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Vertrau mir deine Flügel an

von

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Die Geiko mit dem Schwert

Ernst fixierten Yuki die amethystfarbenen Augen des Kommandanten der Roshigumi. Er schien sie förmlich mit seinem ernsten Blick durchbohren zu wollen, so dass Yuki ein eiskalter Schauer über den Rücken fuhr.

‘Er schaut mich an, als wüsste er, dass ich nicht menschlich bin.’

Yuki schluckte, sie sah zwar, dass der Mann vor ihr ein reines Herz hatte, das hatte ihr auch schon Kondou versichert, aber dennoch verbreitete Hijikata Toshizou eine fast schon dämonische Aura.

“Was wollen sie von der Roshigumi?”

Gnadenlos kam der schwarzhaarige Kommandant, der nur mit ihr und Kondou Isami, einem Anführer der Roshigumi, alleine im Zimmer saß, zum Punkt.

Kurz schloss Yuki ihre blauen Augen. Sie überlegte, wie sie am besten erklären konnte, worum es ging.

“Es ist schwer zu erklären, denn es ist eine sehr lange Geschichte.”

Yuki hielt einen kurzen Moment inne und schluckte. Sie wusste, dass sie nicht die ganze Wahrheit erzählen konnte. Das konnte sie nicht riskieren, denn vor ihr saßen zwar zwei reine Seelen, aber auch Menschen.

“Mein Volk lebt nicht hier. Wir kommen von weit her und leben an einem Ort, den niemand außer den Onis kennen. Mein Volk jagt diese Onis im Namen unseres Gottes. Zumindest war das so, bis ein Mann sein Haupt erhob und unseren blinden Gehorsam in Frage stellte. In kürzester Zeit gelang es ihm, eine Rebellion anzuzetteln, doch er unterlag unseren stärksten Kämpfern und wurde mit seinen Anhängern verbannt. Zurück ließ er seine Frau und Tochter. Jahrelang wurde jedes Mitglied seiner Familie gebrandmarkt, bis einer unserer Oberhäupter das Geheimnis und Vermächtnis des Rebellenführers erkannte. Ein Erbe, dass seine Nachfahren durch ihr Blut weiterreichten.”

Leicht biss sich Yuki auf die Unterlippe. Die Sätze kamen ihr bleischwer von den Lippen, denn mit jedem Wort, dass sie noch sagen würde, würde sie auch die Sünden ihres Volkes offenbaren.

“Man nennt die Gabe bei uns das “Sehen”. Der Rebell war in der Lage, Ereignisse aus der Zukunft zu sehen und dieses Wissen zu seinen Gunsten zu nutzen. Diese Gabe wurde an alle seine Nachfahren weitergereicht. Im Kampf gegen die Onis war uns dies eine nützliche Waffe, allerdings…”

Der Schneeengel krallte seine Hände im Schoß zusammen. Sie hasste das Wissen, das sie besaß. Sie hasste das, was sie dem Puppenmädchen und all ihren Vorfahren angetan hatten.

“Ein Seher sieht nicht nur die Bilder. Er fühlt sie auch. Wird jemand in einer Vision umgebracht, durchlebt der Seher diesen Todeskampf. Ist jemand in einer Vision verliebt, so werden diese Gefühle zu denen des Sehers.

Das alles war meinem Volk bekannt, und doch haben sie das sehende Geschlecht zu einer Armee herangezüchtet. Sie wollten immer abgesichert sein, dass es jemanden gab, der sie vor Angriffen der Onis warnen konnte. Aber viele wurden durch ihre Visionen in den Wahnsinn oder Selbstmord getrieben.

Stück für Stück verschwand die sehende Armee und übrig blieb nur eine Frau. Sie wurde gehütet wie ein Schatz, denn sie trug ein Kind unter ihrem Herzen. Immerhin war sie die letzte Hoffnung für den Plan einer sehenden Armee.”

Wieder musste Yuki innehalten. Langsam kam sie dem eigentlichen Problem näher. Dem Grund dafür, warum sie tun musste, was sie eben getan hatte.

“Die Frau starb aufgrund eines Regelbruchs. Das Mädchen ähnelte dem Rebell so sehr, dass es fast schon unheimlich war. Doch als Baby nutzte ihre Gabe niemandem. Sie musste erst wachsen und ihre Fähigkeiten gedeihen lassen. Deswegen zogen unsere Oberhäupter sie groß, eingesperrt in einen goldenen Käfig. Als sie fünf Jahre alt war, war sie schließlich in der Lage, Visionen zu empfangen. Tag für Tag gaben sie ihr den Sehersaft, quälten und folterten sie, nur damit sie genug Bilder aus der Zukunft sah. Tag für Tag hallten ihre Schreie durch die Hallen des Palastes. Tag für Tag… bis… ihre Schreie verstummten.

Niemand weiß was sie genau getan hatten, aber sie hatten es geschafft. Ihr Wille war gebrochen. Sie war nur noch eine Hülle, die alles tat, um ihr Leben zu beschützen. Vielmehr noch, sie war eine lebende Puppe, die gehorsam war und stumm jedem Befehl der Obrigkeit folgte.”

Schweigend hatten Kondou und Hijikata den Ausführungen des Mädchens zugehört. Beide ahnten, worauf ihre Geschichte hinauslief und was, oder besser wen, sie verloren hatte.

“Ich konnte das nicht mehr länger mit ansehen. Sie lebte in einer kleinen, perfekten Lügenwelt, die sie ihr einsuggeriert hatten. Von einigen meiner verlässlichen Quellen wusste ich, dass es fern unserer Heimat ein Dorf gibt, das weder von unseren Leuten noch von den Onis gekannt wird. Ich wusste, dass dies ihre einzige Chance war, ein richtiges Leben zu führen. Deswegen habe ich sie von meinem eigenen Volk entführt. Doch etwas lief schief. Man hat mich bemerkt und verfolgte uns. Nur mit Mühe sind wir meinen Landsleuten entkommen, aber… ich habe sie auf der Flucht verloren.”

Die Stimme des Engels wurde brüchig. Sie war es, die Schuld an dieser ganzen Sache hatte. Es war ihr Versagen gewesen.

“Sie ist also irgendwo hier in Kyoto, wenn ich das richtig verstehe?!”, setzte Hijikata an, als er merkte, dass Yuki wohl nicht mehr so viel zu sagen hatte.

Stumm nickte der Engel und starrte auf den Holzboden. Sie wusste, was sie getan hatte, und sie wusste auch, was für Probleme noch auf sie zukommen würden.

“Hm… Wer weiß noch alles von eurer Flucht? Nur die Leute deines Volkes?”

Yuki wusste nicht richtig, wie sie Hijikatas ernste Worte deuten sollte. Sie klangen aber nicht danach, dass er mit ihr schimpfen würde.

“Nicht nur mein Volk. Gestern habe ich erfahren, dass auch ein Mann namens Daren sie sucht. Er scheint selbst schon einige Männer nach ihr suchen zu lassen.”

In allen Einzelheiten erklärte sie, was sie in dem Lokal gehört hatte, woher sie den Namen Daren kannte, und warum sie nun hier war.

“Alleine finde ich sie nicht. Bitte! Bitte helft mir, bevor ihr etwas passiert.”

Tief verbeugte sich der Schneeengel vor den beiden Männern. Sie waren die einzige Hoffnung, die sie noch hatte.

“Hör auf damit, Yuki-chan. Wir werden dir helfen. Nicht nur weil du uns darum bittest, sondern auch, damit niemand mehr dem Mädchen wehtun kann.”

Erstaunt hob Yuki ihren Kopf und sah in das lächelnde Gesicht Kondous, der, ohne groß zu überlegen, zugesagt hatte. Prüfend sah das Mädchen zu Hijikata, dessen Miene sich zwar nicht aufgehellt hatte, der ihr mit einem Nicken aber dennoch sagte, dass auch er helfen würde.

“Ich danke euch!”, wisperte der Engel und wischte sich verstohlen ein paar Freudentränen weg.

Endlich hatte sie etwas erreicht. Endlich konnte sie neue Hoffnung schöpfen.
 

Wie auf der Erde üblich war die Sonne unter- und wieder aufgegangen. Ein neuer Tag hatte den alten abgelöst und nahm für die Menschen in Kyoto seinen Lauf. Auch für das Ninjamädchen Akazumi verhieß der neue Tag, dass sie neue Taten vollbringen konnte.

Für den heutigen Tag hatte sie sich ein großes Ziel gesetzt. Sie wollte ihren Traumprinzen ansprechen. Fest hatte sie sich vorgenommen, heute wie ein normales Mädchen durch die Straßen zu laufen. Sie schlüpfte in ihren dunkelblauen Yukata, band sich die braunen Haare zusammen und befestigte sie mit einer roten Spange, die sie von ihrer Mutter, die ebenfalls ein Ninja gewesen war, vererbt bekommen hatte.

“Heute habe ich ein Date mit meinem Schatz~!”, summte das Ninjamädchen in ihren Gedanken und lächelte in ihr vergilbtes Spiegelbild. Eigentlich sah sie in dem Spiegel nicht viel von ihrem hübschen, natürlichen Selbst. Der Spiegel war alt, milchig, und der Staub war schon so verkrustet, dass alles Schrubben schädlicher war, als ihn einfach so zu lassen.

Freudestrahlend lief Akazumi zu ihrer Tür und öffnete diese. Ein Lied lag auf ihren Lippen, das sie auch für alle anderen hörbar, summte.

“Heute treffe ich dich mitten ins Herz, nein, mein Schatz, das ist kein Scherz~! Heute treffe ich dich auf die Lippen und am Abend darfst du für mich strippen~!”

Wieder und wieder summte Akazumi diese Zeilen, während sie das Haus verließ und sich auf die Hauptstraße Kyotos begab.

Woher sie wusste, dass sie heute ihren Prinzen wiedersehen würde, war ein Berufsgeheimnis. Um genau zu sein, war es eine Technik, die sie von ihrer Mutter gelernt hatte. Ja, Akazumis Mutter war eine der Besten gewesen. Sie war demnach in große Fußstapfen getreten, und bisher füllte sie diese ganz gut aus.

“Schneller, Shinpachi! Sie sind hier entlang gelaufen!”

Sie hatte es gewusst. Schon von weitem hörte sie die Stimme ihres schaltragenden Prinzens. Unter Tausenden hätte sie diese weiche, kämpferische Stimme wiedererkannt.

‘Ich komme, Schatzi~!’

Fröhlich stieß sich Akazumi vom Boden ab und rannte in die Richtung, aus der die Stimmen gekommen waren. Es lief alles wie geplant, na ja fast, die schurkischen Samurai, die sie vor Saito und Shinpachi weglaufen sah, waren alles andere als geplant gewesen. Im Gegenteil. Sie hinderten Akazumi daran, ihren Prinzen anzusprechen.

‘Diese Schmeißfliegen!’, murrte sie wütend und schob sich am Oberschenkel ihren Yukata etwas zur Seite und zog vier Stäbchen hervor.

‘Regel Nummer 1: Sei immer vorbereitet.

Regel Nummer 2: Steh einem Ninja niemals im Weg.’

Schneller als zuvor lief Akazumi in eine Gasse. Sie kannte jeden Winkel in Kyoto und wusste, wohin der Fluchtweg der Samurai führen würde. Dank ihrer Schnelligkeit hatte sie auch gleich noch den Vorteil, dass sie sich in aller Ruhe verstecken und ihre Störfaktoren ausschalten konnte.

Flink wie eine Katze kletterte Akazumi auf ein Dach und legte sich auf die Lauer.

Es dauerte nicht lange, da kamen auch schon die schurkischen Samurai mit gezogenem Schwert angelaufen.

“Sind sie hinter uns? Gib das Zeichen!”

Ein kurzer Pfiff ertönte, kaum, dass einer der Samurai was von einem Zeichen gesagt hatte.

Akazumis Sinne schärften sich, denn es roch nach einem gefährlichen Hinterhalt.

Tiefer rannten die zwei Samurai, dicht gefolgt von Saito und Shinpachi, in die Gasse hinein, bis sie schließlich stehen blieben.

Konzentriert begutachtete das Ninjamädchen jeden Winkel, jeden Schatten der Gasse und machte schließlich eine kleine Gruppe von Samurai aus, die nur auf ihre Gelegenheit warteten.

‘So haben wir nicht gewettet. Regel Nummer 3: Locke niemals meinen Schatz in einen Hinterhalt.’

Vollkommen sicher bei dem was sie tat, lief das Ninjamädchen lautlos über die Dächer und warf in schnellen Abständen, dennoch sehr zielsicher, ihre Stäbchen.

Noch im Laufen zog sie von ihrem anderen Bein vier weitere Stäbchen hervor. Vier von acht Störobjekten hatte sie beseitigt, um den Rest wollte sie sich hautnah kümmern.

Ohne groß darüber nachzudenken, sprang sie auf eine Mauer auf der anderen Seite der Gasse und kletterte diese behände runter.

“Oi! Was ist mit euch? Steht auf!”

Panisch sah einer der Verbliebenen auf seine Kumpels, die blutend am Boden lagen. Obwohl Akazumi ziemlich weit entfernt gewesen war, hatte sie doch sehr genau die Hauptschlagader am Hals getroffen.

“Wo kam das her?”

Mit geweiteten Augen sah sich der Verbliebene um. Hatten sie die Roshigumi unterschätzt? Waren doch mehr Kämpfer hier?

“Urgh…”

Ein Geräusch, das einem Gurgeln glich, der Geruch von frischem Blut, all das vermischte sich mit dem Dunst der Kriminalität in dieser Seitengasse.

“Argh…”

Es würden hier weniger lebend rauskommen, als hergekommen waren.

Verängstigt sah der letzte der Hinterhaltsgruppe hinter sich, wo er das braungelockte, wehende Haar der Attentäterin sah, die genüsslich das Blut seiner Kumpane von ihrem Stäbchen leckte.

Viel zu ruhig fixierten ihre giftgrünen Augen ihn. Er wusste, dass er sterben würde, wenn er jetzt versuchte, wegzulaufen.

Mit zitternden Händen umklammerte er das Schwert, das er schon vor dem Angriff des Mädchens gezogen hatte. Er hatte nur eine Chance.

“Miststück!”, fluchte er und stürzte sich auf das Ninjamädchen, das vollkommen ruhig stehen blieb.

Etwas scharfes zerteilte die Frucht, blutend fiel die kleinere Hälfte zu Boden, während die andere nur zur Seite kippte.

“Danke für das Kompliment”, hauchte Akazumi dem enthaupteten Körper entgegen und hob das Stäbchen in ihrer Hand, womit sie schließlich eine dünne, unsichtbare Schnur, die sie an zwei Stäbchen in der Wand befestigt hatte, zerteilte.

Der Hinterhalt war missglückt, und ebenso Akazumis Versuch, ihrem Liebsten zu begegnen. Sie hatte ihren Kopf erhoben und sah zu den Kämpfenden. Nun musste sie sich keine Sorgen mehr machen, aber… Ihr Blick glitt zu ihrem Yukata. Er war mit Blut befleckt.

Seufzend wandte sich Akazumi von den Leichen ab und zog die Stäbchen aus der Wand. Wütend darüber, dass sie sich beschmutzt hatte, lief sie über die leblosen Körper, die ihr noch im Weg lagen. So konnte sie sich doch nicht ihrem Prinzen zeigen.

‘Später…’, flüsterte sie sich in Gedanken zu, auch wenn sie nicht so wirklich daran glaubte.
 

Finster sah der schaltragende Schwertkämpfer tiefer in die Gasse hinein. Er nahm das warme Blut, das auf kleinen Stellen an seinem Hals trocknete, nicht mehr wahr, denn seine Aufmerksamkeit lag woanders.

“Diese verdammten Rônin…”, knurrte sein Partner, der sein Schwert an den Sachen der Leiche vor ihm abwischte.

“Findest du es nicht auch seltsam, Shinpachi? Ich hätte schwören können, dass wir in einen Hinterhalt gelockt werden.”

Ohne auf die Antwort zu warten, lief Saito tiefer in die Gasse hinein. Selbst die Dunkelheit konnte seinen geschärften Blick nicht trügen, sodass er recht schnell den fleischigen Berg lebloser Körper erblickte.

“Was meinst du damit? Hey, Saito, warte!”

Eilig lief der muskulöseste der Roshigumi, Nagakura Shinpachi, hinter seinem Gefährten her, stockte aber, als auch er den Menschenberg sah.

“Das sollten wir Hijikata-san und den anderen melden”, flüsterte Shinpachi, der selbst als erfahrener Kämpfer bei diesem Anblick schlucken musste.

Doch sein Partner hatte andere Pläne und ging näher zu dem Haufen. Etwas hatte seine Aufmerksamkeit geweckt.

Vorsichtig trat Saito über die leblosen Körper, bis er schließlich das fand, was er von weitem gesehen hatte. Langsam bückte er sich und hob ein schwarz lackiertes Stäbchen vom Boden auf.

“Wir sollten wirklich mit Hijikata-san reden.”

Shinpachi war verwundert, denn was genau sein Mitstreiter entdeckt hatte und ahnte, wusste er nicht.
 

Schon seit dem Morgen stand Erenya in Lhikans Laden und füllte die Ladenbestände auf. Das Mädchen war tief in ihrer Gedankenwelt versunken, während sie die monotone Arbeit verrichtete.

Ihre Gedanken drehten sich um Harada, der sie am Tag zuvor zurückbegleitet und sie beschützt hatte. Mizu und Lhikan hatte sie noch nichts davon erzählt, sie wollte beiden auch keinen Kummer machen. Es reichte doch schon, dass Harada sich um sie sorgte. Mehr sollten es auch nicht werden.

‘Warum wurde ich angegriffen…. Und was wollte dieser Koji von mir? Er sagte, er wollte mich nach Hause bringen.’

Wie zu Stein erstarrte Erenya inmitten ihrer Bewegung. Ihr Körper hörte nicht mehr auf sie, denn in Gedanken war sie woanders, weit weg in einer anderen Welt.
 

Es war ihr kleines Paradies, in dem sich das Mädchen wiederfand.

Sie wusste, dass es nicht so sein konnte, doch nur allzu deutlich spürte sie das warme Sonnenlicht und den seichten Wind auf ihrer Haut.

Friedlich sangen die Vögel ihre Liebeslieder und umkreisten verspielt die Äste des Kirschbaumes, der in der Mitte eines Blumenmeeres stand.

In ihrem unschuldigen Herzen fühlte Erenya, dass sie Zuhause war. Alles hier war ihr so vertraut und hieß sie allein willkommen.

“Verliere dich nicht in dieser Vision, Erbin des Sehergeschlechts. Wir haben dich gerufen, um dich zu warnen. Verlasse die Stadt, lasse hinter dir, was dich binden könnte, sonst wirst du all jenen, die du in dein Herz geschlossen hast, großes Unheil bringen.”

Kaum dass die fremde Singsangstimme das erste Wort ausgesprochen hatte, fuhr ein stärkerer Wind durch Erenyas schwarzes Haar.

Das Mädchen schluckte, denn diese Worte, diese Warnung, waren wie eine böse Beschwörung.

“Verlasse die Stadt und lasse zurück, was das Schicksal dir sonst gewähren könnte.”

Wie ein hungriger Schwarm Heuschrecken umzingelte die Stimme das Mädchen. Wieder und wieder forderte sie eindringlich, dass sie Kyoto verlassen sollte. Immer schmerzhafter drangen die Worte in ihren Kopf ein, bis die Dunkelheit alles war, was zurück blieb.
 

“Ist alles in Ordnung?”

Erst ganz leise, doch immer lauter werdend, durchdrang die ihr wohl vertraute Stimme die Dunkelheit. Langsam wich diese aus Erenyas Gedanken, so dass das Mädchen sich schnell wieder bewusst wurde, wo sie sich befand.

Fragend sah das Mädchen neben sich, wo sie in das lächelnde Gesicht Haradas sah.

“Geht es dir gut, Eri-chan?”, fragte er freundlich und hielt ein Päckchen Tee hoch, das Erenya noch vor wenigen Minuten in der Hand gehalten hatte.

Noch immer war ihr etwas schwummrig, weswegen sie Harada einfach nur ansah.

“Ich war gerade in der Nähe und wollte nachsehen, wie es dir geht.”

Besorgt sah der Krieger das Mädchen vor sich an, das einmal tief einatmete. Er fragte sich, was passiert war, das sie so verstört hatte.

“Oi! Sano-san, beeil dich, sonst gehen wir ohne dich!”

Verwundert sah Erenya an dem Krieger vorbei und blickte zur Tür, durch die ein Junge mit braunem, langem Haar sah.

“Geht schon vor, ich habe noch was zu tun!”, brummte Harada, ohne den Jungen, der bis über beide Ohren grinste, anzusehen.

“Sag deiner Freundin, dass wir darauf achten, dass du nichts anstellst.”

Kaum dass der Junge das gesagt hatte, nahm er die Beine in die Hand. Er schien Harada gut genug zu kennen, um zu wissen, wie er auf so einen Spruch reagieren würde.

“Verdammter Heisuke!”, grummelte der Samurai und ballte die Hand zur Faust.

Es war ihm schon unangenehm, was sein Freund da gesagt hatte, zumal er nicht wusste, wie Erenya darauf reagieren würde.

“Ihr scheint wirklich gute Freunde zu sein”, kicherte das Mädchen zu Haradas Erleichterung.

“Einer meiner besten Freunde, auch wenn er manchmal über das Ziel hinausschießt. Aber er ist eben noch jung.”

Die Sorgen waren aus Haradas Gesicht gewichen, als er das Mädchen kichern hörte. Er redete sich ein, dass sie vielleicht einfach überarbeitet war.

“Magst du etwas mit mir spazieren gehen?”

Obwohl Harada wusste, dass seine Freunde auf ihn warten würden, hatte er kein besonderes Verlangen danach, sich zu beeilen. Vielleicht lag es an der Gesellschaft, mit der sie feiern würden.

“Ich… kann ja Lhikan fragen, ob ich eine Pause machen darf.”

Harada liebte, auf eine ganz spezielle Weise, dieses unschuldige Lächeln des Mädchens. Es zeigte ihm, dass es ihr gut ging, dass sie keine Trauer oder keinen Schmerz empfand.

“Geh nur, Erenya! Aber geh nicht zu weit weg und bleib immer auf der Hauptstraße! Und geh nicht mit Fremden mit!”

Erenya seufzte wegen der Worte des Händlers, der alles mit angehört hatte und ihr die Erlaubnis gab, ohne dass sie fragen musste.

“Und sie, junger Mann, passen mir bloß gut auf meine Angestellte auf.”

Schamesröte stieg Erenya in die blassen Wangen. Peinlicher konnte Lhikan gerade wirklich nicht sein.

Schnell griff das Mädchen nach Haradas Arm und zog ihn aus den Laden raus.

“Also, Harada-kun. Wohin gehen du und deine Freunde? Ich kann dich ja bis dahin begleiten.”

Da war es wieder, dieses unschuldige Lächeln, das sich mit dieser verlegenen Röte vermischte.

Harada merkte, wie auch ihm das Blut in die Wangen schoss, weswegen er seinen Kopf leicht abwandte.

“Na ja, der Ort, wo ich hin will, ist eigentlich kein Ort für dich, Eri-chan. Dort sind viele betrunkene Männer. Wer weiß, wozu die fähig sind.”

Harada meinte es ernst. Er würde nicht ruhigen Gewissens feiern können, wenn er wusste, dass Erenya alleine im Rotlichtviertel herum lief.

“Mir wird schon nichts passieren, keine Sorge, Harada-kun.”

Sie war so unschuldig, so naiv wie eine blühende Kirschblüte. Wie ein Kind, das die Grausamkeit dieser Welt noch nicht erblickt hatte.

“Was feiert ihr eigentlich?”

Harada wusste nicht, ob Erenya wirklich der Grund ihrer Feierstimmung interessiert, oder ob sie nicht nur versuchte, vom Thema abzulenken. Es freute ihn aber, dass sie ihn überhaupt fragte.

Ganz ungezwungen erzählte er ihr davon, wie die Roshigumi ohne einen Schutzherren nach Kyoto gekommen war, und dass sie nun vom Aizu-Clan die Unterstützung bekamen, die sie zum Verbleib in Kyoto brauchten.

Erenya hörte seinen Worten aufmerksam zu. Sie schien sich nicht einmal zu langweilen, im Gegenteil, sie zeigte aufrichtiges Interesse.

Nachdem Erenya ihm von ihrer utopischen Welt erzählt hatte, zeigte er ihr nun seine.

Langsam, wirklich sehr langsam, begann Harada dem Mädchen sein Herz zu öffnen und sie zu einem Teil seiner Welt zu machen.
 

“Nun habe ich dich doch bis hierher mitgenommen!”

Seufzend stellte Harada fest, dass er den ganzen Weg über nur mit Erenya gesprochen und dabei aus den Augen verloren hatte, wohin er eigentlich genau ging. Ohne es bemerkt zu haben, war geradewegs ins Rotlichtviertel gelaufen.

Doch anhand von Erenyas Kichern, begriff er, dass sie genau das bezweckt hatte.

“Du bist ganz schön hinterhältig”, merkte er mit einem Lächeln an.

Ändern konnte er es jetzt sowieso nicht mehr. Und obwohl es seine Kriegerehre verbot, musste er sie auch wohl oder übel den ganzen Weg alleine zurück gehen lassen.

“Ich wünsche dir und deinen Freunden eine schöne Feier, Harada-kun.”

Lächelnd sah sie den Krieger an, der gerade mit sich selbst rang. Doch in den amethystfarbenen Augen des Mädchens sah er, dass sie ihm nicht erlauben würde, mit ihr zurückzugehen. Diese Feier war ein Teil seiner kriegerischen Welt, einer Welt, in der es nur wenig Platz für Frauen oder Mädchen wie Erenya gab. Sie hatte nur durch dieses kleine Gespräch verstanden, wie wichtig ihm seine Welt war. Sie respektierte es und wollte ihn nicht aus dieser herausreißen.

“Pass auf dich auf, Eri-chan. Versprich es mir.”

Ernst sah er ihr in die Augen. Er wollte das Versprechen sehen, er wollte es hören. Erst dann konnte er etwas beruhigter die Feier genießen.

“Ich verspreche es dir, Harada-kun. Und nun geh deine Feier genießen, deine Freunde warten sicher schon auf dich.”

Es war seltsam. Nicht einmal das ernst gemeinte Versprechen von Erenya beruhigte ihn. Doch er musste sie ziehen lassen, auch wenn es ihm schwer fiel.
 

Eilig lief Erenya die Hauptstraße entlang. Die Atmosphäre in dem sogenannten Rotlichtviertel gefiel ihr ganz und gar nicht. Überall roch es nach Sake und Schnaps, und von den Betrunkenen, die über die Straße torkelten, wollte sie gar nicht reden. Sie wollte einfach nur weg von hier, und am besten war es, wenn sie auch nie wieder herkommen musste.

Wenn sie ehrlich war, hatte sie schon etwas Angst alleine in diesem Viertel. Jeder erschien ihr hier wie ein potentieller Mörder oder Dieb.

Schneller lief das Mädchen die Hauptstraße entlang, sie achtete nicht einmal mehr auf den Weg und rannte einfach so schnell, wie es ihre Kräfte zuließen.

Hauchzart streifte sie den Arm eines Mannes, an dem sie gerade vorbeilief, doch sie hatte viel zu große Angst, um stehenzubleiben und sich zu entschuldigen.
 

Mit ernstem Blick sah Kurokage Daren dem Mädchen nach, das ihn soeben am Arm gestreift hatte. Sie lief einfach weiter, entschuldigte sich nicht einmal mit einem Ruf. Er roch ihre Angst, und obwohl er wusste, wer dieses Mädchen war, machte er sich nicht die Mühe, ihr zu folgen. Die Tatsache, dass er sie heute hier gesehen hatte, reichte ihm vollkommen. Nun wusste er mit absoluter Sicherheit, dass sie hier war.

Es war somit nur eine Frage der Zeit, bis seine Bluthunde sie zu ihm trieben.

‘Lauf, kleiner Engel. Lauf um dein Leben!’
 

Die Feier der Roshigumi war mehr als ausgelassen. Der Sake floss förmlich in Strömen, und wo man hinsah, saßen die Geikos mit kleinen Sakefläschchen neben den Männern und bedienten sie.

Nur eine Geiko saß abgesondert von den anderen in der Ecke und beobachtete die Feiernden. Sie war alles, was zwischen den Damen und einer ungewollten Blutspende stand, auch wenn sie sich nicht von den anderen unterschied. Wie die anderen auch trug sie den Yukata in den Farben ihres Lokals, und auch die Frisur war auf dieselbe Art hochgesteckt und gebunden wie die der anderen.

Dennoch ging sie nicht demselben Geschäft wie ihre Kolleginnen nach.

Leise wurde die Tür zum Zimmer geöffnet und eine weitere Geiko in Begleitung einer Maiko bat darum, den Feiernden Gesellschaft zu leisten. Genauestens beobachtete die Geiko, die alleine in der Ecke saß, das Geschehen. Sie kannte die kleine Maiko, deren Name Kosuzu war. In der Regel war sie bei den Gästen gern gesehen, doch heute war sie definitiv an den falschen Mann geraten.

Die einsame Geiko bekam nicht mit, was die kleine Kosuzu getan hatte. Sie sah nur noch, wie Serizawa, eine der führenden Personen der Roshigumi, sich erhob und die Maiko anschrie.

“Miststück! Weißt du, mit wem du sprichst?!”

Die Geiko war bereit, denn der Zorn und die Brutalität Serizawas waren viel zu deutlich aus dessen Worten herauszuhören.

“Wie kannst du, eine niedere Maiko, es wagen, in diesem Ton mit mir zu reden?”

Die Einsame machte sich bereit, denn die Lage der kleinen Maiko wurde immer ernster, und keiner der restlichen Männer schien eingreifen zu wollen. Es war also wie üblich an ihr, etwas zu unternehmen. Sicher griff die Geiko hinter ihren Rücken, wo unter dem Obi ihr treues Kodachi verborgen lag. Sie war bereit, diesem Serizawa die Kehle aufzuschlitzen, wenn er nicht sofort inne hielt.

Doch ihr Eingreifen wurde unnötig, als einer der Gäste schützend Partei für die Maiko ergriff. Dennoch ließ die Geiko ihre Vorsicht nicht fallen, denn der Junge, der eingriff, sah nicht so aus, als würde er sonderlich viel ausrichten können.

Es war sein Glück, dass die anderen Anwesenden nun eingriffen, denn sonst hätte Serizawa hier vor Ort sein Leben verloren.

“Na, na! Komm schon, Serizawa-san! Das sollte eine Feier sein.”

Mit einem gespielten Lächeln versuchte einer der Krieger, Serizawa zu beruhigen, und es schien auch zu funktionieren.

Nur um sicher zu gehen, dass auch bei den anderen Geikos alles in Ordnung war, sah sie sich um und bemerkte, dass eine ihrer Kolleginnen auf sie zukam.

“Chia-chan, bitte geh nach den anderen Gästen gucken. Wir kommen hier schon zurecht”, flüsterte ihre Kollegin ihr zu.

Nur widerwillig erhob sich die Schwertträgerin und verließ, kurz nach der Maiko, den Raum.
 

Wie üblich ertönten die Lieder der Betrunkenen auf der Straße Kyotos. Es war der späte Abend, und die schwerttragende Geiko lief allein durch die dunklen Gassen. Sie kannte das Risiko, dass es gab, wenn man nicht auf der Hauptstraße blieb, doch sie hatte genug Vertrauen in ihre Fähigkeiten.

Im Gegensatz zu den anderen Geikos musste sie sich keine Sorgen machen. Doch plötzlich blieb sie inmitten des Weges stehen. Etwas stimmte nicht. Sie spürte es in jeder Faser ihres Körpers. Vorsichtig griff sie zu ihrem Obi, dahin, wo der Griff ihres Schwertes war.

Jemand folgte ihr, und diese Person wollte es scheinbar nicht einmal heimlich tun, denn selbst jetzt wo sie stehen blieb, näherte sich das Individuum Schritt für Schritt.

“Verdammt, mir ist der Schuh aufgegangen!”, zischte die Geiko gespielt und bückte sich.

Mitten in der Bewegung zog sie auch ihr Kurzschwert aus dem Obi und umklammerte es kampfbereit.

‘Put Put Put. Nur noch ein kleines Stückchen.’

Zeitgenau wartete das Mädchen ihre Chance zum Angriff ab. Sie war nicht diejenige, die in dieser Gasse sterben würde. Soviel stand für sie fest.

Kaum dass der Gegner nahe genug hinter ihr stand, holte die Geiko mit ihrem Kurzschwert aus und schwang es in die Richtung der unteren Körpermitte des Gegners.

Es war dieser eine Moment, in dem sie begriff, dass sie wohl zum ersten Mal in ihrem Leben einen wirklich begabten Schwertkämpfer gegenüber stand. Geschickt war ihr der Muskelprotz, den sie trotz der Dunkelheit als einen von Serizawas Männern ausmachte, ausgewichen.

“Oi! Pass auf!”

Es waren seine Worte, die so verächtlich in ihren Ohren klangen und sie dazu brachten, ihn mit ihren haselnussbraunen Augen so hasserfüllt anzusehen.

“Du verletzt vielleicht noch jemanden damit.”

Die Geiko atmete tief ein, als sie seine Worte hörte. Er machte sie so wütend, doch sie wollte ihr Schwert nicht mit wutvernebelten Sinnen führen.

Ruhig griff sich das Mädchen in die schwarzen Haare und riss sie sich von ihrem Kopf, wodurch ihre eigentlichen langen seidig-blonden Haare offenbart wurden.

“Du solltest dir lieber deinen Atem sparen und weglaufen.”

Das erste Mal an diesem Abend hatte die blonde Geiko ihre kalte, feminine Stimme erklingen lassen. Das erste Mal, hatte sie ihre Worte direkt an jemanden gewandt.

“O-Oi, warte! Ich wollte nur mit dir reden!”

Hektisch hob der groß gewachsene Muskelprotz die Hände, um dem Mädchen zu demonstrieren, dass er sein Schwert nicht ziehen wollte.

“Falscher Ort dafür, Sonnenschein.”

Kampfbereit ging die Blonde in ihre gewohnte Kampfposition. Noch einmal holte sie tief Luft, ehe sie den ersten Schritt tat und auf ihren Gegner zulief.
 

Shinpachi hatte keine andere Wahl, als sein Schwert zu ziehen und sich gegen die schnellen, geschickten Angriffe des Mädchens zu wehren.

Er war fasziniert von ihr, denn obwohl sie sich äußerlich, mit der Perücke, kaum von den anderen Geikos unterschied, war sie doch anders. Schon im Lokal hatte er das Kurzschwert, das sie unter ihrem Obi versteckt trug, bemerkt. Er war sich auch sicher gewesen, dass sie es gegen Serizawa eingesetzt hätte, wenn nur die Gelegenheit dagewesen wäre. Und auch jetzt, gegen ihn, setzte sie die bläulich glänzende Klinge des Schwertes ein, weil er ihr die Gelegenheit gegeben hatte.

“W-Warte! Ich will dir nichts tun!”

Wieder und wieder versuchte das Muskelpaket, sie mit Worten zu überzeugen. Denn eigentlich war dieser Kampf nicht das, was er gewollt hatte. Doch die blonde Geiko hörte nicht auf ihn. Im Gegenteil, jedes Mal, wenn er es im Guten versuchte, setzte sie zum Tiefschlag an. Er konnte froh sein, dass sie nur ein Schwert und er genug Schnelligkeit zum Ausweichen hatte.

Sie war so stur, die kämpferische Amazone. Er hatte nur eine Wahl, wenn er in Ruhe mit ihr reden wollte. Er musste sie hier und jetzt besiegen, ohne sie aber zu verletzen.

Schnell ging Shinpachi auf Abstand und machte sich bereit für seinen Angriff. Er würde nicht verlieren, das kam absolut nicht in Frage.

Sehr genau studierte er die Bewegungen des Mädchens. Er ahnte, wie der nächste Angriff aussehen würde und wusste auch schon, wie er ausweichen und sie zu Fall bringen musste.

Als sie erneut auf ihn zulief und mit ihrem Schwert ausholte, war es seine Chance. Er duckte sich unter dem Schwert weg und schlug dem Mädchen mit der stumpfen Rückseite des Katanas in die Seite. Wie er es sich gedacht hatte, war sie viel mehr auf den Angriff als auf die Abwehr trainiert. Und das wurde ihr zum Verhängnis. Sie konnte nicht rechtzeitig reagieren und wurde von seinem Schlag regelrecht zur Seite, gegen eine Hauswand, gestoßen.
 

Erst als die Geiko das brüchige Holz einer Hauswand an ihrem Rücken spürte, bemerkte sie auch, wie viel Kraft sie ihre unentwegten Angriffe gekostet hatten. Und scheinbar hatte sie nichts gegen den Muskelprotz ausrichten können. Doch ihre Ehre verbot es ihr, jetzt aufzugeben. Keuchend stützte sie sich an ihrem Kurzschwert ab und versuchte sich wieder aufzurichten, doch als sie den Kopf hob, spürte sie bereits die scharfe Spitze seines Katanas am Hals.

“Es tut mir leid, dass ich ein wenig barsch bin, aber ich will wirklich nur reden.”

Ernst und eindringlich drangen die Worte des Muskelprotzes, der sein Schwert wegzog und zurück in die Scheide steckte, zu ihrem Ohr vor.

“Also, kleine Geiko. Wie ist dein Name?”

Sie überlegte kurz, befand aber, dass dieser Mann nicht zu den schurkischen Samurai gehörte, auch wenn sein Aussehen sich kaum von denen unterschied.

“Man nennt mich Chia. Oder auch die schwerttragende Geiko.”
 

Mizu hatte bereits den Tisch für das Abendessen gedeckt. Heute sollte Lhikan mit den Mädchen zu Abend essen, als Dankeschön, dass er Erenya in seinem Laden arbeiten ließ. Sicher brauchte der Händler nicht mehr lange zu ihnen, denn soweit war der Laden nicht von Mizus Zuhause entfernt.

Insgeheim erhoffte sich Mizu aber auch ein paar Informationen, wie sich das Mädchen im Laden anstellte. Sie konnte es schließlich nicht ertragen, wenn Lhikan mehr Verluste als Gewinne wegen ihrer Mitbewohnerin hatte. Noch dazu war sie in den letzten zwei Tagen immer etwas seltsam gewesen, was bei Erenya eigentlich ein Normalzustand war. Aber so wie in den letzten Tagen war es eben noch nie gewesen.

Klappernd riss sie die Tür aus ihren Gedanken. Jemand hatte geklopft und sie wusste auch, wer dieser Jemand war.

Mit einem Lächeln auf den Lippen schob sie die Tür auf und sah zu dem Händler.

“Du weißt doch, dass du einfach reinkommen kannst. Warum klopfst du immer noch?”

Ein Lächeln lag auf Lhikans Gesicht. Er wusste, dass Mizu ihm das sagen würde. Doch heute hatte er eine gute Ausrede für sein Verhalten parat.

“Noch bin ich im Dienst. Ich soll eine Lieferung für das Fräulein Attarath abgeben.”

Lächelnd hielt er seiner Freundin ein kleines Kästchen, auf dem ein kleines zusammengerolltes Papier lag, hoch.

“Ist die Dame denn hier?”

Eigentlich erübrigte sich die Frage, denn als er in das Zimmer spähte, sah er bereits das Mädchen, das am Tisch saß. Mizu dachte, dass Lhikan dem Mädchen ein Geschenk für ihre gute Arbeit machen wollte, weswegen sie Platz machte und den Händler hereinließ. Dieser ging auch sofort zu Erenya, nahm ihre Hand und legte vorsichtig das Kästchen hinein.

“Man muss sich das vorstellen. Kurz vor Ladenschluss kommt so ein rothaariger Mann in mein Geschäft und fragt nach Erenya. Als ich ihm sagte, dass sie bereits Feierabend habe, kaufte er das kleine Präsent und bat mich, es ihr zu geben.”

Neugierig sah Mizu zu ihrer Mitbewohnerin, die einfach nur nachdenklich auf das Kästchen sah. Sie wusste nichts von irgendwelchen rothaarigen Männern, die das Mädchen kannte. Immerhin sprach Erenya nie über ihre Erlebnisse des Tages.

“Das klingt ja stark nach einem Verehrer. Was ist in dem Kästchen drin?”

Mizu wusste, dass dem Händler der Inhalt bekannt war, schließlich hatte er es verkauft. Fragend sah sie ihn deswegen an und wartete auf seine Antwort.

“Ein rosafarbenes Seidenhaarband.”

Mizu stockte der Atem, als sie das hörte, und ihr Blick glitt zu Erenya, die das Kästchen öffnete und das Haarband rauszog.

“Steht auf dem Papier vielleicht ein Name?”

Das Mädchen konnte sich nicht vorstellen, wen Erenya kennengelernt haben konnte, der so vermögend war, dass er ihr einfach ein Seidenband schenkte.

Erenya, die von dieser Welt keine Ahnung hatte und auch nichts mit dem Wert von Seide anfangen konnte, nahm eigentlich nicht aus Neugier, sondern mehr wegen Mizu das Papier und entrollte es.

“Kirschblüten würden dein Haar sicher gut zieren. Vielleicht tut es auch dieses Haarband.”

Das war alles, was auf dem Papier stand. Nirgends war ein Name verzeichnet, doch Erenya ahnte, wer ihr dieses Band zukommen lassen hatte. Doch sie wusste nicht, warum, denn sie hatte nicht das Gefühl, dieses Zeichen der Dankbarkeit verdient zu haben.
 

Durch Lhikan war das Abendessen etwas belebter als gewöhnlich gewesen. Sie scherzten und lachten, und so war der Abend schön ausgeklungen, auch wenn Erenya kaum ein Wort sprach und immer nur auf das Seidenband sah. Wie üblich hatte sie auch keine der Speisen angefasst, was Mizu immer mehr besorgte. Doch scheinbar störte es das Mädchen nicht. Sie wurde immer besorgter. Doch scheinbar störte es das Mädchen nicht. Sie war am frühen Morgen fit und auch heute war sie wieder bereit, im Quartier der Roshigumi aufzuräumen.

Zwei Tage waren seit ihrem letzten Hausputz vergangen und dreimal die Woche durften sie auf dem großen Tempelgebiet für ihr Geld arbeiten.

Mizu freute sich schon insgeheim auf diesen Tag, denn noch immer hatte sie vor, die Roshigumi mit ihrer guten Arbeit zu überzeugen und fest angestellt zu werden. Nebenbei konnte man sich vielleicht mit den Jungs vor Ort anfreunden und so einen privaten Bodyguard gewinnen. Solche Freunde waren in Zeiten wie diesen wertvoller als Geld.

Fröhlich lief Mizu mit einem Lied auf den Lippen Richtung Tempel. An ihrer Seite lief Erenya, die bedrückt auf den Boden sah. Mizu bemerkte, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Dieses Verhalten war selbst für ihre Mitbewohnerin unnormal.

“Was ist los, Erenya?”

Besorgt sah Mizu ihre Freundin an. Doch wie schon am Anfang ihrer Freundschaft schwieg sie nur und lief stumm weiter.

‘Warum fängt das schon wieder an?’, seufzte Mizu gedanklich und lief weiter.

Insgeheim hoffte sie aber, dass sich dieses Verhalten von Erenya wieder legen würde.
 

“Verdammt, diese Regeln sind dumm!”

Nur leicht nahmen Erenya und Mizu etwas von dem Gespräch der Krieger wahr. Die Jungs der Roshigumi hatten sich versammelt, um über die neuaufgestellten Regeln zu debattieren.

Das Einzige, was Erenya während des Schrubbens aufgenommen hatte, war, das derjenige, der sich nicht an die Regeln hielt, Seppuku begehen musste.

“Diese Verhaltensregeln sind definitiv zu streng”, moserte Harada, der wie sein Kumpel Shinpachi nicht viel von den Regeln hielt.

Doch mit Okita gab es auch Krieger, die scheinbar nichts gegen die Regeln hatten, auch wenn dieser deutlich machte, dass er sich nur für den Anführer Kondou daran halten würde.

“Wir werden diese Regeln wahrscheinlich für die neuen Rekruten brauchen, die zukünftig kommen werden.”

Saito hatte damit eigentlich schon den treffenden Punkt angesprochen. Die Roshigumi, die erst vor kurzem unter den Schutz des Aizu-Clans gestellt wurde, würde sicher auch neue Rekruten anheuern müssen. Je größer die Gruppe wurde, desto striktere Regeln würden sie brauchen, damit kein Chaos innerhalb der Gruppe ausbrach. Doch gleichzeitig legte man damit auch unliebsamen Mitgliedern einen Maulkorb um.

Außerdem betrafen diese Regeln auch die Diener der Anführer. Diener, die nicht einmal Mitglieder der Roshigumi waren. Auch das war ein Thema, was Okita ansprach, der Ryunosuke warnte, was Serizawas Taten für ihn bedeuten konnten.

“Ich bin weg, bevor ich in so etwas hineingezogen werde!”

Der Junge war sich sicher, dass er es schaffen würde, doch damit war er wohl eher ganz allein.

“Na schön, was halten denn die Damen, die uns so aufmerksam zugehört haben, davon?”

Mit einem Lächeln wandte sich Okita zu Mizu, die gerade ihren Lappen in den Eimer tauchte, um ihn wieder feucht zu machen. Sie hielt inne und sah zu dem Krieger, der sie indirekt beschuldigte, zu lauschen.

“Nun, erstens ihr redet so laut, dass wir kaum weghören können, wenn wir hier unsere Arbeit machen. Und zweitens empfinde ich diese Regeln zwar als streng, aber auch als in Ordnung. Jeder, der von den Regeln und den Konsequenzen des Nichteinhaltens hört, wird es sich zweimal überlegen, ob er beitritt. Von denen, die ihr dann noch rekrutiert, wisst ihr wenigstens, dass sie sich an die Regeln halten werden, um ihr Leben zu schützen.”

Ernst sahen die Männer das Mädchen an, das so unbeteiligt war und doch den Regeln so viel positives abgewinnen konnte.

“Außerdem, es beruhigt mich zu wissen, dass in der Roshigumi hart durchgegriffen wird, wenn jemand vom eigentlichen Ziel abweicht. Das macht euch sogar etwas sympathischer als die kaiserliche Armee.”

Das Mädchen hatte gesagt, was sie sagen wollte, und damit getan, was Okita verlangt hatte. Sie konnte sich nun also wieder ihrer Arbeit zuwenden und ihre Seite des Bodens fertig schrubben.

“Was ist mit dir, Eri-chan? Was hältst du von unseren Regeln?”

Mit einem Lächeln sah Harada zu der Puppe, die die ganze Zeit schweigend, ein und dieselbe Stelle wischte. Der Krieger merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Es hing eine Art depressive Aura über ihr.

“Eri-chan?”

Vorsichtig, weil sie nicht geantwortet hatte, sprach Harada das Mädchen erneut an.

Langsam erhob das Mädchen ihren Oberkörper und warf ihren Zopf, den sie mit dem Seidenband gebunden hatte, zurück.

“Es sind eure Regeln… Was sollte ich schon davon halten? Im Prinzip machen diese Regeln doch nur eines klar… Wer leben will, tut, was er tun muss, um leben zu können.”

Kurz hielt Erenya inne, ehe sie aufstand und den Lappen zurück in den Eimer warf.

“Ich mache diesen Abschnitt später weiter, Mizu.”

Fast schon so, als würde sie vor den Männern und Mizu fliehen wollen, griff sie den Eimer und lief um die Ecke, dahin wo keiner sie sehen konnte.

“Wie hältst du es nur mit ihr aus, Mizu-chan? Sie scheint ja eine ziemlich anstrengende Person zu sein”, spottete Okita und heuchelte Mitleid für Mizu.

Doch diese schüttelte den Kopf und sah in die Richtung, in die Erenya gegangen war.

“Eigentlich war sie in den letzten Tagen nicht so. Ruhig ist sie zwar immer, aber so bedrückt… habe ich sie noch nie erlebt.”

Harada nickte, denn auch er glaubte, dass er das Mädchen besser kannte. Irgendwas musste passiert sein, die Frage war nur, was genau.
 

Monoton schrubbte Erenya auf der anderen Seite des Gartens die hölzernen Böden. Sie seufzte, denn es gab etwas, das ihr seit der Nacht schwer im Magen lag. Doch sie traute sich nicht, mit Mizu darüber zu reden. Vielleicht lag es daran, dass sie ihre Entscheidung bereits getroffen hatte. Und mit diesem Entschluss konnte sie niemandem in die Augen sehen. Vielleicht war es das, was man ein schlechtes Gewissen nannte.

“Hier bist du, Eri-chan!”

Deutlich vernahm sie Haradas Stimme neben sich. Obwohl sie sich freute, denn Harada war ihr ein ebenso wichtiger Freund wie Lhikan und Mizu geworden, ignorierte sie ihn und schrubbte weiterhin den Boden.

Sie hoffte, dass wenn sie schwieg und Harada beharrlich ignorierte, er von selbst gehen und sie in Frieden lassen würde. Doch Harada war niemand, der sich ignorieren ließ oder ein betrübtes Mädchen sich selbst überließ.

Vorsichtig näherte er sich dem Mädchen mit den Amethystaugen und hockte sich vor sie hin, so dass es ihr unmöglich war, ihn zu ignorieren, wenn sie den Boden fertig machen wollte.

“Was ist denn los, Eri-chan? Hast du schlecht geschlafen? Oder ist gestern auf dem Heimweg etwas passiert?”

Ernst sah der Krieger das stumme Mädchen an. Sie antwortete aber wieder nicht und versuchte weiterhin krampfhaft, den Krieger zu ignorieren. Er seufzte, denn eigentlich wollte er schon gerne wissen, was los war. Die Vorstellung, dass Erenya traurig war und versuchte, alleine mit ihren Problemen klar zu kommen, missfiel ihm.

“Erenya, ich gehe nicht eher, bevor du mir gesagt hast, was los ist!”

Klar und deutlich sagte Harada, dass er sie nicht alleine lassen würde. Selbst wenn dies kein Kampf war, würde er nicht derjenige sein, der als erster aufgab. Und diese Botschaft kam auch bei Erenya an.

“Ich werde Kyoto verlassen… und nie wieder zurückkehren. Es wäre also besser, wenn du mich vergisst, Harada-kun.”



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2012-08-15T07:57:41+00:00 15.08.2012 09:57
>>Dieser ging auch sofort zu Erenya, nahm ihre Hand und legte vorsichtig das Kästchen hinein.<<

Warum hat sie diesmal nicht gesagt das er sie nicht anfassen soll?


Ich glaube nicht das sie Harada jetzt so extrem das Herz gebrochen hat. Der ist schließlich ein harter Samurai und hält sowas bestimmt aus und die Nächste wird sicher kommen. Ist doch immer so XD


War wieder sehr schön zu lesen das Kapitel. Ob sich der Eri x Harada Spoiler aus der FF Beschreibung jetzt wohl doch noch erfüllen wird XD. Man darf gespannt sein.

Von:  Miss-Tony-Prime
2012-08-14T16:04:16+00:00 14.08.2012 18:04
“Ich werde Kyoto verlassen… und nie wieder zurückkehren. Es wäre also besser, wenn du mich vergisst, Harada-kun.”
erst nix sagen und dan wie aus einer kanone geschoßen, direckt ins gesicht geschmissen.
damit hat eri bestimmt das erste mal harada das herz gebrochen.
er tut mir so leid....


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