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Martini

von

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Meine Tochter

Ich saß im öffentlichen Gerichtsprozess. Der Gerichtssaal war voll mit Schaulustigen, Ermittlern oder Opfern. Zum einen war das nervig, denn nicht selten erhob sich die Lautstärke, aber zum anderen machte es mich noch anonymer. Es störte niemanden, dass ich mein Gesicht tief in meiner Kapuze vergrub, auch wenn es verpönt sein sollte eine Kopfbedeckung in einem so ernst zu nehmenden Gerichtssaal zu tragen.
 

Viel konnte ich nicht sehen, aber die wenigen Blicke die ich auf den Angeklagten erhaschen konnte, hatten schon gereicht um mir den Magen umzudrehen.

Sein Gesicht war starr. Es war ein geübtes Pokerface. Wie oft hatte ich diesen Gesichtsausdruck schon gesehen?

Aber ich hatte ihn noch nie in einem weißen Hemd mit einer blauen Krawatte gesehen. Es sah so merkwürdig und falsch aus. Kurz musste ich schmunzeln. Als ich ein Kind gewesen bin, war von allen meinen Buntstiften zuerst die Farbe schwarz verbraucht. Denn wie viele Kinder, habe auch ich meine Eltern gemalt. Es war schon merkwürdig, wie viel die Liebe eines Kindes zu seinen Eltern aushielt.

Die nächste Farbe, die ich jedes Mal abgenutzt hatte, war rot. Blutrot.

Aber jetzt war ich erwachsen. Um genauer zu sein war ich mittlerweile zwanzig Jahre alt. Von der Liebe zu meinen Eltern, die ich mir vielleicht mal eingebildet hatte, spürte ich nichts mehr.

Gin hatte sich die Haare abgeschnitten. Es machte mir Angst, dass er so mir noch viel ähnlicher sah. Aber er war auch gealtert. Kleine Falten waren deutlich um seinen Mund und seine Augen zu erkennen. Er war dünner als früher. Ich musste schmunzeln. Während ich den letzten fünf Jahren nicht nur gewachsen, kräftiger und eindeutig gesünder geworden bin, ist mein Vater sichtlich älter geworden. Ich spürte so etwas wie Schadenfreude.
 

Es war ein langer Prozess der jetzt schon mehrere Tage lief. Es war ein frustrierender Prozess. Das FBI hatte Gin geschnappt. Nach einer langen Verfolgungsjagd hat ihm einfach jemand die Vorfahrt geschnitten und Gin konnte bewusstlos aus seinem Auto gezogen werden. Was für eine Ironie, dass gerade ein einfacher Verkehrsraudie dafür gesorgt hatte, dass Gin jetzt vor das Gericht kam. Es war reiner Zufall gewesen, dass ich aus England aus in einer japanischen Zeitung darüber gelesen hatte. Ich hatte mein gespartes zusammengekratzt und mir einen Flug nach Tokio gebucht. Auch wenn ich mich in Gefahr begeben hatte, das wollte ich mir nicht entgehen lassen.

Aber die Organisation schien alle Glieder der japanischen Behörde geschmiert zu haben. Alle Beweise waren verschwunden oder manipuliert worden. Zeugen schwiegen plötzlich, wenn sie nicht tot waren.

Selbst der Richter schien auf Gins Seite und betonte immer wieder, dass die Beweislage unzureichend wäre.
 

Ich hatte nach bekannten Gesichtern vom FBI gesucht. Tatsächlich entdeckte ich Shuichi. Er schwieg und ließ den Anwalt des FBI reden.

„Tut mir Leid. Wenn sie keine weiteren Zeugen oder Beweise haben, werden wir das Verfahren einstellen.“, verkündete noch einmal der Richter.

Der Anwalt fing sich wieder an mit dem Richter zu streiten. Er wies auf die langjährige Arbeit des FBI hin, er erzählte von der unglaubwürdigen Macht der Organisation. Ich seufzte und sank tiefer in den Stuhl. Ich hatte erhofft, dass ich erleben würde, wie Gin hinter Gitter kommen würde. Im Flug nach Tokio hatte ich davon geträumt, wie er abgeführt werden würde. Ich hatte die Hoffnung bekommen nachts wieder ruhiger schlafen zu können. Aber wie es aussah würde Gin entkommen.
 

Das FBI holte einen Mann als Zeugen. Er berichtete. Aber seine Aussagen waren zu schwammig. Ich erkannte dies sofort und brauchte nicht den Richter um zu verstehen, dass gegen Gin nichts Festes in der Hand war.

Ich stand auf. Es war nicht besonders verwunderlich, denn wegen der Länge des Prozesses sind laufend Leute rein- und rausgegangen Es war sehr chaotisch gewesen.

Ich ging zu einem aufsichtführenden Polizisten. Kurz redete ich mit ihm. Er sah mich erst verwundert an, dann nickte er und ging zum Richter, um ihm etwas zu erklären. Dieser blickte auf bis er mich sah.

„Ein weiterer Zeuge möchte aufgerufen werden.“, verkündete er.

Ich ging zu dem Stuhl, der in der Mitte des Gerichtssaales war.
 

„Könnte ich Sie bitten, Ihre Kapuze abzunehmen.“ Auch wenn ich Angst vor diesem Moment hatte, ich müsste das zu Ende führen. Ich nahm die Kapuze ab und hörte gleichzeitig, wie Shuichi aufschreckte und wie Gins Stuhl nervös an den Tisch gezogen wurde.

„Wer sind Sie? Wie heißen Sie? Und woher kommen Sie?“

Leicht seufzte ich.

„Mein Name ist Marty Kai Vineyard.“ Ich sah, wie Gin mir einen seiner abgrundtiefsten Blicke zu warf. „Ich bin 21 Jahre alt und gebürtiger Amerikaner. Eine Zeit habe ich aber unter dem Namen Marty Kai Smith in Japan gelebt und bin hier zur Schule gegangen.“ Ich unterbrach kurz meine Erklärungen. Ich durfte nicht den Namen, den ich vom Zeugenschutzprogramm bekommen hatte preisgeben, denn dann wäre meine Pflegefamilie in Gefahr. Daher erklärte ich lediglich: „Im Moment bin ich in einem Zeugenschutzprogramm, aber ich denke es reicht, wenn ich meinen wahren Namen verrate, oder?“

„Ja, ist es. Sind sie mit dem Angeklagten verwandt oder verschwägert?“

Kurz zögerte ich. Ich spürte einen Kloß in meinem Hals.
 

„Ja. Er ist mein Vater.“
 

***
 

Der Prozess war schon eine halbe Stunde zu ende. Gin war abgeführt worden. Doch obwohl ich so schadenfreudig auf diesen Moment erwartet hatte, hatte ich ihn kaum mitbekommen. Ich hockte vor einer Kloschüssel. Immer wieder leerte sich mir mein Mageninhalt aus. Ich konnte mein Zittern kaum noch unter Kontrolle halten. Ich hatte dem Richter alles geschildert, was er wissen wollte. Dabei hat er bei seinen Fragen keinen Halt gemacht und ist auf Details eingegangen, die ich mir nicht ins Gedächtnis rufen wolle. Er ist eindeutig zu weit gegangen. Ich war Shuichi dankbar gewesen, als er den Richter sagte, dass er aufhören sollte, dass genug Beweise gegen Gin in der Hand waren.
 

„Kai, beruhig dich.“ Shuichi klopfte an die Toilettentür. Ich hatte glücklicherweise abgeschlossen.

„Gin ist jetzt im Gefängnis. Du bist sicher. Du hast uns allen sehr geholfen.“

Ich wusste das alles, trotzdem übergab ich mich jetzt bestimmt schon zum fünften Mal.
 

Shuichi schwieg eine Zeit, dann erklärte er mir fast flüsternd: „Kai, es ist meine Schuld. Wir hätten dich früher zum Zeugenschutzprogramm schicken sollen. Es war mein Ehrgeiz die Organisation zu vernichten, der dir das alles angetan hatte.“

Ich schüttelte zur Antwort den Kopf, wohl wissend, dass Shuichi diese Bewegung nicht sehen konnte.

Ich lachte kurz zynisch, dann erzählte ich ihm: „Weißt du, dass ich noch immer nicht mit geschlossener Zimmertür schlafen kann? Meine WG-Partner nehmen mich deswegen alle auf den Arm.“

Shuichi schwieg. Ich konnte erahnen, dass er sich vielleicht auf die Lippe bis oder dass sein Gesicht Entsetzten zeigte.

„Nicht selten wach ich nachts schweißgebadet auf. Ich träume oft von meinen Tagen im Haus meines Großvaters. Manchmal bilde ich mir ein, dass Gin oder sein Vater in meinem Zimmern sind. Dann muss ich das Licht anmachen um zu schlafen.“

Shuichi schwieg weiter.

„Aber weißt du, was ich noch öfter träume?“ Ich stockte und musste tief einatmen. „Ich träume davon, wie ich den Politiker erschossen hab. Wie seine Familie sein Grab besucht und seine kleine Tochter ihre Mutter fragt, wieso ihr Vater gestorben war. Shuichi, ich weiß nicht, ob ich diese Schuld den Rest meines Lebens tragen kann…“

„Kai?“ Shuichis Stimmer klang irgendwie überrascht.

„Ja?“
 

„Der Politiker ist niemals gestorben. Du hast ihn nie erschossen.“
 

Ich grinste ironisch. Wollte er mich verarschen? Wollte er mir so sehr helfen, dass er mich anlog? Wollte er sein eigenes Gewissen beruhigen, indem er meines mit einer Lüge fütterte?

„Ich hab ihn erschossen. Ich glaub dir nicht Shuichi. Ich hab es selber gesehen.“

„Du hast ihn aber nicht getötet.“

„Shuichi, ich war der beste Scharfschütze der Organisation zu dieser Zeit. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich mein Ziel von so einer lächerlichen Entfernung verfehlt habe, oder?“

„Nein, aber ich glaube, dass du dich ziemlich gut mit Neurologie ausgekannt hast.“

Mein Zittern stoppte. Er meinte doch nicht…? Mein Plan von damals… hat funktioniert…? Ich hatte ihn tatsächlich nicht getötet, weil ich auf einen speziellen Bereich des Kopfes getroffen hatte?

„Tut mir Leid, Shuichi. Ich glaub dir nicht.“

„Er ist in einem Zeugenschutzprogramm.“

„Wirklich?“

„Ja.“

„Sicher?“

„Nerv nicht, Kai.“
 

Ich stand auf und schloss die Toilettentür auf.

„Dank, Shuichi.“

„Nein, wir stehen alle in deiner Schuld.“ Ich machte mein Gesicht am Waschbecken sauber. Shuichi klopfte mir aufmunternd auf die Schulter.
 

Kurz schien er nach zudenken.

„Hast du eigentlich eine Freundin, Kai?“ Seine Frage fand ich merkwürdig. Aber ich schüttelte den Kopf.

„Du liebst noch immer Mai, oder?“ Ich antwortete nicht.

„Sie lebt in New York. Ihr Name ist Mai Take.“

Shuichi verließ die Toilette.

„Warum sagst du mir das? Sie ist doch in einem Zeugenschutzprogramm.“

„So viel bin ich dir schuldig.“
 

Dann sah ich Shuichi bis ich drei Jahre später selber beim FBI anfing zu arbeiten nicht wieder.
 

***
 

Ich lag mit meiner Tochter im Bett. Ich las ihr ein Märchen vor. Meine Tochter war mittlerweile fünf Jahre alt und neben Mai, das Schönste was mir je passiert war. Als die Kleine ihre Augen schon fast geschlossen hatte, gab ich ihr einen Kuss in ihr blondes Haar. Auch wenn sie meine Haare hatte, hatte sie doch die warmen Augen ihrer Mutter, was mich sehr glücklich machte. Ich klappte das Bilderbuch zu und wollte gerade aufstehen als sie mich am Arm festhielt.

„Erzähl mir noch eine Geschichte.“ Ich seufzte lächelnd. Sie bekam nie genug von Gutenachtgeschichten und ich machte den Fehler, dass ich ihren Bitten nicht widerstehen konnte.

Ich schlug ein neues Kapitel aus dem Buch auf.

„Nein, erzähl du mir selbst eine Geschichte. Eine wahre.“

Noch einmal lächelte ich. „Was für eine Geschichte willst du denn hören?“

„Eine über Oma und Opa.“

„Über Shinichi und Ran?“

„Nein, über deine Eltern.“

Gin und Vermouth? Natürlich gab es genügend erzählenswerte Geschichten, doch keine war für das zarte Wesen meiner Tochter geeignet.

Daher schloss ich die Augen und dachte nach. Sollte ich lügen? Aber dann fiel mir ein, was die richtige Geschichte sein würde.
 

„Es war einmal in England in einem alten Landhaus, weit weg von dem Lärm der Großstädte…“ Plötzlich fielen mir so viele Geschichten aus dem verträumten Dorf ein. Ich war dankbar um die glücklichen Erinnerungen der letzten Jahre meiner Jugend.

Meine Tochter schlief ein. Leise schlich ich mich aus dem Zimmer. Ich ließ die Tür einen Spalt offen, denn ich wusste, dass sie es nicht mochte im Dunkeln zu sein.
 

„Dad, mach die Tür ruhig zu. Ich hab keine Angst im Dunkeln. Ich vertraue dir. Ich weiß, dass ich sicher bin.“, hörte ich ihre hohe, zuckersüße Stimme sagen.

Verblüfft sah ich sie an, während meine Tochter mit ihrem Teddy in der Hand zu mir raufblickte. Ich nickte und die Tür schloss sich mit einem Klack.
 

Dann ging ich auch schlafen. Mai war noch am Arbeiten. Sie war die dritte Generation an weiblichen Anwälten in ihrer Familie.

Die leuchtenden Zeiger des Weckers wiesen auf drei Uhr nachts, als sie ins Zimmer kam. Ein lautes Seufzen zeigte dass sie erschöpft war. Sie schloss die Tür und legte sich hin. Sie merkte, dass sie mich geweckt hatte. Dann sah sie nochmal zur Tür: „Oh, tut mir Leid, Kai. Ich mach sie wieder auf.“ Doch ich hielt sie fest.
 

„Nein, Mai. Ich habe keine Angst. Ich weiß, dass wir sicher sind.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  charlie94
2012-03-25T18:31:51+00:00 25.03.2012 20:31
tolles ende :)
ich würde gin wirklich gerne mal mit kurzen haaren sehen und ohne seine üblichen klamotten, ob man ihn dann noch wieder erkennt...
ein super kapi, wie immer ;)
ich freue mich schon auf die fortsetzung des schwarzen schnees :D
lg charlie =)
Von:  Pretty_Crazy
2012-03-14T20:13:16+00:00 14.03.2012 21:13
Das ist ein gelungenes Ende.
So kommt es doch noch zu einem relativ ruhigen Leben. Ich muss allerdings sagen, dass man trotz Zeugenschutzprogramm nicht unbedingt in absoluter Sicherheit ist.
Kai ist ja ein Hochverräter wenn man so möchte und so lange wie nicht nachgewiesen ist, dass er tot ist wird man auch weiterhin nach ihm suchen. Ich weiß gar nicht, herrscht in Japan noch die Todesstrafe und wird sie noch angewandt?
Theoretisch müsste Gin lebenslänglich oder aber die Todestsrafe bekommen. Am besten in eine Zelle ohne Fenster sperren und den Schlüssel weg werfen. Da die Organisation ja noch existiert ist ja nicht sicher ob die nicht doch mal wieder an die Tür klopfen.

Aber so wirklich klasse Ende. Fast schon Friede, Freude, Eierkuchen, aber nach dem ganzen Trouble ist das auch vollkommen in ordnung. Mir gefällt es auch jeden Fall sehr gut.
Klasse FF :)

LG
Rosetta


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