.“
Zu Hermines Verwunderung errötete Ginny und wandte den Blick von ihr ab. Soweit Hermine sich erinnern konnte, war es Jahre her, dass sie die Jüngste der Weasley-Geschwister hatte rot werden sehen. Es musste zu der Zeit gewesen sein, als Ginny noch mehr oder weniger heimlich für Harry schwärmte und in seiner Gegenwart oft mit tollpatschigen Handlungen ungewollt auf sich aufmerksam gemacht hatte.
Hermine ließ ihren Blick indes noch auf Ginny verweilen und befand, dass ihr die Röte recht gut zu Gesicht stand. Sie betonte die helle Haut und ließ sie gleichzeitig lebhafter wirken. Doch dann wischte sie diese Gedanken beiseite; Ginny war es im Moment sicher herzlich egal, ob ihr rote Wangen standen oder nicht.
Stattdessen wartete sie nun, ob Ginny von sich aus ansprechen würde, was ihr so zu schaffen machte, doch nach ein paar Minuten beiderseitigen Schweigens kam sie zu dem Schluss, dass dem wohl nicht so sein würde. Also beschloss sie, eben doch die Initiative zu ergreifen und direkt zu fragen. „Ist was mit Dean? Habt ihr euch gestritten?“
Bei dieser Frage schienen Ginnys Mundwinkel leicht zu zucken, wie Hermine irritiert registrierte. Was war an ihrer Frage amüsant gewesen? Doch bevor sie genau das laut aussprechen konnte, schüttelte Ginny den Kopf. „Nein. Wir... haben nicht gestritten. Nicht wirklich. Genauer gesagt...“ Sie knetete ihre Finger, bevor sie weitersprach. „...hab ich mich von ihm getrennt.“ Nun starrte sie wieder in die Luft vor sich und schien sich nur mit Mühe davon abhalten zu können, wieder an einem ihrer Nägel zu kauen.
Verwirrt versuchte Hermine, einen Zusammenhang zwischen Ginnys Verfassung und ihrer Trennung von Dean herzustellen. Wenn sie es war, die die Beziehung beendet hatte, warum wirkte sie dann so... bedrückt? Hermines Gedanken rasten durch verschiedenste Szenarien, von denen sie die meisten als unwahrscheinlich einstufte und sich weigerte, die anderen in Erwägung zu ziehen, weil sie Dean nicht so einschätzte. Doch Ginny schwieg wieder beharrlich, so dass Hermine sich genötigt sah, erneut nachzufragen. „Und warum... hast du Schluss gemacht...?“
Sie sah wie Ginny schluckte und den Mund zwei mal öffnete und wieder schloss, bevor sie endlich antwortete. „Erinnerst du dich an die Osterferien vorletztes Jahr? Bevor ich mit Michael zusammen kam?“
Nun war es an Hermine zu schlucken. Und wie sie sich erinnerte. Damals waren einige ihrer Weltanschauungen und manches, das sie über sich selbst zu wissen geglaubt hatte, gehörig auf den Kopf gestellt worden.
Dabei hatte alles ganz harmlos angefangen: Ginny hatte ihre erste richtige Verabredung mit Michael und war ganz panisch bei dem Gedanken, dass sie ihren ersten Kuss so versemmeln würde, dass Michael danach nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen würde. Und Hermine, die bereits erste Erfahrungen mit Viktor gesammelt hatte, bot ihr an, mit ihr zu üben. So wie sie es aus den Teenager-Filmen kannte, die sie zu Hause bei ihren Eltern im Fernsehen gesehen hatte. Wo so was ganz einfach und lustig war und einzig zur Folge hatte, dass der neue Freund ganz hin und weg von den Kuss-Künsten seiner Freundin war.
Aber wie das eben manchmal mit Ideen war, die in Filmen super funktionierten, lief es in der Realität nicht so ganz nach Drehbuch. Hermine musste feststellen, dass es mehr als ein Mitglied der Weasley-Familie gab, das ihr Kribbeln im Bauch bescherte und dass sie sich durchaus auch vorstellen konnte, eine Freundin statt eines Freundes zu haben. Nicht, dass sie Ginny auch nur ein Wort davon gesagt hätte. Zuerst musste sie ihre neuen Gefühle für sich selbst aussortieren und als sie soweit war, war das Date mit Michael ein voller Erfolg gewesen und Hermine hätte sich eher die Zunge abgebissen, als die frische Beziehung und Ginnys Glück zu stören.
In den folgenden anderthalb Jahren hatte sie ihre Gefühle gut unter Kontrolle bekommen, so wie sie immer alles unter Kontrolle bekam. Sie unterdrückte sie so hartnäckig, dass sie nur noch in seltenen Momenten an die Oberfläche traten und es ihr möglich war, sich Ginny gegenüber zu verhalten, als sei alles in bester Ordnung und nie etwas außergewöhnliches geschehen...
Aus ihren Erinnerungen aufschreckend fiel Hermine ein, dass Ginny auf eine Antwort wartete. „Ja“, antwortete sie ungewöhnlich heiser. Sie spürte ihre Wangen heiß werden und kämpfte das Verlangen, ihre Hände vors Gesicht zu schlagen und damit erst recht Aufmerksamkeit auf ihr Erröten zu ziehen, nieder.
Neben ihr nickte Ginny leicht und blickte sie dann an. „Ich auch. Die ganze Zeit.“
Als sich ihre Blicke trafen, konnte Hermines Herzschlag sich nicht entscheiden, ob er kurz aussetzen oder doch lieber losrasen wollte, weshalb er ein paar Sekunden lang unangenehm holperte, bevor er sich gemächlich beschleunigte. Was wollte Ginny ihr damit sagen? Hermine weigerte sich, sich irgendwelche falschen Hoffnungen zu machen, aber in ihren Ohren klang es gerade, als hätte Ginny sich von Dean getrennt, weil sie immer noch an den Kuss damals denken musste. Sie öffnete den Mund um nachzufragen, wusste aber nicht, wie sie es formulieren sollte und ließ ihn einfach offen stehen.
Das musste ziemlich bescheuert aussehen und dementsprechend begann Ginny auch schwach zu grinsen bevor sie weitersprach. „Ja, ich weiß, dass das überraschend kommt. Und ich wollte es dir auch nicht sagen, damit du kein schlechtes Gewissen bekommst. Du kannst ja nichts dafür... Es tut mir leid...“
Sie senkte den Kopf und Hermine erkannte, dass das Grinsen weniger amüsiert denn vielmehr verlegen gewesen war. Erneut begannen die Gedanken in ihrem Kopf zu rasen, mit einer selbst für sie ungewohnten Geschwindigkeit. Warum dann Michael und Dean? Hatte Ginny auch versucht es zu verdrängen und eine andere Beziehung zu erzwingen? Wieso hatte sie es ihr nicht schon viel früher erzählt? Und am wichtigsten: Ginny brauchte sich doch nicht zu entschuldigen, es war doch gut, dass sie es ihr endlich gesagt hatte. Hermine begann zu lächeln und griff eine von Ginnys Händen, die die Rothaarige wieder zu kneten begonnen hatte. „Ginny... es sollte dir nicht leid tun.“ Als Ginny mit verwundertem Blick zu ihr rüber schaute, fuhr sie fort: „Ich bin doch froh, dass ich jetzt weiß, dass ich nicht allein damit bin.“
Es schien ein paar Sekunden – oder Minuten? Hermine konnte es nicht sagen – zu dauern, bis die Worte bei Ginny soweit eingesunken waren, dass sie die Bedeutung erkannte. Ihre Augen weiteten sich und ein Leuchten schien über ihr Gesicht zu ziehen. „Du meinst...!? Aber... die ganze Zeit...? Warum hast du nicht...?“
Hermine unterbrach Ginnys Stammeln lächelnd. „Du warst grade mit Michael zusammen gekommen und offenbar glücklich.“ Sie zuckte hilflos mit den Schultern. „Wie egoistisch wäre es denn gewesen, dir dann zu sagen, dass es sich für mich als mehr als nur eine kleine Hilfe unter Freunden entpuppt hat?“
Ginny schien zu verstehen und nickte. „Das war wirklich... lieb von dir.“ Eigentlich hätte sie 'dumm' sagen müssen, dachte Hermine, während Ginny einen Moment zögerte, bevor sie weitersprach. „Und letztlich hätte ich ja auch was sagen müssen, du kannst ja keine Gedanken lesen...“ Sie lächelte Hermine verlegen an und drückte deren Hand sachte.
Ein paar Meter entfernt fluchte ein Siebtklässler lauthals über seine Hausaufgaben und Hermines Gedanken sprangen unwillkürlich zu ihrem halbfertigen Aufsatz. Doch im gleichen Moment beschloss sie, dass der warten musste. Das hier war wichtiger, immerhin hatte sie lange genug darauf gewartet. Vermutlich würde sie an diesem Wochenende so wenig Zeit mit Lernen verbringen wie noch nie, seit sie in Hogwarts war. „Was machst du eigentlich morgen?“
„Nichts.“ antwortete Ginny mit einem wissendem Lächeln, das Hermine mit einem Kribbeln im Bauch erwiderte. „Gut. Dann haben wir ja massig Zeit.“ Zeit um Fragen zu stellen, Zeit um Fragen zu beantworten. Zeit, um sie gemeinsam zu verbringen.
Ihre verschränkten Finger zwischen sich, saßen sie nun nebeneinander und beobachteten zusammen das Treiben im Gemeinschaftsraum. Harry und Ron hatten ihre Diskussion offenbar beendet, auch wenn Hermine vermutete, dass das nicht daran lag, dass sie mit dem Thema fertig waren, sondern vielmehr daran, dass Ron wieder von Lavender vereinnahmt wurde. Die beiden teilten sich einen Sessel und schienen sich gegenseitig Zärtlichkeiten ins Ohr zu flüstern, was zum ersten Mal keine Verärgerung und kleine Eifersuchtsstiche, sondern so was wie Verständnis und freundschaftliche Mitfreude in Hermine hervorrief. Harry unterhielt sich unterdessen ungewöhnlich angeregt mit einem blonden Mädchen aus Ginnys Stufe, dessen Name Hermine gerade nicht einfiel. Beim Kamin versuchten zwei Erstklässler, ihre Schachfiguren dazu zu bekommen, ihren Anweisungen nachzukommen. Dean war nirgends zu sehen.
So saßen sie, waren mit der Nähe der jeweils anderen zufrieden und verfolgten schweigend, wie sich der Gemeinschaftsraum langsam leerte. Bis Hermine schließlich eine Frage stellte, die ihr schon eine Weile auf der Zunge lag. „Was hast du eigentlich Dean gesagt, warum du dich trennst?“
Ginny zuckte mit den Schultern. „Na, die Wahrheit. Dass ich in dich verliebt bin, seit du mich vor anderthalb Jahren geküsst hast und weder er noch Michael da mithalten konnten.“ Dann grinste sie. „Wollte er natürlich nicht glauben. Er hat sich tierisch aufgeregt und sagte, er hätte erwartet, dass ich wenigstens ehrlich zu ihm bin, wenn ich ihn schon so aus heiterem Himmel abserviere. Und dass es echt schlechter Charakter wäre, ihn so übel anzulügen.“ Sie kicherte leise und strich mit ihrem Daumen über Hermines Handrücken. „Ernsthaft, als ob ich mit so was scherzen würde.“
~ Ende ~
Danke fürs Lesen!
Kommentare und Kritik sind natürlich gerne gesehen, aber kein Muss. ^^