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Jareth und René

Los Angelos Summerdrive
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich wünsche Euch allen ein frohes, gesundes, neues Jahr des Hasen! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hi ho!
Da is se wieder^^

Es hat etwas gedauert mich einzufinden, aber ich bin mit dem Ergebnis doch zufrieden :)
Da mein geplantes Ende etwas zu lang wurde *Asche auf mein Haupt* hab ich es kurz zweigeteilt. Hier also der erste Part zum Finale -(^_^)-
Viel Spaß beim Lesen Komplett anzeigen

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Disco

Mal ehrlich, wie konnten sich Leute das nur antun und im Winter in die Disco gehen?

Drinnen war es viel zu warm und wenn man rausgehen wollte um eine zu Rauchen, fror man halb zu Tode. Nicht, dass hier wer denkt ich wäre ein Spießer oder so. Ich war genauso gerne auf Partys und machte mit meinen Kumpels wirklich jeden Scheiß mit. Aber Disco und Party war einfach nicht das Gleiche. Nee, ich glaube im Vergleich zu dieser hier, hatte eine Party mehr Stil.

Die Weiber waren schon um ein Uhr Hackedicht und bis jetzt war noch kein Lied gekommen, was mich sonderlich vom Hocker gehauen hatte. Andererseits gab es hier in L.A. auch noch zig tausend andere Discos, die ich noch nicht gesehen hatte.

„Sag mal Rio, wann gehen wir?“

„Wie? Ach ja, nur noch einen Moment. Ich wollt dir noch was zeigen.“

Ja, das stimmte und er freute sich auch schon drauf, aber so langsam wurde es mir hier echt zu blöd.

„Und wann kommt er?“, fragte ich nach.

„Was bist du denn jetzt so ungeduldig? Du hast hier doch tausend dichte Weiber und amüsierst dich nicht? Hehe oder bist doch auf mein Ufer gekommen?“

„Ahhhh, red keinen Stuß! Aber ich würde Eine bevorzugen, die nicht gleich nach einmal wegpennt.“

„Stimmt auch wieder. Ah! Guck. Das da isser!“, sagte er mir Freudestrahlend und zerrte mich näher zum DJ hin.

Rio hatte ihn auf einer Party vor zwei Wochen gesehen und sich gleich verknallt. Aber er wusste nicht wie, was, wo und da musste er ihn mir erst mal zeigen. Vielleicht könnte ich ihm ja helfen, oder so, hatte er gesagt. Ich? Ein Hetero?! Ja nee, is' klar. Aber als guter Kumpel war ich mal so frei. Zumal ich noch mit der Einzige war, der Rio wieder ganz ohne Hemmungen anfassen konnte, nachdem er uns gestanden hatte, dass er Schwul war. Ja, das hatte er gemacht. Wie blöd musste man denn sein? Kay, er hatte gesagt, dass es schwer auf seinem Gewissen gelegen hatte, aber trotzdem? Ich hätte das nicht gemacht. Die paar Mal, als wir über Typen hergezogen waren, denen man es auch wirklich angesehen hatte, dass sie stockschwul waren, fiel doch nicht ins Gewicht! Oder?

Wie auch immer. Vor gut drei Monaten hatte er es uns gestanden. Das gab in unserer Freundeswelt einen so derben Aufruhr, dass wirklich jeder mal eine Woche zu Hause war und darüber nachdenken musste, wie er sich nun verhalten sollte. Schließlich hatten wir Rudelsitzung und der arme Rio saß wie auf'm Präsentierteller da. Da tat er mir schon etwas Leid. Die meisten hatten nix dagegen, meinten nur, dass sie Zeit bräuchten um sich daran zu gewöhnen. C.G. aber war gänzlich dagegen und da er noch mit die stärkste Partei in der Clique war, sah es wieder schlecht für Rio aus. Ich saß etwas Abseits und sah erst mal nur zu. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, wenn nicht etwas passierte Steinigten sie ihn noch. Irrwitzigerweise hatten sich das Rudel auf nichts einigen können und die Sitzung wurde vertagt. C.G. war genervt und er vertraute mir an, dass sein Vater, sein Vorbild sich auch vor einigen Jahren bekannt und dass das seiner Mutter das Herz gebrochen hatte.

'Kay, ich konnte seinen Standpunkt verstehen, aber hier ging es doch nur um Rio? Bei der nächsten Sitzung kam ich zu spät, weil ich von meiner Tante noch übelst genervt wurde. Ich kam also dementsprechend gereizt in den Club und stand erst mal nur sprachlos in der Tür. Es gab nun zwei Parteien. Die für Rio und die gegen ihn. Es sah aus wie einer dieser Straßenschlachten, bei der sich die Gruppen erst mal Minutenlang gegenüberstanden und sich erst mit Worten kloppten. Bingo was sagte ich. Das Wortgefecht ging los. Rio stand in dem Moment recht nah bei mir, als er mich bemerkte und zu mir kam. Kreidebleich flehte mich an, dass sie aufhören sollten. Er würde die Clique auch verlassen, das habe er nicht gewollt etc pp.

Irgendwo da riss mir der Faden und leider bekam Rio, da er mir einfach zu nahe stand, eine schöne Rechte. Er flog ein kleines Stück, kam dumpf auf und es war Ruhe im Raum. Endlich! Ich ging zu ihm und half ihm auf, mich entschuldigend. Dann schrie ich die Anderen an. Ohh, das hatte eine gute Wirkung und mir ging es auch prompt besser. Das einzige was ich von Rio noch wissen wollte war, dass er sich nicht an einen der Kumpel ran machte. Diese Regel galt auch für die Heteros, dass keiner die Freundin des anderen anbaggerte. Kameradschaft eben. Er schwor und für mich war die Sache gegessen. Ach, wen es wundern sollte. Neben C.G. war ich Gründungsvater der Clique und deswegen war sein oder mein Wort Gesetz. Und C.G. gewöhnte sich dran. Nun musste ich leider mit, um Rio bei seinen Problemen zu helfen.

„Da, der da. Mit dem grünem Kopftuch.“

„Der? Was findest denn an dem?“

„Einfach alles!“

„'Kay, man sieht ihn jetzt schlecht. Na gut, wenn du willst, rauf mit dir und red' ihn an!“

„Wa-? Das kann ich nicht!“ Ich sah ihn nur an und zog eine Augenbraue hoch. Im nächsten Moment zog ich los, rauf zum DJ-Pult. Widererwartend lief Rio mir panisch hinterher.

„Hey Mann, du bist jetzt dran mit Musik?“, fing ich an.

„Yo Mann! Was willste? 'N Musikwunsch?“, kam er mir lässig entgegen.

„Solange du besser auflegst als der davor, is' alles ok. Ich wollte eigentlich was anderes Fragen.“

„Klar mach ich das. Ich bin der Meister! Was willste wissen?“

„Bist du Schwul? Ich frag nur, weil dein Kopftuch so aussieht.“

Stille. Ich war doch nicht zu direkt? Aber nein. Während Rio hinter mir kollabierte, wurde der Meister schwächer, nervöser und brach schließlich ein.

„Shit ich sagte ihm ja, dass sieht man!“

„Ich nehm' das mal als ja. Hat dir das 'n Freund empfohlen?“

„Ja, 'n Kumpel von mir. Aber so werd' ich das wohl lieber abmachen!“

„Lass es ruhig dran. Ich kenn da jemanden, der dis cool findet“, sagte ich gelassen. Er schaut mich nur mit großen Augen an, ehe er breit grinste.

Rio hingegen war panisch geworden und zerrte an meinem Shirt: „Das reicht jetzt! Lass uns gehen!“, zischte er zwischen den Zähnen hervor.

„Du wolltest, dass ich frage, aber gut.“

Der Meister beobachtet uns und selbst bei dem spärlichen Licht kannte ich sehen, dass Rio von weiß zu puterrot gewechselte. Fluchtartig wollte er sich umdrehen und gehen, verschätzte sich dabei um eine Stufe und fiel die fünf wenigen Stufen runter, die zum DJ-Pult führten. An solch einer Stelle zeigte sich, dass ich eindeutig zu viele Filme guckte. In Zeitlupe fiel er herunter, ruderte dabei übernatürlich stark mit den Armen, als hinter mir eine Hand hervorschnellte und ein langgezogenes „Nein“, mit verzehrten Nebengeräuschen ertönte. Während man sehen konnte, dass sich Rio's zarter Hintern schon dem Boden näherte, wurde er von einem Typen aufgefangen, der die Treppe hoch wollte. In Kurz war das nicht mehr als eine, vielleicht zwei Sekunden. Also weiter im Bild.

„Was haben wir denn da?“, kam es von dem Typen. Rio war noch bleicher geworden. Mal ehrlich, er hat 'nen Farbwechsel wie ein Chamäleon. Der Meister atmete erleichtert aus und ich sah nur unbeteiligt zu. „Hey Marc, ich hab da was gefangen. Wollte das manchmal zu dir?“, sprach es unten weiter.

„Ähm, weiß nicht. Er gehört zu dem hier“, sagte er und deutete auf mich.

„Aha, hättest DU ihn dann nicht lieber fangen sollen, als sein Freund?“, ging die nächste Frage an mich.

„Bitte was? Ging schlecht, du warst vorher da", erwiderte ich patzig.

„Hey Junge, wie is' dein Name?“, fragte der Retter meinen Kumpel.

„Rio“, kam es leise. Der Arme war völlig verwirrt. In den Armen eines fremden Mannes, sein Kumpel, der ihn keine große Hilfe war und sein Schwarm, der ihm gegenüber stand und das alles auch noch gesehen hatte. Jaaa, ich denke, dass muss ihm wirklich scheiße peinlich gewesen sein.

„'Kay Rio. Hör mal zu. Dein Freund scheint mir nicht recht zuverlässig zu sein.“

„Wa-? Nein, er ist der Beste“, verteidigte mich Rio.

„Sah mir gerade nicht so aus. Nimm dir lieber jemanden zum Freund wie Marc, aber nicht den da“, sagte der Retter lässig mit einem grinsen auf dem Gesicht, in das ich augenblicklich reinschlagen wollte. Marc war neben mir verdächtig ruhig geworden und rot?

„Er ist nur ein Kumpel. Nicht mein Freund. Verwechsele mich nicht mit ihm. Ich bin keine Schwuchtel“, sagte ich und schon als ich es ausgesprochen hatte, tat es mir Leid. Moch mehr als ich Rio davon rennen sah.

„Ach so?“, kam es von dem Retter.

„Arschloch!“, sagte ich im vorbei rennen und funklte ihn böse an.

„Man ey, René das hätte jetzt nicht sein müssen!“

„Meinst du? Ich finde schon. Zumal `Rio` auf dich zu stehen scheint. Ich sag doch, das Tuch bringt was!“, freute René sich.

„Er ist gerade geflüchtet, falls dir das entgangen ist?!“

„Schon, aber er kommt wieder. Warum denkst du habe ich den Anderen so gereizt? Der beruhigt ihn jetzt und dann kommt Rio wider. Mach du erst mal deinen Job. Er kommt wider.“

„Und was hast du mit dem Anderem vor?“

„Mal sehen. Er war sehr interessant“, murmelte René für sich. Ein Lächeln ziert sein Gesicht, dass nur die übelsten Gedanken vermuten ließ.

Am Hinterausgang holte ich Rio endlich ein, packte ihn am Arm und riss ihn zu mir herum. Er war den Tränen nahe.

„Rio warte mal! Das wollte ich nicht so sagen! Hey, jetzt, bleib doch mal stehen!“

„Du meinst es nicht so? Und doch hast du alles vermasselt!“ Bang! Mit einmal war meine Faust neben seinem Ohr und er endlich still. Rücklings an der Wand musste er mir nun zuhören.

„Wenn ich etwas nicht leiden kann, dann ist es, wenn man mir nicht zuhört! Ich meinte, dass nicht abwertend, das weißt du. Leider ist das Wort im Laufe der Geschichte so verkommen. Es tut mir Leid“, blabberte ich los, während Rio verwirrt nickte. Ich atmete einmal durch. So zu rennen war anstrengend.

„Du gehst da jetzt wieder rein -“

„Nein, das werd' ich nicht, ich -“, mit einem wirklich sauren Blick, brachte ich ihn zum Schweigen.

„Du gehst da jetzt wieder rein und redest mit Marc. Der andere Typ wollte nur sehen wie du reagierst. Dieser Marc scheint auf dich zu stehen. Also gehst du da wieder rein.“

„Meinst du echt? Ich mein, dass war mir da alles so peinlich und ich fühle mich grad wie 'n Mädchen.“

„Junge du bist Schwul. Irgendeiner von euch beiden muss mädchenhafter sein und ich denke mal nicht, dass er das sein wird.“

„Du hast dir echt zu viele Gedanken über ein Thema gemacht, dass dich nicht betrifft, was?“

„Sign, kannste laut sagen. Und jetzt rein mit dir“, schloss ich und ließ ihn frei. Unsicher und nervös ging Rio wieder rein. Währenddessen betrachtete ich meine Hand, als die Tür zuklappte. Tss, Wände waren echt hart. Im Feiern war ich gut, aber brutal wurde ich nie. Ich setzte mich auf den Boden, lehnte mich an die kalte Hauswand und schloss kurz die Augen. So viel Stress und das am Anfang der Ferien! Sign.

Winter in L.A. waren eigentlich nicht wirklich kalt. Nicht so wie in Europa bei meiner einen Tante. Aber für jemanden, der sonst nur nette 30 C° gewohnt war, sind Werte um Null zu kalt! Heute indes war es angenehm. Und wie ich da so saß, merkte ich ein paar Lippen meine kreuzen???

Erschrocken riss ich die Augen auf und sah den Typen von eben.

„Haste dir weh getan?“, fragte er. Wann war der rausgekommen?

„Als dein Freund grad rein wollte, bin ich raus, falls du dich das fragen solltest?“, sagte er grinsend und rückte ein Stück von mir ab.

„Hab ich nicht. Was sollte das grad?“

„Was genau meinst du?“

„Mich so zu reizen? Rio is' sensibel und das musste nicht sein.“ Dieser Typ reizte mich auf eine mir unangenehme Art.

„Ach das. Ich wollte nur helfen einen Freund zu verkuppeln.“ Also doch wie gedacht.

„Und was sollte das eben werden?“, fragte ich und funkelte ich ihn sauer an. Dabei stand ich langsam auf, um mit dem Mistkerl auf gleicher Augenhöhe zu sein, da er auch aufgestanden war.

„Hm? Ich wollte nur testen, ob du wirklich keine Schwuchtel bist.“

„Wenn du dir keine Fangen willst, dann verzieh' dich!“

„Warum so kalt? Das war doch nichts weiter. Oder war das dein erster Kuss?“ Bitte was?

„Nein war's nicht. Ich habe schon viele Weiber flachgelegt. Ich steh nur nicht auf Männer!“ Der Typ schaffte mich.

„Oh na dann. Aber Männer hast du noch nicht geküsst?“

„Nein, und ich werd' das auch nie machen! Und schon gar nicht, wenn ich den Namen meines Gegenüber nicht kenne.“

„Oh stimmt. Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Ich bin René und mache mir gern einen Spaß draus, andere zu ärgern.“ Ich wusste es! Genau diese Art Typ konnte ich besonders gut leiden!

„Fein, dann René, geh' und such' dir wen anders oder du fängst dir wirklich eine!“

„Machst du schon nicht. Deine Rechte Faust tut noch weh.“

„Ich hab noch die Linke. Die is' genauso gut und reicht für dich allemal.“

„Das will ich sehen“, sagte René provokant und kommt mir näher. Wie gut, dass Rio vorhin in die Hintergasse gelaufen war. Hier brauchte ich mir um Zuschauer keine Gedanken zu machen. Ich holte aus und schlug zu. Doch merkte ich, wie seine Hand meine Faust umschloss und fest zudrückte. Das war unfair, wenn er stärker war als ich!

„Hat wohl nicht geklappt“, meinte René, während ich mich noch um meine Hand befreite und die Finger knacken ließ.

„Mir doch schnuppe. Zieh Leine!“

„Aber ich weiß noch nicht deinen Namen.“

Ich wollte schon antworten, aber als ich hochsah, blickte ich ihm direkt in die Augen. Erschrocken über diese Nähe, wich ich ein Stück zurück. Richtung Hauswand. Warum war er mir auch so nah? Und warum hatte ein Kerl gerade solche Augen, wie ich sie bei einem Mädchen vergebens suchte? Genau solche Augen wollte ich mal heiraten und viele Kinder haben, weil meine Sandkastenliebe ebensolche Augen hatte. Nur war das ein Mädchen gewesen!

„Klappe“, haute ich raus, weil ich die Frage vergessen hatte.

Verdammt was machte ich hier? Heute schien einfach nicht mein Tag zu sein... Nicht mal den Kopf ließ er mich wegdrehen, damit ich nicht in seine Augen sehen musste. Nein. Er griff mit seiner Hand nach meinem Kinn, dass ich Tropf seiner Aufforderung folgte und näher kam. Abermals legten sich Lippen auf meine. Abwehrend drückte ich meine Hände gegen seine Brust, um ihn wegzuschieben, um den Kuss zu unterbrechen, aber wie vorhin erwähnt, war er stärker. Aufgeben wollte ich trotzdem nicht. Meine Lippen bewegten sich nicht einen Millimeter. Oh nein! Ich küsste keine Männer! Mein Magen hörte sicher gleich wieder auf eine Horde von kribbelnden Schmetterlingen zu produzieren. Verdammt, was sollte das? So ein Gefühl hatte ich noch nie bei einem meiner Bettgeschichten gehabt! Warum dann hier? Etwa weil ein solcher Kuss falsch war? Aber ... Ich kniff die Augen zu und begann einen weiteren Fehler. Mit geschlossenen Augen, fühlte man automatisch mehr und intensiver. Seine Lippen fühlen sich weich an. Warum küsste ich dann nicht zurück?

Stell dir vor, René wäre ein Weib. Ein recht starkes Weib. Nein, das klappte nicht. Noch während ich so grübelte, bröckelte meine Abwehr, meine Spannung ließ nach und schwupp, küsste ich ihn. Ja, war ich denn?!! Aber ... davon mal abgesehen, fühlte es sich nicht schlecht an. Renés Lippen waren wirklich sehr weich. Und – oh nein! Nicht die Zunge! Vergiss es, ich machte nicht auf! Ich – scheiße war ich schwach! Seine Zunge drang geschmeidig vor und versuchte meine dazu zu bringen, sich zu bewegen. Machte ich es und das hier wäre schneller vorbei oder versuchte ich ein klein wenig Würde zu behalten und einen Versuch zu unternehmen es nicht zu tun? Ich wählte Zweiteres. Doch wie zuvor, gab ich nach. Verdammt! Ungewollt lehnte ich mich in den Kuss und tat das scheinbar einzig vernünftige und erkundete was vor mir lag. Ich schmeckte etwas süßes und Rauch. Hatte er geraucht? Aß er gerne Süßes? Ich gab den Gedanken auf. So was würde ich nicht durch einen Kuss herausbekommen. Lieber sollte ich mich fragen: Warum machte ich das hier nochmal? Ich. War. Hetero.

Ehe ich weiter mit meinen Gedanken hadern konnte, stellte sich die bekannte Luftknappheit ein. Wir lösten uns von einander und ich sah ihm in die Augen. Sein Blick bohrte sich tief in meine Erinnerungen, verankerte sich ungefragt in meinem Kopf. Keine Sekunde später stieß ich ihn weg und rannte Richtung Straße. Kurz vor der Ecke blieb ich stehen. Eine Frage hätte ich da noch.

„Warum hast du das mit Rio gemacht? Ich hatte das im Griff.“

„Weil ich der Meinung bin, dass die besten Beziehungen mit einem Knall beginnen“, antwortete René lächelnd.

Ich blickte ihn böse-funkelnd an und verschwand um die Ecke, in eine belebte Straße und dann in eines der nächsten Kaufhäuser. Einfach nur damit ich zwischen mich und ihn möglichst viel Abstand und Menschen bringen konnte. Eigentlich wurmten mich noch mehr Fragen. Wie etwas: Warum hatte er mich geküsst? Warum so intensiv? Und warum musste er solche Augen besitzen?!

Es interessierte mich brennend, doch zuvor musste ich mich irgendwie im Zickzack nach Hause bewegen.

Am Westeck

Als ich endlich irgendwann zu Hause war, ging ich gleich ins Bad, um eine schöne heiße Dusche zu nehmen. Duschen war immer gut, im Winter sowieso. Einfach nur berieseln lassen.

„-y? JAY?!“

„Huh? Was is?“

„Sag mal, wie lange lässt du dich eigentlich noch berieseln? Ich brauch mal den Rasierer, der in der Dusche liegt.“

„Solange bis ich wider denken kann? Ähm, hier.“

„Danke, wow und behalte den Nebel bei dir drin! Und über was musstest du so nachdenken, dass du keinen klaren Kopf hast? Oder hast du einfach nur getrunken?“, feixte meine Schwester.

„Ach das, nein ich hab nix getrunken! Tss! Glaubst du mir eh nicht, wenn ich dir das erzähle.“

„Probier's doch mal, vielleicht weiß ich ja doch was?“, scherzte sie.

„Ich wurde von 'nem Kerl geküsst?!“ Treffer ins Blaue, jetzt ist sie sprachlos. „Ähm, Josi? Antwort? Oder bist du zu geschockt?“

„Hä? Ähm ... ja ein bisschen schon. Bist du nicht mit einer aus deiner Klasse zusammen?“

„Nein, nicht mehr. Und es war die Parallelklasse“, rief ich ihr weiter aus der Duschkabine zu.

„Ach, also dann jetzt mit Männer?“ Ihr Unterton gefiel mir nicht...

„Nein, verdammt! Seh' ich so aus, als ob ich jetzt auf Männer stehe?“, keifte ich etwas zu ungehalten zurück.

„Ja?“

„Vergiss die Frage. Nee, echt jetzt?“ Nicht ihr Ernst oder?

„Nya schon ein bisschen. Wenn du dich manchmal sehen könntest, wie du dich im Bad benimmst! Voll Püppi! Also eigentlich ... ja, doch schon immer“, freute sie sich.

„Danke für die Hilfe!“

„Wie hieß der Typ denn der dich angesabbert hat?“, fragte sie weniger stichelnd.

„Er hat mich nicht 'angesabbert'. Es war ein normaler Kuss!“

„Okay. Und wie hießt er nun?“ Das war das Tolle an kleinen Schwestern, die ihren Bruder vergötterten. Während ich weiterhin schmollen konnte, riss sie sich am Riemen und benahm sich erwachsen. Obwohl wir beide wussten, dass weder sie noch ich uns je wirklich erwachsen benehmen würden.

„René“, antworte ich und stieg aus der Dusche, wobei ich den ganzen Nebel mit mir zog.

„René? ... Echt jetzt? Ha-hast du zufällig auch seinen Nachnamen?“, fragte Josi etwas erschrocken. Ich wickelte mir derzeit ein Handtuch um die Hüften und verfluchte den beschlagenen Spiegel.

„Nein, hat er nicht", antwortete ich sarkastisch in dritter Person. Das würde noch fehlen! "Warum bist du denn auf einmal so aufgeregt?“

„Ähm also, ach nichts. Vergiss es einfach wieder“, sagte sie zwar, aber so wie sie sich jetzt darauf konzentrierte sich die Beine zu rasieren, war da noch mehr. Und was macht ein großer Bruder, wenn einem die kleine Schwester was verheimlicht? Genau! Nachbohren! Hehe.

„Ach? Nichts? Na dann war das letztens mit der Keksdose und den verschwundenen Blumen auch nichts?“

„Boar, das ist nicht fair, Jay!“, motzte sie gleich zurück. Hah! Treffer, versenkt.

„Dann erzähl! Bin neugierig!“

„Bist du dir sicher?“, fragte sie mehr als skeptisch.

„Klar doch und los!“, versicherte ich ihr.

„Okay, also, du kennst doch das Bild, als wir mal Cosplay gemacht haben. Dass, das da unten auf dem Kamin steht, oder?“

„Hm klar, was ist damit?“

„Der Junge in der Mitte ist, wenn ich richtig denke, René.“ ...

„Bitte was? Das ist ein Mädchen auf dem Bild!“

„Jareth, dir is' schon aufgefallen, dass wir da ‚Cosplay‘ machten und ihr ‚Jungs‘ Kleider tragt?“

„Ähm, aber...“ Ich war sprachlos. Sollte ich ihr das jetzt wirklich abkaufen? „Ich bin mir ganz sicher, dass es ein Mädchen war, mit der wir immer gespielt haben. Du bist doch auch ständig um sie rumgelaufen!“

„Ja, weil ich damals in ihn verknallt war! Jay, kannst du dich noch dran erinnern wie du vom Baum gefallen bist?“, fragte Josi weiter.

„Klar, deswegen hab ich ja auch diese tolle Narbe am Hals.“ Ich besah sie mir sogleich in dem langsam aufklarendem Spiegel.

„Und auch, dass damals eine ganz dolle Gehirnerschütterung und teilweise Gedächtnisverlust hattest?“

„Nee, oder?“, fragte ich skeptisch nach. Mir schwante worauf Josi hinaus wollte und es gefiel mir nicht. „Und da hältst du es, als meine Schwester, nicht für nötig, mich darüber aufzuklären? Ich mein, ich hab dir doch erzählt, dass ich 'ihre' Augen mag! Und den ganzen Kram!“

„Ja schon, aber ich fand, das eher süß und nya“, stammelte sie und tippte mit ihren Zeigefingern gegeneinander. Nee, oder? Ich protestierte! Sicherlich hätte ich eigentlich, wenn man es genau nahm, selbst darauf kommen können, dass bei einem Cosplay, bei dem ich selbst Mädchenkleider getragen hatte, auch die anderen "Mädchen" viel mehr Jungs waren. Aber die Vorstellung, dass dieses "Mädchen" mit den unheimlich schönen grauen Augen meine Freundin sein könnte, war so stark gewesen, dass ich den Rest scheinbar einfach verdrängt hatte. Trotzdem ... nein, nein, auch beim zweiten Mal flüchtigen Überdenkens, war ich dagegen! Explizit dagegen! Verdammt, ich hatte gesagt, dass ich dieses "Mädchen" auf dem Foto heiraten will! Peinlicher ging es gar nicht mehr!

Mal eine ganz andere Frage: Warum hatte der Idiot mich dann geküsst, wenn wir doch beste Freunde gewesen waren? René müsste sich doch dran erinnern, oder nicht? Oder waren noch mehr Leute vom Baum gefallen? Sollte er dann nicht vorrangig in Josi verknallt sein? Sie stand doch mal auf ihn. Aber nein, er suchte sich den Kerl von beiden Geschwistern aus! Wie sah das denn aus? 'Kay ich hatte Rio zwar Mut zugesprochen, was den ganzen Schwulenkram anging, aber doch nicht bei mir? Ich stand auf Frauen. Auf weiche Haut und Brüste! Wie zur Bestätigung meiner Gedanken bewegten sich meine Finger als wollten sie eine weiche, große Brust umklammern oder eine kleine Stramme. Doch alsbald der Gedanke von weichen Brüsten meine Gedanken fluten wollte, spürte ich nicht die zarte Haut einer Frau in meiner Hand, sondern die harte Brust, welche ich vorhin vergeblich versucht hatte wegzuschieben und unter welcher es meine Finger gewesen waren, welche zart und schwach zusammenbrachen.

Ich habe nicht vor, mich von René ummodeln zu lassen! Nur, weil er mich geküsst hatte. So richtig geküsst hatte, also ...

„Jay? Sag mir woran du denkst, du bist knalle rot“, holte mich Josi in die Wirklichkeit zurück.

„Nichts!“, gab ich kurz als Antwort, rannte nur mit dem Handtuch um meine Hüften schnell in mein Zimmer und schloss ab. Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, NAIN! Ich will nicht! Mir auch egal, ob sich das jetzt nach bockigem Kind anhörten würde! Höre einfach auf an den Kuss zu denken und ihn zu analysieren, schrie ich mich im Kopf an, bevor ich mich auf mein Bett schmiss.

Insgesamt gesehen, war das die schlimmste Nacht seit Wochen. Das letzte Mal war, als ich mich so derbst doll betrunken hatte, dass ich einen Filmriss hatte. In der Schule am nächsten Tag hing ich dementsprechend durch. Als meine Kumpel merkten, was los war, riss ich mich zusammen. Konnte doch nicht den Schlappi raushängen lassen. Wie auch immer, von Rio erfuhr ich, dass es doch tatsächlich noch mit ihm und Marc geklappt hatte. Den Rest erzählte er mir zwar auch, aber ich hatte nicht wirklich hingehört.

„Sag mal, könnte mir Marc sagen, wo ich René finde?“, fragte ich zwischen Rio's Erzählungen.

„Hä? Ach ja, ihr hattet euch draußen noch unterhalten.“

„Ja, unterhalten. Genau. Und ich wollte ich noch mal was zu dem Gespräch gestern fragen.“

„Denke mal schon. Komm heute Abend in den Club an der Westecke.“

„'Kay, bis später.“

Ich wusste zwar noch nicht genau, was ich mit René bereden wollte, aber es wäre ein Anfang. Die Sache mit meinem Gedächtnisverlust war so eine Sache. Josi erzählte mir immer nur das Gleiche. Sie hatte auch nicht so viel mitbekommen, immerhin war sie damals noch jünger gewesen als wir Jungs. Meine Eltern widerholten immer nur das, was der Arzt mir auch sagte. Ich sollte mich zu nichts zwingen. Meine Erinnerungen würden von selbst zurückkommen. Das hatte ich eine Zeitlang geglaubt, doch es passierte nichts. Mit den Jahren verlor ich meinen Ansporn jene verlorene Zeit zurückzuholen, immerhin fehlte es mir an nichts und keiner sprach irgendwas an, was mich hätte stutzig machen können. Bis gestern zumindest. René, Josi, das Cosplaybild ... Zwar glaubte ich nicht, irgendwas besonders zu entdecken, aber wer weiß schon. Die einzigen Personen, welche ich noch nicht befragt hatte, waren die anderen beiden auf dem Bild. C.G. und scheinbar René. Angenommen René war der René von damals, was ich noch herausfinden musste, könnte er mir vielleicht mehr erzählen. Vielleicht würde sich sogar diese peinlich Sache aufklären und ich könnte einwandfrei beweisen, dass ich hetero war.

Allein, wenn ich mir das vorstellte. Zwei Männer... Nein, aus Schluss! Das war Off-Topic! Ich musste René nur beipuhlen, dass wir nur gute Freunde waren. Warte. Warum das eigentlich? Ich kannte ihn doch gar nicht und musste erstmal rauskriegen, ob René René war oder nicht!

„Abend Jareth. Oh, gehst du noch aus?“

„Abend Ma, nein, wieso?“

„Weil du dich so rausgeputzt hast?“, fragte meine Mutter mit hochgezogener Augenbraue.

„Ah, das war nur so aus Langeweile.“

„Komm nicht allzu später wieder.“

„Ich Versuchs.“ Ich winkte und schloss die Haustür hinter mir.

Oooookay dann wollten wir mal! Auf ins Gefecht!
 

Der Club an der Westecke war ein recht beliebter Club und eigentlich ziemlich genial. Der Haupteingang führte zu einer stillvollen Bar mit wunderbar altmodischer Innenausstattung. Über den Nebeneingang gelangte man in die dazugehörige Disco, welche mal wirklich etwas Besonderes war. Zu bestimmten Zeiten wurden einfach mal die Sprenkler angemacht und wer dann Lust und Laune hat bzw. es nicht wusste, wurde nass. Allerdings hatte das beim Anbaggern von Frischfleisch auch einen super Effekt!

Drinnen zog ich mir die Jacke aus und gab sie an der Garderobe ab. Als ich mich dann zur Bar aufmachen wollte, passierte ich einen riesigen Spiegel und besah mich kurz. Ich hatte mich wirklich zu sehr aufgestylt. Ich trug eine perfekt sitzende Jeans mit genügend Rissen, Nieten und Reißverschlüssen, wo keine sein sollten. Dazu ein dunkelgrauen Basicpulli und einen ärmellosen Hoodi darüber. Meine Schuhe waren sportlich und meine Haare gestylt. Ach egal... Man zog sich eben so an, wie man sich fühlte, oder nicht? Aber mal ehrlich. Was machte ich hier? Ich setzte mich an die Bar und bestellte mir einen Cocktail, um erstmal in Stimmung zu kommen für den ganzen Scheiß, den ich gleich vor hatte.

Nochmal: Ich kenne und erkennte René nicht und ich konnte mich schon gar nicht daran erinnern, mit ihm jemals gespielt zu haben. Aber Josí war sich so sicher und zumindest die Sache mit dem Baum stimmte. Nachdem, was mir meine Familie damals erzählt hatte, als ich aus dem Krankenhaus entlassen worden war, konnte ich mich zumindest daran erinnern, dass ich auf einen Baum geklettert war.

Der Cocktail kam und ich nahm einen großen Zug. Puh, das tat gut. Nur warum wollte ich nochmal mit René reden? Um ihn die Meinung zu geigen? Irgendwie waren meine Gedanken, wenn es um diese alte Sache ging und ich zugleich noch an den Idioten von René dachte, ziemlich zerstreut. Das brachte mich zusätzlich durcheinander. Just in dem Moment streifte ein leichter wie warmer Luftzug meinen freien Hals, der nicht von der Kapuze des Hoodies bedeckt war. Erschrocken zuckte ich zusammen, bedeckte die Stelle mit meiner Hand und drehte mich um.

„Rio?“

Freudestrahlend stand er hinter mir, unweit von ihm auch der Kopftuchtyp und nebst dem René. Boar, bei dem Anblick könnte ich kotzen und doch schlug mein Herz schneller.

„Jupp ich. Trinkste schon vor?“ Ja musste mir Mut antrinken...

„Kennst mich doch“, gab ich grinsend zurück und drehte mich zu dem Dreiergespann um.

„Na dann, kommst du mit? Es gibt da eine schöne Loung, da können wir auch sitzen.“ Ich nickte und trank zügig aus, was noch im Glas war. Dann folgte ich ihnen und war nun hoffentlich bereit für das, was kommen sollte.

Die Loung war toll! Geräumig und Gemütlich und vor allem in so erotisch-warmen Tönen gehalten. Hier hinten war ich noch nie gewesen und wusste auch warum. Hier war alles vertreten, was man sich nur vorstellen konnte. Da waren einige normale Pärchen, daneben gleich zwei Weiber, die sich ableckten und ach ja... wir. In eine der hinteren Ecken setzten wir uns und alsbald ich saß, konnte ich kaum noch die anderen Gäste sehen. Gut gebaut, lobte ich.

Rio, Marc und René setzten sich ebenfalls. Rio setzte sich neben mich, Marc neben diesen und René ans andere Ende, womit er mir gegenüber saß. Toll. So nah und direkt vor mit, wusste ich immer weniger, was ich hier noch mal wollte.

„Und ihr seid jetz' zusammen?“, fragte ich spekulativ und deutete mit der Hand von Rio zu Marc und zurück. Beide sahen verlegen weg. Jedoch brach Rio das Schweigen und führte die Unterhaltung an. Angeregt stieg ich mit ein und redete ich mit den Beiden. Verstohlen sah ich zu René, wenn ich mich streckte oder den Raum betrachtete. Aber René sagte nichts und tat nichts außer dazusitzen und uns zu beobachten. Wenn er denn wollte, dachte ich für mich.

„So ick werd' denn mal! Willst mitkommen?“, fragte der Meister Rio, der eifrig nickte und ihm noch irgendwas ins Ohr flüsterte. „Jutt, bis später Leute. Vielleicht kommt ihr ja auch mal tanzen!“ Ja sicher... mit René. Hm, aber ich könnte auch ohne ihn gehen, nicht? Kaum waren die beiden Geschwätzigen weg, war es mucksmäuschen still. Beinahe schon unbehaglich.

„Ich habe gehört, du wolltest noch mal mit mir reden?“, begann René.

Leicht erschrocken, sah ich auf und sah dieses wissende Lächeln. Dieses triezende, wissende Grinsen, wodurch mir die Wut leicht hochkochte. Meine Gedanken hatte ich zwar noch nicht geordnet, aber zumindest war ich gefühlsmäßig wieder angepisst. Der Arsch hatte mir einen Kuss gestohlen! Das bekam er noch zurück.

„Ahh, nya, das war nicht der Rede wert. Eigentlich hat sich das schon erledigt“, winkte ich lässig an und lehnte mich zurück.

„Ach? Und ich dachte schon, da kommt noch ein Nachsatz wegen dem kleinem Kuss?“ Arsch du! Natürlich war es auch deswegen!

„Ach wo! Nein, wenn du es wissen willst, meine Schwester hatte mich gestern daran erinnert, dass wir damals, als wir Kinder waren auch einen René als Freund hatten. Doch das kannst du sicherlich nicht gewesen sein“, bemerkte ich nebenbei und sah ihn abwinkend an. Für einen Moment meinte ich ein Zucken in den wolkengrauen Augen gesehen zu haben, doch das war wohl nur Einbildung.

„Nein, tut mit leid. Ich kenne dich auch erst seit gestern.“ Na siehste woll! Was fiel mir ein Stein vom Herzen!

„Dachte ich mir.“ Innerlich noch freudiger als nach außen hin, hätte ich mich kullern können.

„Aber warum fragst du dann erst? Sogar mit einem Treffen?“, hakte René nach.

„Hätte ich dich nicht getroffen, hätte ich nicht fragen können. Und gefragt hatte ich, weil ich damals einen kleinen Unfall hatte und mich nicht mehr so wirklich an diese Zeit erinnern kann.“

„Wart ihr denn nach dem Unfall nicht mehr befreundet?“

„Weiß net. Ich glaub, er is' weggezogen, oder was weiß ich, ich erinnere mich nicht“, meinte ich schulterzuckend. Er war es nicht, also war alles gut. Trotzdem fühlte sich irgendwas neben dieser Erleichterung komisch an. Ich glaubte nicht, dass es daran lag, dass ich mich in einen Jungen in Mädchenklamotten verguckt hatte, was hier und jetzt keiner lauten Erwähnung bedurfte. Das ging einen Fremden eh nichts an. Und doch... warum sah er mich so durchdringend an?

Für Sekunden starrten wir uns an. Dann, trocken und ohne die Mimik zu verziehen fragte er, ob wir tanzen gehen wollten. „Sicher, war lange nicht mehr in dieser Disco. Vielleicht haben sich die Mädels hier ja etwas gebessert?!“

Freudig sprang ich auf. Eigentlich hatte ich ohne ihn tanzen wollen, aber mir fiel kein guter Grund ein abzulehnen. Ich wartete auf René, der nur nickte und aufstand.

„Du musst aber etwas freundlicher gucken, wenn du jemanden aufreißen willst“, sagte ich stichelnd.

„Ach?“, erwiderte er schlicht und lächelte. Es tat nichts zur Sache, aber mein Herz machte einen unerwarteten Sprung in meiner Brust. War bestimmt nur Einbildung. „Dann bin ich ja mal gespannt auf welchen Typ Frau unser Heteroweibchen steht.“ Heteroweibchen? Hackt es!? Boar, wenn René etwas konnte, war es mich auf die Palme zu bringen.

„Sicher. Und ich schau mir an, auf was für'n Typ Frau du abfährst!“

Ihn ignorierend, stapfte ich vor und drängelte mich in die Menge. Lange brauchte ich nicht zu suchen, fand einige die hübsch genug waren und tanzte sie an. Genauer betrachtet waren sie doch recht hübsch. Zwar nichts von Welt, aber süßer Durchschnitt. Das reichte für eine schnelle und heiße Nacht. Nach einigen Liedern, gingen wir von der Tanzfläche und holten uns was zu trinken. Sie war noch Studentin, in einer der Colleges hier und schien ziemlich gebildet auf ihrem Gebiet. Meine Annäherung schien sie nicht weiter zu stören, sie machte sogar mit. Umso einfacher. Die Zeit, die wir gesessenen und getrunken hatten, war wohl doch länger gewesen, als gedacht, denn wir beide merkten den Effekt des Alkohols als wir standen. Zumal ich zuvor schon eine gute Mischung schnell herunter gekippt hatte, deren Wirkung noch obendrauf kam. Meine Gedanken entspannten und meine Arme und Beine wurden ganz leicht. Wir hielten uns aneinander fest und lachten. Zurück auf der Tanzfläche tanzten wir und es wurde auch etwas enger. Schön schön, weiter so, dann könnten wir uns heute noch etwas anderweitig auslassen, dachte ich für mich. Während ich Spaß hatte, interessierte es mich nicht, wo René abgeblieben war und was er tat. War ich zu beschäftigt mit Flirten und sah nicht wie er von einer Erhöhung auf uns herunter sah. Selbst wenn ich es gesehen hätte, hätte ich nur provokativ hochgesehen und weiter getanzt.

Dummerweise schien mein Glück sich zu trüben, wenn René in der Nähe war. So packte mich jemand fest an der Schulter und im nächsten Moment brannte meine Wange von einer gepfefferten Ohrfeige. Verdammt, was nun? Das Mädchen, mit dem ich getanzt hatte, welches meine heutige Beute sein sollte, schien Bi gewesen zu sein und nun hatte, der Konversation nach, ihre Freundin sie gefunden und es gab Stunk. Grummelig, zog ich mich zurück und bestellte mir zwei Tequila.

„Hast du nicht gesehen, dass sie einen Ring um hat?“, fragte mich eine dunkle Stimme.

„Es haben viele Mädchen einen Ring um.“ Ein flüchtiger Blick verriet mir, dass es nur René war.

„Stimmt. Und nun ist Saufen angesagt?“ Ja was denn sonst? Grimmig blickte ich ihn an und kippte den ersten Tequila auf Ex.

„Bahhh, was denkst du denn! Nach dem hier wird weiter gemacht!“

Ein verständliches Nicken und ich kippte den zweiten Tequila hinter. Ich stemmte mich von der Theke ab und wuiii, das war gutes Zeug. Andererseits wirkte Tequila bei mir immer sehr gut. Abermals spürte ich eine Lufthauch an meinem Hals, doch zucke ich nicht zusammen, denn dazu hatte ich zu viel Alkohol intus und empfand den Lufthauch als äußerst angenehm.

„Dann lass uns tanzen gehen“, vernahm ich leise, aber deutliche Worte nahe meinem Ohr. Ich drehte mich um und sah in die hellen, grauen Augen.

„Denkst du, du kannst besser tanzen als ich?“ Herausfordernd blickte ich zu ihn auf und merkte nicht, wie nah er mir bereits war. Ich sah ihm tief in die Augen und ging auffordernd an ihm vorbei. Streifte ihn mit der Schulter, was eher unbeabsichtigt gewesen war, da ich von der anderen Seite selbst leicht geschubst wurde. Ach egal. Ein kurzer Blick zurück und er folgte mir. Fein. Dann konnte er nun sehen, was ich konnte. So wie wir auf der Tanzfläche mit den anderen Feierlustigen waren, kam von oben weißer, kalter Nebel und kleine nasse Tropfen. „Hey Leute! Nun wird’s Heiißßßßßßß! Grab you Partner an DANCE!“ war die Aufforderung des DJ's alias Marc. Aber bei der Musik, brauchte er mir nicht zu sagen, was ich tun sollte. Ich tanzte einfach. Tanzte mit René, tanzte ihn an und er mich. Der Nebel kam tiefer und auch wenn die Luft kälter wurde, mir war warm. Fusel war doch was schönes! Im Rausch des Tanzes spürte ich warme Hände an meiner Hüfte, sah kurz auf und sah diese Augen. Doch ich machte einfach weiter. Bewegte meinen Körper und drehte mich. Fühlte dennoch diese Nähe von ihm hinter mir. Wie wir tanzten, so nah tanzten. Irgendwie war mein Hirn gerade nicht da. Ich mein, was machte ich hier? Doch zum Glück war mit dem Ende des Liedes mein Verstand wieder da und ich löste mich von ihm. Ich wollte nochmal zur Bar, doch wurde ich nach nur einem Schritt an der Hand gepackt. Nein, dachte ich, sah in ihn an und durfte dann auch gehen.

Wenig später fand ich mich mit einer Flasche Wein auf meinem Bett wieder. War das ein schrecklicher Abend! Kein Mädel. Nur der Kater, der mich morgen früh erwarten würde. Ich schaffte noch die Flasche zu zweidritteln zu trinken, eh ich einschlief. Es war 6 Uhr morgens. Ach egal, es war eh Samstag und ich hatte nun endlich Ferien.

Collegewahl

Hach ich liebe Ferien. Lange ausschlafen, nichts tun und einfach mal mit Freunden abhängen. Gut, das hätte ich in der Schule auch, aber dort überwog doch eher, dass meine Ma mir Stress machte, wenn ich nichts für die Schule tat. Dabei war die High school gar nicht so wichtig! In meinen Augen.

„Aber du machst bald deinen Abschluss und dann geht’s auf's College 'ne?“, fragte meine Schwester mich, eh sie sich noch eine Mandarine in den Mund stopfte. „Also weißte schon, welche Richtung es gehen soll? Oder willste doch Vaters Erbe werden?“, feixte sie weiter. Leider wusste ich es noch nicht. Vaters Erbe. Hmm. Könnte ich, da er wirklich eine riesige Firma hat. Aber wollte er seinen Sohn überhaupt sehen? Immerhin waren unsere Eltern noch immer zerstritten und da konnte es schnell mal dazu kommen, dass der eine ja sagte und der Andere aus reinen Trotz nein. Ich seufzte nur.

„Na...“, winkte ich ab- „Ich denke ich mach was Neues. Hmm, wie wäre es mit hmm...“ Ich überlegte, aber kam auf nichts. „Hach, vielleicht einfach nur irgendein Bürojob.“

„Du hast echt nichts in Aussicht?“

„Nöp.“

Das dumme war nur, dass ich mich wirklich Entscheiden musste, denn auf ein College wollte ich schon. Das war irgendwie ein must have. Hier in L.A.
 

„Kann dir doch Wust sein, was du machst. Du kannst dich doch später immer noch entscheiden!“, meinte C.G., der sich mal eben zu mir gesetzt hatte. Wir waren gerade recht wenige in unserem Club, wodurch sich immer mal kleine Grüppchen bildeten, die in ruhe irgendein Thema beredeten oder in Autozeitschriften blätterten.

„Schon, aber ist das dann nicht Zeitverschwendung?“

„Ach wo! Wir gehen zusammen auf das T-Collage und haben da ne menge Spaß!“

„Stimmt. Machen wir so“, meinte ich lächelnd. Nun ja, ich musste mich ja wirklich noch nicht entscheiden. Das konnte noch warten. Es kam eh darauf an, wie ich dieses letzte Jahr hier bestehen würde. Aber eigentlich waren meine Noten soweit in Ordnung. Wenn ich nicht gerade mit einer 5 durch die Prüfungen rauschen sollte, wird das schon werden. Die T-Uni schien viele Studenten aufzunehmen und bot auch eine breite Auswahl an Fächern an. Wie ich gerade feststellte. Ich stand vor einem schwarzem Brett in eben dieser Uni stand in dessen Foyer.

„Das ist ja erstaunlich, sag bloß du willst auf dieses College?“

Etwas oder besser jemand lehnte sich auf meine Schulter, sodass ich leicht Schlagseite bekam. Groß wurden meine Augen, als ich die Stimme erkannte, fragender als ich das Spiegelbild desjenigen in der Scheibe vor mir erkannte, hinter der sich sämtliche Aushänge befanden.

„Was machst du denn hier?“, fragte ich schließlich ungläubig René, der nur grinste.

„Ich geh hier zur Uni. Sieht man doch.“

„Nee, sieht man nicht! Aber danke für die Info, dann werde ich hier bestimmt nicht hingehen!“, motzte ich zurück und entfernte seinen Arm von meiner Schulter, so wie mich kurzdarauf von ihm.

„Na, der war ja süß. Wer war das?“

„Ein alter Bekannter.“

„Ach sag bloß? Ich dachte du seist erst hierher gezogen, René.“

„Sagen wir so, ich habe hier mal als Kind gelebt, aber das ist schon lange her.“ René sah mir immer noch hinterher, bis ich endlich um die Ecke war und aus der Tür ging. Das Gespräch mit einem seiner Freunde hatte ich nicht mitgehört. Ich war einfach nur froh, endlich raus zu sein und würde C.G. davon überzeugen müssen, dass wir uns eine andere Uni suchten. Verdammt, dabei gefiel mir diese hier schon. Aber jetzt? Der Typ war mir einfach nicht geheuer. Wer weiß wie der wirklich tickte!? Selbst abends in der Dusche ging der Arsch mir nicht aus dem Kopf. Was wollte der eigentlich? Unser 'Treffen' letztens im Westeck war ja bescheiden ausgefallen. Ich war betrunken, hatte kein Mädel bekommen, konnte mich dafür, auch wenn es doch so ziemlich das Einzige war, daran erinnern, wie wir uns unterhalten hatten. Er hatte zwar gesagt, dass er nicht jener Sandkastenfreund war, aber... ich weiß nicht. Warte, wie ich weiß nicht?! Die Sache lag doch auf der Hand! Wollte ich was mit ihm zu tun haben? Nein. Also, brauchte ich mir auch darüber keine Gedanken zu machen. Die kleine Sache mit dem Kuss blendeten wir einfach aus und fertig war.

Mit dieser Einstellung verbrachte ich glücklich die nächsten 2 Tage, eh mich mein bester Kumpel unwissend daran erinnerte, indem er mich nochmals nach der Uni fragte. Gut, C.G. war es gewesen, der mich gebeten hatte mir das alles mal anzusehen und ihm meine Meinung zu sagen. Nun, das konnte ich ja nun machen.

„Und?“

„Wir nehmen 'ne Andere.“

„Warum? Die is' doch super und wir müssen nicht mal mit 'ner Bahn oder sowas fahren. Die liegt gleich um die Ecke!“

„Trotzdem nein.“

„Und warum? Willst du unbedingt mir 'ner Bahn fahren?“

„Nein.“

„Liegt es am Angebot? Die haben da so viel, sogar ein Joggeyteam!“

„Nein, das isses nich'.“

„Die Mensa? Oder der Campus?“

„Oh, der Campus war echt genial.“

„Willst du dann nicht mit ins Wohnheim, oder liegts an mir? Nun komm schon Jay, spuck's aus!“

Ich seufzte. Warum musste er auch immer so hartnäckig sein?

„Nein, dass isses auch nicht. Und ich bin gerne mit dir befreundet, das solltest du doch wissen. Und wenn wir um die Ecke wohnen, brauchen wir auch nicht ins Wohnheim...“

„Stimmt“, räumte er nachdenklich ein, sah mich dennoch weiterhin unentwegt an, um endlich seine Antwort zu bekommen, warum ich dort nicht hin will... Sein Starren wurden regelrecht penetrant.

„Schon gut, schon gut. Ich habe dort, als ich mir dis College angesehen habe, jemanden getroffen, mit dem ich einfach nicht in einem Umkreis von 50 Meilen zusammen sein will.“

„Aha, und wer ist das?“ Könnte er mal aufhören so neugierig zu sein?

„Wenn ich das wüsste. Der Typ ist mit Ryus neuem Freund befreundet, wie es scheint und nein... er scheint normal zu sein...“, entgegnete ich C.G. gleich, als der mich schon komisch anzusehen begann. Nun, zumindest hoffte ich, dass er normal wäre. „Aber ich weiß nicht, der Typ is' mir irgendwie unheimlich.“

„Hmm, das ist ja mal interessant, das von dir zu hören. Sonst blaffst du doch auch immer jeden an, der dir zu viel is' und lässt dir nicht reinreden.“

„Ich weiß, aber der Typ is' einfach....“

„Wisste was? Den guck ich mir mal an!“

„Was? Wen?“

„Na den Typen.“ Na klasse. Das war ja nun genau, was ich wollte. Gut C.G. hatte eine ungemeine Menschenkenntnis und konnte ihn vielleicht sogar noch besser einschätzen als ich, da mir doch eher alle am Arsch vorbei gingen, aber musste das wirklich sein?

Ein paar Tage später gingen wir noch mal gemeinsam zur T-Uni und sahen uns um. Geschlagene ZWEI Stunden, doch wir fanden ihn nicht. Ich hatte ja die Hoffnung, dass mein Kumpel aufgeben würde, aber nichts da.

„Wo hängt der denn sonst noch rum? Weißt du da was?“

„Ich hab ihn das erste mal inna Disco getroffen.“

„Du warst inna Disco? Ich dachte, die wären dir zu voll?!“

„Sind sie auch! Ich bleibe auch lieber bei Partys oder Bars. Bin damals ja nur mit, weil wegen Ryu. Und da haben wir ihn eben getroffen.“ Ja, und wenn ich so darüber nachdachte, fällt mir nur wieder auf, wie link eigentlich die Aktion mit dem Kuss und allem gewesen war, wollte ich nur noch Rache.

„Also schau'n wir inna Disco nach?“

„Hmm, komm mal mit, wir fragen einfach mal 'n bissl rum.“ Den fanden wir schon. Jetzt erst recht. HA! Wäre doch gelacht!

Ich könnte heulen! Nun waren wir schon so in ziemlich jeder Disco in der Umgebung gewesen, die natürlich noch nicht auf hatten oder keine Auskunft gaben! Voll unüberlegt das alles! Wer hatte überhaupt diese Nadel in diesen riesigen Pool namens L.A. geworfen?!!

„So langsam geht mir der Typ auf die Nerven, auch wenn ich ihn noch nicht kenne“, sagte C.G. ebenso frustriert wie ich.

„Da sagst du was. Komm wir gehen was trinken.“

Es war schon dunkel geworden, aber klar. Im Winter ging die Sonne schon um Fünf unter. K.O. von der ganzen Rennerei, setzten wir uns in ein Café und bestellten uns jeder einen Latte. Das war doch einfach nicht mehr fair! Warum fanden wir René nicht? Gut, das mit den Discos war unüberlegt gewesen, aber wenigstens auf dem Campus hätte er sein können.

„Wollen wir nicht einfach 'ne andere Uni nehmen?“, fragte ich erschöpft.

„Nee! Jetzt nach all dem Stress will ich den erst kennen lernen!“ War ja klar, aber an C.Gs stelle würde ich das auch wollen.

„Na wen haben wir denn da? Stellst du mir etwa nach?“

Erschrocken fuhr ich rum, sah in das grinsende Gesichts dies Blödmanns und sprang natürlich gleich angepisst auf, um ihn gegenüber zu stehen.

„Dir sicher nicht!“, zischte ich, auch wenn es eigentlich so war.

„Kennt ihr euch?“, fragte C.G. neugierig und ich setzte mich gereizt wieder hin.

„Bitte da hast du ihn.“

„Wie?“ machte C.G.

„Hä“, kam es von René.

„Das is' er?“, vergewisserte sich mein Kumpel nochmals und sah mich mit großen Augen an.

„Hab ich doch gerade gesagt. Der Typ nervt, sag ich dir. Kannst dich ja nun selbst davon überzeugen, also lass uns bitte eine andere Uni wählen.“

„Autsch, und das in der Öffentlichkeit. Hab ich dir denn was getan?“, fragte René sichtlich gescholten.

„Kannst ja mal nachdenken“, antwortete ich und schielte feindselig von unten nach oben.

„Meinste das inna Bar letztens oder in der Disco davor?“

„Beides. Eins so schlimm wie das andere!“ Ich zwang mich ruhig zu bleiben und mich von diesem Döddel nicht weiter provozieren zu lassen. Also trank ich meinen Latte, deutlich von ihm abgewandt.

„Ähm Jay?“

„Hm?“, machte ich nur, damit C.G. wusste, dass ich ihm zuhörte.

„Du weißt doch, dass ich aus einem bestimmten Grund auf diese Uni wollte, 'ne?“

„Hm, joar, hattest du mal erwähnt. Und?“

„Nun ja, meine ganze Familie ging auf diese Uni und mein Cousin ist immer noch drauf, verstehst du?“, erklärte er vorsichtig und tastete sich heran. Was dachte er bitte? Dass ich ihm den Kopf abriss, nur weil sein Cousin auf dieselbe Uni ging? Doch unwissend, dessen was gleich kommen würde, starrte ich weiter auf irgendeinen Punkt, bemerkte nicht wie der Stehende neben mir breit grinste und selbst wenn, hätte ich es wohl nicht bemerkt, denn wer bitte sollte, so etwas auch schon vorher erahnen können?

„René ist mein Cousin.“

Prompt spuckte ich den Kaffee wieder aus, hielt mir eine Serviette vor den Mund und starrte C.G. fassungslos an, eh ich nach oben sah und besagter Cousin mich mit einem einfachen „Hi.“ anlächelte.

Hausparty

„Bitte was?!“, fragte ich ungläubig nach.

„Na so wie ich es gerade gesagt habe“, beharrte C.G.

„Das is' nicht dein Ernst.“

„Jay nun komm mal wieder runter. Und vor allem. Setzt dich!“, meinte C.G. eindringlicher, da ich verwirrt und aufgebracht an meinem Platz aufgesprungen war und einige Leute schon guckten. Das war mir zwar herrlichst egal, aber dennoch fügte ich mich und setzte mich zähneknirschend hin. René hatte sich zu seinen Cousin gesetzt, womit ich zwei Fronten mir gegenüber hatte. Das war ja so mies. Aber immer noch besser, als wenn er sich neben mich gesetzt hätte und mir kein Fluchtweg mehr geblieben wäre.

„Hast du das ehrlich nicht gewusst?“, fragte C.G. nach.

„Würde ich sonst so pissig sein?“

„Wohl kaum, aber könntest du das jetzt nicht sein lassen? Du weißt ja nun, dass er mein Cousin is'.“

„Nein, ich werd' das sicher nicht sein lassen. Und vielleicht verstehst du mich, wenn du erstmal weißt, was der Freak von einem Cousin gemacht hat.“

„Ja, das würde ich schon gerne wissen.“ Neugierig sah C.G. René an. Ein Teil von mir freute sich hämisch und hoffte, dass René nun sein Fett weg bekommen würde. „Immerhin gib es nicht viel, was ihn so auf die Palme bringt. Also was war's?“

„Ach, nichts weiter“, meinte René nur schulterzuckend. „Ich hatte ihn geküsst, aber das war nur, weil er sich wie eine Püppi benommen hat.“

Schweigen. Ungläubiges schweigen meinerseits und auch von C.G. Dieser hasste ja bekanntermaßen alles was sich schwul schimpfte. Ich war derweil einfach zu perplex, dass ein Cousin, der das eigentlich wissen wüsste, das so offenkundig herausposaunte und mich dann noch als Püppi darstellte.

„Seit wann bist du 'ne Püppi?“, brach C.G. nach einer Weile das Schweigen.

„Wa-? Hast du eben auf deinen Ohren gesessen?“

„Nein, aber von René kenn' ich das. Er spielt gerne.“

...

„Er spielt gerne?“, wiederholte ich fassungslos.

„Ja, also... keine Angst, der meint sowas nicht Ernst. Nicht so wie Rio, weißt?“

„Nee, ich weiß nicht. Und selbst wenn... Ich lass mich doch nicht von so 'nem Lackaffen und sei er auch mit dir verwandt als Püppi bezeichnen oder gar als Spielzeug für irgendeine kranke Ader!“ Ich gebe zu, dass ich wohl etwas hysterisch gewirkt haben musste, aber so aufgebracht wie ich in dem Moment gewesen und so schnell wie mein Adrenalinspiegel gestiegen war, war mir das scheißegal.

„Jay, jetzt komm mal wieder runter. Er ist harmlos in der Hinsicht“, verteidigte C.G. seinen Cousin.

„Das ist mir scheißegal!“

„Darf ich dazu auch mal was sagen?“, mischte sich nun René ein, wurde aber forsch von uns beiden wieder zurecht gewiesen.

„Jay, eigentlich solltest du ihn doch noch kennen.“ C.G.'s Schläfe schien zu schmerzen, denn er rieb sie sich leicht und schaute mich dabei mit so einem komischen Blick an.

„Und woher bitte?“, fragte ich genervt.

„Wir haben früher immer zusammen gespielt.“

„Sicher nicht. C.G. dich kenne ich doch erst seit der Middel School und den da hab ich sicher nicht gesehen.“

C.G.'s Aussage "Wir hätten früher immer zusammen gespielt", hatte etwas losgetreten, was ich seit geraumer Zeit zu unterdrücken versuchte. Mein Herz klopfte schneller, doch ich schob es auf. Eine Stimme in meinem Kopf, wollte mir etwas zuflüstern, aber ich ignorierte sie. Ich wollte sie nicht hören, die Ahnung nicht Bestätigen. Wissend, dass es so zu einer Offenbarung kommen würde, in der ich das Nachsehen hätte.

„Jareth, wir kennen uns seit der Grundschule! Und auch René war mit uns auf dieser Schule. Nur ist er 3 Jahre älter und dann seinen eigenen Weg gegangen. Komm Jay, dass weißt du noch.“

„Nein, weiß ich nicht.“ Ich wurde unruhiger, wollte mich nicht erinnern und wollte auch nicht, dass C.G. mich so ansah. So, als ob ich ihm ehrlich leid tun würde. Als ob ICH das Opferlamm wäre.

„Jay, willst du dich nicht endlich mal erinnern? Immerhin ist es schon so viele Jahre her, dass du-“ Wieder war ich aufgestanden und hatte somit die Rede meines besten Freundes unterbrochen.

„Fang nicht wieder damit an. Mit mir is' alles in Ordnung und hör auf mich so wehleidig anzusehen!“, fauchte ich laut und verließ das Lokal.

„Ähm, Mister die Rechnung?“, rief mir eine Kellnerin hinterher.

„Der Andere zahlt“, blaffte ich und verschwand in dem Gewirr der nächtlichen Straßen voller Menschen.
 

Ich wusste es nicht. Ich wusste es wirklich nicht! Und so langsam war ich es leid. Ich wusste um die Fotos, welche C.C.'s Mutter in mehreren Fotoalben sorgfältig aufbewahrte. Ich erinnerte mich noch, wie ich vor Jahren einmal bei C.G. übernachtet hatte. Das war nach dem Krankenhaus gewesen. Wenn ich jetzt zurückdenke, müsste René zu der Zeit schon fort gewesen sein, oder? Egal, wen interessierte der! Der Punkt war, dass ich mich erinnerte, mir die Fotos angesehen zu haben, aber nicht, an die Fotos selbst. Ich hatte nicht schlafen können und schlich ins Wohnzimmer. Allein und heimlich besah ich mir die Fotoalben. In meinem Kopf war da nichts, machte nichts klick und beim Ansehen der Fotos fühlte ich nichts. Ich glaube, es war jener Moment in dem ich Angst bekam. Angst mich wirklich nicht mehr erinnern zu können. Schließlich vergingen die Tage, Wochen, Monate. Nichts änderte sich bei mir. Doch der Blick der Menschen um mich herum änderte sich. Die fröhlichen, mitfühlenden Augen wurden langsam ihrer Hoffnung beraubt, dass ich mich erinnern könnte. So weit ich konnte, verstellte ich mich. Blieb munter und fröhlich, wollte keine Last sein. Das verschaffte mir eine Atempause und mit den Jahren fiel das Thema unter den Tisch. Wir redeten nicht mehr drüber, schwiegen es tot oder weiß der Geier was meine Familie, Freunde und Bekannten dachte. Für mich war alles ok, wie es nun war und ich verlor den Grund für die Notwendigkeit aus dem Blick, warum ich mich erinnern musste.
 

„Was ist denn heute mit dir los?“, fragte Josi.

Aber die Angst von damals, alle zu enttäuschen, fühlte ich immer noch.

„Nichts. Darf ich nich' mal zu meiner Schwestern ins Zimmer?“

„Oh, doch und ich freu mich auch. Aber es ist eine Seltenheit und meist auch nur, weil du wieder irgendwas hast.“

Als ich eben nach Hause gekommen war, hatte ich mich gleich auf das Bett meiner Schwester geschmissen, welche sich nun neben ihr Bett kniete und mir sanft durch die Haare strich. „Was ist los?“

„Nichts.“

„Es kann aber nicht nichts sein.“ Sie immer mit ihren altklugen Sprüchen! Wer war hier der Ältere, huh?

„Ach, ich weiß nicht... Es ist nur...“

Sollte ich ihr alles von heute erzählen?

„Hm?“

Sie wüsste sicher alles ganz genau. Wie das damals mit dem Unfall, dem Krankenhaus und meinen Freunden gewesen war... Ich war versucht. Wirklich versucht, aber...

„C.G. nervt! Er will unbedingt auf diese Uni und ach...!“

„Gibt es denn was, das dir an der Uni nicht zusagt?“ Ja, ein bestimmter Typ! Aber auch das behielt ich für mich.

„Eigentlich nicht.“

„Na siehste. Warum willst du dann nicht da hin, wenn es nicht an der Uni selbst liegt? Du bist doch ein so souveräner großer Bruder und kneifst nicht mal, wenn sich jemand mit dir prügeln will. Da braucht du doch vor einer Uni keine Angst zu haben.“

„Ich habe keine Angst!“, rief ich empört, stemmte mich hoch und konnte ihr Lächeln sehen.

„Ach nein? Sicher keine Zukunftsängste? Das wäre nämlich vollkommen normal“, schmerzte sie weiter.

„Ich habe keine Angst. Vor nichts. Und erst recht nicht vor so 'nem Backsteingebäude!“ ...und erst recht nicht vor so'nem widerlichen Typen! Aufmüpfig stampfte ich aus ihrem Zimmer, blieb an der Tür noch mal kurz stehen. „Danke, Josi.“
 

Die letzten Ferientage vergingen ereignislos. Ich gammelte rum und wenn ich mal zu wenig zu gammeln hatte, ließ ich meine Gedanken abschweifen und machte in meinem Kopf bereits Nägel mit Köpfen. Ich werde auf diese Uni gehen. Ich werde nicht kneifen. Und wer sagte überhaupt, dass wir uns dabei über den Weg laufen würden? Ja, ich würde René einfach ausblenden und fertig war der Lack. Ich werde mir doch nicht meine Freizeit nehmen lassen und über so einen Nachdenken! Nein, ich hatte keine Angst.

Was man nicht alles dachte, wenn man gemütlich in einer Decke vor dem Kamin saß. So oder so ähnlich, hatte ich es C.G. am ersten Schultag erklärt.

„Klasse. Also gehen wir auf die T-Uni? Cool! Dann müssen wir nur die Aufnahmeprüfung bestehen und wahhh is' das cool!“

„Nun flipp mal nich' gleich aus.“ Oh mein Gott, er hat "wahhh" gesagt, dachte ich amüsiert grinsend.

„Aber!“ Mit funkelnden und stolzerfüllten Augen sah mich mein bester Freund an und ich hatte für kurz das Gefühl, als ob seine gesamte Ahnenreihen hinter ihm stände und mich ebenso stolz ansah. „Meine ganze Fam war da! Und ich werde dort mit meinen besten Freund hingehen! Das ist nun mal richtig cool!“

„Na, Hauptsache du freust dich.“

„Also hast du kein Problem mehr damit. Von wegen René und so?“, fragte er argwöhnisch nach.

„Nöp. Ich kann meine Zukunftsentscheidung doch nicht von einem Typen abhängig machen, den ich nicht mal kenne“, winkte ich ab. „Außerdem ist der Campus riesig, da läuft man sich sicher nicht so oft über den Weg.“

„Aha... also willste deine Feindschaft noch aufrecht erhalten ja? Naja is' nicht mein Bier. Hauptsache wir gehen da gemeinsam hin.“

„Eben.“

Es war immer ein gutes Gefühl, wenn bei den Freunden alles in Ordnung war und sich keiner Stritt. So startete ich sogar erstaunlich gut gelaunt in das nächste Halbjahr und zog meinen Abschluss durch. Meine Mum war sehr stolz auf mich, weil ich mich doch noch, wie sie es mir im Vorfeld gepredigt hatte, endlich auf den Hosenboden gesetzt und lernte hatte. Ja, ich hatte gelernt. Viel und nun fragte ich mich, wo all das Wissen hin war, das eben noch meinen Kopf vollgestopft hatte? Denn erstaunlicherweise war immer nach einer Prüfung oder Klausur mein Hirn total leer gefegt. Aber ich fühlte mich gut. Und noch besser als wir endlich unsere Zeugnisse in den Händen hielten und ich sogar gute 2,2 stand. Mum und Josi waren wirklich happy und ich durfte sogar eine Party im Haus geben.

„Echt?“, fragten Einige, die ich gerade angesprochen hatte, ob sie nicht kommen wollten.

„Jupp. Um den Abschluss zu feiern. Aber wer zu besoffen ist oder randaliert, fliegt raus“, fügte ich immer noch hinzu. Klar stellte Mum ihre wertvollsten Gegenstände weg. Josi übernachtete bei einer Freundin, wollte aber noch mal vorbeikommen. Trotzdem hatte sie sicherheitshalber ihr Zimmer abgeschlossen. Sowie ich gerade dabei war, alle weiteren Zimmer abzuschließen, in denen ein Fremder einfach nichts zu suchen hatte. Das war Mums Bedingung. Aber wer wollte bitte auch schon in den ersten Stock? Wir hatten unten eine tolle Küche und ein großes Wohnzimmer, von dem aus man bequem zu unserem doch recht großen Pool kommen konnte. Ich war schon voller Vorfreude und so machte ich mich fertig, duschte und zog mich entsprechen an. Eine Jeans, ein schickes Shirt, das etwas enger anlag, eine Kette, dann reichte es auch schon. Wollte ja noch als hetero gelten. Gut gelaunt, las ich dann auch die SMS von C.G. der fragte, ob er seinen Cousin nicht mitbringen könnte, da es doof wären, wenn dieser alleine bliebe. »Klar mach doch. Je mehr desto besser.« antwortete ich und dachte dabei mit keiner Silbe daran, dass der Cousin schon einer war, den ich kannte.

Weiter liefen die Vorbereitungen. Ich legte CDs bereit, stellte Knabberkram und die Schnitten, die Mum gemacht hatte, bereit. Dann die Armada von Getränken und Bier. Meinen Nachbarn hatte ich schon Bescheid gegeben, Mum wollte das... Sie sollten vorbei kommen, wenn es ihnen zu laut wurde. Aber so wie ich das raushörte. Störte es soweit keinen. Um so besser. Ich wollte nämlich nicht schon um eins ins Bett.

Kurz nach Acht klingelten die ersten Gäste. Die Wenigen, wie wir waren, setzten uns hin und redeten darüber, wer auf welche Uni gehen würde. Da es hauptsächlich Leute aus meiner Klasse waren, war alles vollkommen entspannt. Als sich dann nach und nach mein Haus füllte, bildeten sich die ersten Grüppchen. Ich verkündete kurz, wo was stand. Dass wenn, dann ins Klo gekotzt werden sollte und wer in den Pool fiel war selber schuld. Damit fing die Party an. Alle waren ausgelassen. Im Wohnzimmer wurde getanzt und am Pool geraucht, wer denn rauchte. Um kurz vor zehn sah ich auf die Uhr. C.G. war immer noch nicht da und Josi auch nicht. Nicht, dass ich mich langweilte. Als Gastgeber hatte ich genug zu tun und rannte meist hier hin und da hin. Redete mit denen und denen. Stellte Bier nach oder füllte die Chips und so auf. Als es zum Wiederholten Male klingelte, machte ich auch dieses mal gut gelaunt die Tür auf. Allerdings erstarb ein Teil meines Lächeln, als ich den Besuch sah.

„Sorry Brüderchen, wir hatten uns auf den Weg hierher getroffen und sind vor reden einfach nicht vorwärts gekommen“, erklärte sich Josi, während sie mich umarmte.

„Schon gut, Josi. Ihr seit ja endlich da. Kommt rein. Die Party läuft schon.“ Ich begrüßte ihre Freundin und ließ meine Gäste an mir vorbei ins Haus. Als ich dir Tür geschlossen hatte, krallte ich mir meinen besten Freund und zog ihn zur Seite. Josi und ihre Freundin waren nicht einfach in irgendwen gelaufen, sondern in C.G. und seinen Cousin.

„Was macht er hier?!“, raunte ich leise.

„Ich hab dich doch gefragt, ob ich ihn mitbringen kann.“

„Aber da stand nur...“ Ich haute mir die Hand vor die Stirn. Ein Cousin! Klar doch und ich in meiner Feierstimmung hatte das nicht mitbekommen. Ach scheiß drauf! Ich wollte mich nicht mehr von ihm einlullen lassen und hier auf meiner Party schon gar nicht. Hier war mein Revier. Ich hatte quasi Heimvorteil.

„...nach hause gehen.“

„Hä?“ Ich hatte beim denken total ausgeblendet, dass C.G. schon etwas erwiderte und somit nur den Schluss mitbekommen. Also winkte ich einfach ab. „Is' egal. Er ist da und kann auch mitfeiern. Mach dir da keinen Kopp.“

„Kay... Also, wo ist das Bier?“, schwang C.G. um und ich führte meine neuen Gäste rum. Der restliche Abend lief erstaunlich reibungslos. Ich ging René aus dem Weg und hatte meinen Spaß. Gegen drei Uhr morgens gingen die Ersten. Um fünf Uhr die Nächsten, bis sich nach und nach mein Haus leerte.

„Hey, Jay, hast du René geseh'n? Ich will auch los, aber ich find ihn nicht.“

„Schon mal im Pool nachgeseh'n? Vielleicht ist er ertrunken?“, antwortete ich sarkastisch.

„Nee, da is' er nicht“, winkte C.G. sogleich ab.

„Wo hast du ihn denn zuletzt gesehen?“

„Er wollte auf Klo und da unten besetzt war, hab ich ihn hochgeschickt.“

„Oh... warte ich geh mal gucken.“

Na, da würde er sicher nicht weit kommen, da ich ja heute morgen alle Türen abgeschlossen hatte. Also hätte er doch schon längst wieder unten sein müssen... hm. Am Ende der Treppe blieb ich stehen. Erschrocken sah ich auf die zwei offenen Türen im ersten Stock. Panisch dachte ich nach, ob das ein Einbrecher war oder René, der zum Einbrecher wurde. Aber dann fiel mir ein, dass ich zwar heute morgen alles abgeschlossen hatte, aber dann ja noch in meinen Zimmer sowie im Bad zum duschen gewesen war. Verdammt.

Meine Beweglichkeit wiedergefunden, spurtete ich in mein Zimmer und Bingo. Da saß der Heini auf meinem Bett und besah sich mein Zimmer und ein Foto, das eigentlich auf meinem Schreibtisch stehen sollte. Entschlossen blieb ich stehen und ließ meiner Stimme alle Bosheit anhaften, die ich hatte.

„Durchsuchst du immer anderer Leute Zimmer?“

„Ah, oh, sorry hatte mich vorhin verlaufen.“

„Und da findest du es in Ordnung noch einen Abstecher in anderer Leute Zimmer zu machen, ja? Stell den Rahmen wieder da hin, wo du ihn her hast“, forderte ich.

„Schon gut, Dornröschen, ich mach schon, aber nicht gleich den Drachen rufen.“ Dieser elende Fatzke! Aber nein, ich regte mich nicht auf.

„Ha, witzig. Und nun hättest du die Güte mein Zimmer zu verlassen, eh ich doch noch den Drachen rufe?“

René sagte nichts. Er drehte sich um, nachdem er den Rahmen wieder auf exakt den gleichen Platz hingestellt hatte und kam auf mich zu. Ich stand am Türrahmen gelehnt und doch hatte er soviel Platz, dass er durch kommen würde. Aber er blieb stehen. Neben mir. Mir so sah, dass sich mir gleich dir Fußnägel hochkrempeln wollten.

„Du hast umgeräumt. Das letzte mal, sah das hier alles noch kindlicher aus, aber nach gut 8 Jahren kann man das auch erwarten.“

„Mein ich auch. Ich weiß zwar nicht, wann du je mein altes Zimmer gesehen haben solltest, aber wie ich es einräume, ist mir überlassen.“ Böse funkelte ich ihn an. Ich glaube, ich hatte noch nie so lange am Stück böse geguckt. Doch René beirrte das nicht im Geringsten. Mit einem Arm lehnte er sich gegen den Türrahmen und kam mir auf unangenehmer Weise näher.

„Du kannst dich echt an nichts mehr erinnern, wie? Und da wunderst du dich, dass ich mit dir spiele?“, fragte dieser mit einer hochgezogenen Augenbraue und einem amüsierten Lächeln, dem ich gerade nur einen bösen Blick entgegen bringen konnte.

„Da ich jetzt weiß, dass du nur spielst, bist du mir ziemlich egal. Ich lasse nicht mit mir spielen.“

„Ach, wenn ich also weiter sagen würde, ich wäre'n homo, würdest du dich drauf einlassen?“

„Quatsch, dann würdest du mir nur leid tun.“

„Aha, und jetzt?“ Seine Hand hob mein Kinn an, sodass unsere Gesichter sich gegenüber lagen. „Heißt, wenn ich dich jetzt küsse, nimmst du es an.“

Erschrocken hob ich meine Arme und wollte ihn wegdrücken, aber der Typ war wirklich verdammt schwer! „Nein. Ganz bestimmt nicht. Und nun verschwinde endlich. C.G. wartet schon“, protestierte ich. Alles was ich wollte war, dass er endlich ging. War das denn zu viel verlangt?

Die grauen Augen schienen von mir zu lassen, aber nicht sein Körper, welcher mir immer noch so nah war, dass ich ihn riechen konnte. Doch entgegen aller Befürchtungen, die hätten eintreten können, bekam ich nur einen Kuss auf die Stirn und konnte wenig später frei Atmen. C.G. rief mir noch hoch, dass sie jetzt gingen und noch einiges anderes. Dann fiel die Haustür ins Schloss und ich sank auf den Boden, da meine Knie nun doch nachgegeben hatten.

Was stimmte mit dem Kerl nicht? Und warum war mir, als sei das feiste Lächeln von eben nicht feist, sondern traurig gewesen?

Tischgespräch

Wenn man es mal nüchtern betrachtete, dann war das nicht Offensichtliche viel schlimmer. Eben weil man keine klare Ansage erhielt, grübelte man irgendwann doch nach. Spätestens wenn man an einem Spiegel vorbeiging oder achtlos die eigenen Lippen berührte, was nur unliebsame Erinnerungen präsent machte. Warum hatte René mich am Morgen nach der Party nicht geküsst? Er hätte es tun können. Es wäre leicht für ihn gewesen und einiges anderes auch noch, einfach weil er stärker war als ich. Warum küsste er mir nur die Stirn? Die Stirn! Das war eigentlich eine Stelle, an welcher Eltern ihren Kindern einen Gute-Nachtkuss gaben. Aber doch nicht so ein Fatzke bei mir! Das war eine Stelle, an der man sich als Kind hinfasste und die Liebe der Eltern mit einem fröhlichem Lächeln quittierte. Ich war aber schon groß. Ging fast auf eine Uni und doch stand ich erneut einige unnütze Minuten vor dem Badezimmerspiegel und betrachte meine Stirn. Man sah nichts, man fühlte nichts, egal wie oft ich drauffasste. Trotzdem kribbelte die Stelle, wenn ich daran dachte. Vehement schüttlte ich den Kopf. Nein, das war alles Blödsinn! Aber gut lassen wir das. Ich brauchte solche Kindeleien nicht. Und Berührungen konnte ich zur genüge haben, wenn ich wieder eine abschleppte. Dabei... war es schon eine Weile her, dass ich eine abgeschleppt hatte. Wie lange ungefähr? Grübelnd stand ich vor dem Spiegel und beschloss, die Sache wirklich auf sich beruhen zu lassen. Schließlich war der Winter eine zu lange Zeit, um nicht aktiv gewesen zu sein. Was hatte ich nur die Zeit über gemacht? Ah, ja genau, ich hatte gelernt und daher waren auch meine Partygänge weniger geworden. „Na dann... wird’s mal wieder Zeit tanzen zu gehen!“
 

„Aha, klar gerne, aber die Woche ist nichts Besonderes.“

„Scheint so... dann lass uns wenigstens einen trinken gehen. Noch ist es zu früh, dass ich das schöne wilde Leben aufgebe...“, stimmte ich zu und rutschte auf der Parkbank noch ein Stück weiter nach unten. Wie ein Sack, könnte man meinen, hing ich dort. Aber was soll's, wenn's bequem war.

„Wer kommt denn alles mit?“, fragte C.G.

„Na die Jungs. Bisher hab ich zwar nur dich gefragt, aber die werden schon mitkommen.“

„Na ich weiß nicht, einige können nicht...“, begann mein Kumpel und zählte nach und nach auf, wer nicht konnte und was der dann an Stelle dessen machte. Resignierend ließ ich meinen Kopf in den Nacken fallen.

„Aber das sind doch alle! Verdammt. Das ist so langweilig. Haben die nichts besseres zu tun, als jetz' zu schufften, wo endlich Sommerferien sind? Gooooooooooooooooooott.“

„Na, die hatten sich eben davor'n blauen gemacht. Außerdem, kann nicht jeder so viel Geld haben wie du oder ich“, erinnerte mich C.G.

„Stimmt schon. Ach man... das ist doch beschissen. Ah, ich weiß was!“ Prompt saß ich wieder gerade, ignorierte den Schwindel und grinste C.G. an. „Wir fragen Josi. Vielleicht bringt sie uns ein paar ihrer Freundinnen mit.“ Ich fand die Idee toll. Wir könnten reden, was trinken und die ein oder andere abschleppen. Josi sagte bestimmt ja.
 

„Nein!“

„Was? Warum nicht?“, entsetzt und bestürzt sah ich meine Lieblingsschwester an - die mich wiederum, nur mit einem mahnenden Blick.

„Weil du ein Casanova bist! Wenn ich dich einer meiner Freundinnen vorstellen würde, dann nur, um euch auf lange Zeit zu verkuppeln und nicht damit mein liebster Bruder ein paar Quickies schieben kann.“

„Casanova war ein sehr schlauer Mann des Rokkoko und ist der Inquisition mehrfach entkommen, außerdem... C.G. würde mit machen!“

„Das ist ja noch schlimmer! Frauen sind keine Bumsobjekte! Such dir endlich was festes. Und wie oft Casanova der Inquisition entkommen is', is' mir Pups! Sollte ich dich in die Finger kriegen, bist du dran. Herr Gott nochmal!“

„Kay, was ist los...warum bist du so zickig?“

„Ich bin nicht zickig!“, keifte sie und ihre Stimme schien sich zu überschlagen. Das Raubtier in den Augen behaltend, schoben C.G. und ich uns aus dem Zimmer. Es war besser wir ließen sie für den Moment allein. Sonst gäbe es noch Tote und ich wollte noch nicht sterben. Zumal sie es ja auch angedroht hatte. Wir verzogen uns für den Moment in die Küche und ich machte uns eine Cola mit Eis. Boar, das tat so gut, bei dieser Affenhitze.

„Und nun?“, fragte C.G.

„Kein Plan. Wenn wenigstens was ordentliches dieses Wochenende angesagt wäre, könnte wir ja noch zu zweit hingehen, aber zu zweit einen saufen... is' irgendwie öde...“

„Find ich auch...“

Schweigend saßen wir da. Von oben konnte man Gerumpel hören. Es hörte sich an, als ob ein Elefant gerade durch die obere Etage wüten würde. Den Kopf auf den Tisch gepackt, war mir urst langweilig. Dieser Tag war einfach nur zum gammeln da. Ich überlegte noch etwas hin und her, ob nicht vielleicht doch noch eine Möglichkeit bestand heute Abend etwas zu unternehmen, als gesittetere Schritte die Treppe hinunter kamen. Wenig später betrat Josi die Küche und setzte sich zu uns an den Tisch. „Sorry, wegen eben, aber ein Kumpel von mir geht mir so Hammer auf die Nerven. Da bin ich wohl heute etwas gereizt.“

„Willst drüber reden?“, fragte ich nach.

„Später vielleicht...“

„Kay... willst ne Cola?“ Ich schaute meine Schwester von der Tischplatte her an und ein Grinsen führte zum anderem.

„Klar, aber bleib ruhig liegen, ich mach das schon.“ Sie stand auf und füllte sich ein. „Sag mal, das mit dem Trinken... steht das noch?“

„Hmm? Nya, wenn wir noch ein paar Leute finden, die mitmachen, klar.“

„Kay. Dann mach ich mit.“ Sie setzte sich wieder zu uns an den Tisch und sah von einem zum anderem. „Und ich werd' mal ein paar meiner Freunde fragen. Vielleicht hat eine ja Lust, sich euch an zu tun“, sagte sie frechgrinsend.

„Tss... so grausam sind wir auch nicht, wa C.G.?!“

„Eben. Wir sind ja keine Unmenschen. Wir nehmen nur, was bei 3 nicht auf den Bäumen ist“, pflichtet er mir bei. Wir lachten beide auf. Dann wand ich mich wieder meiner Schwester zu.

„Das wäre voll cool, wenn da wer kommt.“

„Na klar. Ich hab ja auch nur coole Mädels. Ähm...sag mal C.G. könntest du nicht auch René fragen?“

Unbemerkt von den anderen Beiden verschluckte ich mich. Musste das wirklich sein?

„Klar. Der kommt bestimmt gerne“, stimmte C.G. zu.

„Willst du dich an ihn ran machen?“, warf ich ein, mit einem doch sehr skeptischen Blick.

„Nein... Ich mag mal mit ihm reden. Letztens hatten wir nicht so viel Gelegenheit dazu, wegen deiner Party, aber ich würde schon gerne wissen, was er jetz' so macht, weißt?“

„Äh.. nee, weiß ich nicht. Ich weiß auch gar nicht, was ihr an dem Typen so toll findet“, rutschte es mir raus.

„Er ist mein Cousin.“

„Er ist ein alter Freund.“

Kam es von beiden zeitgleich und ich verdrehte nur die Augen.

„Jay, ich weiß gar nicht, warum du ihn nicht auch magst. Nur weil er dich als Püppchen bezeichnet hat? Ich hab dir doch erklärt, dass es nur eine Masche von ihm ist. Das macht er bei so ziemlich jedem“, sagte C.G. in einem neuem Versuch.

„Klasse, ein bi'er Idiophat, der sich an alles ran macht.“

C.G seufzte.

„Du Jay... wegen René... kannst du dich wirklich nicht mehr daran erinnern, wie wir als Kinder gespielt haben?“, fragte nun Josi. Ich fand, dass diese Frage ganz dünnes Eis war und die aufwallende Unruhe in meinem Magen, gab mir recht.

„Ich habe den Typen noch nie vorher gesehen! Wie sollte ich?“, beharrte ich stoisch. Das ließ beide seufzen und Josi stand kurz auf, nur um mit einem Bilderrahmen in der Hand zurück zu kommen

„Schau, das da ist er.“ Sie zeigte mit dem Finger auf das kleine Kind am Rande des Bildes. Es war das Cosplaybild aus unseren Kindertagen und das Mädchen, in welches ich mich rein von Bild her verliebt hatte, sollte ausgerechnet dieser Mistkerl sein? Ich starrte das Bild eine Weile an und musste zugeben, dass sie und er doch etwas Ähnlichkeit besaßen.

„Kay, sie sind sich etwas ähnlich. Mehr aber auch nicht. Außerdem ist das da ein Mädchen, Josi.“ Just als ich das gesagt hatte, bekam ich einen leichten Schlag auf meinem Hinterkopf.

„Sag mal, wie blöd bist du eigentlich?“, fragte Josi. Grimmig sah ich sie an.

„Was sollte das? Du hast mir doch erzählt, dass wir - sie, ich, du und C.G - dort Cosplay gemacht haben.“ Was war sie denn jetzt so grantig? Wir hatten Jahrelang nicht darüber geredet und keiner hatte es für nötig gefunden, mich zu korrigieren. Aber jetzt auf einmal, soll ich alles, woran ich mich die letzten Jahre geklammert hatte, wegwerfen, nur um der Wahrheit zu folgen, an die ich mich kein Stück erinnerte?!

Zuzugeben, dass mir dieses Eingeständnis Angst machte, machte selbst ein gedankliches Eingeständnis schwer. Es laut auszusprechen war unmöglich!

„Gott, Jareth! Das hier ist doch kein Cosplay, sondern der Fasching im Kindergarten.“ Verwundert sah ich sie an. Dann sah ich zu meinem Kumpel, der sich auf den Stuhl zurückgelehnt hatte und sich köstlich zu amüsieren schien.

„Fasching im Kindergarten?“

Eigentlich müsste man mich für mein Pokerface loben. Während ich so unwissend tat, ratterte mein Hirn auf Hochtouren. Aber egal, ob nun Fasching oder Cosplay, da war nichts. Das war schon immer so gewesen, wenn ich versuchte mich an meine Grundschulzeit oder alles vor meinem 8. Lebensjahr zu erinnern. Es kam nichts außer gähnende Leere und ein Gefühl der Beklemmung.

„Ja, und nur mal so. Sollte das wirklich ein Cosplay sein, dann erklär mir mal bitte, warum sich alle als ihr Gegenteil verkleidet hatten, außer 'sie'.“ Dieses Wort betonte sie besonders doll. Wieder überlegte ich. Sicher wäre das Sinnlos, aber das änderte nichts daran, dass ich mich nicht erinnerte.

„Ähm...Vielleicht hatten wir schon angefangen und als das Foto gemacht wurde, kam sie gerade dazu...?“ In der schwachen Hoffnung, es richtig erraten zu haben, sah ich zu ihr auf. Aber meine Schwester rieb sich ihre scheinbar schmerzenden Schläfen. C.G. lachte sich derweil halb tot und ich kam mir total bekloppt vor.

Für Josi und C.G. mag das Thema ausgekaut und nervend sein, aber wie ich mich dabei fühlte, fragte keiner.

„Gott, Jay... wie blöd stellst du dich eigentlich an? DAS hier ist René! Kapiert? Wir haben uns alle verkleidet. Du, er und der Lachaffe da, hatten Kleider von mir angezogen und ich hatte welche von dir an. Wir kamen auf die Idee, so als Gruppe zum Fasching zu gehen“, erklärte Josi erneut. Innerlich stöhnte ich.

„Echt?“, ich sah beide nach einander an. Jeder nickte und der 'Lachaffe' beruhigte sich so langsam wieder. Der Sachverhalt war schlüssig und so ernst wie die beiden schauten, würden sie nicht lügen. Nur warum erinnere ich mich nicht?! Ich stützte meinen Kopf mit der Hand ab und sah ungläubig drein.

„Ich weiß nichts davon. Echt nicht. Ich kann mich daran nicht erinnern...“ Josis Blick wurde milder und C.G.'s ernster.

„Weißt du eigentlich noch, dass du mal von einem Baum gefallen bist?“, fragte C.G.

Ich schüttelte meinen Kopf. „Um ehrlich zu sein nein. Ich sag zwar immer "klar doch, hab ja die Narbe am Hals daher", aber so wirklich mit Erinnerungen und Bildern ist da nichts.“

„Es war an dem Tag direkt. Als wir den Nachmittag nach hause gekommen waren, waren du und René noch spielen gegangen", begann C.G.

Josi erzählte weiter: "C.G. hatte nach hause gemusst und ich hatte eine Freundin zu Besuch. Ihr wart in den Garten gerannt und seid auf Bäumen rum geturnt. Ich hatte euch noch gesagt, ihr sollt meine Kleider ja heile lassen und sie nicht dreckig machen, aber ihr wart Jungs und habt nicht gehört. Ich weiß noch, dass du nur geschrien hast, dass es sich in 'den Dinger super toben lässt'.“ Ein verträumtes lächeln umspielte ihre Lippen. Das soll ich gesagt haben? Nun gut, Kleider waren schon irgendwo cool, sonst würden Mädchen sie ja nicht tragen und Männer nicht darauf abfahren. Wir waren damals Kinder... warum also nicht? Auch wenn es sich für mich sehr albern anhörte.

„Das Nächste was ich weiß ist, dass René nach einiger Zeit heulend ins Haus gerannt kam und nur schrie, dass du vom Baum gefallen bist und dich nicht mehr bewegen würdest. Wir sind alle hin gerannt, Mum und Dad waren panisch und Granny hat gleich den Krankenwagen gerufen. Es war so ein durcheinander. Die Notärzte meinten du lebst noch, aber es sei kritisch. Ich hatte nur geweint, weil da so viel Blut war. Du hattest Schürfwunden und dein Kopf hatte so sehr geblutet. Mum ist fast ohnmächtig geworden und Dad... der war so aufgelöst, dass er wirr rumgerannt ist. Als du dann weg warst, beruhigte sich alles etwas. Granny war mit Dad ins Krankenhaus gefahren und Mum, René und ich blieben heim. Wir machten uns große Sorgen und René weinte noch mehr als ich. Er sagt dauernd nur, dass es seine Schuld sein und so. Aber richtig erklären konnte er es uns nicht. Den nächsten Tag sind dann auch wir zu dir ins Krankenhaus gefahren, aber du hast noch geschlafen. Der Arzt meinte, es sei einem komatösen Zustand ähnlich und er hoffe, dass du bald wieder aufwachst. Dann nach drei Tagen warst du endlich wieder wach.“ Josi kamen die Tränen, C.G saß still da und ich war sprachlos, als ich meine Geschichte hörte.

„Wir waren ja so froh! Mum umarmte dich gleich und bestürmte dich mit Fragen. Doch das erste was von dir kam war: „Wer seid ihr?“ Wir waren geschockt. Der Arzt erklärte uns dann, wo du dir den Kopf verletzt hattest und dass du dadurch eine Amnesie hättest. Mum weinte und wir Kinder fragten dich aus. Aber nichts. Du kanntest keinen von uns. Erst nach und nach hast du dich erinnert und es dauerte lange, bis du wieder so warst wie vor dem Unfall.“

Ich schluckte... Das erste Mal in all den Jahren traute sich Josi mir reinen Wein einzuschenken. Ich gebe zu, das war gerade verdammt viel Input. Vorrangig erfasste mich aber ein Gefühl der Klarheit. Im Sinne von: Dann war klar, dass ich mich nicht erinnern konnte! Mein trotziges Verhalten tat etwas leid, aber.. nein. Das war trotzdem kein Grund mir diese Details so lange zu verheimlichen. Ich dachte schließlich, ich wäre einfach so vom Baum gefallen, nicht, dass ich im Koma gelegen hatte!

Auch René ... jemand Fremdes zu küssen oder besser jemanden, von dem man wusste, dass er einen nicht mehr erkannte. Aber warte mal...

„Wie lange brauchte ich denn, um mich zu erinnern?“, fragte ich nach einer Weile.

„Etwas mehr als ein Jahr.“ Schock. Bitte was?!

„Und...wenn ich mich an euch alle erinnere, warum dann an René nicht?“, fragte ich vorsichtig weiter.

„Weil er eine Woche nach dem Unfall weggezogen ist. Seine Eltern mussten aus beruflichen Gründen weg. Ich hatte ihn gefragt, ob es schwer für ihn wäre, weg zu gehen, weil du dich auch noch nicht an ihn erinnert hattest. Aber er meinte nur, dass es ok sei und wohl auch besser. Ich weiß nicht, was zwischen euch war, an dem Tag, und wir haben es auch nie zu erfahren bekommen. Du erinnerst dich nicht und René schweigt es tot.“ C.G grummelte. Und ich kam mir nun wirklich mehr als Schuldig vor.

„Tut mir leid.“

„Ach was! Schwamm drüber!“, grinste mein bester Kumpel.

„Genau. Du bist wieder da und der Rest ist ja egal. Nun weißt du wenigstens, was du noch nicht wusstest“, grinste auch meine Schwester. Mir wurde flau im Magen. Ich hatte viel zu überdenken und eigentlich wollten wir einen Trinken gehen. Um die Stimmung nicht komplett zu killen, bat ich Josi wie auch C.G. mir nie wieder solche wichtigen Details zu verheimlichen. Ich schaffte es nicht wirklich zu sagen, wie dumm ich mich gerade fühlte, aber ein bisschen konnte ich ihnen den Eindruck vermitteln, dass es hilfreich gewesen wäre, solch wichtige Informationen früher zu erfahren.

Noch eine Bar

Ich weiß etwas, dass du nicht weißt. Ich weiß etwas, dass ich vorher noch nicht wusste. Ich weiß etwas, dass ich mal wusste und wieder vergessen hatte. 'Nun weißt du wenigstens, was du noch nicht wusstest.' Egal in welcher Betonung oder Wortzusammenstellung ich es mir durch den Kopf gehen ließ, es klang alles nicht so wie es sein sollte. Glaubte ich. Aber was konnte ich überhaupt noch glauben? Es hatte mich ja schon immer gewundert, dass ich mich nicht allzu genau an meine Kindheit erinnern konnte, aber nach dieser Offenbarung mit meinem Unfall und allem... Ich wollte wissen was damals passiert war! Ich hatte es mittlerweile so oft überdacht, dass ich endlich diesen letzten weißen Fleck füllen wollte. Was war passiert als René und ich auf dem Baum waren und warum bin ich runtergefallen?

Informationsdurst half mir gerade nicht weiter. Ich brauchte einen Schlachtplan! Immerhin musste ich jetzt Altes und Neues verbinden.
 

Josi hatte ihre Freundinnen angerufen und gefragt, wer alles mit uns einen Trinken gehen möchte. C.G. fragte René. Josi freute sich sichtlich als dieser zusagte. Wir trafen uns allesamt vor der Bar, welche wir für heute auserkoren hatten und setzten uns zu siebend an einen Tisch. Madeline, Larissa und Lina hießen unsere hübschen Begleitungen alias Josis Freundinnen. Ich saß neben Lina und C.G. Dann kam Josi und René und die anderen beiden. Wir starteten die Runde mit einem Tequila in Gold und in Silber. Das haute gut rein und lockerte nach kurzer Zeit schon die Stimmung. Um nicht all zu schnell hinüber zu sein, bestellten wir uns Brot und Chips dazu. Es war richtig lustig. Die Mädels hatten klasse Geschichten zu erzählen und verbildlichten diese auch mit zunehmenden Alkoholspiegel. Ich lachte so sehr, dass mir mein Bauch weh tat. Nach zwei Stunden suchte ich das erste mal die Toilette auf. Nicht um zu kotzen, wohlgemerkt. Anschließend ging ich noch etwas Luft schnappen, um klarere Gedanken zu bekommen. Zum Rumblödeln reichte das alle mal, aber nicht, wenn ich heute noch ernsthaft reden wollte. Zugegeben, seit heute Nachmittag hatte ich nur noch René in meinem Kopf herumgeisterten. Dieser blöde Fatzke! Wenn wir früher mal Freunde waren, musste er es doch zumindest noch wissen. Warum machte er sich dann an mich ran? Anders als so, würde ich es schon gar nicht mehr bezeichnen wollen. Ich kannte selbst Hunderte von Anmach-Strategien. Was versprach der Typ sich davon? Wollte er mich nur bloßstellen? Mir eine reinwürgen? Mich testen, ob ich ihn wirklich vergessen oder ob sich gar jemand die Mühe gemacht hatte, dass ich mich auch an ihn erinnerte? Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Alles Humbuk. Vielleicht war es auch einfach so, dass René mich vergessen hatte? Aber nein, das konnte nicht stimmen, denn C.G. redete ja über mich und so wie Josi und C.G. geklungen haben, musste René sich erinnern. Nur ich war der Doofe. Der, der sich nicht erinnerte oder besser: Nicht erinnern konnte. Ich seufzte. „Ich weiß was, dass du nicht weißt...“, sprach ich leise für mich. Ich hatte keinen Ahnung wie ich René befragen sollte.

„Heißt das nicht eigentlich: Ich sehe was, dass du nicht siehst?“

Etwas erschrocken und verwundert, wer mir bitte zugehört hatte, wandte ich mich der Stimme zu und ließ gleich meine Schultern wieder hängen. René... wenn man vom Teufel spricht.

„Stimmt schon, aber das war Absicht.“

„Achso. Na dann...“

René kam die Treppe herunter, ging um das Geländer herum und blieb vor mir stehen. Alles, ich sah alles und beobachtete jede seiner Bewegungen in der Hoffnung einen Hinweis auf seine Gedanken zu bekommen. Aber nichts. Und so stand er vor mir, der ich mich an die kühle Hauswand lehnte. Die Lichter der Stadt gingen nach und nach an, da die Sonne schon am niedrigsten Punkt angekommen war und nur noch schwummriges Licht spendete.

„Deine Schwester wollte, dass ich mal nach dir sehe. Nicht dass du dich 'schon betrunken hättest'“, zitierte er Josi, seine Hände in den Hosentaschen.

„Nein, ich brauchte nur frische Luft. Wollte etwas nachdenken.“

„Was ist denn so wichtig, dass du heute Abend darüber nachdenken musst? Komm lieber wieder rein, da drinnen ist es gerade voll Lustig“, versuchte René mich reinzulotsen.

„Hmm? Was machen sie denn?“

„Larissa und Madeline geben gerade wieder einige Geschichten zum Besten. Josi mischt mit. Mit einigen Anekdoten aus eurer Kindheit. Über dich wurde schon viel gelacht.“

Ich sah ihn immer noch an. Das Grau in den Augen schien durch die Laterne wärmer also sonst oder bildete ich mir nur wieder etwas ein?

„Achso? Das ist ja dann schon das zweite mal heute, dass ich was erfahre“, meinte ich ruhig und mit einem Pokerface. Ich war ja gespannt, ob René anbiss.

„Klingt nicht begeistert? Was haste denn schon erfahren dürfen?“ Er biss nicht an, aber zog an der Leine. Scheinbar waren wir beide vorsichtig und wollten mit nicht zu viel rausplatzen. Ich fand es verständlich, da ich ihn heute mit weniger Argwohn begegnete als zuvor. Das machte doch irgendwo stutzig, oder? Mich zumindest.

„Ach nichts besonderes. C.G. und mir war so langweilig und zu zweit trinken gehen, macht keinen Spaß. Darum haben wir Josi gefragt und sie hat dann noch ein paar mehr Leute gefragt. Sie bestand auch darauf, dass du mit kommst“, sagte ich etwas straffer und blickte abschätziger in das Grau. „Ich war dagegen.“

„Oh... nun ja, sie hat mir auch ein Loch in den Bauch gefragt. Dass du dagegen bist, war zu erwarten und trotzdem bist du heute nicht so bissig wie sonst. Wie kommt's?“ Mir entfloh ein Lächeln, fand ich dieses Spiel doch zu amüsant. Es kam mir vor als würde sich zwei Löwen umrunden und warten, bis der andere sich als erster die Blöße gab.

„Vielleicht, weil ich auch mal nett sein kann?“, sagte ich und grinste ihn an, die Arme immer noch verschränkt und eigentlich eher eine abwehrende Haltung einnehmend.

„Das habe ich nie bezweifelt. Immerhin ist 'nett' der kleine Bruder von 'scheiße'. Womit wir wieder beim Anfang wären: Wie kommt's, dass du nicht so bissig bist, wie hmm letztens im Café?“

Er war ein Arsch, schoss es mir ein. Wie konnte man nur so sehr von sich selbst überzeugt sein?

„Es ist interessant wie du mich siehst. Wo wir uns erst so 'kurz' kennen – und du hast gleich meine Schokoladenseite gefunden. Wie überaus schmeichelnd. Könntest du dir dennoch vorstellen, dass ich einfach mal freundlich sein wollte?“ Mir riss gleich der Faden. Es sollte mein Spiel sein und er dreht es einfach um?! Blöder Hammel! „Aber wenn du magst, bin ich suuuper gerne wieder so bissig, wie 'du' es gerne hast“, endete ich und funkelte ihn böse an. Ich stieß mich von der Wand ab und ging ohne René weiter zu beachten, an ihm vorbei. Hatte ich zumindest vor...

„Jay, jetzt warte doch mal“, begann er und hielt mich bestimmt am Arm fest. Warum musste er nur so viel Kraft haben? „So war das nicht gemeint. Ich find's nett, dass du nicht so bissig bist. Es war nun ungewohnt für mich.“

„Nett also? Sprich scheiße, was heißt, du bevorzugst es doch bissig“, giftete ich weiter. So leicht wollte ich es ihm wirklich nicht machen. Doch er seufzte nur, während ich einen Versuch startete, um mich von ihm los zu machen.

„Du liebst es immer noch mit Wörtern zu spielen und sie dir so hin zu drehen wie es dir gerade am besten passt“, seufzte er und pinnte mich ohne große Mühe seinerseits an die kühle Wand, von der ich mich gerade noch losgeeist hatte. Natürlich wollte ich es ihm nicht zu leicht machen, doch was er da gesagt hatte, ließ mich meine Vorsicht kurz verlieren. 'Immer noch'? Was meinte er damit genau? Außerdem hatte er doch angefangen!

„Was mein-“

„Du bist immer noch der gleiche Holzkopf. Das freut mich. Aber denk nicht, dass ich groß mit mir spielen lasse.“

Was war denn nun? Seine Augen sahen viel härter aus und doch lag in seiner Stimme etwas weiches. Dazu hatte sich mein Kopf gerade ausgeschaltet, was echt hinderlich war, um diese Szene zu analysieren. Wenn möglich, stand ich gerade so da, wie ein Fisch vor der Häutung. Mein Mund war noch offen von dem abgebrochenen Satz und meine Augen sahen in seine. Ohh Shit, Jay! Denk was, tu was, mach was! Der denkt sonst noch, wer weiß was von dir!

„Jareth, ich... ich weiß nicht wie viel... oder ob dir überhaupt... es ist...kompliziert...“ Wortfetzen. Zusammenhangslos, jedenfalls für mich. Bitte noch mal auf deutsch? Und was dachte ich gerade noch? Warum sah er mich so an, als ob ich gerade von einem Taxi überfahren worden war?

Seine Hand streichelte sanft meine Wange. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er mich losgelassen hatte und sich nun mit den Armen an der Wand abstützte. Ich stand sicher da wie doof. Ob er mich wieder küsste, schoss es mir durch den Kopf. Immerhin war er mir so nah und sah mich so komisch an. Wenn ich ein Mädel klar machen wollte, wäre jetzt der passende Zeitpunkt um sie, sprich mich, zu küssen. Doch es passierte nichts. Schon etwas enttäuschend.

René seufzte tief und ließ mich frei.

„Freunde?“, fragte er und bot mir seine Hand an. Was sollte das denn jetzt?

„Hä?“, kam es unelegant von mir und endlich, mein Gehirn war wieder online. „Freunde? Wir? Wie kommst du denn jetzt auf die Idee?“ Oh ja, ich war wieder da und meine eben noch verebbte Bissigkeit ebenso. „Wir werden ganz bestimmt keine Freunde werden. Hallo? Als erstes führst du dich auf wie ein Arsch, küsst mich, warum auch immer, und dann stammelst du irgendwelche Dinge vor dich hin, die kein normaler Mensch verstehen kann!“ Ich löste mich wieder von der Wand und ging diesmal in einem größerem Bogen um René herum. „Dazu kommt, dass du etwas weißt, du Arsch, und du behältst es fein für dich. War ja nicht anders zu erwarten. Verkauft mich nur alle für dumm und fertig ist“, keifte ich und marschierte die Treppe hinauf und saß wenig später wieder zwischen Lina und C.G. Das ich ungehalten war, konnte man gut sehen, doch ich spielte die Fragen einfach runter und befragt sie zu den Themen, die bereits gefallen waren; vor allem was Josi über mich erzählt hatte. Ich war noch zu nüchtern und gerade zu sauer, als dass ich mich weiterhin mit René beschäftigen wollte. Der sich übrigens gerade zu uns setzte und lächelte als sei nie etwas gewesen. Dazu tauschte er mit Josi wie mit C.G. vielsagende Blicke aus. Eine stumme Unterhaltung die in etwa so ging:

'Was hast du gemacht?', fragten Josi's große Augen.

'Nichts.'

'Was hast du nun schon wieder gemacht?', erkundigte sich C.G.

'Na, nichts.'

Hmpf. Sollten sie René doch etwas malträtieren. Ich kümmerte mich lieber um die süße Lina neben mir, die mir vorhin schon aufgefallen war. Vielleicht hatte sie ja Lust, die Party später noch weiterzuführen. Irgendwo anders, natürlich. Und allein, nur zu Zweit.

Es wäre mir auch fast geglückt, hätte Josi sich nicht dazwischen geworfen. Sie bestand darauf ihre Freundinnen nach hause zu bringen, während wir Jungs, speziell ich, doch Gentleman genug sein sollte, um C.G. und René nach Hause zu begleiten. Na aber natürlich machte ich das! Die Ironie dabei war unverkennbar. Aber was sollte ich sonst machen? Zumindest hatte ich Lina's Nummer noch bekommen. Damit ließ sich doch etwas anfangen, grinste ich in mich hinein.

„Ich halt's nicht mehr aus! Jay was hat René vorhin zu dir gesagt?“, platzte es aus C.G. heraus. Wir waren noch ganze drei Blocks von deren Zuhause entfernt. Shit, das ist zu viel um mich rauszureden...

„Hey, ich hab nichts gemacht“, wehrte sich René.

„Stimmt, er hat nichts gemacht“, pflichtete ich ihm bei.

„Ja, aber du warst den ganzen Tag nicht so bissig gewesen und kaum lässt man euch alleine, kommst du grantig wieder“, polterte C.G weiter.

„Ja und? Warum sollte ich nicht grantig werden bei diesen vollpfostigen Idioten?“

„Hey, ich hab diesmal wirklich nichts gemacht!“, beschwerte sich René.

„Sicher nicht? Du hast ihn nicht wieder irgendwie unsittlich berührt? Ich hab dir doch gesagt, dass er das nicht leiden kann.“ C.G. ging mittlerweile schon rückwärts, um uns beide besser im Blick zu behalten. Wobei er gerade eher René verwurstete.

„Und ich habe nichts gemacht. Ehrlich nicht. Das einzige was ich gefragt habe, war ob wir Freunde sein wollen.“

„Sicher, mehr nicht?“, bohrte C.G. nach.

„Eine Frage? Waren es nicht eher drei?“, erwiderte ich.

„Und seit wann bist du so klein kariert?“, giftete nun René zurück.

„Nun sind's vier.“

„Argh!“

Dass René gerade am verzweifeln war, freute mich irgendwie und das kleine gehässige Grinsen sahen sowohl C.G. wie auch René. Aber das war mir gerade herzlichst.

„Und warum willst du nicht mit ihm befreundet sein?“, mischte sich C.G. wieder ein. Ich seufzte.

„Warum sollte ich? Bisher hat er sich nur als reiner Arsch gezeigt. Warum sollte ich mich mit so jemanden anfreunden?“

Gut wir selbst waren innerhalb unserer Gang nicht gerade harmlos zueinander, aber jeden in meiner Crew konnte ich leiden und akzeptieren. René war weder noch. Hallo, der hatte mich geküsst! Und diese Schwelle hatte noch keiner aus meiner Crew übertreten!

„Aber Jay... Josi und ich haben dir doch erzählt, was damals passiert ist. Du weißt, dass René nicht so ist. Außerdem ist das für mich kein Grund. Was spricht den dagegen, dass ihr euch wieder anfreundet?“

Ich schielte kurz zu René rüber. Ihm hatte ich von dem Gespräch noch nichts erzählt, sondern ihm vorhin nur etwas an den Kopf geworfen. Und eben das sah ich in seiner Mimik. Die Augen waren erstaunt geweitet. Dann fiel sein Blick auf mich. Kurz sah ich ihn an, dann schnell wieder weg. Mir war jetzt richtig unbehaglich zumute. Er wusste, dass ich wusste, dass ich etwas wieder wusste, was ich vergessen hatte. Gut, immer noch vergessen hatte, aber mit neuen Informationen gefüttert war. Dennoch war es dumm für jede weitere Strategie ihn auszuhorchen, dass er nun wusste, dass ich mehr wusste, als ich zugeben mochte und auch, dass ich – bei dem Wenigen, was ich wusste – so viel mitbekommen hatte, dass 'er' mehr wusste, als er mir zu glauben machen versuchte. Kommt da noch wer mit?

„Aha“, kam es unbetont von ihm.

Mir wurde noch mulmiger zumute und je länger ich schwieg, desto mehr schien die Anspannung auf meine Antwort zusteigen. Um cool zu klingen, hatte ich den Absprung verpasst. Um mich stammelnd irgendwie rauszureden ebenso. Was mir blieb war zu schweigen. Also schwieg ich. Ich hatte auch wirklich keine Antwort auf diese Frage. Ich traute mich auch nicht mehr, einen der beiden anzusehen. Oh man!

Westpark

Ich war, nachdem wir bei C.G. zuhause angekommen waren, mit einem knappen „Bis morgen“ gleich weiter gegangen. Josi hatte ich eine SMS geschrieben, dass ich später kommen würde. Seit dem war bereits eine Stunde vergangen, in welcher ich sinnlos auf der Schaukel in Westpark saß. Mein Handy zeigte mir an, dass es schon fast vier Uhr war. Noch eineinhalb Stunden dann ging die Sonne auf, dachte ich.

Ich war noch zu keinem Ergebnis gekommen. Dazu kam, dass mein Handy keine eineinhalb Stunden mehr durchhalten würde. Ich musste ja unbedingt spielen, wodurch mein Akku schon auf 15% gesunken war. Auch der Alkohol ließ langsam nach und ich bekam urst den Brand. Dazu wurde mir kalt. Wieder seufzte ich. Was machte ich hier eigentlich? Das dumme am Alkohol war, dass man sich meist erst so richtig beschissen fühlte, wenn er wieder nachließ. Genau das war gerade bei mir der Fall. Ich fröstelte, da ich nur im Shirt hier saß – man glaubte gar nicht wie kalt Sommernächte sein konnten, vor allem kurz vor dem Sonnenaufgang. Zudem befand ich mich in einem Zustand zwischen wachsein und einschlafen. Einerseits hielt das Frösteln und die frische Luft mich wach, machte meinen Kopf klarer, sodass ich hätte denken können. Andererseits war ich echt k.o. und erledigt, weil ich schon so lange auf war und wirklich zu viel erfahren hatte. Ein wunder, dass in meinem Kopf noch kein ERROR erschienen war. Ich hatte, gestern mittlerweile schon, wirklich zu viel erfahren...

René und ich kannten uns schon – angeblich. Wir waren alte Kindergartenfreunde – angeblich. Ich war vom Baum gefallen und hatte somit einen Teil meiner Erinnerungen verloren, weshalb ich René auch nicht mehr erkannte, weil dieser, bevor ich mich wieder erinnern konnte, weggezogen war – angeblich.

Mir schwirrte richtig der Kopf von all den Dingen. Noch erschwerend hinzu kam, dass weder René noch ich uns reinen Wein einschenkten. Er wusste was mit mir war, kannte mich womöglich noch von früher und doch war er bei unserer ersten Begegnung so ein Arsch gewesen. C.G. und Josi steckten da auch mit drin.

Den Moment, in dem ich René hätte zur Rede stellen können, verbockte ich. Spielte meine Karten nicht gut aus. Er hatte mich wieder auf die Palme gebracht und ich konnte mich nicht beherrschen. Somit wusste er, dass ich wusste, dass wir uns gekannt hatten. Vielleicht ahnte er sogar, dank C.G.'s Aussage von vorhin, dass ich mehr als nur das wusste? Gott, war das alles verwirrend!

In Anbetracht meiner aufkeimenden Müdigkeit, fühlte sich mein Kopf um so hohler und leer-gedachter an. Es war doch zum heulen. Gerade war mir echt zum heulen zumute. Da half es wenig, dass ich alleine in diesen verdammten Park auf dem dummen Spielplatz saß, dessen quietschende Schaukel endlich ruhig war. Aber auch nur, weil meine Beine zu schwer wurden, um mich noch weiter abzustoßen. Da saß ich nun, mit hängenden Kopf und wusste weder ein noch aus. Vielleicht wäre weinen jetzt die einfachste Variante? Ich fühlte mich nicht nur verwirrt, sondern richtig verloren...

Vielleicht war weinen gerade doch die beste Option...?

Wie ich so meinen Gedanken nachhing, die doch irgendwie zu funktionieren schienen, fühlte ich mich nicht mehr allein. Es war nicht aufbauend, sondern gruselig. Ich war hier nicht allein. Klar ich saß allein auf der Schaukel und bis eben hatte mich das Quietschen noch gut von meiner Umgebung abgelenkt, doch nun? Ich wurde hellhöriger, spitzte die Ohren und sah mit großen Augen in die dunklen Büsche. Außer Schwarz sah ich nichts. Klar, war ja nur ein Mensch mit beschränkter Sehkraft. Da halfen nicht mal Möhren. *Knack* da war es wieder! Ich sprang von der Schaukel auf. Irgendwas war hier. Ein Tier? Etwa ein Bär oder Luchs oder noch was schlimmeres? Vampire und Werwölfe schloss ich mal aus. Aber vielleicht waren es auch ein paar Jugendliche, die noch mehr Alkohol als ich intus hatten. Die Glücklichen! Doch wenn dem so wäre und ich nun das Opfer darstellte... ich schluckte.

Unwillkürlich schoss mir Ryo ein, die Schwulenszene und was hetero Typen gerne mal mit schwach-aussehenden Kerlen wie mir machten, die Trübsal blasend auf einer quietschenden Kinderschaukel saßen. Mir wurde gleich noch kälter und ich bekam eine Gänsehaut den Rücken herunter. Immer wieder drehte ich mich hecktisch um, aber ich sah nichts.

„Kommt raus! Los trau euch! Ich nehm's auch mit euch allen auf!“

Angriff war jetzt hoffentlich die bessere Verteidigung. Wieder hörte ich nur ein Knacken, doch war es anders geworden. Es kam öfter nacheinander und es raschelte kurz darauf. Ich drehte mich um, immer meinen Rücken im Blick habend, damit mich auch ja keiner Überraschen konnte. Da! Da hinten war einer. Eine Schattengestalt zwischen den Bäumen.

„Hey du! Komm raus da und kämpfe richtig!“, forderte ich und sah mich dennoch flüchtig um. Wer weiß, ob der wirklich nur alleine war? Mir jetzt einzugestehen, dass ich Angst hatte, traute ich mich nicht, denn dann, so wusste ich, wäre ich verloren gewesen. Angst lähmte ungemein und das konnte ich nicht gebrauchen. Ich suchte nach einer Waffe und fand... einen Stock. Gut, er war recht dick, aber ob der wirklich was taugte? Zum ersten Schrecken einjagen würde er reichen.

Die Gestalt bewegte sich stumm auf mich zu und gerade jetzt musste der Mond hinter einer Wolke verschwinden, dass es noch dunkler um uns wurde. So eine verdammte Scheiße aber auch!

„Traust du dich etwa raus, weil die Wolken kommen? Soll ich dich nicht sehen, hä?“

Ich war nervös über den Spielplatz gegangen und nun standen wir uns eine Wippenlänge voneinander entfernt gegenüber. Vielleicht sollten wir uns einfach setzten und wippen, schoss es mir kurz ziemlich dämlich ein. Der Typ machte eine Bewegung, die ich nicht richtig einordnen konnte, mich aber instinktiv bedroht fühlte.

„So nicht!“, sagte ich noch und stürmte los. Dann ging alles sehr schnell. Ich rannte los und der Typ schrie mir etwas entgegen. Ich übersah das ausgelagerte Bein der Wippe und nahm es volle Kanüle mit. Der Typ fuchtelte mit den Armen herum, kam mir näher, aber ich hatte mich noch irgendwie mit einem Bein abfangen können. Wild schlug ich mit dem Stock um mich und wenig später war alles tief schwarz.

Was genau passiert war, konnte ich nicht sagen. Ich konnte selbst dann nicht erklären, als ich mich daran erinnern wollte, denn ich schlug mir den Kopf an der Wippstange auf. Es war nichts schlimmes, musste nicht mal genäht werden und doch reichte es für einen Blackout von einigen Stunden. Was in der Zwischenzeit mit mir passierte, erfuhr ich aus den Erzählungen meines Retters und natürlich von C.G. und Josi. Doch das kam später. Denn vorher war viel wichtiger: Wo wacht ich eigentlich auf?

Das Zimmer in welchen ich mich befand, war in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung, die ich nicht kannte. Die Decke war hoch und in einem schlichten Weiß. Als ich mich umdrehte, konnte ich zwei schmale Fenster erkennen, die hinter hellbraunen Vorhängen verborgen waren und nur spärlich Licht hinein ließen. Erst da bemerkte ich, dass ich auf einen echt bequemen Doppelbett lag. Das Bettlaken war dunkelbraun und die Bettwäsche war in einem passenden braunen Muster, dass aus Streifen und abstrakten Blumen bestand.

Irgendwie echt stylisch, nur wo genau war ich? Als ich aufstand, spürte ich einen dieser mega weichen Fusselteppiche unter meinen Füßen. Wo waren denn meine Schuhe und Socken hin? Der Teppich war in einem hellem Cremeton einer anderen Braunnuance. Jetzt mal ehrlich. Ich kannte wirklich niemanden, der seine Wohnung so genial und farblich aufeinander abgestimmt hatte, wie es dieses Zimmer hier gerade war. Erstaunlich, doch mehr interessierte mich die Frage, wo ich hier eigentlich war.

Meine Shorts und mein Shirt hatte ich noch an. Meine Hose und Stümpfe lagen gleich neben dem Bett auf einem Stuhl. Irgendwer hatte mich zumindest halb ausgezogen. Als ich kurz aus dem Fenster schielte und von der Sonne geblendet wurde, fiel mir der gestrige Abend wieder ein. Die Nacht im Park und wie gruselig es gewesen war. Oh mein Gott, war ich in der Wohnung des Entführers? War ich denn entführt worden? Was war nur noch mal passiert? Ich hasste es mich nicht zu erinnern!

Womit ich wieder beim alten Lied wäre...

Weiter im Text. Leicht panisch, was wohl alles mit mir passiert war, bewegte ich mich, um zu überprüfen, ob noch alles an mir dran und heil war. Oder ob ich nicht zufällig doch ein Opfer geworden war. Zu meiner Erleichterung stellte ich nichts ungewöhnliches fest. Na Gott sei Dank. Aber wo...? Ich zog mich leise an und ging schleichend durch die Wohnung. Nur weil mir bisher nichts passiert war, musste das nicht heißen, dass das auch so blieb. Gott, wo hatte ich nur diese verqueren Gedanken her? Zu viele Filme oder hatte ich zu viel gezockt? Oder lag es gar an meiner eigenen Gang? Aber die Treffen schleiften zur Zeit erheblich, was auch damit zu tun hatte, dass sie jetzt alle zur Uni wechselten. Von der alten Clique waren es gerade mal vier die zur T-Uni ging. C.G. und ich waren darunter. Wir splitteten uns wirklich auf. So genau hatte ich darüber gar nicht nachgedacht und eigentlich war das hier auch der total falsche Zeitpunkt, und dennoch machte es mich gerade etwas traurig.

Erstaunlicherweise machte dieser kleine Anflug von Melancholie sofort die Biege, als ich das nächste Zimmer betrat. Es war um die Hälfte größer als das vorherige und doch war ich sofort fasziniert. Aus dem Schlafzimmer in den Flur getreten, der vielleicht nur 4 Meter maß, war ich gleich durch den dunklen Holzrahmen getreten, der oben leicht gebogen war. Zu meiner Rechten fand ich eine in demselben Holz gekleidete, rustikale kleine Küche, die auf gerade mal 3 m² kam und doch alles hatte, was man brauchte. An der Decke hingen wie in einer alten Bar die Lampen von dicken Balken herab. Gleich dahinter schmiegten sich an der dunkelbraun gestrichenen Wand schmale Möbel, mit je einer weißen Tür und einer Glastür. Der Boden war aus dunklem Laminat, was sich teilweise auch an den Möbeln wiederfand. Das Sofa und der Sessel dazu, waren in einer schönen hellem Cremefarbe und der kleine Couchtisch bestand aus einer alten Wurzel, die eine achteckige, gläserne Tischplatte trugen. Auf dieser stand ein Potpourri. Die andere Wandseite des Zimmers war schlicht weiß gelassen. Über dem Eingang mit dem kleinen Rundbogen hing eine runde, aber alt-wirkende Uhr.

Wow, hier war es echt toll. Um so mehr drängte sich mir die Frage auf, wo zum Geier ich hier war und wem diese Wohnung gehörte? Als ich die Wasserleitung durch die Wand laufen hörte, zuckte ich zwar leicht zusammen, doch sehen konnte ich keinen. Nochmal ging ich in den Flur hinaus und schaute diesmal auf die letzte Tür. Wohl das Bad und jemand war da drin. Wer? Es machte mich schon etwas hibbelig, aber was sollte ich machen?

Ich beschloss das zu tun, was ein richtiger Mann in einer fremden Küche immer tat. Er durchstöberte den Kühlschrank. Abermals fasziniert von meinen Fundsachen, bemerkte ich nicht wie die Tür ging und sich hinter mir jemand postierte.

„Gibst du mir auch ein Bier raus?“

„Wah!“

Ich erschrak fürchterlich! Dabei drehte ich mich um und torkelte gegen die Küchenzeile. Den Kühlschrank ließ ich offen und wurde von dem schwachen Licht angestrahlt. Alles unwichtige Details, aber dennoch sah ich sie und dazu auch noch René, der lässig mit einer langen Jogger und einem Handtuch um den Nacken, welches seinen nackten Oberkörper nur unzulänglich bedeckte, vor mir stand.

„Du Arsch! Musst du mich so erschrecken?“, knurrte ich ihn an, nachdem sich mein Herz wieder beruhigt hatte.

„Das könnte ich glatt zurückgeben. Gibst du nun ein Bier raus?“

„Hä?“

„Das Bier? Das steht immer noch im Kühlschrank. Oder soll ich mich erst dazwischen quetschen und es mir selbst holen?“

Langsam nur sickerte der Themenwechsel in meinen Kopf. Als ich verstand, griff ich in den noch immer offenen Kühlschrank und holte zwei Bier raus. Eines hielt ich fest, das andere warf ich René zu, während ich die Tür mit dem Fuß zu kickte. René fing die Flasche locker auf und trottete gleich zur bequem aussehenden Couch, um sich darauf zu werfen. Etwas schüchtern folgte ich und trat in das stylische Wohnzimmerbereich.

„Ist das deine Wohnung hier?“, fragte ich.

„Ja. Klein, aber sie reicht aus.“

„Ich find sie cool. Hast du sie selbst eingerichtet?“

„Nein, C.G. hat mir geholfen. Aber die Ideen kamen von mir, ja.“

Ich gebe zu, ich fühlte mich unwohl. Warum genau wusste ich noch nicht, doch war ich mir sicher, dass sich das in den nächsten Minuten noch klären würde. Noch einen Schluck vom Bier und ich stand neben der Couch. René hatte sein Bier auf den Tisch abgestellt und sich eine Zeitung von irgendwo her gegriffen.

„Willst du dich nicht setzten?“, fragte er ohne aufzusehen.

So langsam wusste ich, was mich hier störte. Seit er mich erschreckt hatte, behandelt er mich anders... als wäre ich irgendwer, als wäre ich so uninteressant wie ein altes Brot und die politischen Hackfressen, die in dieser Klatschpresse abgebildet waren, wären wesentlich interessanter als ich. In Kurz: Er ignorierte mich! Nicht komplett, und doch... Blöder Hammel! Schon aus reinen Trotz nahm ich das Angebot an und setzte mich auf den Sessel, weg von René. Als erstes genoss ich den echt weichen Sessel! Das hatte man von außen gar nicht erkannt. Ebenso wenig, dass die wabenförmigen Tischplatte mehr als nur ein Potpourri bereithielt. Zwischen Tischplatte und der alten Wurzel war ausreichender Zwischenraum, wo neben den Fernbedienungen wohl auch die jetzt erschienene Zeitung gelegen hatte.

Ich nahm noch einen Schluck vom Bier und beobachtete René. Ich wartete. Wartete, dass er mich beachtete, dass er aufsah und ich vielleicht irgendeine Reaktion in seinem gerade so unlesbarem Gesicht lesen konnte. Es regte mich schon auf, so von ihm behandelt zu werden. Verdammt ich hatte doch Fragen! Warum war ich hier? Was war passiert? Wer war das im Park? Was war dort passiert? Während ich mir alle Fragen panisch in meinen Kopf zusammenrufte und an meiner Unterlippe kaute, entglitt mir der flüchtige Blick, den René mir geschenkt hatte. Ganz direkt und beobachtend hatte er mich angesehen. Das war das Zeichen gewesen, auf das ich gewartet hatte und ich verpasste es. Dumm, aber nicht hinderlich. Ruckartig setzte ich mich besser hin, sah René direkt an und sprach etwas zu laut, aber doch bestimmt. Auch wenn mir innerlich gerade anders zumute war.

„Warum bin ich hier? Also... wie bin ich hierher gekommen? Ich war eben noch im Park. Das ist das letzte, was ich noch weiß. Also wie komme ich hierher und warum hast gerade 'du' mich entführt?“

Mit meinem wirren Gerede hatte ich es wirklich geschafft mir Renés Aufmerksamkeit zu sicher. Er sah mich über den Rand der Zeitung hinweg an und hob eine Augenbraue, eh er das Papier zusammenfaltete und beiseite legte. Endlich! Aber so direkt ohne abschirmende Zeitung wurde mir nun noch unwohler... Mulmig schlug mein Herz schneller.

„Wie kommst du darauf, dass du entführt wurdest? Und dann auch noch von mir?“, er klang amüsiert. Das Grinsen zupfte schon an seinen Mundwinkel und dadurch, dass er sich mit den Unterarmen auf seinen Oberschenkeln abstützte, kam ich mir so richtig ins Visier genommen vor.

„Von all den Fragen ist 'das' bei dir hängengeblieben?“, fragte ich ungläubig.

„Es war das letzte, was du gesagt hattest“, kommentierte er spöttisch. „Und?“

„Und, was? Antworte mir gefälligst auf meine Fragen! Eben war ich noch im Park und dann kam da so ein Typ und als ich wieder aufwache, lieg ich bei dir in der Wohnung. Halb ausgezogen und du findest das scheinbar urst komisch, wie?“

Ich war richtig angefressen und etwas lauter geworden. Doch dieser Typ brachte mich einfach auf die Palme! Jedes mal auf's Neue, verdammt. Ich wollte doch auch nicht dauernd so biestig sein, aber er machte es einem auch nicht leicht. René aber sah mich an, hörte mir zu und lachte dann los. Kurz nur, aber mich brachte es vollkommen aus der Fassung. Was zum...?!

„Was? Was ist so lustig daran? René, du Arsch, antworte!“, wetterte ich.

„Ich lache über dich und dein Gedächtnis“, kam es mit mal sehr ernst von ihm. Wieder so ein Umschwung, der mir den Wind aus den Segeln nahm, sodass ich nichts weiter als ein elegantes „Hä?“ hervorbrachte.

„Jareth, du bist wie eines dieses Aufziehdinger. Aufgezogen bist du rabiat und rennst gnadenlos alles nieder, doch wenn dir die puste ausgeht, bist du nur ein langweiliges Spielzeug, dass nach Aufmerksamkeit ringt.“ Diese Worte mit diesem Blick trafen mich unvorbereitet. Ich dachte, wir wären mal Freunde gewesen? Warum war er nun so gehässig zu mir?

„Interessant und du bist einfach nur ein Arsch. Den braucht man nicht aufziehen, der läuft von alleine“, konterte ich ruhig, aber verletzt. René seufzte nur und ließ sich zurückfallen.

„Könntest du mal mit diesen Beleidigungen aufhören?“, fragte René.

„Hast du nicht angefangen?“

„Nein, du.“ Mist er hatte Recht. Ich schwieg, ließ ihm den Sieg, ehe mich doch zu einer weiteren Frage durchrang. „Weißt du denn nun, was passiert ist? Wenn ich in deiner Wohnung bin und scheinbar nicht entführt wurde, wie und warum komme ich dann hier her?“

„Wie kommst du eigentlich darauf, entführt worden zu sein?“

Herr Gott, konnte er nicht einmal meine Fragen direkt beantworten ohne dagegen zu fragen?! Aber das hier war sein Reich. Er hatte vollen Heimvorteil, als fügte ich mich, auch wenn ich innerlich am kochen war.

„Als ich letzte Nacht im Park war, war da so ein gruseliger Typ, der sich mit mir anlegen wollte. Ich weiß nicht mehr was passierte oder ob da noch mehr waren. Jedenfalls kann ich mich nicht mehr erinnern. Hab mir wohl den Kopf irgendwo gestoßen. Kopfschmerzen hab ich jedenfalls.“

„Willst 'ne Tablette?“

Ich sah ihn an. Wieder lenkte er ab und doch nickte ich. Kurz verschwand René in die Küche und ich konnte jeden seiner Schritte sehen. Dankend nahm ich das Glas Wasser und die kleine weiße Tablette an. Ich schluckte sie und trank das Glas leer. So würde wenigstens das Pochen in meinem Kopf endlich verschwinden.

„Und warum dachtest du nun entführt worden zu sein? Wenn es mehrere Typen gewesen wären, hätten sie dich auch einfach verprügeln können.“ Stimmt auch wieder, aber ich hatte keine Blessuren.

„Ich bin aber noch heile wie du sehen kannst. Ist es nicht egal, wie ich darauf komme? Kannst du mir nicht endlich mal meine Fragen beantworten?“ Oder konnte er es nicht? Doch, zumindest die Frage, warum ich hier bei ihm war, muss er beantworten können! Doch René sah mich lange an, schwieg und trank von seinem Bier. Ey, der Typ machte mich irre! Würde die Tablette nicht wirken und mich gerade irgendwie voll schlapp fühlen lassen, wäre ich sicher wieder ausgetickt.

„Was war das für'ne Tablette?“, fragte ich nach.

„Eine Schmerztablette. Ist sie zu stark?“ Er klang überrascht. Was hatte er bitte für starkes Zeug bei sich zu Hause?

„Etwas... warum hast du so ein starkes Zeug?“

„Ich brauch die. Hatte mir mein Arzt mal verschrieben, damit ich wieder runterkomme, wenn ich mich aufrege. In letzter Zeit brauch ich sie auch wieder öfter.“

„Warum das?“ Ich hatte mich zurückgelehnt und sah ihn einfach nur an. Also wirken taten sie. Meine Arme und Beine wurden Schlapp und ich fühlte mich leicht benebelt. So war ich auf jeden Fall nicht mehr in der Lage mich irgendwie aufzuregen. „Was bringt dich denn immer so auf die Palme?“ Wieder sah René mich unverwandt an und ich nahm den Blick auf, wandte mich nicht ab.

„Du. Du bringst mich auf die Palme. Und das schon ziemlich lange.“ Er klang irgendwo traurig und dank der Sedierung fühlte ich sofort mit ihm.

„Sorry, das wollte ich nicht. Aber du bist auch nicht einfacher zu verstehen. Mich regst du auch oft genug auf.“ Er lächelte nur und schüttelte den Kopf. Was? Was war nun schon wieder? Warum konnte er nicht mal das sagen, was er dachte?!

„René-“ Er schnitt mich ab und redete einfach los.

„Nachdem du gestern Abend einfach gegangen warst, ohne C.G. oder mir eine richtig Antwort zu geben, bin ich noch Stunden durch meine Wohnung getigert. Ich habe mir den Kopf zerbrochen und wieder zerbrochen. Irgendwann rief Josi an und fragte, ob du bei mir seist, da du immer noch nicht zu hause warst. Sie machte sich Sorgen um dich.“ Kurz sah er zu mir auf und ich fühlte mich sofort schuldig. Dumme Tablette!

„Ich hatte Josi doch geschrieben, dass sie nicht zu warten hat.“

„Schon, aber sie und C.G. hatten nochmal miteinander telefoniert und dann konnte sie nicht mehr anders.“

„Und dann?“, ich war noch etwas mehr in den Sessel gesunken und trank ab und an etwas vom Bier. Es war schon fast leer und mit der Tablette zusammen fühlte ich mich irgendwie voll in Watte gehüllt. Oder lag das am Sessel?

„Dann bin ich los. Ich bin die Stadt abgegangen. Suchte in ein paar bekannten Straßen, dann in den Park und hab' die Büsche abgesucht. Hätte ja sein können, dass du noch mehr getrunken hattest und irgendwo lagst.“

„Nein, sorry, aber ich hätte gerne.“ Dann wäre alles andere wohl auch erträglicher gewesen.

„Bist du dir da sicher? Du hattest nichts eingenommen oder so?“, skeptisch sah er mich an und ich nur fragend zurück. Wie kommt der da drauf? „Als ich dich da auf dem Spielplatz gefunden habe, bist du schon umher gegangen, hast mit irgendwem geredet und dich echt high aufgeführt.“

„Ich war nicht high! Da war wer im Park und ist in den Büschen umhergeschlichen! Ich bin rumgegangen, damit ich mich wehren konnte“, gab ich protestierend zurück und hatte mich kurz aufgerichtet. Allerdings klang ich nicht sehr energisch.

„Aha okay. Ich habe niemanden gesehen. Als ich dich dann angesprochen habe und dich wieder nach hause bringen wollte, bist du auf mich los gegangen-“

„Warte, dann warst DU das?!“ Ich hatte nicht wirklich verstanden, was der Angreifer gesagt hatte und vor Müdigkeit hatte ich wohl auch nicht mehr klar sehen können. Dazu war es so dunkel... Gott, war das peinlich, wenn sich das wirklich so abgespielt hatte. Auch René zählte nun eins und eins zusammen und grinste.

„So war das also. Und du hast sicher nichts genommen?“

„Nichts außer deiner hammer Tablette, sonst würde ich dich jetzt erwürgen“, fauchte ich schwach. Er grinste nur.

„Na hab ich ein Glück. Im übrigen, bist du, als du losgerannt warst über das Bein der Wippe gestolpert und warst weg. Dich hier hoch zu tragen, den weiten Weg vom Park aus, war echt anstrengend. Hätte nicht gedacht, dass du so viel wiegst.“ Blöder Arsch, der! Ich sank vor Scham mehr in den Sessel und redete mir ein, nicht rot zu werden. Oller Fatzke.

„Ach so... okay.“

So war ich also hierher gekommen. Nun waren meine Fragen ja geklärt und ich könnte einfach gehen. Doch zum einen, war ich gerade echt durch, dank diesem blödem Medikament und zum anderen, war der Sessel einfach so fesselnd, da wollte ich nicht aufstehen. René schien ebenfalls alles gesagt zu haben und so trat Schweigen zwischen uns. Als es mir bewusst wurde, wurde es mir unangenehm. Das machte es nicht besser und mir fiel echt nichts mehr ein, was ich hätte erzählen können.

Doch, ein Thema wusste ich noch, aber das anzusprechen, traute ich mich nicht. Das hieße ja, dass ich mich mit meiner Vergangenheit auseinandersetzen und René irgendwo akzeptieren musste. Es klang zwar dumm, aber das wollte ich nicht. Mich mit ihm zu streiten machte auch Spaß. Dazu kam, dass ich im Moment alles fühlte, nur keine Wut. Wenn ich an dieses Thema dachte, spürte ich Unsicherheit, Scheu, Angst... Normaler Weise erinnerte man sich doch irgendwann wieder. Warum also ich nicht? Welcher Trigger fehlte mir? Oder anders gefragt, gab es etwas, woran ich mich nicht erinnern wollte?

Ich schwieg weiter.

„Jay, sag mal... warum willst du dich nicht mit mir anfreunden?“

Renés Wohnung

Die Frage traf mich wie ein Stein am Kopf. Hart und schmerzhaft. Während ich mit großen geschockten Augen zu ihm rüber sah, saß er nur da und puhlte an dem Etikett von seiner Bierflasche. Er wirkte gerade wie ein kleiner Junge und für kurz war mir als hätte ich ein Dejavú, doch das konnte nicht sein. Oder doch? Ach ich weiß auch nicht. Fakt war, das wusste ich wiederum, dass ich auch diesmal keine Muse verspüre auf diese Frage zu antworten. Ich wusste einfach nicht wie. Außerdem klopfte mir mein Herz gerade viel zu schnell und das in einem sonst lahmen Körpern. René hatte diese erste Stille abgewartet, doch nun sah er mich an. Was sollte ich nur machen? Wie kam ich hier am besten raus? Ich versuchte irgendwie aufzustehen, doch der Sessel hatte eine echt fesselnde Wirkung. Dazu meine schlappen Arme und weichen Knie... abzusehen, dass das nichts werden konnte.

„Ich denke ich muss jetzt wirklich gehen“, sagte ich dazu noch ganz unpassend. Ich konnte mir schon immer meinen eigenen Sarg meißeln. Noch während ich kläglich versuchte aufzustehen und in einer sonderbaren halb stehenden, halb sitzenden Stellung aufsah und René über mir bemerkte, schienen mich meine Kräfte wieder zu verlassen. Ich brauchte mich gar nicht wundern, warum er so viel schneller war als ich. Immerhin hatte er keine Beruhigungstablette genommen, durch die er sich wie ein Wackelpudding auf Stäbchen fühlen würde.

„Du bleibst noch“, sagte er ruhig, aber bestimmend.

„Aber Josi wartet doch sicher.“

„Ich habe ihr Bescheid gegeben, dass du bei mir bist.“

„Und da bin ich auch sicher ja?“ Gelobt sei mein vorlauter Mund, der ließ sich nicht unterkriegen.

„Wenn du es drauf anlegst, gleich nicht mehr.“ Vorlauter Mund ade. Aber so wie seine Augen gerade funkeln...

„Wie meinst du das?“, fragte ich nach.

„Was spricht dagegen, dass wir Freunde werden?“

„Ähm.. einfach alles?!“

„Definiere.“

„Oh man, René, was weiß ich. Du bist halt nicht jemand, bei dem ich sagen würde, lass uns Freunde werden.“

„Sondern?“

„Weiß nicht... jemand anderes eben...“ Ja, was genau eigentlich, wenn keine Freunde? Ich ließ mich wieder in den Sessel sinken und René hielt seine Position. Die Arme an den Lehnen abgestützt und über mich gebeugt. Wie ein Löwe der seine Beute nicht aus den Augen ließ.

„Sie haben dir doch von damals erzähl, nicht? Als du vom Baum gefallen bist.“ Erstaunt und etwas nervös, weil eben jenes von mir eigentlich vermeidbare Thema angesprochen wurde, sah ich zu ihm auf, sah ihm direkt in die Augen. Was nun? Mein Herz schlug gleich schneller. Was sollte ich nun machen? Ich nicke. Die einzig mir sinnvoll erscheinende Reaktion. Vor allem auch, weil René so anders guckte und seine Stimme nicht mehr so einen bestimmenden und herrischen Tonfall hatte.

„Aber du kannst dich trotzdem an nichts davon erinnern?“ Ich schüttelte den Kopf. Wieder einmal hatte mich meine Stimme verlassen. All das hatte ich erst vor kurzem selbst akzeptiert. Es nun vor jemand anderen zu gestehen, war ... was dachte ich? Ich war zu feige, es einzugestehen. Mir selbst und vor anderen. Wie schon erwähnt: Ich hatte Angst, dass es an mir lag und dass die Menschen um mich herum mir dessen Böse sein könnten.

„Also weder an mich, noch an das was ich dir auf dem Baum gesagt hatte?“ Das Grau vor mir wirkte gerade wie eine große dicke Regenwolke. Voller Regen und... René sah traurig aus. Diese Erkenntnis traf mich unvorbereitet, sodass ich wieder nur mit dem Kopf schüttelte. Die Enttäuschung war ihm anzusehen, ebenso war der Stimmungsabfall deutlich zu spüren.

„Warum macht dich das so traurig? Was war denn damals?“ Wenn es doch so wichtig schien, warum sagte er nichts?! Doch diesmal schüttelte er nur mit dem Kopf.

„Nichts. War nicht weiter wichtig...“

„Nein, René, warte!“ Ich packte ihm am Kragen, als er doch endlich mal von mir lassen wollte. Eigentlich dumm, doch ich wollte es jetzt wissen. „Sag es mir! Was war damals? Alle reden immer nur drum herum. C.G. und Josi wissen nichts und können mir meine Fragen nicht beantworten. Aber du weißt mehr und du sagst nichts, du verdammter Hund. Wie soll ich denn da jemals aus dir schlau werden? Oder dich nicht hassen? Du fragst mich, ob wir Freunde werde, aber gibst mir immer nur Gründe, das abzulehnen.“ Wo genau ich die Kraft dazu hernahm, mich an ihm hoch zu ziehen und auf dem Sessel mit dem Knie zu sitzen, nur damit wir gleich auf waren, wusste ich nicht, aber so sahen wir uns direkt in die Augen. Meine sagten wohl aus, dass ich genervt war – stimmte ja auch – und die grauen vor mir, sahen erstaunt zurück. „Sag mir endlich mal was, was ich noch nicht weiß.“

„Ich hatte mir gesagt, dass ich warten werden.“ Seine Stimme war so weich und leise geworden, dass ich es nun war der am straucheln war. Zudem drückte der Affe mich gerade nach hinten an die hohe Lehne und gab mir keine Fluchtmöglichkeit.

„Was?“

„Ich sagte zwar, ich tu nichts mehr, aber ich kann nicht mehr.“

„Hä?“

Mehr als ein paar sonderbare Laute brachte ich nicht heraus. Und so perplex wie ich war, ließ ich es zu, dass er mich noch mal küsste. Ich sah ihn aus großen Augen an, spürte wie sich meine Haare mit Nacken und an den Armen aufstellten und ich eine Gänsehaut bekam. Zeitgleich krallte ich mich noch mehr in seinen Kragen und brachte ihn nur dazu noch näher zu kommen. René hatte mich eingekesselt. Weg konnte ich nicht. Fliehen wollte ich nicht. Warte... wollte ich nicht?! Es war so wie beim ersten mal. Ich küsste keine Männer! Und doch schaffte ich es nicht meine Augen aufzuhalten oder einfach nichts zu tun, bis er von mir ließ. Nein, ich erwiderte. Zaghaft, aber für ihn wohl Bestätigung genug, um weiter zu machen und mir nach wenigen Zügen über die Lippen zu lecken und mich aufzufordern meinen Mund aufzumachen. Ich gehorchte. Brav öffnete ich meinen Mund und empfing die andere Zunge und wieder überrollte mich eine Gänsehaut. Langsam entkrampften sich auch meine Hände und ich wusste kurz nicht, wohin mit ihnen, eh ich sie einfach am Hals vorbei in Renés Nacken schob und mich so an ihm hielt. Blöd eigentlich, wo ich doch auf Frauen stand und das hier so überhaupt nichts für mich war. Aber widerstehen konnte ich auch nicht. Vielleicht war es seine Art, die mich näher zog oder seine Zärtlichkeit und Vorsicht, mit der er mich berührte und küsste. Vielleicht lag es an der Tablette, die noch immer meine Sinne benebelte oder an seinem Duschbad, dessen Duft ich angetan einatmete.

Es dauerte eine ganze Weile ehe wir endlich voneinander ließen. Mit roten, feuchten Lippen sah ich ihn an. Konnte nicht glauben, was ich gerade getan hatte! Ich habe wirklich mit René geknutscht und wie! OMG! Hastig wischte ich mir über meine Lippen, doch das kribbelige Gefühl darauf blieb. Ebenso die Hitze in meinen Fingern, mein schneller Herzschlag oder der leichte Nebeln in meinem Kopf.

„Warum?“ War die einzige und erste Frage, die mir entschlüpfte.

„Du warst gerade so schön wehrlos.“ Sadist, schoss es mir bei dem Grinsen ein.

„Und du musst das ausnutzen?“

„Klar. Du hättest ja nicht mitmachen müssen.“ So wie er grinste, hatte er damit wohl auch nicht gerechnet... Mist, verdammter!

„Wenn... wenn ich dafür erfahre, was damals auf dem Baum passiert ist, dann, küss ich dich von mir aus auch nochmal!“, platzte es aus mir heraus. Ich war während seiner ersten zwei Antworten bereits rot angelaufen. Es ging also nicht peinlicher, oder?

„So? So rabiat und kalt bist du da?“, fragte René im verspielten Ton nach.

„Wenn es sein muss. Ich kann mich auch durch boxen. Das ist kein Problem.“

„Ah, ich vergaß, du bist ja mit C.G. in so einer tollen Gang.“

„Hey, mach uns nicht runter“, beschwerte ich mich.

„Würde mir nie in den Sinn kommen.“

„Ja, sicher.“

„Aber klar.“

„Nun erzähl schon“, forderte ich ungeduldig. Ich stand so kurz davor endlich zu erfahren was Sache war. Vielleicht sogar, warum René mich immer so ansah oder mich küsste. Das musste doch auch einen Grund haben und den wollte ich nun endlich wissen! René aber, ließ von mir und kniete sich vor dem Sessel hin. Zeitgleich verließ mich die Kraft, welche mich eben noch aufrecht gehalten hatte und ich sank zurück in den Sessel. Meine Hand wurde ergriffen und es war sicherlich 'nur', weil ich gleich erfahren würde, was Sache war, dass mein Herz wieder losspurtete.

„Geh mit mir“, fragte René und sah dabei so ernst aus.

„Bitte?“

„Wenn nicht gleich dass, aber dann geh mit mir aus. Ein paar Dates. Die kannst du doch sicher entbehren, oder?“

„Ähm, ja, aber... was soll das? Wolltest du mir nicht sagen, was damals genau passiert ist?“ Ich war so perplex, ich wusste gar nicht was zuerst zu tun war.

„Werde ich. Ich verspreche es.“

„Dann-“

„Danach.“ Himmel Herr Gott, nicht doch!

„Dein Ernst?“, entfuhr es mir und er nickte. „Wenn ich mit dir ausgehe, im besten Fall mit dir zusammen bin, dann erzählst du mir alles?“ Wieder ein Nicken. Der Blick festentschlossen mit stählernem Grau. Ich seufzte nur. Ich wollte ihn anschreien, wirklich. Aber ich konnte nicht. Dazu war ich noch zu sehr sediert und auch ein bisschen mit mir selbst überfordert. Ich fühlte mich ruhig und aufgewühlt zu gleich. Die Bestätigung, dass René mir "unter seinen Bedingungen" endlich erzählen würde, was damals passiert war, erleichterte mich. Ich hoffte inständig, dass diese fehlenden Informationen den nötigen Trigger enthalten würden, damit ich mich wieder erinnerte. Zudem ... wenn ich schon so strunz ehrlich mit mir selbst war, dann gestand ich nur jetzt ein, dass René mit seiner leicht verzweifelten und schmollenden Art irgendwie süß war.

„René mal ehrlich jetzt. Ich stehe auf Frauen und bisher gab es noch nie einen Kerl, dem ich hinterher geschaut habe, geschweige denn, geküsst habe.“

„Und doch hast du mich geküsst“, erinnerte René mich an das Offensichtliche. Seine Augen strahlen etwas Heitertes aus, was ich so nicht einordnen konnte.

„Ja, bis auf dich niemanden und ich hätte echt nichts dagegen, wenn das so bleiben würde.“ Ich war nun mal nicht Schwul. Warum ich René so viel durchgehen ließ ohne ihn bereits zu Brei gekloppt zu haben, wusste ich echt nicht. „Und du erzählst mir wirklich alles, wenn ich mit dir aus war? Ohne wenn und aber oder es gar noch mal herauszuschieben?“ Ich vergewisserte mich nur. Besser war es. René war mit seinen Antworten so schlüpfrig wie ein Aal.

„Versprochen“, nickte er mir zu und ich war mir sicher, dass ich ihm diesmal glauben konnte. Dennoch sah ich ihm eine Weile an und hielt somit den kleinen Vorteil aus, den ich noch hatte. Obwohl, war das wirklich ein Vorteil? René wartete zwar auf meine Antwort, aber viel Spielraum blieb mir nicht und seine Augen glänzten als wüsste er, dass ich ja sagen würde.

„Gut. Ich gehe mit dir aus.“
 

Teilweise fragte ich mich wirklich, womit ich das nur verdient hatte? Den kompletten Tag hatte ich bei René verbracht. Gut, seine Wohnung war echt toll und er war im Pflegen und Bedienen große Klasse. Zudem konnte er super Pizza kochen. Gut, backen und sie war Tiefgefroren, aber er hatte sie gepimpt und das war doch auch eine Art von kochen. Warum versuchte ich mir eigentlich gerade schön zu reden, dass er mich den ganzen Tag gefangen gehalten hatte? Ah, ja, weil ich mich für geschlagene 8 Stunden als Bewegungsunfähig deklariert hatte. Ich dachte es wäre eine gute Idee, ihn sich etwas um mich kümmern zu lassen, wenn er mir schon irgendeine Hammertablette gab und ich damit völlig wehrlos von ihm geküsst wurde. Ja, ich denke so hatte ich es gut ausgelegt.

Das Problem war nur, dass ich mich eigentlich schon gegen Mittag wieder hätte bewegen können und ich denke René hatte das auch gewusst. Vielleicht hatte er mir deshalb so viel zu trinken gegeben. Denn als ich auf Klo musste und er mir anbot mich dorthin zu tragen und meinen Schwanz für mich beim Pinkeln zu halten, wurde es mir doch zu bunt und ich stand selbst auf. René lachte natürlich. Vielleicht hätte er es nicht getan, aber wer konnte das bei diesem Sadisten so genau sagen? Dennoch war es irgendwo lustig gewesen. Wir hatten fern gesehen, ehe ich mich dafür entschieden hatte Heim zu gehen. Josi wartete schließlich! Ich wollte gerade aufstehen, als René mich am Handgelenk festhielt und mich rittlings auf seinem Schoß zog.

„Du willst wirklich schon gehen? Bleib noch etwas.“ Seine Stimme war leise und sein Blick eindringlich. Sanft strich er mir über die Wange und legte seine andere Hand auf meinen Rücken. Ich schluckte nur.

„Du hast mich doch schon lange genug ausgehalten und deine Tablette habe ich auch überlebt“, beschwichtigte ich und doch war mir mulmig zu mute. Zwischen uns lag eine Spannung, welche mein Herz schneller schlagen ließ.

„Stimmt, vielleicht sollte ich dir noch eine geben“, sagte René scherzhaft. Das Grau leuchtete und seine Stimme schien so weich. Ganz klar, er spürte die gleiche Spannung und wollte sie weiter anfachen!

„René hör auf damit“, sagte ich energischer, aber seine Hand legte sich in meinen Nacken und zog mich näher. Wieder hämmerte mein Herz so doll. Etwas spannte ich mich an und wollte widerstehen, ehe es angefangen hatte.

„Aber du hast gesagt, du gehst auf Dates mit mir, also gehört das ab jetzt auch dazu“, raunte René. Sein Daumen strich über meine Lippen und glitt dann wieder zurück in den Nacken. Ich holte Luft, um nochmal zu widersprechen. Aber erstens hatte er Recht und zweitens hatte er bereits seine Lippen auf meine gedrückt. Bestimmt hielt er mich bei sich und wie vorhin schon, gestaltete er den Kuss so, dass ich ihm bereitwillig den Mund öffnete und wir eine lange Zeit, gediegen und gemächlich fochten. Es war irgendwo anstrengend, und ich tat ja auch eigentlich alles nur, weil es einem gutem Zweck, und zwar meinen Erinnerungen, dienen sollte. Doch musste mir dabei so warm werden? Mit deutlich wärmeren Wangen löste ich mich von ihm, als ich keine Luft mehr bekam und war erstaunt, dass ein Kuss auch so aussehen konnte. René wiederum strich mir nur über die Wange und durch mein Haar. Automatisch schloss ich dabei für kurz meine Augen.

„Ich wette, dieses Gesicht hat so noch keiner gesehen“, sagte René.

„Was mach ich denn für ein Gesicht, hä?“ Mein Kampfgeist erwachte wieder und ich konnte mich von ihm lösen. Ich nutzte den Schwung und stand auf. Diesmal hielt René mich nicht zurück. Gut so, dachte ich und brachte noch zwei Schritte Abstand zwischen uns. „Ich geh' jetzt. Melde dich wegen der Dates.“

Ein Date oder keines?

Dass ich nicht alleine nach hause ging, hätte mir nach diesem "Unfall im Park" eigentlich klar sein sollen.

„Bin wieder da.“

„Jay?!“ Josi kam wie ein gestochenes Huhn um die Ecke in den Flur gerast und blieb mit rutschigen Strümpfen vor mir stehen.

„Mitunter“, gab ich matt zurück.

„Oh, René. Schön, dass du auch da bist“, begrüßte sie ihn. Warum freute 'sie' sich so sehr 'ihn' zu sehen?

„Hi Josi, freut mich auch. Ich wollte ihn nach gestern nicht noch mal alleine gehen lassen. Auch wenn er nüchtern ist.“ Boar geht’s noch? Ich steh zwischen euch Leute!

„Hach, wenn Jay nur auch mal so mitdenken könnte“, jammerte Josi als wäre sie unsere Mutter.

„Es liegt mir fern, dir Sorgen zu bereiten“, erwiderte René grinsend und sah verführerisch lächelnd zu meiner Schwester.

„Boar Leute nehmt euch'n Zimmer!“, platzte es aus mir heraus und ich drängte mich an Josi vorbei in den Flur, um mir die Schuhe auszuziehen. Während Josi nur fragend zu mir sah, agiere René schnell und mal wieder selbstsicher.

„Bist du etwa eifersüchtig? Das freut mich aber. Dass heißt, es war dir doch nicht egal.“

„Bild dir darauf bloß nichts ein! Ich nutze dich ebenso aus“, konterte ich und stellte mich wieder gerade vor ihm hin um meinen Worten mehr Ausdruck zu verleihen.

„Willst du etwa sagen, dass du mich nur küsst, weil es dir dient und es dir gar keinen Spaß macht?“, fragte René und trat näher, stand direkt vor mir und ich Idiot hielt auch noch die Luft an.

„Ihr habt euch geküsst?“, fragte Josi von der Seitenlinie aus, wurde aber nicht weiter von uns beachtet.

„Genau, es mach keinen Spaß. Warum sollte es mir auch Spaß machen einen Kerl zu küssen?“ Selbstbewusst trat ich näher und sah direkt in das amüsierte Grau.

„Dann macht es dir auch keinen Spaß auf ein Date zu gehen?“

„Bitte?“, entkam es Josi, die sich aber zunehmend zurücknahm und eher die Show der balzenden Hähne vor sich mit einem wissendem Lächeln beiwohnte. Wobei ihre Kommentare meine innere Stimme auch sehr gut wiedergegeben hatten.

„Natürlich nicht.“

„Aber du warst bisher nur mit Frauen aus. Woher willst du wissen, ob es dir keinen Spaß macht?“

„Ich denke mal, dass sich das von selbst ausschließt“, sagte ich, war näher getreten und sah René von nahem in die Augen. Wütend versteht sich. Dieses Arrangement diente einzig der Erwecken meinen Erinnerungen. Erhofft René sich etwa, dass sich mehr entwickeln würde? Gefühle? Für IHN?

Scheinbar schon, denn wieder wurde mein Gesicht von seinen Händen umfasst und wieder küsste er mich, einfach weil es ihm beliebte. Josi hatte ihre Hände vor den Mund gehalten, um keinen Laut von sich zu geben, da sie zu gerne wissen wollte wie das hier ausging. Ich im übrigen auch. Böse starrte ich ihn an und würde definitiv nicht mitmachen! So der Plan. Praktisch sah es etwas anders aus. René hob meinen Kopf an und zog zugleich mein Kinn nach unten, sodass er einfach eindringen konnte. Ein Schauer überrollte mich, aber ich erinnerte mich daran ihm noch die Zunge abbeißen zu können, wenn er nicht gleich aufhörte. Eine Hand verließ mein Gesicht und lege sich auf meinen Rücken, zog mich näher und überraschte mich so, dass ich bei einer erneuten Attacke vor Schreck die Augen schloss und damit den Fehler beging, auf den René gewartet hatte. Noch näher zog er mich, hielt mich und forderte meine Zunge zum Kampf. Die Röte schoss mir ins Gesicht und ich erwiderte. So langsam fühlte es sich gewohnter an ihn zu küssen oder von ihm geküsst zu werden. Als wir uns dann endlich lösten, klopfte mir mein Herz bis in den Hals. Ich musste etwas blinzeln, ehe ich wieder richtig sehen konnte. Und als René mich endlich los ließ, bemerkte ich, dass die Tür immer noch offen stand und Josi mich mit großen Augen und einen hochroten Kopf musterte. Hatte sie zugesehen? Natürlich hatte sie. Was sollte sie anderes machen? René indes, sah mit sich zufrieden aus. Ich jedoch lief hochrot an wie ein Hydrant.

„M-musste das sein?!“, fuhr ich René sichtlich peinlich berührt an und verschwand auf schnellsten und kürzesten Weg in mein Zimmer. Ich schloss ab und merkte erst da, wie sehr meine Hände zitterten. Scheiße! Das war so nicht gedacht. Dachte René überhaupt mal nach? Egoist, Sadist!!! Aber gut küssen, konnte er... Gott, warum hate ich ihn nur gefragt?? Ich musste meine Erinnerungen schnellstens selbst wiederbekommen. Wer wusste wie das sonst noch enden würde.
 

Ich beruhigte mich bis zum Abend hin. Dennoch fühlte ich mich alles andere als ruhig. Es war nicht nur, dass René der einzige Vollhorst war, der mir scheinbar mit meinen Erinnerungen helfen konnte, sondern auch, dass ich ein Vollhorst war. Ich lag auf meinen Bett und sinnierte vor mich hin. Leider fand ich den Nachmittag mit ihm wirklich schön. Abgesehen von den Küssen und den Flirtversuchen, war es beinahe wie bei jedem anderen Kumpel daheim gewesen. Der Deal war klar. Wir gingen auf Dates und er erzählte mir was ich wissen wollte. Zum Glück hatte ich nur zugestimmt auf Dates zu gehen und nicht mit ihm zusammen zu sein. Dieser kleine Sieg wurde von der Tatsache geschmälert, dass ich Renés Nähe langsam akzeptierte. Seine Berührungen und Küssen kribbelten und die anfängliche, angewiderte Gänsehaut wich der Erwartung dessen, was kommen könnte. Als er mir vorhin durchs Haar gestrichen hatte, hatte ich meine Augen geschlossen und nur mit Mühe verhindern können, dass ich mich in seine Hand lehnte. Ich wollte ihm nicht näher als nötig kommen, aber ... Ich drehte mich auf die Seite und nagte an meiner Unterlippe. Was war das dann für ein Gefühl? Jedes Mal, wenn er unbeholfen oder zärtlich war, wallte etwas auf, dass ich nicht deuten konnte. Das machte mir Angst.

Erst spät am Abend traute ich mich wieder aus meinem Zimmer und fand Josi in der Stube beim Fernsehen. Gegessen hatte sie schon, also machte ich mir alleine etwas und setzte mich neben sie. Sie hatte eine Komödie an, die ich gerade irgendwie nicht besonders lustig fand.

„Er meldet sich noch mal.“

„Bitte?“

„Ich soll dir sagen, dass er sich wegen eurem Date noch mal meldet.“ Josi drehte sich nun doch zu mir um und grinse breit wie ein Honigkuchenpferd. Ich indes wurde anständig rot.

„Pah! Der soll es sich ja wagen“, knurrte ich.

„Komm, du freust dich doch“, schnurrte meine Schwester und krabbelte näher zu mir ran.

„Nicht im Mindesten. Und das vorhin behältst du ja für dich.“

„Hatte ich vor. Aber du kannst mir nicht sagen, dass es dir nicht gefallen hat. So wie du-“ Puterrot hielt ich ihr meine Hand vor den Mund und spürte das Grinsen darunter nur zu deutlich. Als ich ihre Zunge an meiner Handfläche spürte, zog ich meine Hände angeekelt zurück.

„Mein süßer, großer Bruder. Wenn du wüsstest, wie es mich freut dich wieder so zu sehen“, sagte sie und strich mir liebevoll über die Wange. „So einen süßen Anblick hattest du zuletzt als wir noch klein waren.“

„Ach Unsinn...“, dementierte ich. Vor Scharm drehte ich meinen Kopf zur Seite.

„Ich hab dich lieb, Jareth“, sagte sie und kuschelte sich an meine Schulter.

„Hmm...“, stimmte ich zu und war ihr irgendwie dankbar, dass wir dieses Gespräch nicht vertieften.
 

Doch entgegen meiner Erwartungen oder eher Befürchtungen, dass René mich gleich am nächsten Tag zu einem Date aufforderte, geschah erstmal nichts. Ich ging zur Uni, traf mich mit C.G. und anderen Kumpels. Wir unternahmen etwas, gingen in Bars und auf die ein oder andere Party; alles schien normal. René sah ich nur vom Weitem. Nicht mal in der Uni lief ich ihm über den Weg, was sonst eigentlich immer der Fall war. Am Montag hatte ich wirklich Angst, dass er in der Uni auf mich zu kommen würde und mich küsste. Ich hatte sogar davon geträumt; doch nichts. Nach zwei Wochen kam mir das schon etwas komisch vor. Aber beschweren wollte ich mich ja auch nicht. Es blieb einzig die Frage offen: Wenn René und ich wirklich Dates hatten, durfte ich mich anderweitig umsehen oder galt das als Betrug?

„Ey, Jay. Dein Handy klingelt.“

„Hä?“

„Dein Handy? Hörst du das nicht? Was is' das überhaupt für ein Ton?“ Eine gute Frage. Ich hatte "we are the champions" sicher nicht eingestellt.

„Ja?“, meldete ich mich zu Wort.

»Hey Schlafmütze« Oh Scheiße. René!

„Bin ich nicht. Woher hast du überhaupt meine Nummer?“

»Ich dachte mir, es wäre praktischer, wenn ich deine Nummer habe, falls noch mal so was wie letztens passieren sollte. Da hab ich sie mir gespeichert, als du noch bewusstlos warst« Seine Stimme klang viel zu amüsiert, was mich wieder nervte. Allerdings weniger als zuvor.

"Und was soll der Klingelton?"

»Na du muss doch wissen, dass ich es bin, der dich anruft, damit du gleich ans Handy springen kannst« Und das sagte er so unverblümt...

„Was willst du denn?“

»Drei mal darfst du raten«

„Ähm...“

»Nein«

„Ey, das zählt nicht!“

»Auch falsch«

„Ach leck mich doch!“, fluchte ich.

»Magst du das denn?« Prompt wurde ich rot.

„Wa... Sicher nicht. Gott, René sag einfach, was du willst.“

Wenn C.G.'s Ohren noch nicht aufmerksam genug waren, waren sie es jetzt auf jeden Fall.

»Ein Date«

„War mir klar...“

»Wieso fällst du dann beim Raten durch?« Ich zog eine Flappe – was dachte der sich denn bitte warum?!

„Drei mal darfst du raten“, grinste ich nun.

»Ich zähle jedes Wort, was du sagst als Antwort. Du warst nicht schnell genug und wolltest es bestimmt nichts sagen, weil C.G. neben dir steht und dir das im allgemeinen peinlich ist.«

„... Gut geraten...“

» Naja nicht ganz...« „Wenn man euch beobachtet, ist das ganz einfach“, kam es von hinter uns.

„Hey Alter, was machst du denn hier?“, fragte C.G. und schlug sich mit seinem Cousin ab, welcher nur lasziv mit den Schultern zuckte.

„War gerade in der Gegend. Und wollte mir bei der Gelegenheit gleich mal Jareth ausleihen.“ Bitte?

„Ähm, klar. Habt ihr noch was vor?“

„Sort of...“ Kann man so auch sagen...

„Na dann!“, C.G. schlug mir herzhaft auf die Schulter, ehe er mir den Arm um den Hals legte. „Viel Spaß euch beiden, aber denk an den Vortrag.“ Damit war er weg.

„Welchen Vortrag?“, frage René interessiert.

„Ach, nur so ein Uniding. Nicht weiter wichtig“, harkte ich das Thema schnell ab und sah mich unschlüssig um. So wirklich fand ich gerade keine Fluchtmöglichkeit...

„Können wir dann?“

„Was?“ René sah mich an und ergiff meine Hand.

„Na, zu unserem Date. Ich dachte, dir hätten die zwei Wochen zum vorbereiten gereicht?“ Bitte? Dachte er wirklich, dass ich mich in den letzten zwei Wochen in irgendeinerweise auf unser 'Date' vorbeireitet hätte?

„Die brauchte ich ja erstmal um mich von dir zu erholen“, gestand ich vorschnell und seufzte. Vielleicht hätte ich mich doch lieber auf die Dates vorbereiten sollen?

„Wenn das so ist...“, schnell wurde ich an der Hand herangezogen, ein Arm schlang sich um meine Taille und die andere Hand fasste, für mich blitzschnell, an meine Wange. Perplex starrte ich in das Grau so nah vor mir. „Helfe ich dir mal dich zu erinnern.“

Renés Lächeln kam mir diabolischer vor als sonst. Er würde doch nicht. Nicht hier! Mitten im Park, mit Leuten um uns herum!!

„René... wehe!“

Seine Lippen berührten meine nur ganz kurz, unsere Blicke blieben aufrecht und für den Moment meinte ich mein Herz wäre stehen geblieben.

„Ich denke, dazu kommen wir später.“ Ja... scheinbar.

Flohmarkt

Ich wusste ja nun schon einiges über erste Dates, doch dieses hier kam mir sonderbar vor. In der Zeit, die wir zusammen waren, malte sich mein Kopf so vieles aus. Wie er mich küsste, wie er mich umarmte oder wir Händchen hielten. Ich stellte mir sogar vor, ob er mich fragen würde: „Willst du noch auf einen Kaffee mit rauf?“ Ich überlegte, denn rein von der Wohnung her ja, doch bei dem was diese Frage noch bedeuten könnte, nein. Oder besser, ich war mir nicht sicher. Wollte ich das denn wirklich? Immerhin war mir René für intimere Details zuwider. Er war verdammt noch mal ein Kerl! Dasselbe Geschlecht wie ich. Und noch außerdemer tat ich das alles nur, um den Teil meiner Erinnerungen wiederzuerlangen, der mir noch zu einem vollständigen Bild fehlte. Wie ironisch, dass René der Einzige war, der mit da helfen konnte. Warum war die Welt nur so ungerecht?!

Nachdem wir uns im Park von C.G. verabschiedet hatten, gingen wir ganz normal nebeneinander her. Wir strauchelten durch die Einkaufspassage im hiesigen Stadtteil von L.A., holten uns Currywurst mit Pommes und aßen sie auf einer der unzählig wenigen Sitzgelegenheiten der Stadt auf. Danach führte René mich ins Kino. Er bezahlte und wir sahen uns einen Aktionsfilm an, der wirklich genial war! Als wir anschließend den Tag oder besser das Date mit einem weiterem Fastfoodessen bei McDoof abrundeten, musste ich erstmal den Film auswerten.

„Die Effekte waren ja mal der Hammer. Ich mein, Pistolen und so auf coole James Bond Art zu schießen, ist schon hammergenial, doch das war ja schon eher so Matrixlike. Weißte? Wie in diesen Zeitlupen Sequenzen, wo du die Kugeln an ihm haarscharf vorbei schießen siehst und ah war das toll. Auch die Roboter waren irgendwo cool. Auch wenn ich nicht so darauf stehe, aber ein bisschen geht immer“, plapperte ich und schlang meinen Burger runter oder leckte mir den Ketchup von den Daumen. „Sag mal was grinst du eigentlich so?“

Schon die ganze Zeit über, in der ich den Film erörtert hatte, grinste dieser Affe mich an. Noch ehe René etwas sagte, bewegte seine Hand sich auf mich zu und ich sah ihr auch noch artig hinter her. Sein Zeigefinger strich nahe meinem Mund über meine Haut und ich sah mit röter werdenden Wangen dabei zu, wie René sich das bisschen Ketchup von dem Finger leckt. Was sollte das nun wieder? Wusste er wie peinlich so was war?

„Nix weiter. Ich freue mich nur. Immerhin hast du noch nie so relaxt mit mir geredet“, sagte er, stützte seinen Kopf auf seiner Hand ab und grinste mich weiter an. „Aber ja, ich fand den Film auch voll cool.“

„Meinst du nicht, dass das etwas untertrieben ist?“, protestierte ich, zum Teil auch nur, um mich von seiner Geste eben abzulenken.

„Nein, dass finde ich nicht“, erwiderte er ganz ruhig und schob sich eine Pommes in den Mund. „Sicher war der Film cool, aber eben nur halb so interessant wie die Person vor mir.“ Der kam unerwartet. Wo er doch den ganzen, gut fast den ganzen Tag, einfach nur nett war.

„Wenn du meinst... Ich kann mir ja schöneres vorstellen als das. Ich mein-“

„Jay.“ Abrupt hielt ich inne, als hätte er mir seine Hand direkt auf den Mund gelegt und nicht einfach nur sachte auf meine Hand. „Weißt du denn, warum ich diese Dates wollte?“, fragte er und seine Stimme war total sanft.

„Um mich zu ärgern?“ René ließ ein schnaubendes Geräusch von sich, dass belustigt wie beleidigt klang.

„Um dich mal so kennen zu lernen, wie du jetzt bist.“

„Wieso, wie ich jetzt bin?“

„Weil ich dich nur noch von früher kenne. Als wir klein waren. Aber das ist schon etliche Jahre her und sowohl du als auch ich haben uns in der Zeit verändert. Ich weiß ja nicht, aber stehst du immer noch auf Schmetterlinge?“

Mit großen Augen und etwas überrascht sah ich René an. Einfach weil er etwas so ernstes sagte, das so natürlich rüber brachte, dass ich mich frage, wie ich diesen Aspekt je nicht sehen konnte? Ich mein, an was ich alles gedacht hatte...

„Etwas. Nicht mehr so sehr, aber etwas“, brachte ich noch leicht geplättet heraus. An Renés Gesicht konnte ich ablesen, dass er diese Antwort doch überraschend fand.

„Echt?“ Er grinste. „Das hätte ich nicht gedacht. Immerhin warst du damals so verrückt nach ihnen. Aber die anderen in der Klasse haben dich deswegen immer auf den Arm genommen“, sagte er und lachte, in Erinnerungen versunken. Es hörte sich richtig erleichtert an. „Josi hatte alle, die dich aufgezogen hatten in die Flucht geschlagen. Obwohl sie jünger war, hatte sie keine Angst vor den älteren Jungs. Und du-“

„Ich hab mich dann immer bei ihr beschwert, dass sie das nicht zu machen braucht, weil ich der Ältere bin und mich doch nicht von einem Mädchen beschützen lassen kann. Genau, das habe ich gesagt. Ich erinner' mich.“ Noch perplex von der neuen Erkenntnis, lächelte ich René an, auch wenn mir nicht bewusst war, woher ich diese Erinnerung ausgegraben hatte. René schien sich eben dasselbe zu fragen. So wie er schaute. Große graue Augen, in einem leicht eckigem Gesicht, ein erstaunter Blick und dann ein Lächeln, wie ein Sonnenschein.

„Du erinnerst dich ja doch an etwas?“, grinste er schelmisch und lehnte sich etwas vor. „Kannst du dich noch an die Kirschexpedition erinnern?“

„Kirschexpedition? Das war doch das eine mal als wir uns eine Schatzkarte gezeichnet hatten und auf super geheim gemacht haben. Und dann sind wir durch die ganze Stadt gegangen, immer schön die Schritte abzählend, bis wir beim Kirschbaum hinter unserem Haus angekommen sind.“ René nickte.

„Genau. Und dann haben wir uns an den Kirschen bedient, bis wir Bauchschmerzen hatten und deine Mutter uns deswegen ausgeschimpft hatte.“ Ich schmunzelte bei der Erinnerung.

„Ja, und dann mussten wir trotzdem noch zu Abend essen.“

„Und weil es uns dann allen dreckig ging, habe ich bei dir übernachten dürfen.“

„Ach wirklich?“, fragte ich nach. Jetzt war ich doch überrascht. Obwohl ich vom Hörensagen sag annehmen musste, dass so wie Übernachtungen stattgefunden haben müsste. Dennoch verband ich es nicht automatisch mit René. Sofort kramte ich in meinem Kopf nach einem Bild von René, aber ich konnte ihn mir nicht als kleinen Jungen vorstellen.

„Ich hatte damals etwas längere Haare als jetzt und den Abend haben wir noch lange unter deiner Bettdecke gesessen und uns mit Taschenlampen versucht zu erschrecken.“ Ich überlegte und langsam kamen Bilder von kleinen Jungen, die mit Taschenlampen Schattentieren an die Wand malten oder sie sich unters Kinn hielten, wieder hoch. Nach dem Hochgefühl mich an etwas zu erinnern ohne mit den Kopf zu zerbrechen, war das eben ein kleiner Schock gewesen. Aber mit den wenigen, zarten Bildern fühlte ich mich wieder bestätigt. Ich war auf dem richtigen Weg.

„Das warst du?“, fragte ich und kam nicht um ein Lächeln umher. Wenn ich mich recht erinnere, wirkte René da so klein und frech. Gar nicht mehr wie er heute ausschaut.

„Ja, das war ich. Ich war auch einen Kopf kleiner als du. Jedenfalls bis wir acht waren. Dann hab ich dich eingeholt.“

„Stimmt, wir haben doch am Türrahmen immer Striche gezogen! Aber das du mich so schnell eingeholt hattest, hat mich schon geärgert.“ Er nickte nur, scheinbar mit sich zufrieden.

„Komm, lass uns gehen“, sagte er und deutete mit den Kopf in Richtung des Ausgangs. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass wir schon lange mit dem Essen fertig waren. Geschweige denn wie spät es geworden war.

Draußen war es mittlerweile schon dunkel und der Wind frischte auf. Ich merkte das besonders gut, da ich außer meiner Unitasche ja nur mein Shirt an hatte. Auf ein so spontanes Date war ich nicht vorbereitet gewesen. René war schlauer gewesen und eine Lederjacke, die echt warm aussah. Ich versuchte es mir an meiner Haltung nicht anmerken zu lassen, auch wenn ich Gänsehaut bekam. Ich lenkte mich von der Kälte ab und dachte an unser Gespräch über die gemeinsamen Erinnerungen. Das war viel aufregender als alles andere! Erstaunt stellte ich fest, dass ich mich doch an eine ganze Menge erinnern konnte und dass auch René seinen festen Platz darin hatte. Allerdings hatte ich einige der Erinnerungen als trivial eingestuft und nicht weiter beachtet. Ob es noch mehr von damals gab an das ich mich zwar erinnern konnte, aber es als nicht bedeutend genug abgestempelt hatte?

Als wir nach einer kleinen Weile stoppten, fand ich mich vor Renés Wohnung wieder. Kam jetzt etwa diese Kaffeesache?

„Ich finde, es hat heute echt viel Spaß gemacht...“

„Stimmt, war lustig“, sagte ich und lächelte.

„...daher tut es mir Leid, aber für heute ist erstmal Schluss. Ich muss morgen früh raus.“

„Oh...“ Das kam unerwartet.

„Ich hoffe doch, du kommst gut nach hause. Schreibst du mir, wenn du da bist?“ Irgendwie war ich gerade buff...

„Ähm... ja, klar, kann ich machen. Du hast dir ja meine Nummer widerrechtlich eingehandelt“, sagte ich stichelnd und die Kurve kriegend.

„Das war nur ein fairer Ausgleich zu den Sorgen, die ich mir gemacht habe“, schnaufte René. Abschätzend sah ich ihn an, drehte mich dann um und war bereit zu Gehen.

„Kay, dann bis dann, würde ich sagen.“ Es war als würde man an der schönsten Stelle eines Film oder eines Songs einfach einen cut setzten und aus war. So was unsensibles habe ich wirklich noch nie erlebt! Das hab ich ja nicht mal bei den Frauen fertig gebracht, denen ich überdrüssig wurde. Und er!?

„Bist du mir etwa böse, dass ich dich alleine los schicke? Jay?“

Als ich nicht reagierte, kam er mir einen Schritt nach und hielt mich am Handgelenk fest. Ich wusste nicht, was er erwartet hatte oder was ich in dem Moment für ein Gesicht gemacht hatte, aber René zog mich augenblicklich in seine Arme.

„René hör auf. Ist schon gut, dass-“ -macht doch nichts, wollte ich sagen. Doch er küsst mich einfach. Fest, vielleicht zu fest schon, presst er seine Lippen auf meine, dass ich dachte, er sei nur ausgerutscht. Doch im nächsten Moment wurden sie weicher, bewegten sich und ich spürte einen Arm um meine Taille, der mich näher zog. Es war seltsam. Ich fühlte mich so einkesselt wie noch nie, so gezwungen. Und doch war mir als lägen wir einfach unter einer Decke und machten Morsezeichen mit der Taschenlampe. Ich erwiderte. So einfach war das. Ich gab nach. Dem Kribbeln in meinen Fingern, die sich gerade durch dunkles Haar wühlten, wie auch meinem rasendem Herzschlag oder der Verwirrung in meinem Kopf. Es war nur ein Kuss, sagte ich mir. Ein kleiner... größer werdender, berauschender Kuss, aus dem ich atemloser hervorging als aus jeden davor. Ich hatte nicht gewusste, dass René auch 'so' küssen konnte. (Wenngleich er sowieso schon der beste Küsser war, den ich je hatte.) Seine Zunge war einfach vorgeprescht und hatte mich völlig überrumpelt. So einen leidenschaftlichen Kuss hatte ich mit einer Frau noch nie. Schlimmer war vielleicht noch die Erkenntnis, dass nicht ich es war, der aufhören wollte. René hatte sich zurück gezogen und nun strich er mir sanft über meine Wange und ich hatte Mühe mich am Riemen zu reißen.

„Ich melde mich bald wieder bei dir. Und bis dahin muss das leider reichen“, hatte er sanft noch hinzugefügt, ehe er mich wirklich los ließ und in sein Haus verschwand. Etwas in meinem Kopf hatte mir dann laut zugeschrien >Umdrehen und nach hause gehen!< Sonst stünde ich vielleicht immer noch vor seiner Tür.
 

Wie konnte ich mich darauf nur einlassen? Was hatte ich erwartet? Wie war es überhaupt dazu gekommen? Was 'dachte' ich mir nur dabei mich René praktisch in die Arme zu werfen? Immer wieder erwischte ich mich dabei, wie ich an diesen Tag zurück dachte. Nicht so, wie an eine schöne Nacht mit herrlichen Sex und einer Schönheit, die so geheimnisvoll und lustvoll war wie die Nacht selbst. Eher wie ein Tag im Sonnenblumenfeld, mit herrlichen Sonnenstrahlen und summenden Bienen. Doch warum ich ausgerechnet eine der Sonnenblumen küssen musste, wusste ich beim besten Willen nicht mehr. Auch nicht, was ich bitte erwartet hatte. Immerhin ging es mir doch um meine Erinnerungen und die Frage, warum René sich so an mich ranschmiss. Gut, letztens haben wir viel über die Vergangenheit geredet, aber nicht über Neues. Wir sind praktisch nur alte Details durchgegangen und haben sie aufgefrischt. Jetzt konnte ich von selbst meine Erinnerungen durchsuchen und neu bewerten. Immerhin wusste ich nun wie René damals ausgesehen hatte und konnte nach ihm suchen, mich selbst erinnern.

Aber warum beschäftigte mich dann zusätzlich die Frage, was ich von René wollte? Klar, sein Abgang war nicht gerade klassisch oder kavalierhaft, aber wenn er Termine hatte. Nur... warum fand er dann keine Zeit mich nach hause zu bringen? Erst war er so erpicht darauf, dass ich heil zu hause ankomme und dass er ein scheinbares Interesse daran hatte zu wissen, wann ich wo war und dass es mir gut ging – nur wegen diesem einem kleinen Ausrutscher im Park! Doch dann hält er es nicht für nötig mich nach einem Date nach hause zu bringen, wo das doch die klassischen Abfolge war! Wenn ich es so betrachtete... eigentlich wurden nur die Mädchen nach hause gebracht. Da ich immer beteuerte, dass ich Keines war und er mich nicht so behandeln sollte, hatte er es womöglich ernst genommen. Demnach hatte ich mir ein Eigentor geschossen, nur... hatte ich nicht sowieso damit gerechnet, dass wir zu René nach hause gehen würden? Vielleicht war ich auch nur so überrascht, weil er mich eben nicht gefragt hatte, ob ich noch auf einen Kaffee mit hochkommen wollte. Es wirkte, als hätte er mich eiskalt abserviert. Aber als ich bockig war, küsste er mich. Und wie! Ein bisschen war das schon toll. Aber auch nur ein bisschen!

Dafür hatte ich ihm keine SMS geschickt. Auch nicht angerufen. Zum einem hatte ich es vergessen und zum anderen wollte ich ihn leiden lassen. Vergessen hatte ich es auch nur, weil ich auf dem Weg nach Hause nicht aus meinen Gefühlen schlau geworden war. Den Abend waren sie präsenter, jetzt kaum noch greifbar. Seit dem ersten Date waren 3 Tage vergangen und ich hatte mich nicht gemeldet. René hatte irgendwann geschrieben und gefragt, ob es mir gut ginge. Dann rief er an. Seit den Abend schon 8 Mal. Ich ging nicht einmal ran. Ich fand es selbst schon kindisch, aber irgendwie hatte ich den Zeitpunkt verpasst, ab dem es nicht peinlich wurde, ihn so offen ignoriert zu haben.

„Wenn du nicht augenblicklich an dein Handy gehst, mach ich das, oder du stellst es aus! Es nervt. Was soll eigentlich dieser Klingelton?“, fragte C.G. mich genervt.

„Den hat René eingestellt, als ich mal nicht aufgepasst habe.“ Besser als ich bewusstlos gewesen war! Außerdem schien er eh schon aufgelegt zu haben. Ich drehte mich um, eigentlich nur aus einer Laune heraus und um C.G. zu sagen, 'Siehste!'. Doch da erkannte ich erst, 'warum' das Klingeln aufgehört hatte. C.G. war rangegangen!!

„Ja. Hi... na klar. Mir geht’s gut und dir?... Kling toll. Sag mal-.. hä? Was ich an seinem Handy mache? Naja.. er ist nie rangegangen und dieser Klingelton nervt! Wie von dir? Nein, der is' nicht cool, der is' voll nervig! Was? Ja, ich geb' ihn dir.“ C.G. sah mich an und das mit einem Blick der so viel sagte 'Beende das jetzt, sonst bring ich dich um!'. Ich seufzte und nahm das Handy entgegen.

„Ich hasse dich....“, begrüßte ich ihn müde.

»Freu mich auch dich zu sprechen, Darling!«

„Hör auf mich so zu nennen.“

»Das war das erste Mal. Aber gut, dass ich nun weiß, auf was du stehst.« Sein läppisches Grinsen sah ich sogar durch den Kopfhörer hindurch.

„Was willst du?“, fragte ich resignierend, da ich auch das Gespräch so schnell es geht hinter mir haben wollte. Es war so schon peinlich genug.

»Hast du heute Zeit?«

„Ich hab Uni.“ Lüge.

»Glaub ich dir nicht.«

„Warum nicht?“ Warum frag ich überhaupt?

»Weil dein Handy laut gewesen sein muss, sonst hätte es C.G. nicht genervt und er wäre nicht rangegangen.«

„Hab's gerade erst laut gemacht... Außerdem kann ich dennoch Uni haben. Vielleicht hab ich ja erst Abends Lesung und du weißt das nur nicht.“

»Jay, hör auf damit. Hast du Lust dich heute mit mir zu treffen oder nicht?«

„Ist das wieder ein...“ Vor meinem besten Kumpel konnte ich das nicht laut sagen. Zumal C.G. genau wusste wer am anderem Ende war.

»Nein, ist es nicht. Nur ein ganz normales Treffen. Dass heißt, du darfst diesmal für dich selbst zahlen.« Wieder dieses Grinsen...

„Hatte ich eh vor. Das letztens wäre auch nicht nötig gewesen.“

»...« Oh. Mal keine Antwort?

„Wo soll's denn hingehen?“, harkte ich schnell nach, denn diese Ruhe am anderen Ende passte mir gerade gar nicht.

»Sag ich dir dann. Um drei an der Ecke Third Street. Bring etwas Geld mit.« Als nächstes hörte ich nur noch das Freizeichen. Er hatte aufgelegt. Einfach so. Ungläubig starre ich mein Telefon an, als klebe dort eine besonders hässliche Spinne.

„Und was sagt er?“, riss mich C.G. aus meiner Verwirrung.

„Ich glaube, er ist sauer mit mir...“, gab ich ungläubig zu verstehen.

„Kann man es ihm verübeln? Du ignorierst ihn ja seit letztens. Was hat er denn gemacht, dass du so miesepetrig bist?“

„Er hat mich stehen lassen...“, sagte ich, sah C.G. an und sah seinen ungläubigen Blick.

„Und?“

„Das war kacke! Erst will er unbedingt was machen und drängt mich förmlich dazu. Wobei wir uns auch echt gut unterhalten haben, so von früher und so. Und dann lässt er mich stehen, weil er früh raus muss?“

„Ich find das jetzt nicht so schlimm. Immerhin machst du das auch ständig. Vor allem mit René. Er revangiert sich gerade nur“, gab C.G. schulterzuckend zu.

„Wann bitte habe ich ihn mal stehen gelassen?“

„Im Dinner, der Bar, der Disco, auf dem Campus... eigentlich immer, wenn wir ihm begegnet sind.“ So richtig glauben, wollte ich das nicht. Aber es stimmte. 'Ich' habe René zuerst stehen lassen und nun hat er selbiges mit mir gemacht. Und das bei einem Date. Er hatte mir alles mit einmal zurück gezahlt. Wenngleich er kurz schwach geworden war und mich geküsst hatte. Oder war das alles geplant gewesen?
 

Mit einer kurzen Notiz für meine Mitwohnenden – meine Schwester und meine Eltern – ging ich kurz vor drei Uhr los. Dabei war ich schon ziemlich spät dran. Ich wusste einfach nicht, was ich anziehen sollte. Für die Jacke, die ich favorisierte, war es wesentlich zu warm und doch brauchte ich etwas zum überziehen, falls wir doch länger draußen blieben. Ich wusste nun ja nicht, wo es hingehen sollte. Aber so oder so, blieb mir der Nach-Hause-Weg nicht erspart und für diesen brauchte ich für den Fall der Fälle eine Jacke. Das letzte Mal war es echt kalt gewesen. Wäre ich nicht gerannt, wäre mir der Weg zurück sicher ewig lang vorgekommen. Obwohl ich ja auch die U-Bahn hätte nehmen können.

Für heute jedenfalls hatte ich mir eine Jacke mitgenommen. Mein Portemonnaie war im meiner Hosentasche versteckt und drückte sich jetzt beim Laufen auf meinen Hintern. Ich sollte sie mal wieder entrümpeln... Die Jacke hab ich mir schnell um die Hüfte gebunden, war in meine Schuhe gestiegen und bin los gerannt. Als ich endlich an der vereinbarten Stelle eintraf, wartete René schon an die Häuserwand gelehnt und sah aus wie die Ruhe selbst. Noch konnte ich nicht erkennen, ob er mir noch immer böse war oder nicht. Schnaufend blieb ich vor ihm stehen und brauchte einen Moment um Luft zu holen.

„Tut mir.... echt Leid...“, japste ich. Man ich hatte echt Null Kondition.

„Warum nimmst du eigentlich nie die Bahn?“, wurde ich gefragt, wobei mir Renés Stimme etwas eigenartig vor kam. So angespannt, als stünde er vor einer urst wichtigen Prüfung.

„Weil ich sie nicht mag. Sie sind dreckig, stinken und wer weiß auf was für ein Gesocks man dort trifft. Außerdem ist in meiner Nähe keine Station. Da kann ich das Stück auch laufen“, antwortete ich und fühlte mich, als würde 'ich' geprüft werden.

„Dann verstehe ich nicht, wie du so außer Atem sein kannst?“

Das ernsthafte in seiner Stimme war noch nicht ganz verschwunden, aber er klang amüsierter. René stieß sich von der Wand ab und bog um die Ecke. Ich folgte, ohne weitere Fragen zu stellen. Jetzt, wo mir bewusst war, dass ich vielleicht ein weniger nettes Verhalten ihm gegenüber gehabt hatte, fühlte ich mich leicht gehemmt. So als wolle ich meine eigene Rolle beobachten und versuchen sie besser zu spielen. Eben so, dass René keinen berechtigten Grund mehr hatte, sauer auf mich zu sein.

„Wo geht’s denn hin?“

„Auf den Flohmarkt.“

„Und dafür schleifst du mich mit? Wegen einen Flohmarkt? Da bekommt man doch nur Plunder und Rumps. Alles was andere nicht mehr haben wollen“, protestierte ich. Eigentlich dachte ich, er käme mit einer ähnlich tollen Idee wie mit dem Kino. Vielleicht hatte ich das auch erwartet, immerhin... oh nein, warte. Dies hier war ja gar kein Date. 'Ein ganz normales Treffen' hatte er gesagt gehabt. Aus einem mir noch unerfindlichen Grund versetzte mir dieser Gedanken einen Stich in die Brust. Wieso war mir ein normales Treffen gerade nicht genug?

Der Flohmarkt war entgegen meiner Erwartungen doch ganz amüsant. Es war erstaunlich, was manche Leute sich für Müll kauften, oder wie wieder andere versuchten zu lachhaft billigen, manche auch zu überaus hurenden Summen ihre Waren zu verkaufen. Was genau wir suchten, konnte René mir auch nicht sagen. „Ich weiß es, wenn ich es sehe“, hatte er nur erwähnt. „Ich suche noch etwas für meine Wohnung.“ Ich konnte mir bei besten Willen nicht vorstellen wie jemand, dessen Wohnung das abgestimmteste Farbschema hatte, welches ich je gesehen habe, etwas gleichwertiges von diesem Müllmarkt hinzufügen wollte??? Vielleicht war das ja auch eines jener Mysterien, denen die Menschheit schon seit langem auf der Spur waren?
 

Wir verbrachten Sage und Schreibe dreieinhalb Stunden auf diesem dummen Markt! Mir taten die Füße weh, zumal die Auslagen sich nach einiger Zeit zu wiederholen schienen. Während ich erst leicht verzückt mit schlenderte, dann gelangweilter immer einen Schritt zurück blieb und René wie ein Entenküken überall hinterher lief, und dann offenkundig meine Langeweile nach außen trug, war René einfach nicht klein zu kriegen. Erst als er eine sonderbare Holzskulptur von irgendeiner indischen Göttin gefunden hatte, zusammen mit sonderbaren dünnen Holzstreben, von denen er meinte, dass wenn er sie in eine entsprechend große Vase stellte – wir fanden eine 'Vase' die etwa einen Meter zehn groß war und er kaufte sie natürlich – es eine gute Dekoration für seine Wohnstube ergeben müsste. Was war er? Der Deko-König? Zumal ich diese Statue ja eher beängstigend fand, als schön. In mein Wohnzimmer würde ich sie wohl nicht stellen. Es sei denn, ich möchte meine gesamten Gäste vergraulen.

„Das ist Kali. Die indische Göttin, die für Tod, Zerstörung aber auch Erneuerung steht. Sie ist eine sehr kriegerische Göttin, die es gern hat Dämon oder böse Wesen zu zerreißen und auf ihnen herumtrampelt, selbst wenn sie schon tot sind.“

Entsetzt sah ich René an. SOWAS stellt man sich doch nicht ins Wohnzimmer!

„Aber sie bringt auch Erneuerung und einen Neuanfang. Ihr Mann Shiva sorgte einst dafür, dass sie, als sie einen Schlag gegen hunderte von Dämonen gewonnen hatte und wie wild auf den Leichen tanzte, wieder runterkam. Er legte sich mit auf den Boden und erst als Kali auf ihrem Mann tanzte und seinen scheinbaren Leichnamen bemerkte, beruhigte sie sich. Aus Schreck und Scharm streckte sie dann ihre Zunge raus.“ René zeigte auf die Zunge in den grotesken Gesicht der Göttin. Als könnte man die übersehen. „Shiva habe ich schon als Holzskulptur. Jetzt hatte noch Kali gefehlt. Denn Shiva ohne Kali ist Shava. Das heißt leblos.“

Trotz des hässlichen Antlitzes der Holzskulptur, war ich ernsthaft von René beeindruckt. So viel Tiefgründigkeit hätte ich ihm gar nicht zugetraut.

„Ich bin fertig hier. Kommst du noch mit zu mir? Alles einrichten und tragen helfen?“ Ich grinste schief, was sollte ich auch anderes machen? Das war die Frage, auf die ich beim letzten Mal gewartet hatte. Abgesehen von meinem Arschlochverhalten und dass ich ein vielleicht kleines schlechtes Gewissen hatte, war es irritierend wie froh mich seine Frage machte.

„Wo du mich schon mal hierher geschleppt hast, bleibt mir ja keine andere Wahl oder?“

„Nein. Nicht wirklich.“

Damals auf dem Baum...

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Überall und Nirgends

»Wie sollte ich ihm das nur schonend beibringen?«
 

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlte ich mich seltsam. Zum einen fühlte ich mich so geborgen und behütet, weil René mich noch immer in seinen Armen hielt. Wenn auch nicht mehr ganz so fest, doch seine Nähe, sein Geruch und seine Wärme waren immer noch unverkennbar zu spüren und bescherten mir allein bei diesem Gedanken eine feine Gänsehaut. Zum anderen war da mein inneres Gefühl. Ein Gefühl, dass ich so noch nicht hatte fühlen dürfen. Es war als wäre ich nervös und schuldig zu gleich. Doch schlimmer als mein inneres Chaos waren die Schmerzen, die mir mein Hintern bereitete. Mit zusammen gebissenen Zähnen robbte ich mich aus Renés Armen und humpelte irgendwie ins Bad. So was war mir ja noch nie passiert. Wie sollte ich damit bitte umgehen? Oder gehen? Doch als wäre das nicht schlimm genug – ich bewegte mich als hätte ich einen Hexenschuß – war mein erster Gang nicht in die Dusche, sondern auf Klo. Ich fluchte innerlich so sehr und unterdrückte meine Schmerzen so gut es eben ging. Nur die paar Tränen ließ ich kullern. Ehrlich... nie habe ich noch mal etwas vergleichbares gefühlt. Heute, Jahre später war ich schlauer. Was ich damals nicht wusste, war, dass ich zwar eine Menge, mit etwas Übung, aushalten konnte, doch empfahl mir mein Hintern und mein Enddarm mich lieber gleich danach grob zu reinigen. Ich war zwar lustvoll, doch auf den Scheiß am nächsten morgen stand ich weniger.

Endlich vom Klo runter, stieg unbeholfen in die Dusche. Das warme Wasser tat so gut, wie einem Hungernden etwas zu Essen. Ich wusch mich von Kopf bis Fuß und mehr – zumindest ging ich davon aus, dass ich dies richtig tat – und ging im Geiste mal durch was mir eigentlich alles weh tat. Der Hintern – war klar. Mein Kreuz – wohl von der Stellung oder vom Akt allgemein. Meine Leisten – es wunderte mich, denn für gewöhnlich bekam ich nicht so schnell Kavaliersschmerzen. Jedenfalls nicht nach einer Nacht. Mit einer meiner frühen Exen war es mal so weit gekommen, dass mir die Leisten wehgetan haben und ihr alles andere. Das waren 'wilde Zeiten' gewesen. Aber hier? Vielleicht hatte René Recht und ich war, was das anging, wirklich noch nicht geübt genug. Dabei hatte ich mir nicht vorstellen können, dass Frauen und Männer ihren Beischlaf so viel anders vollzogen.

Als ich schließlich fertig mit Duschen war, wieder gut roch und mich körperlich schon wesentlich besser fühlte, stand ich dennoch vor einem Problem.
 

»Es gibt keine Möglichkeit, es ihm 'schonend' beizubringen.«
 

Zu meiner Überraschung schlief René noch immer. Ich hätte ihn nie für einen Langschläfer nach dem Sex oder sonst gehalten. Er war mir bisher immer wie ein Stehaufmännchen erschienen, dass wie ein Erdmännchen bei den ersten Sonnenstrahlen auf der Matte stand. Vielleicht trügte mich meine Erinnerung ja. Aber vielleicht lag es einfach daran, dass René auch älter geworden war und sich verändert hatte? Mit meinen schwachen Erinnerungen, erkannte ich nicht mehr viel von dem kleinen Jungen von damals. Auch als ich in der Wohnstube ein altes Foto von ihm fand, stellte ich nur fest, dass René sich wirklich sehr verändert hatte. Neben dem Kinderfoto von ihm, stand noch eines von René und seiner Familie da, sowie das Costplayfoto, welches auch Josi und ich besaßen, und noch eines, wo René in einer Meute von anderen Jugendlichen in seinem Alter war. Vielleicht seine High School Zeit? Ich besah mir nochmal das Familienfoto und fand die Ähnlichkeit, die ich in seinem Kinderfoto vermisst hatte. Er kam eindeutig nach seinem Vater. Das war mir so nie aufgefallen. Zudem erinnerte ich mich an solche Nebencharaktere noch ungenauer als an die wichtigen Personen von damals. Ich meinte mich zu erinnern, wie wir mal bei René zu hause gespielt hatten, doch an seine Eltern konnte ich mich beim besten Willen nicht erinnern. Ich seufzte. Auch wenn es gemein war, machte es die Entscheidung doch um einiges leichter. Hoffte ich zumindest. Doch etwas anderes... Nein, das würde nicht gehen.

Noch etwas tapsig, watschelte ich in die Küche und suchte mir etwas zum Frühstück. Ich fand Kornflakes und Milch. Eben ein echtes Studentenessen. Mit der befüllten Schüssel und einem Löffel setzte ich mich auf den Barhocker – was an sich schon eine echte Herausforderung darstellte – und aß mein Frühstück.

Vorhin, als ich nur mit einem Handtuch um meine Hüften aus dem Bad gekommen war, hatte ich mir all meine Sachen zusammen gesucht und sie ins Wohnzimmer verfrachtet. Ich musste mehrmals gehen und das Bücken und aufheben meiner Kleidung vom Boden war eine echte Tortour. Angezogen, meine Sachen gepackt, sodass ich nur noch in meine Schuhe schlüpfen musste, war ich bereit zum Gehen... Nach dem Gespräch verstand sich.

Es war gegen Zehn als René total zerknittert und verpennt in die Stube kam. Als er mich am Küchentresen stehen sah – ja, ich hatte es aufgegeben zu sitzen – breitete sich augenblicklich ein Strahlen auf seinem Gesicht auf, welches ich nur schmerzlich und matt erwiderte.

„Seit wann bist du schon wach?“, fragte er und kam auf mich zu, streckte die Arme aus und küsste mich kurz auf den Mund.

„Schon eine ganze Weile. Hast du gut geschlafen?“

„Ja, aber eigentlich sollte ich das dich fragen?“ Ich errötete und sah kurz weg.

„Ja. Ich hab deine Dusche benutzt. Das Fenster is' noch offen“, fiel es mir gerade ein. Ich schlucke schwer, doch René lächelte nur lieb.

„Ich hoffe wirklich, dir tut nicht all zu viel weh. Jareth ich... wegen heute Nacht.. Ich bin wirklich glü-“, meine Hand war so schnell und abrupt auf Renés Mund gelandet, dass er mich nur verwirrt ansah. Sicher, was sollte er sonst machen?

„Sag es nicht. Bitte. Sag es nicht. Du wirst es nicht mehr lange sein. Glaube mir.“ René sah mich verwirrt an und wollte meine Hand von seinem Mund nehmen, doch ich hielt sein Hand auf und schüttelte den Kopf. „Du wirst mich hassen und das ist auch richtig so. Ich habe... mit dir geschlafen, weil ich wissen wollte, was ich fühle und ich-“

„Aber das hast du doch gestern Abend schon gesagt!“ René hatte meine Hand weggerissen und fuhr mir forsch und verwirrt ins Wort.

„Ja. Ich weiß, aber...“, mitleidig sah ich ihn an. Das hier würde nicht schön werden. Dies hier...
 

»Die Hölle ist grausam, aber fair«
 

Wer auch immer sich solche Sprüche in diesen ach so tollen Marketing Büros im zig tausendsten Stock ausdachte, hatte ja keine Ahnung, dachte ich. Obwohl, vielleicht ja doch. Vielleicht war dieser eigentlich geniale Kopf genauso verkorkst wie ich und wollte es geheim und doch für alle sichtbar in die Welt hinaus schreien. Ich konnte mir vorstellen, dass im Fegefeuer der Hölle jeder nach seinen Sünden gleich bestraft werden würde und es keinen Unterschied zwischen Arm und Reich oder sonst was gäbe. Für die, die es traf, war es grausam, doch auf alle gesehen, wohl fair.

An was ich wieder dachte! Ich seufzte schwer und riss meinen Blick von dem hohen Finanzgebäude fort, um mich weiter auf den Heimweh zu machen. Menschen, dachte ich, sind wohl viel schlimmer als die Hölle. Mit Reue dachte ich an René, der mich mit großen, grauen Augen angesehen hatte und die Welt nicht mehr verstand. Ich wusste was ich ihm antat. Ich wusste genau, was das für ihn bedeutete. Er hatte mir sein Herz geöffnet und ich durfte hineinsehen. Doch ich nahm meinen Fuß und trat es nieder. Nicht etwa aus Gehässigkeit. Ich mag René wirklich gern. Aber Liebe?
 

„Das hast du doch gestern Abend schon gesagt!“

„Ja. Ich weiß, aber...“, ich atmete tief durch und festigte meinen Blick. Nichts. Nichts und niemand konnte mehr an mich heran. So fühlte ich mich, als ich mich gebrüstet hatte. „Ich habe auch gesagt, dass ich dir das damals sagen wollte. Damals auf dem Baum, wollte ich dir sagen, dass ich dich liebe. Aber heute. René, bitte, es sind Jahre vergangen. Ich weiß praktisch nichts mehr von meiner Vergangenheit und du hast allen Ernstes geglaubt, dass ich, nur weil du mich auf ein paar Dates einlädst, mich zappeln lässt und mir sagst, dass ich deine große Liebe bin, ich die selben Gefühle habe wie damals?“, ungläubig sah ich ihn an. Fast meinte ich zu hören wie Kali mich verfluchte. Wie sie mir am liebsten alle Glieder vom Leib gerissen hätte und auf meinem Leichnamen rumgerampelt wäre. Nur Shiva hielt sie auf.

„Dann gehst du jetzt wohl besser.“

Und ich bin gegangen.
 

Ich habe ihm weh getan. Schrecklich weh getan. Wie bei so unzähligen meiner Exfreundinnen vor ihm. Als ich mit meiner ersten Freundin zusammen war und wir es endlich getan hatten – ich war dreizehn, sie zwei Jahre älter – begann es schon und ich war es, der drei Wochen danach mit ihr Schluss gemacht hatte. Aber nur weil ein Mädel aus meiner Klasse mich angesprochen hatte, ob ich nicht mit ihr gehen wollte. Ich wollte und tat es. Damit hatte ich für mich entschieden, wie ich meine Beziehungen führen wollte. Es macht mir Spaß die Frauen zu verführen, sie zu reizen, ihre Körper zu erkunden und ihnen schöne Erinnerungen zu bescheren. Nun... zumindest für den Moment, denn das was mich an sie band, war reine Neugierde, wie es wohl mit IHR sein würde. Ich habe noch nie geliebt. Und an das Gefühl von damals konnte ich mich nicht erinnern. Vielleicht hatte ich wirklich Gefühle für René, doch ich weiß es nicht mehr. Zu dem fühlt man als Kind doch ganz anders. Als Kind war alles einfacher.

Als ich schließlich zu hause war, war ich richtig groggie. Mir tat ja immer noch mein Hintern weh von unserer Nacht. Das war so gesehen alles was mich noch an letzte Nacht erinnerte. Das und die vielen Knutschflecken, die er mir verpasst hatte. Verdammt, dass war mir gar nicht aufgefallen! Aber was brachte es mir jetzt noch? René war passé, die Schmerzen und Flecken würden mit der Zeit verschwinden und ich würde weiter machen wie bisher. Nur diesen Nachmittag nicht mehr. Josi stand gerade in der Küche als ich herein kam. Wie ein neugieriges Fangirly fragte sie mich aus und war ebenso brüskiert über das was ich ihr erzählte.

„WAS?! Jay warum!?“, schrie sie mich an.

„Weil ich ihn nicht liebe. Warum sollte ich auch. Ich bin nicht schwul.“

„Du hast ihn also nur ausgetestet und weggeschmissen, wie sonst auch? Wenn du das bei den Schicksen machst, die du immer anschleppst, habe ich damit kein Problem, aber warum René?!“

„Weil ich ihn nicht kenne, verdammt nochmal!“, ich schlug mit der Faust auf den Küchentisch, was Josi zwar kurz zusammen zucken ließ, aber dann nur umso lauter wettern ließ.

„Du bist das widerlichste, was mir je untergekommen ist! Und das als mein Bruder! Nur weil du dich nicht erinnerst? Nur weil du ihn nicht liebst!? Kannst du das mit Gewissheit sagen? Immerhin schläft nicht jeder Kerl nur aus 'Neugierde' mit'nem anderem Kerl!“

„Ja, kann ich“, meinte ich matt.

„Aber dein kleines Hochgefühl, dass du sonst hast, wenn du jemanden erfolgreich flach gelegt hast, bleibt wohl aus, hm?“ Es schien sie regelrecht zu freuen. Doch was sollte ich darauf schon sagen? Es stimmte ja.

„Diesmal wurde ja auch ich flach gelegt.“

„Ohho!!! Hört, hört!“

„Josi...“, sagte ich scharf, doch sie hörte nicht auf.

„Dann ist flach legen und flach gelegt werden also nicht das Gleiche? So, so? Aber leider kannst du dich nicht mal in die ganzen Weiber reinversetzen, bei denen du das immer getan hast. Die du verlassen hast, weil du nämlich nicht nur flach gelegt wurdest, sondern auch noch alles brav in den Sand getreten hast, was du hättest haben können. Ich hoffe, dir tut das richtig weh!“

Tat es.

„Tut es nicht. Und nun lass mich einfach in Ruhe.“

Es tat höllisch weh.

„Nur zu gerne! Ich ruf René an. Der braucht mich mehr als du.“

Ich wollte ihr erst hinterher schreien, doch ließ es. Für solcherlei Kinderkram hatte ich nun wirklich keine Kraft. Ich verzog mich auf mein Zimmer und ließ mich k.o. auf mein Bett fallen. Mir tat alles weh. Doch meine Schwester hatte Recht. Ich fühlte mich wirklich nicht so glänzend wie sonst. Es war ein Cocktail aus Bitterkeit und Reue und nur ein kleines bisschen Freude. Kein Hochgefühl wie sonst auch. Doch genau dieses bisschen Freude veranlasste mich, nun da ich Josi im Nebenzimmer telefonieren hörte, zu weinen. Ich vergrub mein Gesicht im Kopfkissen und weinte so bitterlich, dass ich mir das Schluchzen fast nicht verkneifen konnte.
 

»Ist das Herz einmal gebrochen, dann kann es alles andere auch überstehen. Vorausgesetzt: Es erholt sich.«
 

„Du musst dich nicht um mich kümmern.“

„Ich weiß. Aber ich kann ihm einfach nicht verzeihen.“

„Er ist dein Bruder.“

„Und du ein alter Freund.“ Ich nickte nur ab. Josi war wirklich zu lieb. Dennoch herrschte gerade eine unangenehme Stille zwischen uns. Wer fände es auch nicht sonderbar, wenn die Schwester deiner großen Liebe mit den Worten „Ich hasse meinen Bruder!“ vor deiner Tür stehen würde, kurz nachdem ich von Jareth den Laufpass bekommen hatte?

„Ich versteh ihn einfach nicht...“, fing sie leise an.

„Ich auch nicht“, stimmte ich ihr zu. „Ich kann zwar irgendwie nachvollziehen wieso er das alles gesagt hat. Ich mein... es stimmt ja irgendwo. Ich war wirklich naiv, zu glauben, ich könnte einfach so seine Erinnerungen zurück holen. Wir leben hier ja nicht in einem Märchen.“ Unmerklich sank ich noch tiefer in meine Couch. Josi saß fraulich ordentlich neben mir, die Beine geschlossen und die Hände auf dem Schoß, schuldig zusammen gefaltet. Wobei sie keine Schuld traf. Ich saß da wie jemand, der verlassen worden war. Die Beine so weit auseinander, dass die Hose schon im Schritt spannte und meine Hände müde auf meinen Oberschenkeln abgelegt und zu Fäusten geballt. Lieb legte sich eine von Josi's kleinen Händen auf meine rechte Faust. Beruhigend und mitfühlend. Es tat gut, riss aber auch auf, was ich so verkrampft verdrängen zu versuche.

„Hast du Lust ihn zu verprügeln? Ich leih ihn dir.“ Sie sagte es mit so einem ernsten Gesicht, dass mir gar nichts anderes übrig blieb, als zu lachen. Allein die Idee war absurd! Und doch hätte ich gerne zugeschlagen.

„Nein, dazu“, ich lachte noch aus, eh ich sie sanfter ansah, „dazu liebe ich ihn doch zu sehr.“

„So jemanden wie dich hat er gar nicht verdient!“ Ich lachte wieder. Es war schön, wenn sich jemand anderes für mich aufregte und das konnte Josi wirklich sehr gut.

Von diesem Tag an, stattete sie mir öfters einen Besuch ab. Wir redeten und sie brachte mich zum lachen. Das Thema Jareth schnitten wir selten und wenn dann nur kurz an. Wenn sie mal nicht da war, erwischte ich mich, wie ich oft und viel zu lange vor meinen beiden indischen Gottheiten stand. Kali und Shiva. »Und... ich soll dein Shiva sein?« Shiva ohne Kali ist Shava... »Wie schaffst du es eigentlich mich immer so zu verwirren?« Ich verwirre dich? Das hätte ich nicht gedacht. Aber es freute mich irgendwie, Darling. »Nenn mich nicht so, hab ich gesagt!« Und Jay war rot geworden. Er war so süß und unsere kleinen Geplänkel hatten mich richtig gefreut. Es war normal und schön und ich hatte mich ihm etwas näher gefühlt. Jetzt, wo der Alltag wieder da war, blieb mir nur mich daran zu erinnern. Ich konnte es nicht vergessen. Fast jeden Tag sah ich ihn in der Uni. Wir grüßen uns nicht, wir reden nicht miteinander und ich merke wie Jareth versucht mich auch nicht anzusehen. Zumindest wendet er sehr schnell den Blick ab, sollte es doch mal passieren. Der Knutschfleck an seinem Hals war bereits verblasst und alles anderen wahrscheinlich auch.

Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Nichts fühlen und sich nicht erinnern.

Jetzt reichts! Wer bin ich bitte, dass ich mich hier so hängen ließ?! Ich überstand schon ganz andere Dinge und aus dem kleinen Fetzen die Josi mal erwähnte, wusste ich, dass es Jay nicht besser ging. C.G. meinte letztens auch erst, dass er erstaunt war, sich aber auch etwas Sorgen machte. Seit der High School hätte der gute Jay wohl schon eine Menge Mädchenherzen gebrochen. Nie war er länger als 3 Monate mit einer zusammen und Trauerzeiten hatte er auch keine gehabt. Oder gebraucht. Warte... keine Trauerzeiten, er war nie verliebt, er hing seit jener Nacht durch und er machte mit mir Schluss, ehe es überhaupt angefangen hatte? Die Tage, an denen ich vor meinen Statuen gestanden habe und mir diese Sätze immer und immer wieder durch den Kopf gegangen waren und die Tatsache, dass ich unerwarteterweise nicht wie ein Häufchen elend in der Ecke lag, waren also ...

„Für mich klingt das eher danach, als sei Jareth noch nie verliebt gewesen, sondern habe sich nur von seinen Trieben treiben lassen“, erwiderte ich in Gedanken versunken.

„Stimmt. Er war in keines der Mädchen verliebt. Aber er hat Freunde immer ganz hoch gehalten. Darum verstehe ich auch nicht, warum ihr euch nicht mehr riechen könnt?“ C.G. sah verwirrt aus. Sicherlich wusste er von nichts. Na gut, dann würde ich bei ihm anfangen.

„Er hat es dir nicht erzählt oder? Die Flecke“, ich deutete bei mir am Hals an, wo ich Jay einige Knutschflecke verpasst hatte, „was hat er dir gesagt, von wem er die hat?“

„Die Knutscher? Na von einem One-Night-Stand. Und dass es so heftig war, dass ihm noch immer die Leisten weh täten.“ Die Leisten, so so.

„Hat er dir auch gesagt, mit wem?“

„Nach sowas frag ich schon lange nicht mehr. Obwohl... wenn ich mal Buch geführt hätte, wäre das sicherlich lustig auszuwerten...“, überlegte mein Cousin.

„Das würde mich auch mal interessieren. Aber C.G.“, er sah mich an und ich lächelte nur. „Ich habe mit Jay geschlafen.“ Die Bombe war deutlich zu sehen und der Einschlag, als C.G. es endlich verarbeitet hatte ebenso. Ich fand das amüsant und lächelte weiter.

„Was? Was? Nein! Ihr habt!“, C.G. wurde richtig weiß im Gesicht. Nur gut, dass wir schon auf dem Sofa saßen. „Heilige Scheiße... Dann war das da vor... alles und oh mein Gott!“ Fast schon resignierend vergrub er sein Gesicht in den Händen, als er sich nach vorne auf seine Oberschenkel mit den Ellenbogen abstützte. C.G. war schon immer ein schneller Denker gewesen, der auch abwegige Dinge zusammen zählen konnte, sofern ihn seine Ethik dabei nicht im Wege stand. Nach einer Weile des Stöhnens und Zusammenfassens lehnte er sich wieder zurück und sah mich an. „Das erklärt einiges.“

„Das dachte ich mir“, erwiderte ich und grinste.

Mögen die Spiele beginnen.

Der Uni-Karneval

Mein Plan benötigte einige Zeit bis zu seiner Vollendung, doch dann war er perfekt. Es war der perfekte Racheplan, der süßlich für mich enden würde. Für mein Opfer würde es sich eher anfühlen, als hätte man an ihm ein Exempel statuiert. Was mir in gewisser Weise nur Recht war. Ich war einfach nur gut drauf dieser Tage.

„Du bist die letzten Tage so gut drauf. Gibt's was zu feiern?“, fragte mich eine Mitstudentin.

„Nope“, grinste ich nur.

„Aber?“

„Die Sonne scheint.“

„Ahhhha~“ Susen sah skeptisch drein. Susanne, in Kurzform auch Susen oder Su, war eine mittlerweile gute Freundin geworden. Irgendwann im zweiten Semester hatten wir herausgefunden, dass wir fast alle Lesungen gemeinsam hatten. Sie war herzensgut und wirklich eifrig. So hatte ich bis vor einigen Monaten sehr viel Zeit mit ihr verbracht. Doch beide waren wir uns einig, einfach nur Freunde zu bleiben. Sie hatte ihr Augenmerk auf jemand anderes gerichtet und ich verlor mein Interesse nach kurzer Zeit ebenfalls an einen alten Bekannten. So wusste sie auch genau, dass 'Die Sonne scheint' oder andere auf das Wetter bezogenen Kommentare eine Ablenkung von dem waren, was ich eigentlich plante.

„Und wer ist es diesmal, René? Welche arme Sau muss diesmal dran glauben?“

„Weißt du vielleicht, wo Marry ist?“

„Nein, aber du siehst sie doch morgen. Oder du fragst eine...“, sie stockte und sah mich erschrocken an, „Nein, du willst Marry auf jemanden los lassen?“ Ich lächelte nur lieb. Marry war eine Koryphäe auf dem Gebiet der Menschenkennung. Ich hatte noch nie jemanden getroffen, der andere Menschen dermaßen gut lesen und einschätzen konnte. Sie konnte sogar sagen, was zwischen zwei Menschen passiert war oder noch passieren könnte.

„'Los lassen'... das klingt so barbarisch. Ich würde es eher 'eine Lektion erteilen' nennen.“

„Ich finde 'los lassen' trifft sehr gut auf dich als auch auf Marry zu. Ihr seid wie Bluthunde, die man auf die Menschheit losgelassen hat. Wenn ich dich daran erinnern darf, warst du es doch, der die Erstsemstler aufgehetzt hat, um den Dozenten den 'du' nicht leiden konntest, eine 'Lektion zu erteilen'.“

„Sie hatten es beide verdient“, bemerkte ich nur schulterzuckend.

„Bei manchen Dingen, René, bist du einfach nur grausam.“

„Danke schön“, sagte ich Freude strahlend.

„Das war kein Kompliment!“

Ob nun ein Kompliment oder nicht, sagt sie doch nur wie ich wirklich war. Ich war kein Frauenheld oder ein besonders matschiger Macho. Ich war jemand, der es genoss andere auszuspielen. Sie mit nur wenigen Worten in eine Richtung zu lenken, die sie selbst wohl nicht eingeschlagen hätten. Ich war jemand, der es genoss anderen dabei zu zu sehen, wie sie meine Pläne ausführten. Selbst rührte ich keinen Finger. Ich saß im Hintergrund und war der Puppenspieler. Ja, Puppenspieler traf es gut. Und ich konnte warten. Wenn ich einen Plan ausgeheckt hatte, konnte ich warten und ließ ihn reifen. Auch diesmal muss ich warten und die Dinge erst einmal geschehen lassen. Doch bevor ich mich zurück lehnte und die Show genoss, brauchte ich meine Königin. Bauern, Läufer und Springer hatte ich zur genüge. Auch einen König, den es zu Fall zu bringen galt.

Am nächsten Tag in der Vorlesung war es nun soweit. Ich machte der Königin meine Aufwartung.

„Morgen René.“

„Morgen. Du siehst müde aus.“

„Ja, bin ich auch. Ich hab bis halb zwei an meiner Hausarbeit gesessen und konnte dann trotzdem nicht schlafen.“ Müde strich sie sich durch die Haare. Sie brauchte nicht viel um ihre wuscheligen Locken im Zaun zu halten. Meist hatte sie nur einen Zopfgummi drinnen und ihren Pony mit goldenen Klemmen nach hinten gesteckt. Es war keine Frisur mit der man groß auf Männerfang ging, doch zum Studieren reichte es aus.

„Musst du die Hausarbeit denn schon abgeben?“

„Nein, aber ich arbeite lieber etwas vor. Unter Druck kommen mir nicht so die tollen Ideen. Außerdem konnte ich nicht schlafen, also habe ich mich sinnvoll beschäftigt.“ Ich lachte kurz und lehnte mich scheinbar entspannt zurück.

„Diese Einstellung bräuchte ich auch.“

„Die brauchst du nicht. Du bist so schon Feuer und Flamme. Worum geht’s diesmal? Wieder eine Verschwörung?“, fragte sie und stemmte ihren Ellenbogen auf den Tisch, stützte so ihren Kopf. Neugierig sah sie mich an. Es war schon lustig, wie sehr wir uns ähnelten und doch wieder nicht.

„Bin ich wieder so leicht zu lesen?“

„Immer. Manchmal frage ich mich, ob du dir nicht auch mal Mühe geben könntest, dich zu verstellen?“

„Bei dir wird das so oder so zwecklos sein. Außerdem bist wirklich nur du es, die mich so durchschaut. Bei den Personen, bei denen ich es mir wünschen würde, passiert nichts.“

„Hat halt nicht jeder so ein gutes Auge wie ich. Und um wen geht es genau?“

„Um einen alten Freund.“

„'Nur' einen alten Freund?“ Ich sah sie an und lächelte nur. Sie verstand mich schon. Sie konnte Blicke deuten, Mimik lesen und Gestiken übersetzen. Sie könnte jemanden ausfragen, ohne dass dieser antworten müsste und wüsste dennoch, worum es genau ging.

„Marry Victoria Alberts, würdest du mir die Ehre erweisen und meine Königin sein?“

Mein Plan war klar. Er basierte auf dem richtigen Timing und begann langsam ehe er sich steigerte. Nach dem Anpirschen, kam eine erste kurze Offensive, dann ein scheinbarer Rückzug nur um den Moment abzuwarten und erneut offensiv zuzuschlagen. Das Ziel, mein Opfer, sollte direkt getroffen werden. Dazu war es nötig dessen Verteidigung zu schwächen, um an den Kern, das Herz, zu gelangen. Und sobald alle Figuren den Weg bereitet und die Dame, meine Königin, den König schachmatt gesetzt hatte, kam das Finale. Denn danach... danach kam ich.
 

Marry war einzigartig. Das erste Mal als ich sie sah, saß sie ganz allein in der Mitte des Vorlesungssaals und um sie herum waren etliche Plätze frei. Eine Tatsache, die mich neugierig machte. Also setzte ich mich zu ihr und begann ein Gespräch. Doch sie wollte mir nie genaueres verraten. Die folgenden Wochen hatte ich damit verbracht mich um zu hören, ob jemand etwas mehr über diese Person wusste. Doch ich bekam immer nur Kommentare wie 'Bleib der bloß fern!' und 'Dieses Biest. Lass dich mit der nicht ein!'. Doch genau deswegen, hatte ich nicht locker gelassen und sie schlussendlich auf ein Eis eingeladen. Wir erzählten oberflächlich und beobachteten uns genau. Bis ich schließlich lachen musste, da wir genau dasselbe taten. Wir analysierten unseren Gegenüber. Während ich versucht hatte, mehr über sie zu erfahren, hatte sie das Spiel genossen und darauf gewartete, dass ich dahinter kommen würde. Marry faszinierte mich. Ich hatte bis zu jenen Tag noch niemanden getroffen, der Menschen so gut einschätzen, wenn nicht sogar lesen konnte! Als sie irgendwann mal meinte unser Professor, ein attraktiver Mann in den Mitvierzigern, aber noch von recht frischem Aussehen, würde der einen Studentin in der Ersten Reihe nachstellen, und nach nur zwei Wochen meinte, dass die beiden im Bett gewesen wären, war für mich die Lesung wie eine Live Soap. Marry berichtete mir von Dingen, kleinen Auffälligkeiten, die ich so nie beachtet hätte, und aus denen sie Sachen wie die Affinität des Mädchen zu älteren Männer, begründet durch einen Vaterkomplex oder der möglichen Fortpflanzungsabstinenz unseres Dozenten aufgrund einiger weniger Aussagen in der Lesung zur genetischen Vererbung schloss. Ich befragte später einige Leute, und auch die beiden betreffenden Personen, und konnte durch die Blume hinweg erfragen, was ich wissen wollte. Marry hatte Recht behalten. Wie sie das genau machte, blieb ihr Geheimnis, doch von dem Tag an, erhielt sie meine volle und uneingeschränkte Verehrung.

„Du willst also, dass ich intrigiere?“

„Ich hätte gerne, dass du seine Freundin bist. Mit ihm ausgehst und so, das ganze pi pa po.“

„Und ich soll mit ihm flirten und ihn verführen.“

„Jupp.“

„Und das stört dich nicht im Geringsten?“, fragte sie skeptisch nach.

„Nein. Wenn du ihn kennen lernst, wirst du auch verstehen warum. Denn aus jetziger Sicht ist er nicht die Person, die ich kenne.“ Marry schwieg einen Moment.

„Das kann ich wohl wirklich erst beurteilen, wenn ich ihn kennen gelernt habe. Aber du. Er ist dir nicht egal. Das sehe ich deutlich. Wie kannst du dann jemanden so verletzten wollen?“

„Tu ich das wirklich? Verletzte ich ihn... oder helfe ich ihm vielmehr?“

Marry war es nicht wirklich geheuer sich von mir so benutzen zu lassen, doch willigte sie ein. Ihr Schwachpunkt war eben ihre genaue Menschenkenntnis. Selbst wenn sie es nie zugeben würde, so fehlte es ihr an Willensstärke einer Versuchung zu widerstehen. Egal ob man sie benutzte oder nicht. Und das war mein Vorteil. Ich brauchte sie und hatte sie neugierig gemacht. Nun lag es an ihr, während ich zu sah. Etwas, dass sie nicht leiden konnte.

Ich wartete. Die Uni war langweilig und die Tage zogen sich wie zäher Kaugummi. Die eine Woche, die vergangen war, kam mir wie ein ganzer Monat vor. Aber noch hatte ich einfach nicht viel zu tun. Also tröstete ich mich damit, dass, wenn alles gut ginge, ich später wohl keine Zeit mehr haben würde, in der ich mich dermaßen langweilen müsste.

Ich behielt Recht. Am Montag bekam ich eine SMS von Marry.

»In was hast du mich hier reingezogen?!!!!« Ich lachte nur. Herzhaft und lange.

»High School Musical Lovestory?« schrieb ich zurück.

»Das machst du wieder gut! Morgen 19:00 Chinese«

»Zu Befehl, oh meine Königin«

Den Grund für meine Freude und Marry's Unmut war ein weiterer eher spontaner Schachzug meinerseits gewesen. Da ich mich am Wochenende in Grund und Boden gelangweilt hatte, fing ich irgendwann an mit meinem Cousin zu schreiben. Zu meinem Leidwesen war C.G. jobben, schrieb aber, dass wir uns Montag zum Mittag ins Diner an der Sister's Ave zurückziehen würden. Ich stimmte zu und ging am Montag kurz vor Zwölf zum Westtor des Campus', wo wir uns treffen wollten. C.G. war dort, ebenso Jareth und Marry.

„Hey, du bist schon da“, begrüßte mich mein Cousin.

„Klar, ich bin immer pünktlich. Aber mit solch einem Empfang hatte ich nicht gerechnet. Oh, hi Marry! Kommt ihr mit essen?“, fragte ich lässig, während ich in Marry's Gesicht ein angespanntes Erschrecken und einen Hauch von unterdrückter Panik und Wut sehen konnte. In Jay's Augen laß ich reines Entsetzten und eine schon geplante Flucht vorfand, eh er mich vehement ignorierte und mich nicht einmal mehr ansah. Ich gebe zu: Das tat weh.

„Nein, danke. Wir haben anderes vor“, kam es bissig und Jay sah C.G. mit einem Blick an, der ihn fragte, warum er ihn nicht gewarnt hatte oder was ihm einfiele 'den da' einfach einzuladen.

„Nur wir gehen“, bestätigte C.G. und verabschiedete sich von seinem Kumpel. Seufzend lehnte er sich gegen das Tor und sah mich eingehend an.

„Hast du das geplant gehabt?“

„Der Plan hat sich entwickelt, als ich hier angekommen war.“

„Ich hab mir nichts bei gedacht, dich hierher zu bestellen. Immerhin ist er in letzter Zeit wieder gut drauf. Wer ahnt da denn schon, dass er so aus der Haut fährt, nur weil du 'Hi' sagst?!“, sagte er schwer seufzend und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Ich dachte, es hätte sich gelegt. Egal, wollen wir?“ C.G. stieß sich von dem Tor ab und langsam gingen wir zum Diner.

„Was meinst du mit 'es hätte sich gelegt'?“

„Nachdem du mir ja alles so glorreich berichtet hast, dass du und Jay im Bett wart, ist es mir irgendwann beim Gespräch mit ihm raus gerutscht.“ Oh... „Erst hat er sich tierisch darüber aufgeregt, wie du so was ausplaudern kannst, dann hat er sich beruhigt und mich etwas ausgefragt. Wir haben uns sogar etwas über das Thema unterhalten. Später dann meinte er, dass es eh Geschichte sei. Er würde sich nicht in jemanden verlieben, den er eigentlich nicht kannte und nur der Erinnerungen wegen, die er eh nicht hatte, sowieso nicht. Außerdem sei er nicht schwul. Er steht auf Möbse und Muschis und wie du siehst... seine neue Freundin hat beides. Woher kennst du sie eigentlich?“ Das konnte ich irgendwie verstehen. Doch allein, dass Jay sich meinetwegen so sehr aufgeregt hatte, stimmte mich fröhlich. Auch, weil ich wusste, dass seine 'Freundin' in meinem Sinne handelte.

„Marry? Wir gehen beide in 'Menschliches Sozialverhalten seit 2000 Jahren'“, sagte ich beiläufig, als wäre das nichts Besonders.

„Ach so... Wie auch immer. Letzte Woche kam sie mit mal an und meinte sie müsse Jay was Wichtiges sagen.“

„Eine Liebeserklärung?“

„Scheint so. Denn sonst wären sie wohl nicht zusammen.“

„Seit wann das denn?“

„Seit dem Wochenende.“

„Dann kann ich sie in der Lesung jetzt damit aufziehen“, grinste ich breit.

„Untersteh es dir!“

„Warum?“, verwundert sah ich meinen Cousin an, der scheinbar selbst von sich überrascht war.

„Naja... Jay scheint wieder gut drauf zu sein. Für dich mag das vielleicht nichts bedeuten, aber du musst ja auch nicht seine ständige schlechte Laune ertragen...“

„Du Armer!“, tröstete ich ihn theatralisch. C.G. wusste nun zwar, dass wir miteinander geschlafen hatten und er wusste auch, dass Jay es war, der mir den Laufpass gegeben hatte und so fern ich das aus ihm herauskitzeln konnte, erklärte er sich das alles mit einer für ihn schlüssigen Aussage – wie gesagt, seine ethischen Ansichten ließen ihn manchmal das offensichtliche übersehen. Das Offensichtliche bei dieser Angelegenheit war, dass ich Jay liebte und ihn nicht einfach so davon kommen lassen würde. War also ich nicht der Ärmere von uns beiden?

„Aber weißt du was?“, fing C.G. an und schluckte noch schnell seinen Nugget runter. Wir saßen mittlerweile schon im Diner und vertilgten jeder Pommes, Nuggets und eine eisgekühlte Cola. „Ich wette mit dir, dass ich morgen oder die nächsten Tage noch was zu hören bekomme. Woher kennt er sie? Waren sie mal zusammen? Und was nicht noch alles...“ Ein interessanter Einwurf.

„Wie meinst du das genau?“
 

Ich hatte C.G. nicht mehr in Ruhe gelassen, bis er mir alles diesbezüglich gesagt hatte. Ich war neugierig und wie sich herausstellte, war diese Information für einen späteren Teil meines Plans nur von Vorteil. Dementsprechend amüsiert las ich auch die SMS von Marry, die mich erst am späten Abend erreichte.

Der Dienstag kam und es war herrliches spätsommerliches Wetter. Es war angenehm warm, eine sanfte Brise zog durch die Straßen, spielte mit Röcken und Haaren und ich hatte Hunger. Den Tisch hatte ich schon reserviert, so wartete ich vor dem Laden mit der zwei Meter großen Miniaturpagode mit den roten Dächern. Dieses Restaurant war wirklich schön und verströmte das, was ich unter einem angenehmen chinesischen Flair verstand. Ich wartete auch nicht lange, da Marry schon die Straße entlang kam. Sie hatte sich sichtlich aufgebretzelt, denn 'so' hatte ich sie noch nie rumlaufen sehen. Sie trug einen flatterhaften Rock, ein locker sitzendes Oberteil, das dennoch ihre Brüste betonte, Sandaletten mit hohen Absätzen, Schmuck und ihre Haare waren gestylt. Auch wenn es vielleicht nicht danach aussah, doch ich wusste, sie waren es.

„Wow, du siehst... hinreißend aus“, komplimentierte ich sie.

„Na dann, zerreiß dich gleich mal.“ Eisiger konnte die Antwort nicht ausfallen. Ich bat sie erstmal herein. Vielleicht war sie nur hungrig und Hunger macht bekanntlich ja böse.

Leider hatte sich das mit dem Böse sein auch nach dem Essen nicht erledigt.

„Ich hätte mich nie darauf einlassen sollen.“

„Warum?“

„Dein 'alter Freund'“, sie zeigte gereizt mit den Finger auf mich, „der hat eine Klatsche. Er ist... ohhh ich weiß gar, nicht wie ich ihn beschreiben soll! So ein einfältiges, dummes, engstirniges, kindliches, naives, dummes, unaufmerksames und idiotiebehaftetes Menschenkind ist mir noch nie untergekommen.“

„Du hast zwei Mal dumm gesagt.“

„Das reicht noch nicht mal!“

„Ich weiß“, grinste ich breit. „Und wie war es gestern noch?“ Wieder blitzten ihre Augen auf. Scheinbar hatte sie wirklich eine schwere Zeit gehabt.

„Du... was dachtest du dir dabei dort einfach aufzutauchen?“

„Das war Zufall...“

„Ich Zufalle dich auch gleich mal. Warum musstest du Jareth stecken, dass du mich kennst? Weißt du eigentlich, was danach noch los war? Erstmal hat er mir ein Ohr abgekaut, woher ich dich kenne und selbst als ich ihm erklärt hatte, dass es nur flüchtig aus dem Seminar war, gab er sich noch nicht zufrieden. Er tat zwar so, aber er hat gebroddelt. Und ich bin mir nicht mal sicher, ob es wegen mir war. Später dann, als wir bei ihm zuhause waren und ich ihn etwas verführen wollte, kam das Thema wieder auf. Er fragte mich allen Ernstes, ob ich mit dir geschlafen hätte. Tss, ist das zu glauben?“ Ich zuckte mit den Schultern und grinste immer noch.

„Nein, wirklich?“ Marry hörte meinen Spot sofort raus.

„Du wusstest es und hast ihn absichtlich auf die Palme gebracht. Warum?“

„Ich dachte, du kannst mich lesen wie ein offenes Buch? Warum glaubst, du mache ich das wohl?“, fragte ich, mich entspannt zurücklehnend und verschränkte meine Arme vor der Brust. Marry beobachtete mich wie schon lange nicht mehr. Meine Haltung, meine Mimik, meine Augen.

„Ich weiß, dass er dir viel bedeutet...“, setzte sie an, doch ich verzog keine Miene und wartete. Diesmal würde es nicht so leicht für sie werden.

„Jareth hat mir erzählt, dass ihr Kindheitsfreunde gewesen wart. Doch an Genaueres kann er sich nicht erinnern. Dann hättest du ihn hier wieder ausfindig gemacht und zusammen mit seiner Schwester und deinem Cousin, der, der gestern mit am Tor war, habt ihr versucht seine Erinnerungen wieder wach zu rufen. Doch das hat nicht geklappt. Ich vermute mal, dass er wirklich sehr stark gefallen sein muss, um solch eine Amnesie so lange behalten zu können. Oder aber er blockiert sich selbst, was ich mir auch sehr gut vorstellen kann. Immerhin schien er mich für einen Moment vergessen zu haben, als er über dich erzählte.“ Mein Lächeln verbreiterte sich um ein My, was Marry sofort wahrnahm. „Ihr habt... eine besondere Beziehung zueinander, richtig?“

„Kann man so sagen. Wir kennen uns schon lange.“

„Ja, seit der Kindheit. Aber mir schien, dass er an einen bestimmten Gedanken hing. Etwas, dass wichtig für euch beide war und etwas, dass noch nicht so weit zurück liegen kann. Dazu war er zu aufgewühlt“ Einer Professorin gleich stützte sie ihren Kopf auf der Hand ab. Sie war gut. Wirklich gut.
 

Einige Tage später saßen Marry und ich erneut an einem Tisch zusammen. Diesmal in unserem bevorzugten Eiscafé. Marry berichtete mir von den vergangenen Tagen, wie Jay sich benommen hatte und dass er sich eindeutig zurückzog.

„Wenn ich ein normales dummes Mädchen wäre, würde ich sagen: Ich versteh das nicht! Wie kann ein Kerl so etwas Heißes wie mich nicht vögeln wollen?“, fragte sie, theatralisch die Arme hebend und sah mich mit großen Augen an. „Da ich aber eine gute Analystin und angehende Psychologin bin, kann ich sagen, dass er sich abkapselt. Den Grund kenne ich noch nicht. Doch er ist eindeutig nicht auf eine Beziehung aus. Was für mich die Frage aufwirft, warum er meinem Werben nachgegeben hat?“

„Und was denkst du dir?“

„Ich glaube, er ist über seine Letzte noch nicht hinweg. Es ist schlicht, klassisch und offensichtlich. Bei Berührungen hadert er. Er öffnet sich nur so weit, dass ich ihn nicht sofort verlasse, als ob er ein Backup bräuchte. Und er gibt mir gerade genug an Zuneigung, dass es mir als Freundin ausreicht, mich aber nicht befriedigt.“

„Habt ihr miteinander geschlafen?“

„Nein, ich hab es ein paar mal versucht, aber so richtig Lust hatte ich nicht und er schien das zumindest gespürt zu haben. Kann es sein, dass sein einziges Talent darin besteht, rollige Weibchen ausfindig zu machen?“, fragte sie mit leicht fasziniertem Blick.

„Laut seiner Schwester kann das gut hinkommen. Er kam wohl manchmal jede Woche mit einer Anderen an. Und jede schien rollig zu sein.“ Wir schwiegen eine Weile und hingen unseren Gedanken nach. Ich zumindest versank in meinen und stellte mir Jay vor, wie er jede Woche ein anderen Mädchen mitbrachte. Er muss ja schon eine ziemlich hohe Zahl haben... Aber er hatte nur einen Mann. Mich. Ob ihn 'das' so aufwühlte?

„Du liebst ihn“ Erschrocken sah ich auf. Marry hatte die Gunst der Sekunden genutzt und mich beobachtet. „Jupp, du liebst ihn. Ich wollte es erst nicht in Erwägung ziehen. Außerdem ist deine Denkerfassade wirklich schwer zu knacken. Aber allein die Reaktion auf meine Aussage reicht aus, um meinen Gedanken zu bestätigen.“ Ich fasste mich wieder und lächelte sie kühn an. „Und deswegen machst du den ganzen Aufriss? Hat er dich betrogen oder will er nichts von einem Mann wissen?“ Fragen über Fragen. Ja, nun war ein neues Kapitel aufgeschlagen worden und sie hatte Fragen. Doch ich beantwortete keine von ihnen. Marry war schlau genug, um sie sich selbst zu beantworten. Außerdem wäre sie enttäuscht, wenn ich ihr einfach das Ergebnis verraten würde.

„Unabhängig davon. Was machst du als Nächstes?“

„Mit Jay? Ich dachte, ich versuche ihn ins Bett zu bekommen. Du meintest ja, ich dürfe“, sie dehnte ihre Worte und sah mich eingehend an. Prüfend, wie weit sie gehen konnte. Mein Mundwinkel zuckte vor Unmut, doch sonst beherrschte ich mich recht gut.

„Versuch es.“ 'Türlich macht es mir was aus! Aber ich wäre bereit, mir selbst diese Wunde zu verpassen. „Denk aber daran, dass du ihn vor dem Unikarneval wieder verlässt. Und sei so biestig wie du kannst.“

„Warum eigentlich da?“

„Du wirst bemerken warum.“
 

„Hi, Josi! Wie geht’s? Klingt super. Mir geht’s gut. Ja, erstaunlich aber wahr, mir geht es wirklich gut. Hm? Denkst du wirklich, ich trage dir nach, dass du in letzter Zeit keine Zeit für mich hattest? Sei bitte nicht albern. Nein, wie schon gesagt, es geht mir gut. Aber du hör mal. Für den Unikarneval, du hast sicher schon von gehört- Ja, genau der. Gut, dann hat er dir schon davon erzählt. Ich bräuchte noch eine Begleitung. Weißt du, wo Jareth ja nun seine Freundin hat, möchte ich nicht gern allein hingehen. Hahaha, nein du brauchst nicht meine Freundin spielen. Er würde das durchschauen. Doch das traue ich ihm schon zu. Würdest du trotzdem mitkommen? Oh, wirklich? Danke du bist super! Als was ich gehe?... hmm, das weiß ich noch nicht. Wir wär's mit: Ich bin der Imperator und du meine Hohekaiserin? Hahaha, ja, das wäre doch lustig. Klar, da lass ich dir freie Wahl. Ich komm dann am Freitag mal vorbei. Wie, Samstag? Kay, dann Samstag. Bis dann, bye!“

Zufrieden mit mir legte ich den Hörer auf die Gabel zurück. Bei einen meiner Flohmarktbummel hatte ich ein altes Telefon mit Wählscheibe und Telefongabel gefunden. Ich hatte mich sofort verliebt und es passt immer noch super in mein Wohnzimmer. Auch wenn ich gestehen muss, dass nachdem Jay hier war, alles etwas... leerer wirkt. Seufzend rieb ich mir dir Augen. Es war nicht mehr lange. Am Samstag würde wohl Phase drei meines Plans endlich eingeleitet werden. Die zweite Offensive. Mit Marry hatte ich mich angepirscht und Informationen eingeholt. Als ich spontan unsere kleine Zusammenkunft am Westtor sprengte, habe ich mich in Jays Gedanken eingraviert und ihm gezeigt, dass ich noch da war und lebte und es mir blendend ging. Das hatte ihn zumindest soweit aus seinem strickten Kurs geworfen mich zu ignorieren und zu leugnen, dass er trotz seiner Freundin – die er nur gewähren ließ, damit auch weiterhin sichtbar war, dass er hetero war und er sich dessen weiterhin selbst belügen konnte – mehr Gedanken an mich verschwendete, als daran sie flach zu legen. Und das bei Jareth, den Frauenverschlinger; da war ich schon stolz drauf. Nun lag es am kommenden Samstag. Jay strauchelte schon und ich hatte mich mit Marry verständigt, dass wir uns diesen Samstag alle bei ihm treffen werden. Ich, um Josi wegen der Kostüme zum Karneval Probe zu stehen, und sie, um Jay ins Bett zu bekommen. Ich hoffte inständig, dass ich ihn soweit verwirren würde, dass es dazu nicht kommen musste.
 

Der Samstag kam und ich war so aufgeregt wie damals als ich noch ein Kind war und mein Opa sich für uns Kinder als Weihnachtsmann verkleidet hatte. Wie wenig es früher gebraucht hatte, um uns fröhlich zu stimmen. Nun ja, heute, Jahre später, empfand ich eine ähnlich kribbelnde Aufregung, die mich voll und ganz erfasste. Den Tag über erledigte ich alles Mögliche. Ich räumte sogar meine Wohnung auf, dass mich meine Nachbarin frage, ob bei mir endlich der Frühjahrsputz angebrochen sei, und ob ich dann danach bei ihr weiter machen könnte? Es glich wirklich einem Frühjahrsputz, auch wenn es Mitte September war. Ich saugte, wischte, polierte die Möbel, säuberte mein Bad, brachte den Müll raus, wischte Staub und bezog sogar mein Bett neu, sodass ich zwei Maschinen Wäsche waschen konnte. Während diese trocknete, putzte ich noch meine Fenster und bestellte mir eine Pizza. Die Küche war gerade sauber und ich mochte mich nicht bewegen. Nach einem erholsamen Nickerchen, zog ich mich um und ging immer noch froh gelaunt los.

Bis zu Josis und Jays Haus waren es gerade mal 10 Minuten mit der Straßenbahn. Den restlichen Weg von der Station bis zur Haustür ließ ich mir etwas mehr Zeit, sodass ich genau Punkt drei klingelte. Ich wartete nur kurz. Dann schwang die Tür auf und Josi grinste mich freudestrahlend an.

„Ohhhhh, mein René!“, fiel sie mir um den Hals. „Schön, dass du da bist.“

„Ich freu mich auch dich zu sehen, Josi. Du siehst gut aus.“

„Hihi, danke schön. Komm mit rein und setz' dich. Ich deck nur noch den Tisch.“

„Brauchst du Hilfe?“

„Nein, lass gut sein. Du bist Gast. Wenn dann könnte mir mein nichtsnutziger Bruder ja helfen, doch der is' mit seiner Flamme noch auf seinem Zimmer und kommt sicher erst, wenn ich ihn rufe.“ Josi redete schnell, während sie voraus durch den Flur ging und nach rechts zur Küche abbog. Geradezu war die gerade Treppe mit ihren 13 Stufen, die in den Zweiten Stock führte. Links, etwas hinter der Küchentür, ging es ins Wohnzimmer und noch ein Stück weiter, hinter der Treppe erreichte man ein kleines Gästebad zur Linken und den Wirtschaftsraum zur Rechten. Ich blieb aber schon im Flur stehen. Kurz hinter der Tür und erinnerte ich mich an den Tag, als ich Jay nach Hause gebracht hatte. Er hatte keine so glorreiche Nacht hinter sich gehabt und Josi war stinksauer gewesen. Um sie zu beruhigen, schrieb ich ihr, dass Jay bei mir bleiben und ich ihn am nächsten Morgen heim bringen würde. Und als wir dann hier im Flur waren, da hat er sich angestellt. Es war ein heilloses Durcheinander gewesen. Josi hatte uns empfangen und ich genoss es, Jay mit den vorigen Abend aufzuziehen, an dem er mich das erste Mal aus freien Stücken geküsst hatte und ich ihn zu den Dates überreden konnte. Es hatte Spaß gemacht ihn so vorzuführen, seine Augen hatten geglänzt und seine Wangen waren rot geworden.

„René? Alles in Ordnung?“, Josi kam aus der Küche auf mich zu. Verwirrt sah ich sie an. „Du musst nicht im Flur stehen bleiben...“

„Oh... ich, ich habe mich nur an etwas von vor ein paar Wochen erinnert. Das ist alles“, verzeihend lächelte ich. Josi sah mich an, ließ dann die Schultern hängen und sah leicht betrübt drein.

„Meinst du etwa den Moment, als du Jay hier im Flur geküsst hast? Ich war damals mehr als überrascht gewesen. Für mich war er immer nur der Frauenschwarm und der Kuss war so das genaue Gegenteil.“

„Ich weiß. Dein Weltbild war sicherlich erschüttert, nicht wahr?“

„Ach, nicht wirklich“, rief sie schon fast fröhlich aus und ging, während sie weiter erzählte, in die Wohnstube. Ich zog mir schnell die Schuhe aus und hastete hinterher, damit ich nichts von dem, was sie mir sagte, verpasste. „Ich habe auch viel nachgedacht. Über dich und meinen Bruder. Über damals als wir Kinder waren und heute. Ich war selbst verwirrt, als Jay mir erzählt hatte, er würde mit dir nichts anfangen, 'nur' weil du'n Kerl bist. Den Tag hatten wir uns richtig gezofft und ich wusste nicht mal warum ich so sauer auf ihn war. Als ich dann später von dir aus nach Hause ging, fragte ich mich noch mal wieso. Er hatte immerhin solches Glück, dass du ihn erwählt hast. Und da wurde es mir dann klar.“ Josi hatte gesittet den Tisch gedeckt und ich hörte ihr nur aufmerksam zu. Ihre Seite bei der ganzen Geschichte hatte ich vollkommen außer Acht gelassen. C.G. hatte die Rolle des besten Freundes und das würde sich auch nicht ändern. Er war eine Konstanze und eigentlich dachte ich, dass es mit Josi genauso wäre. Sie war Jareths Schwester, ein Stützpfeiler, auf den ich mich stützen konnte. Doch ich schien mich hierbei grundlegend verrechnet zu haben.

Josi war mit eindecken fertig und sah mich nun an. Mit einem Blick, den man oft in Filmen sah, den man gut kannte, der einem, auch wenn man ihn noch nie gesehen hatte, sofort klar machte, was Sache war.

„Du hast es nie bemerkt“, sagte sie bitter.

„Josi...“

„Aber das ist ok. Mir ist es ja selbst erst vor ein paar Wochen klar geworden.“

„Josi...“

„Doch ich bin zufrieden mit dem, wie es ist.“ Sie schlug die Augen nieder und schien wirklich mit sich im Reinen zu sein. „Nun ja, nicht vollends. Eine Sache bleibt noch.“ ihre Augen blitzen schelmisch auf. Mein Herz hingegen stolperte. Mit so etwas hatte ich nicht gerechnet. War ich wirklich so fixiert gewesen, dass mir das nicht aufgefallen war? Scheinbar waren nicht nur Jay und C.G. schwer von Begriff.

„Josephine, es tut mir leid“, setzte ich an und ging ein paar Schritte auf sie zu, um sie in den Arm zu nehmen. „Aber ich danke dir“, flüsterte ich in ihr Ohr und setze einen kleinen Kuss darauf.

„Für dich immer.“

„Was is' denn hier los?“ Die Stimme kam so unvorbereitet und unerwartet, dass Josi mich augenblicklich von sich wegschob.

„Schön, dass du auch mal runter kommst! Wie du siehst, habe ich schon gedeckt, also danke für die Hilfe“, griff Josi ihren Bruder an. Wohl eher eine Art Verteidigung, um die peinliche Szene eben zu übertünchen. Mein Blick glitt von Josi, der noch eine feine Röte auf den Wangen hing und deren Augen leicht glänzten, zu Jay, der sich zusammenriss und, seiner Freundin wieder gewahr, auf den kleinen Streit um häusliche Pflichten einging. Es ging Josi nahe. Ich war doch ein Idiot. Und Jay? Er war aufgewühlt. Zu gerne hätte mich interessiert, was er nun dachte. Neugierig sah ich zu Marry, die beruhigend Jays Hand hielt und mir nur einen Blick mit hochgezogener Augenbraue schenkte. Sicher war sie auch gespannt, was das eben zu bedeuten hatte. Aber vielleicht behielt ich dieses Geheimnis auch für mich.

Nach dieser kleinen Bagatelle, fanden wir uns doch endlich am Tisch ein. Es gab Kaffee, Tee, Gebäck und Kuchen. Das Gespräch führten Josi und ich an. Wir redeten viel von früher und ab und an mischte Marry sich, als neugierige Freundin, vielleicht auch als neugierige Professorin, mit ein und fragte nach. Für kurz erinnerte mich dieses Gespräch an die kleine Barrunde vor Ewigkeiten, bei der wir auch viel über Jay geredet hatten und dieser, als es ihm zu viel wurde, einfach rausgegangen war. Ich war ihm gefolgt und fand ihn draußen neben der Treppe unter einer Laterne an die Wand gelehnt. Damals war er noch widerspenstiger.
 

Unser Kaffeeklatsch verlief gut. Aus meiner Sicht heraus gesehen. Nachdem wir alles – jeder hatte mit angefasst – in den Spüler gestellt hatten und die Mädchen sich gerade über Kostüme unterhielten, sah ich zu Jay, der unschlüssig in den Kühlschrank sah, als wenn es darin ein Geheimnis zu entdecken gäbe. Ich gesellte mich zu ihm und lehne mich an die Küchenzeile.

„Sie ist hübsch. Ich wusste nicht, dass du auf ältere stehst.“

„Hat sich so ergeben. Sie is' auch ganz nett.“ Seine Stimme war monoton und recht beherrscht. Ich lächelte nur, was ihn, als er kurz aufsah, nur noch verbissener dreingucken ließ.

„Sie ist aus deinem Seminar, richtig?“, fing Jay wieder an.

„Ja.“ Dass ich nicht mehr dazu sagte, wurmte ihn scheinbar noch mehr.

„Lief da mal was zwischen euch?“ Überrascht sah ich ihn an.

„Wie kommst du darauf?“

„Ach komm schon. So dumm bin ich nicht. Ihr kennt euch und kurz nachdem ich dich-“, er brach ab und knallte die Kühlschranktür zu, was nun auch die Mädchen auf unser Gespräch aufmerksam machte.

„Kurz nachdem was?“, fragte ich langsam und es wurde still im Raum. Je länger Jay schwieg, desto schwerer schien ihm die Antwort zu werden. Genüsslich sah ich zu, wie Jareth die Hitze und Peinlichkeit zu Kopfe stieg und seine Wangen erröten ließ.

„Du bist ein echtes Arschloch, René!“, brüllte Jay und verließ im strammen Gang die Küche, um die Treppe hoch zu poltern. Wir drei blieben stumm-staunend in der Küche stehen.

„Faszinierend und dumm zugleich“, meinte ich.

„Das ist einfach nur dumm und nicht faszinierend...“, fügte Josi an.

„Es gibt einfach zu wenige Worte, um diese grenzenlose Dummheit und Ignoranz zu beschreiben...“, fügte Marry fasziniert hinzu. Dann wurde es wieder still in der Küche und keiner rührte sich. Josi und ich sahen uns an, dann zu Marry, die uns wiederum ansah, eh sie bemerkte, dass sie als seine Freundin schon längst hinterher gemusst hätte.

„Ohh! Verzeiht, ich bin dann mal trösten“, meinte sie verlegen und schlich wesentlich leiser die Stufen hinauf. Wir hörten nur ein fernes Klopfen, eh die Tür wieder ins Schloss fiel.

„Ich wäre ihm auch nachgegangen, das weißt du, oder?“

„Ja, aber es ist ok. Vielleicht ist es noch zu früh dazu.“

„Sicherlich.“

„René, ich... das von vorhin... also... ich will nichts mehr von dir. Dass du es weißt. Ich will eigentlich nur noch, dass mein Bruder nicht so ein sturer Esel ist und endlich das macht, was er schon immer machen wollte.“

„Das ist kein Problem. Was meinst du damit genau?“ Etwas verwirrt sah ich sie an. Sie spielte nervös mit ihren Fingern und wirkte wieder wie 10 und nicht fast 21.

„Damals noch bevor Jay seinen Unfall hatte, gab es ein fürchterliches Gewitter. Vielleicht erinnerst du dich noch daran. Er und ich hatten uns in unsere kleine Bude verzogen, die wir alle zusammen ein paar Tage davor gebaut hatten. Mum und Dad erlaubten es, eben wegen dem Gewitter. Wir spielten mit Taschenlampen und naja... wir redeten über alles Mögliche und irgendwann sagte ich zu Jay, dass ich dich gern hab. Und was er davon halten würde, wenn ich dich mal zu einer Limonade einladen würde.“ Ich schmunzelte. Limonade war für uns Kinder im Sommer noch besser als Eis. Und für ein erstes Date im zarten Alter von 10 und 9 Jahren... warum nicht?

„Aber du hast es nie getan“, schlussfolgerte ich. Josi aber lächelte nur.

„Ja, ich konnte nicht mehr. Mein Bruder, gerade mal 8 Jahre alt, sah mich mit einer solchen resoluten Selbstsicherheit an, dass ich schon fast Angst bekam. 'Nein, das darfst du nicht!', rief er da, 'Wenn du ihn fragst, sagt er sicher sofort ja! Warte ab-'“

„Warte ab?“, fiel ich ihr ins Wort, aber sie grinste mich nur an.

„Ja, er sagte, ich solle doch abwarten, bis er dir gesagt hätte, dass er dich ganz doll lieb hat. Er hat so vehement darauf bestanden, dass ich eingewilligt habe. Mein kleiner Bruder, der nicht mal wusste, was richtiges verliebt sein war, der eigentlich noch viel zu jung dafür sein müsste, hielt mir jedes Für und Wider vor, das du dir vorstellen kannst. Er wusste, was es bedeutete, dass ihr beide Jungs wart und dass das nicht normal war. Normal war Mann und Frau, aber er hatte dich einfach lieber als alles andere auf der Welt und wollte es dir sagen und so versprach ich ihm mich zurückzuhalten. Ich versprach abzuwarten, bis er es dir gesagt hatte, und wenn er einen Korb bekäme, würde ich es dir sagen. Doch dann fiel er vom Baum und alles war anders. Er erinnerte sich nicht mehr und du!“ Josi liefen die Tränen und ich fühlte mich irgendwie schuldig. „Du hast dich damals schon entschieden gehabt. Ich hätte so oder so keine Chance gehabt. Doch Jay erinnerte sich nicht mehr. Ich drehte fast durch und hätte ihn am liebsten windelweich geprügelt, dass er dich nicht erkannte, nicht wusste was ich wusste, alles vergessen hatte. Und dann durftest du ihn nicht mehr besuchen. Ich war am Boden zerstört. Kurzzeitig dachte ich, ich sollte es dir einfach sagen. Dir sagen was er und ich fühlten, doch eh ich mich entschlossen hatte, warst du weggezogen. Und dann vergaß ich es mit der Zeit...“ Sie zog ein Taschentuch heraus und wischte sich die Tränen ab. „Es tut mir leid, René. Es tut mir wirklich leid.“

„Warum denn?“, fragte ich leise nach und strich ihr liebevoll über das Haar. „Du hast nur das getan, was du für richtig hieltest. Und wenn ich das richtig sehe, hast du, als ich wieder da war, dafür gesorgt, dass er und ich uns wieder näher kommen.“

„Ja. Ja, vielleicht eher unterbewusst, aber ich glaube, ihr passt einfach besser zusammen.“ Ich schenkte ihr ein Lächeln und küsste ihr die Stirn.

„Lass mich dir auch was verraten.“ Aufmerksam sah sie zu mir hoch. „Ich kenne Marry besser als nur flüchtig. Sie studiert Psychologie und ist eine echte Wucht. Daher bat ich sie mit Jareth zusammen zu kommen und etwas mit ihm zu spielen. Morgen, kurz vor dem Karneval soll sie ihn dann verlassen.“ Mit stummen Entsetzen blickte sie mich an. Ihr Mund ging lautlos auf und zu wie bei einem Fisch, eh sie schallend lachend sich am Waschbecken festhielt.

Später dann erzählte ich ihr, was ich geplant hatte und dass sie mir nun ja auch noch etwas helfen könnte. Freudig willigte sie ein, während sie mein Kostüm fertig steckte. Ich erzählte ihr auch von Marry und meinen Absichten, die nicht gerade nett Jay gegenüber waren. Vielleicht hatte sie mich deshalb so oft mit der Nadel gepickt...
 

»Ganz und gar man selbst zu sein, kann schon einigen Mut erfordern.« (Sophia Loren)
 

„Jareth? Was war denn das eben?“ Marry war mir nachgekommen. Doch das war nicht anders zu erwarten gewesen. Sie war immerhin meine Freundin und so gehörte es sich nun mal.

„Nichts. Es war nichts.“

„Dann ist aber jetzt noch was“, beharrte sie weiter und setzte sich neben mich auf's Bett.

„Nein. Es ist wirklich nichts.“ Ich lächelte ihr zu und tätschelte ihr Haar. Sie lächelte zurück und setzte sich elegant auf meinen Schoß. Verführerisch lächelte sie mich an, legte ihre Haare über eine Schulter und den Kopf etwas schief. Ihre Arme legten sich um meinen Hals und ihre Finger kraulten mich sanft im Nacken.

„Na dann. Können wir dann weiter machen, wo wir eben aufgehört haben?“ Ihr Blick war eindeutig und ich ließ mich küssen. Sie küsste gut. Sachte, gemächlich und ohne viel Speichel. Sie war keine dieser sabbernden Weiber, die sich nicht gedulden konnten und oben wie unten gleich feucht wurden. Als sie mich gefragt hatte, ob ich mit ihr gehen würde, war ich erst ziemlich perplex. Aber dann fragte ich mich, warum eigentlich nicht? Schließlich musste ich in mein normales Leben zurück finden. Dass dank René ja vollkommen auf dem Kopf stand. Zumindest für mich.

Marry drückte mich weiter auf das Bett. Ich legte mich hin und strich mit meinen Händen über ihre Oberschenkel. Ich wollte endlich wieder Sex haben. Ja wirklich! Doch auch dieses Mal ging es nicht. Je näher sie mir kam, desto klarer wurden die Bilder dieses einen Abends. Es war zum Haare raufen! Wieder, wie schon in den vergangenen Tagen, schob ich sie von mir.

„Tut mir leid. Ich kann gerade nicht.“

„Bist du wieder nicht in der Stimmung?“, fragte sie nach und küsste meinen Hals. Ich schloss die Augen und versuchte es zu genießen. Doch das was ich mir ersehnte, stellte sich nicht ein. Kein Herzrasen, kein kribbelndes Gefühl im Bauch oder sonst noch was. Ich seufzte und setzte mich auf. Warum verglich ich nur alles so sehr? Man konnte Frauen und Männer doch nicht miteinander vergleichen! Genauso wenig konnte ich Marry und... und René vergleichen. Ich erlaubte es mir, nur in meinen Gedanken diesen Namen zu nennen. Mehr wollte ich nicht von ihm wissen.

„Okay... weißt du was. Ich warte bis es dunkel ist und dann gehörst du mir“, flüsterte sie mir gegen die Lippen.

„Okay“, grinste ich.

Doch auch nach einigen Stunden, vor allem als ich wusste, René war nicht mehr im Haus, fand ich nicht zu meinem ursprünglichen Selbst zurück. Marry schien langsam angenervt zu sein. Das völlig zu Recht.

„Weißt du was. Ich glaube, ich sollte jetzt gehen.“

„Sehen wir uns morgen?“

„Ich denke doch.“ Sie küsste mich flüchtig auf die Wange und ging dann. Vom Fenster aus sah ich ihr nach. Doch eigentlich war es mir egal. Das eben hatte sich weniger gut angehört. Eigentlich hatte es mich an mich selbst erinnert. Ich sagte ähnliches, wenn ich eine Frau verließ. Es klang positiv, war aber keine direkte Antwort auf ihre Frage gewesen. Nun, entweder war sie wirklich sauer auf mich oder sie würde mit mir Schluss machen. Bei Frauen wusste man da nie so recht Bescheid.

Die Nacht schlief ich dafür kaum. Ich drehte mich dauernd von einer Seite auf die andere und fand doch nicht die erlösende Ruhe. Gegen 7 schlief ich endlich ein. Gegen 13 Uhr wachte ich auf und hatte 10 verpasste Anrufe von Marry. Dazu einige SMS's. Sie hörten sich erst gut an, doch je mehr ich las, desto böser klangen sie. Ich ließ mein Handy auf mein Bett fallen und nahm mir ein Bier, welches ich in meinem kleinem Zimmerkühlschrank bunkerte, und trank es aus. Bis zum Abend hatte ich gerade mal eine Schüssel Cornflakes und eine Banane gegessen. Dazu dann noch 4 Bier. Ich wollte noch die Fünfte anfangen, doch hob ich mir die noch auf. Da es mittlerweile schon spät geworden war und Josi, der ich den Tag über aus dem Weg gegangen war, schon mit René, der sie abgeholt hatte, los zur Uni gegangen war. Sie hatte sich als eine Art Nymphe verkleidet. Sehr elegant, sehr aufreizend. Zum Glück war René bei ihr. Dieser hatte sich in ein ähnliches Gewand gehüllt, eine Tunika, wenn ich mich recht entsinne. Er sah... gut aus. Aber davon mal ab, ich sah besser aus. Sofern ich das mit meinem verschleierten Blick noch sagen konnte. Ich ging als Cowboy. Nicht wirklich originell, aber zum aufreißen von heißen Mädchen immer gut im Rennen. Ich hatte sogar meinen Hut auf. Wo der dann im Laufe des Abends geblieben war, wusste ich später nicht mehr. Wie gesagt, ging ich schon gut angetrunken zum Karneval. Dort angekommen dauerte es nicht lange und Marry fand mich.

„Da bist du ja endlich! Kannst du denn nicht an dein Handy gehen?“, fauchte sie leise, eh sie mit der Hand vor ihrer Nase wedelte. Anscheinend hatte ich schon eine leichte Fahne. Hehe. Und mein Handy... ähm... das hatte ich nicht bei mir.

„Hast du schon vorgesoffen?“

„Und wenn es so wäre?“

„Weiß du, was ich nicht verstehe? Du hast eine echt heiße Braut als deine Freundin, aber du schläfst nicht mit ihr. Warum wohl?“

„Vielleicht is' sie weniger heiß, als sie denkt?“ Ich wusste, dass das die falsche Antwort war, doch ich konnte nicht anders. Eigentlich empfand ich nichts für Marry.

„Heißt das, dass du auf Sex mit mir verzichtest?“ Sie war mir näher gekommen und sah mir direkt in die Augen. Ihre Stimme überschlug sich etwas in meinen Ohren.

„Joar“, zuckte ich nur mit der Schulter.

„Dann gehst du also lieber den Schwanz von den Kumpel deiner Schwester lutschen?“

„Was- Was soll das heißen?“, fragte ich entrüstet und überrumpelt und fühlte mich nüchtern, auch wenn ich noch torkelte.

„Das heißt, Jareth, dass du im Schlaf redest und das ziemlich ausführlich. Was meinst, du wie dumm ich mich fühle, wegen einer Schwuchtel so sitzen gelassen zu werden!“, fauchte sie noch beherrscht, aber schrill. Viel Aufmerksamkeit von den Umstehenden bekamen wir nicht, aber es wäre mir in meiner schockartigen Geistesabwesenheit, nicht mal wirklich aufgefallen.

„Was... Aber... Das hab ich nich'!“, versuchte ich mich zu retten, doch fing mir damit nur eine saftige Ohrfeige ein.

„Wir sind fertig miteinander!“

Damit ging sie und ließ mich in den Massen vor den Zelt, in dem sich laute Technomusik ihren Weg nach draußen bahnte, einfach stehen. Für einige Momente war mein Hirn wie leergefegt. Erst als mich jemand angerempelt hatte, wurde ich wieder wach und torkelte leicht benommen vom Alkohol, leicht benommen von der Abfuhr in das Zelt und bestellte mir dort gleich eine Wodka-Cola. Mir war auch der Preis egal, denn nach zwei Gläsern, war mir alles egal. Ich hatte Mut gefasst, wie das mit Besoffenen nun mal war. Sprechen konnte ich zwar weniger gut, doch das war egal. Nun suchte ich in der Menge aus bunten Kostümen eine bräunliche Tunika. Ich ging etwas umher – torkelte wohl eher – eh ich etwas Braunes fand. Es war genau der selbe Farbton. Dachte ich zumindest. Ich riss den Typen rum und schlug ihn ohne abzuwarten ins Gesicht.

„Wat soll'n der Scheiß ei'n'lich?“ Der Typ, René, taumelte und beschwerte sich. Aber mir waren seine Worte sowas von egal. Ich stürzte mich auf ihn und rang mit ihm am Boden.

„Asslochhh! Du bist'n Arssssloch, du verdammder Bastard! Dengst wohl du gannst jed'n vögln den de willst?! Aba nich' mit miiir, kapisché?!!!“ Ich gebe zu, ich hatte ruhmreichere Tage gesehen. René keifte nur mit einer unnatürlich hohen Stimme zurück und doch wollte ich nicht von ihm lassen. Was fiel diesem Arsch auch ein mich so zu verwirren! Er hat das von langer Hand geplant. Seit wir uns bei der Disco getroffen hatten, in der ich Rio verkuppelt hatte. Er hat alles geplant, wollte mich nur verwirren und er ist verdammt noch mal erfolgreich damit gewesen!

Als ich gerade erneut zuschlagen wollte, fasste mich einen Hand von hinten am Kragen und ich versuchte mich blindlings loszureißen. Ich wehrte mich gegen die neue Kraft, die viel stärker war als ich und seltsamerweise 'auch' etwas Braunes trug. Das letzte was ich spürte, woran ich mich nun aber auch nicht mehr erinnern konnte, war ein schmerzhafter Schlag in meinen Magen. Ich erbrach mich etwas und die Leute huschten auseinander. Doch dann wurde alles irgendwie schwarz. Ich spürte zwar, dass ich getragen wurde, dass mein Kopf und meine Glieder dumm hin und her schaukelten, doch machen konnte ich nichts. Ich war k.o. – geistig, seelisch und körperlich. Dabei wäre alles so einfach gewesen. Hätte ich ihn nicht gehen lassen, wäre ich jetzt wohl glücklich. Ich hätte mich nur auf ihn einlassen müssen und alles wäre gut gewesen. Selbst diese kleine Erinnerung, deren Bedeutung mir endlich bewusst wurde, wäre nicht nur so ein zartes Pflänzchen geblieben. Es hätte neue gegeben und viel schönere. Wenn ich nur nicht so feige gewesen wäre! Ich merkte in meinem Dämmerzustand noch, wie ich weinte.
 

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, tat mir alles weh. Zu erst einmal mein Kopf. Ich hatte mich ja zu saufen müssen. Dann mein Kreuz und meine Hände, die, warum auch immer, rot angeschwollen waren. Hatte ich mich geprügelt? Aber wann und warum? Scheiße, ich hatte einen totalen Blackout. Das letzte woran ich mich erinnere war... Ich stand auf, hatte mein Handy betrachtet und die Nachrichten gelesen, dann ein Bier getrunken und war irgendwann als Cowboy zur Uni gegangen. Wovon ich aber nur noch die braune Hose mit den Franseln an der Seite und ein weißes Leinenhemd trug. Und danach? War ich denn dort angekommen? Ein einzelnes Bild von Marry schoss mir in den Kopf. Doch ich war dort gewesen und sie hatte Schluss gemacht... War das richtig so? Ja? Scheiß, verdammt, wie war das nochmal?!

Noch etwas blind auf den Augen sah ich mich um. Wo bin ich hier eigentlich, fragte ich mich. Dieser Raum war urst sauber und aufgeräumt. Die Vorhänge waren zugezogen und ich lag auf einem Bett. Die Bettwäsche war mir unbekannt, doch wenn es andere, braunere wäre, dann... Leise stand ich auf, unterdrückte ein Keuchen, da mir der Schädel gleich ein Loch in meine Schläfen bohrte. Ich kniff die Augen zusammen und ging zur Tür. Leise öffnete ich sie und spähte hinaus, doch es war niemand da. Ich ging in die Küche. Bisher war ich nur zweimal hier gewesen, dennoch war mir vieles so vertraut... Renés Wohnung. Sie war sauber. Noch sauberer als bei meinem ersten Besuch. Ob er wohl doch eine Freundin gefunden hatte? Aber was tat ich dann hier?!

„Wie ich sehe bist du wach, Darling.“ René erhob sich vom Sofa. Ich hatte ihn nicht bemerkt. Nun stand ich stocksteif im Türrahmen und konnte nicht mal zu ihm aufsehen.

„Was mache ich hier?“

„Willst du ein Aspirin? Du hast sicherlich Kopfschmerzen.“ Er klang lieb und gut gelaunt, wodurch ich mich noch schlechter fühlte. Ich nickte, doch hätte ich nicht mal das machen brauchen, da René mir schon ein Glas Wasser mit einer Brausetablette vor die Nase stellte.

„Danke. Was... mache ich hier?“, versuchte ich mich erneut.

„Warum fragst du das dauernd?“

„Weil ich mir nicht erklären kann, warum 'ich' noch 'hier' bin...“ Verdammt um altkluge Sprüche zu lassen, tat mein Kopf noch zu weh.

„Meinst du nicht eher, weil du einen Filmriss hast?“ Warum war der Arsch so gut gelaunt?! Könnte mir das mal wer verraten?

„Und woher weißt 'du' das?“

„Weil 'ich' derjenige war, der 'dich' hierher gebracht hat.“ Ach nee! „Betrunken.“ War klar. „Nach einer Schlägerei.“ Das war mir auch schon klar gewesen... irgendwie... „Und weil du es wolltest.“ Ich wollte gerade einen Schluck Wasser nehmen, da hielt ich inne und stellte das Glas sicherheitshalber wieder ab. Bitte was?! Nie und nimmer!

„Ganz sicher nicht.“

„Oh doch. Und da ich gnädig bin, erzähle ich dir, was du gestern verbockt hast.“ Ich schluckte. Dummerweise hatte ich aufgesehen und sah nun in sein schönes Grau. Ahh, nein, nicht schön, nicht schön! Trotzdem konnte ich nicht wegsehen und kam mir 'noch' dümmer vor, als René mir aus der Küche auch noch näher kam.

„Du kamst viel später als erwartet zum Karneval. Marry war schon richtig sauer auf dich und hat in einer glorreichen Szene mit dir Schluss gemacht.“ So glorreich war das nun auch wieder nicht, protestierte ich innerlich. „Nachdem sie dich stehen lassen hat, bist du ins Musikzelt gegangen und hast dich volllaufen lassen. Josi hatte schon ein ungutes Gefühl, also haben wir dich im Auge behalten. Warum auch immer bist du dann auf einen Typen in einem Little-John-Kostüm losgegangen und hast ihn vermöbelt.“ Shit. Und ich dachte es wäre René gewesen. Zwar erinnerte ich mich daran nicht mehr so gut, doch dessen war ich mir sicher. Ich wollte ihn verdreschen. Verdammt noch mal! Es hatte wirklich nichts geklappt an dem Tag!

„Deswegen musst du mich nicht gleich mit nach Hause nehmen...“, René hob mein Kinn an und sah mir direkt in die Augen. Warum war er mir so nahe?!

„Aber das wolltest du doch. Josi bat mich dazwischen zu gehen und als ich dich dann einigermaßen beruhigt hatte, wenn auch nicht gerade besonders zärtlich...“ Was sollte das denn jetzt heißen?! Mit leicht bösen Blick sah ich ihn an, doch er lächelte nur charmant. „Trug ich dich über meine Schulter geworfen nach hause. Erst wollte ich zu dir, doch dann hast du angefangen zu weinen und hast dich entschuldigt. Du hast meinen Namen gesagt.“ Nein, nein, nein, nicht näher, nicht näher! „Du sagtest irgendwas von wegen, es wäre einfacher, du bist ein Idiot und dass es damals nicht so gemeint gewesen war.“

„Ich hab alles so gemeint, wie ich es gesagt habe“, sagte ich und versuchte standhaft zu bleiben.

„Dann liebst du mich also nicht?“ Sanft strich seine Hand über meine Wange und sein Blick war so weich und doch irgendwo verletzlich... Ich schluckte nur schwer.

„Wi-i-i-ie kommst du darauf?“ Meine Stimme zitterte und ich drückte mich näher an den Rahmen der Tür und hielt mich an diesen krampfhaft fest, dass meine geschwollenen Hände mehr wehtaten als mein Kopf.

„Man sieht es dir einfach an“, säuselte René leise und kam meinen Lippen viel zu nahe. „Widersteh' mir, dann lass ich dich in Ruhe.“ Ein leichtes, dachte ich mir, doch war es auch so einfach durchzuführen? René drängte sich an mich. Oberkörper an Oberkörper umrahmte seine Hand mein Gesicht und ich spüre seine Lippen auf meinen. Sein Kuss war sanft und überzog meinen Rücken mit einer Gänsehaut. Ich musste ihm nur widerstehen. Der Teufel wusste, dass es mir unmöglich sein würde! Als sich seine Lippen bewegten, wurden meine Knie weicher und ich sackte ein Stück ab, doch noch hielt ich stand. René legte seinen Arm um mich und zog mich wieder zu sich hoch. Nun war ich ihm noch viel näher und konnte noch schlechter fliehen. Er küsste meine Lippen, knabberte an meiner Unterlippe und mir wurde das Herz schwer. Meine Hände legten sich auf seine Unterarme und strichen sanft darüber. Seine Haare kitzelten und eh ich es mich versah, erwiderte ich seinen Kuss. Es dauerte nicht lange bis Renés Zunge seinen Einlass forderte und ich ließ ihn gewähren. Es war dumm sich jetzt noch zu wehren. Was soll ich ihn nicht küssen? Ihn nicht begehren? Ich liebte ihn vielleicht nicht – etwas, dass ich mir noch geraume Zeit einredete – aber er war mir wichtiger als alles andere auf der Welt. Wie in dieser einen Erinnerung, als wir zusammen verstecken spielten.

C.G. suchte und fand als erstes Josi. René und ich hatten uns beide im selben Versteck versteckt. Die kleine Nische unter der Treppe mochte nicht jeder. Spinnen webten ihre Netze und manchmal schlich auch einen Ratte durch. Doch wir beide hatten genug Platz.

„Setz dich auf meinen Schoß, dann wird deine Hose nicht dreckig.“

„Aber dann wird deine Hose dreckig!“, flüsterten wir beide leise.

„Das ist schon ok. Komm her.“ Und ich setzte mich auf seinen Schoß.

„Duhu, René?“

„Ja, was?“

„Danke schön.“ Ich küsste meinen Kumpel die Wange und dieser lächelte.

„Du musst aber nicht rot werden.“

„'Schuldige...“

„Nein, nein, es ist süß.“ Lieb streichelte er meine Wange und ich lächelte. „Aber für ein richtiges Danke war das falsch.“ Schockiert sah ich ihn an. „Du musst das hier rauf machen“, sagte er und zeigte mit dem Zeigefinger auf seine Lippen. Ich zögerte, doch lehnte mich zu ihm vor.

„Danke“, wiederhole ich leise und verschenkte so meinen ersten Kuss an ihn.

Im Krankenhaus

Vor zehn Jahren
 

Ich wachte auf und starrte an eine weiße Decke. Das Zimmer war klein, sehr reinlich und viel zu hell. Wenngleich ich mich einen Moment wunderte, war mir schnell klar, dass ich mich in einem Krankenhauszimmer befinden musste. Dieses sterile Aussehen und dieser unverkennbare Geruch, der einem in der Nase stach. Das Bettzeug war weiß und streif, hielt mich aber warm. Mühsam setzte ich mich auf und fragte mich wie ich hierhergekommen war. Eben war ich doch noch … eben … wo war ich gerade noch mal?

Für Sekunden rührte ich mich nicht und versuchte einzig herauszufinden, was ich eben noch gemacht hatte! Panik machte sich in mir breit, als ich absolut nichts fand. Mein Hirn war leer. Meine Erinnerungen … ich fand keine!

Die weißen Gardinen bewegten sich und ich sah auf. Das Geräusch des Windes machte mich neugierig und das offene Fenster hatte ich bis eben noch nicht bemerkt. Ich sah hinaus und starrte eine Weile auf den grünen Rasen, die Bank und die kleine Baumreihe dahinter. Die Sonne schien. Es war ein herrlicher, warmer Tag und der Wind strich belustigt durch die Äste. Ich starrte weiter vor mich hin und spürte eine Unruhe aufkommen. Das war nicht richtig. Ich sollte nicht hier sein. Ich sollte irgendwo anders sein. Auf einem Baum oder in einem Park? Grün… ich war umgeben vom frischen Grün und vor mir befand sich ein grauer Schatten. Nein, kein Schatten, etwas Wertvolleres. Dieses Grau war wie zwei wertvolle Edelsteine, die ich besitzen wollte. Grau … was war nur so grau gewesen? Die Wolken, der Himmel?

Ich atmete schneller und bemerkte nicht wie mein Puls zu rasen oder wie die Geräte, an welche ich angeschlossen war, zu piepen begannen. Ich griff mir an den Kopf und ignorierte den Kopfschmerz. Dieses Grau, da war es doch! Ich sah es fast, was… wer?!

„Doktor! Er ist aufgewacht!“, rief eine frauliche Stimme hinaus in den Flur.

„Bleib ruhig. Junge, beruhige dich. Hier, sie mich an“, forderte eine andere, sehr ruhige Stimme. Hände griffen nach meinen und ich wurde gezwungen aufzusehen. Vor mir war das Gesicht einer jungen Krankenschwester. Ihr Blick ruhig und ihre Augen ein kleines Mosaik aus Grün, Braun und Grau. Nein, fiel es mir ein. Das waren sie nicht. Diese Augen wollte ich nicht sehen!

Meine gerade mühsam erkämpften Gedanken flohen vor mir. Sie rutschten mir durch die Finger wie Wasser durch ein Sieb.

Als der Doktor mich untersuchte, herrschte wieder gähnende Leere in meinem Kopf. Das drängende Gefühl wich einer Taubheit, die von den fehlenden Erinnerungen genährt wurde.
 

Später am Tag kamen noch mehr Leute in mein Zimmer. Zwei Erwachsene und drei Kinder. Zwei Jungen und ein Mädchen. Das Mädchen lief auf mich zu und fiel mir um den Hals. Sie weinte und auch die beiden Jungs sahen mich mitleidig an. Der Größere von beiden trat schließlich näher heran und griff sehr zaghaft nach meiner Hand.

„Jay, wie geht es dir?“ Die Stimme des Jungen war rau, seine Augenränder gerötet.

„Egal! Ich bin so froh, dass er wieder wach ist“, jammerte das Mädchen an meinem Hals.

Ich betrachtete jeden genau. Der Doc meinte vorhin, meine Familie würde vorbeikommen. Das waren also Menschen, die mir nahe waren? Wirklich?

„Ich fühle mich ganz gut“, sagte ich. Das schien die Kinder zu freuen. Das Mädchen ließ mich los und lächelte mich mit laufender Rotznase an.

„Ein Glück!“, sagte sie erleichtert.

Der große Junge nickte und lächelte. Er schien auch erleichtert und zugebenen, dieser Anblick hatte etwas. Ich fühlte mich beinahe erleichtert, dass er sich freute? Das machte keinen Sinn.

Während die Kinder auf mich zugelaufen gekommen waren, hatte der Doc die beiden Erwachsenen zu sich hinaus gewunken. Nun traten alle drei Erwachsenen an mein Bett. Jeder hatte eine ernste Miene aufgesetzt, doch versuchte die Frau zumindest zu lächeln. Ich besah mir die beiden neuen Fremden. Den Doktor kannte ich ja schon.

„Und wer seid ihr alle?“

Schweigen breitete sich aus.

„Wie ich Ihnen bereits draußen erklärt habe, leidet ihr Sohn an Gedächtnisverlust. Es ist nichts Schlimmes. Die Erinnerungen sollten in den nächsten Tagen zurückkehren. Die Untersuchungen haben keine weiteren Schädigungen gezeigt. Wir würden ihn nur wegen der Rippenbrüche noch etwas hierbehalten. In spätestens vier Tagen kann er mit ihnen nach Hause. Er muss sich dann trotzdem weitere vier Wochen schonen.“

Die Frau setzte sich zu mir auf das Bett. Das war meine Mutter? „Jareth, wie geht es dir, mein Schatz? Ich kann mir vorstellen, dass du viele Fragen hast, aber bitte gehe alles langsam an.“

Ich neigte nur fragend den Kopf. Langsam angehen? Weil der Doc gesagt hat, meine Erinnerungen würde nicht lange wegbleiben? Wenn dem so war, warum fühlte ich mich dann gerade so unwohl? Wie lange war, nicht lange? Mein Kopf war so leer wie ein weißes Blatt Papier. Konnten meine gesamten Erinnerungen wirklich in nur wenigen Tagen zurückkehren? Allesamt? Aber … warum war ich dann so nervös? Als müsste ich mich jetzt an etwas erinnern. Etwas so Wichtiges, dass die Unruhe in meinem Magen mir Übelkeit bereitete.

Da diese Frau, äh, meine Mutter sich bereits Sorgen machte, wollte ich sie nicht beunruhigen. Ich sah auf meine Finger, dann zum Fenster. „Mhm, ok.“

Als ich wieder zu ihr sah, lächelte sie und umarmte mich vorsichtig. „Mama und Papa gehen mit dem Arzt nochmal nach draußen. Wenn du etwas brauchst, ruf uns.“

„Ahhh Mama! Wir sind doch hier und können Jay alles bringen“, fiel das Mädchen ihr ins Wort. Dann war sie meine Schwester?

„Du hast Recht“, sagte meine Mutter bestätigend und folgte meinem Vater und dem Arzt hinaus.

Das Mädchen war Josi, meine Schwester und sie redete ununterbrochen. Sie dachte wohl, je mehr sie redete, desto schneller würde ich mich erinnern. Innerhalb von einer Stunde hatte ich mein gesamtes Leben gehört und die scheinbar wichtigsten Geschichten zu uns vier Kindern.

Der größere Junge von beiden war René. Er war etwa so alt wie Josi. Der Jünger war C.G. mein bester Freund. René und C.G. waren Cousins.

„Und? Erinnerst du dich?!“, fragte Josi nach jeder Geschichte. Ich lächelte nur schmal und schüttelte den Kopf.

„Tut mir leid. Aber mir tut von alldem nur der Kopf weh.“

„Vielleicht sollten wir es für heute gut sein lassen“, schlug C.G. vor.

„Josi, hetz ihn nicht. Er ist heute erst aufgewacht. Sicherlich wird er sich bald erinnern“, gab René motiviert von sich. Verwirrt musterte ich ihn. Er klang aufmunternd, aber seine Augen wirkten verloren und die Ränder waren immer noch rot, so als wollte er weinen oder … hätte geweint.

„Naaa gut. Dann gehen wir für heute“, lenkte Josi ein und ich war dankbar bald meine Ruhe haben zu können. C.G. und René gingen voraus, ich winkte hinterher. Josi sprang von meinem Bett, wo sie die gesamte Zeit über gesessen hatte. Nach zwei Schritten hielt sie inne und drehte sich nochmal zu mir um. „Jay… Ich …“, sie sah unschlüssig nach unten, als suchte sie ihren Mut. „Bitte erinnere dich schnell, ja? Ich warte nicht ewig und … er sicher auch nicht.“

Verwirrt sah ich ihr hinterher.

Scheinbar gab es wirklich etwas, woran ich mich unbedingt erinnern musste. Vielleicht könnte mir Josi sogar sagen was dieses Etwas war? Jedoch hatte ich diesen Abend keine Möglichkeit nachzufragen. Mein Besuch war fort und ich schlief kurz nach meinem Abendbrot ein. Mein Kopf schmerzte und im Traum wirbelten alle möglichen Bilder wild durcheinander.
 

Der nächste Tag begann entspannt. Der Vormittag war ruhig. Neben ein paar wenigen Kontrollvisiten und weiteren Fragen zu meiner Erinnerungsfähigkeit langweilte ich mich beinahe zu Tode. Langeweile war so dermaßen langweilig. Unerwarteterweise war es diese Langeweile, die mir Half mich zu erinnern. Es lässt sich schlecht beschreiben. Ich ging durch die Flure, sah den Schwestern zu, war am Kiosk und der Cafeteria, danach draußen und drehte eine Runde in der Sonne. Manchmal war es nur ein Wort, dass ich aufschnappte und mir viel etwas Vergessenes ein. Mal war es der Wind, der eine Frisbischeibe zu weit trug. Dann war es das Geräusch des knirschenden Sandes unter meinen Schuhen. Mit jedem solcher kleinen Trigger fühlte ich etwas zurückkehren. Ich fühlte mich voller. Wie wieder hergestellt. Ich dachte an die Videospiele, welche C.G., René und ich so oft gespielt hatten, wie eifrig wie Potions gesammelt haben, um uns heilen zu können. Ha! Wieder etwas, dass mir eingefallen war.

Ich war schon stolz auf mich. Zwar war noch lange nicht alles zurück, aber vieles. Ob ich die anderen damit überraschen könnte? Verschmitzt schmunzelte ich und wollte es darauf ankommen lassen.

Schatten und Rauschen holte mich aus meinen Gedanken und ich sah auf. Neben mir stand ein großer Lindenbaum. Das Rauschen der Blätter war schön und bekannt. Es beruhigte mich. Das raue Holz des Stammes fühlte ich praktisch unter meinen Fingern. War ich mal geklettert? Ich sah hinauf in das Geäst und spürte ein Ziehen in der Brust. Unangenehm. Was sollte das jetzt?
 

Mein dritter wacher Tag im Krankenhaus begann mit einer Reihe an Visiten, Kontrollen, Befragungen und Gestarre von angehenden Ärzten und Ärztinnen. Es war ungemein Unangenehm, aber was konnte ich in dieser Situation schon groß dran ändern? Zum Mittagessen war der Spuck vorbei und ein paar Stunden später bekam ich erneut Besuch. Josi, C.G., René und meine Oma betraten das Zimmer. Obwohl es bei Josi mehr den Anschein hatte, als würde sie mit der Tür hereinpurzeln wollen.

„Jay, Jay, Jay!!!! Wie geht es dir heute?!“, rief sie und warf sich auf mein Bett. Zum Glück saß ich an mein Kopfende gelehnt, sonst wäre sie volle Kanne auf mir gelandet. Wenngleich es mir deutlich besser ging, spürte ich meine Rippen immer noch und wollte sicher nicht, dass mich jemand ansprang. Ihr so strahlendes Gesicht zu sehen, freute mich total. Also grinste ich zurück.

„Gut, danke der Nachfrage.“

„Scheint so, als hätte der Doktor nicht übertrieben als er uns sagte, dass du gute Fortschritte machst“, bemerkte meine Oma, während die Kinder ein überraschtes Gesicht zogen, als hätte ich verkündet, ich wollte Präsident werden.

„Ja. Sie haben mich heute Morgen von vorne bis hinten untersucht und körperlich scheint es mir gut zu gehen. Bis auf die Rippen. Es fehlt wohl noch irgendwas aus dem Labor oder so, meinte der Doc.“

„Heißt das, dass du bald mit nach Hause kannst?“, fragte C.G.

Meine Oma und ich nickten synchron. Wieder jubelte Josi. Diesmal lauter als zuvor. Ihre Freude steckte wirklich an. Dann machte sie Platz und alle Kinder zogen ihre Schuhe aus, nur um sich auf meinem Bett zu versammeln. Josi rechts, C.G. links und René mir gegenüber. Obwohl wir über alles Mögliche redeten und ich mir die neusten Geschichten von zu Hause und aus der Schule anhörte, wanderte mein Blick immer wieder zu René. Unbewusst lunschte ich zu seinen grauen Augen, nahm sein Lächeln wahr oder wie er mit C.G. über einen Klassenkameraden herzog. Ich war so fasziniert, dass ich nicht bemerkte, wie ich doof grinsend zuhörte. Oder dass nicht nur Josi mich beobachtete.

Nach gut einer Stunde teilte sich unsere kleine Gruppe. C.G. und Josi begleiteten Oma in die Kantine, um ein paar Leckereien für uns zu holen. René blieb derweil einfach sitzen. Direkt vor mir. Als die Tür hinter den anderen zugemacht worden war, kehrte eine Stille ein, die irgendwie unangenehm war. Ich wusste nicht recht was ich sagen sollte, aber dass es etwas gab, was ich sagen musste. Zumindest laut Josi war ich jemanden noch eine Antwort schuldig und ich hatte das untrügliche Gefühl, dass es sich dabei um René handelte. Leider wusste ich immer noch nicht genau, was.

René schien es ähnlich zu gehen. Er biss ungeschickt auf seiner Unterlippe herum und seine Hände verkrampften sich im Bettlaken. Dieser Anblick rief Schuldgefühle in mir hoch. Da ich aber immer noch nicht wusste weswegen, übernahmen Frust und Genervtheit schnell die Führung.

„Ich weiß, wir dürfen dich zu nichts drängen“, begann René zögerlich, „aber du erinnerst dich nicht zufällig an den Unfall?“

Ich sah ihn prüfend an und schüttelte meinen Kopf. Wenn ich mich an den Unfall versuchte zu erinnern, sah ich nur etwas Buntes vor mir, ehe alle Farbe verschwammen und schwarz wurden.

„Auch nicht daran, wie wir auf dem Baum gesessen haben?“ Ich neigte meinen Kopf, musste aber trotzdem verneinen. Indes fühlte ich mich bestätigt, dass ich wirklich gern zu klettern schien UND dass ich René eine Antwort schuldete.

René seufzte schwer. „Das du runtergefallen bist tut mir leid. Ich hätte dich auffangen müssen oder festhalten. Es war meine Schuld.“

„Warum war der Unfall deine Schuld?“, fragte ich verwirrt nach.

„Na weil … du bist doch zu mir gekommen und wolltest nur meine Frage beantworten. Hätte ich nicht gefragt, hättest du dich nicht bewegt und wärst sicher nicht runtergefallen.“ Die Schuld stand René deutlich ins Gesicht geschrieben. Verwirrt neigte ich meinen Kopf auf die andere Seite.

„Warum hast du Schuld, wenn ich falle?“

René sah verständnislos auf.

„Ich meine. Selbst wenn ich mich nur bewegt habe, um dir zu antworten oder warum auch immer, kannst du doch nichts dafür, dass ich nicht hingucke, wo ich meine Hände aufsetze. Ich finde, dass du so überhaupt keine Schuld an all dem hast.“

Für einen Moment blieb René stumm. Er blinzelte nur und ich sah wie sich seine Augen röteten. Dennoch unterdrückte er, was auch immer an Gefühlen in ihm hochkommen wollten.

„Jay, ich … ich habe dich fallen gesehen und dann wie du unten gelegen hast. Ich war so geschockt, dass ich viel zu langsam runter geklettert bin. Du hast dich nicht bewegt und als ich dich nur ein bisschen bewegt habe … Die Rinde war ganz rot…“ Ich schluckte, sagte aber nichts. Ich wäre genauso geschockt, hätte ich sowas gesehen.

Da ich nichts sagte, aber René weiter beobachtete, holte er tief Luft und erzählte weiter: „Ich rief nach deinen Eltern. Ich schrie sogar noch als sie da waren, ich … wusste nicht was ich tun oder sagen sollte. Dein Vater rief den Krankenwagen und deine Mutter strich über deinen Arm. Ich wollte dich aufsetzen, aber sie sagte nur, dass wir dich lieber nicht bewegen sollten.“ René sagte es nicht, aber so verwässert wie seine Augen mittlerweile waren, war ich mir sicher, dass er an diesem Punkt der Geschichte geweint haben musste. Der Gedanke daran, dass jemand der nichts für meinen Sturz konnte, trotzdem so aufgebracht war und mir Tränen nachgeweint hatte, freute mich. Das war so surreal, dass ich mich fragte, was mit mir nicht stimmte. Gut, ich fragte mich das später. In jenem Moment dachte ich nur, wie lieb das von ihm war und lächelte René aufmunternd zu.

René schniefte lautstark und wischte mit dem Handrücken unter seiner Nase lang.

„Worüber haben wir geredet?“, fragte ich.

„Hä?“

„Oben auf dem Baum. Vor dem Sturz. Worüber haben wir geredet?“

„…“ René sah verlegen zur Seite und auch ich musste kurz wegsehen. Was war das nur?

„Ich … erinnere mich ja schon an einiges, aber daran leider noch nicht. Aber ich habe schon die ganze Zeit das Gefühl, als müsste ich etwas sagen. Josi meinte vorgestern zu mir, dass ich jemandem eine Antwort schulde. Und ich glaube irgendwie, dieser jemand bist du. Also erzählst du mir, worüber wir uns unterhalten haben? Bitte.“

René sah von unten her auf. Seine grauen Augen noch leicht glasig, aber trotzdem so intensiv und fest wie ein Schneegestöber. Wahrscheinlich waren seine Gefühle ebenso aufgewühlt und hektisch. Die Pause, welche sich ausbreitete, ehe er begann, war nicht unangenehm. Ich saß gerade, abwartend und zugebenen neugierig.

„Wir kamen vom Fasching. Wir hatten Kleider deiner Schwester an und sie welche von dir. Als wir spielen durften, sind wir beide wie immer auf den Baum geklettert. C.G. wollte sich umziehen gehen. Ihm war der Aufzug zu peinlich. Auf dem Baum dann… du hast mich gefragt, wie ich das Kleid finde und ich sagte, normal. Dann wie es dir steht und ich hab‘ gesagt gut. Dann wolltest du wissen, ob ich es hübscher an dir oder an Josi finde. Mir war das egal, aber wenn, dann siehst du besser in deinen eigenen Klamotten aus.

„Ich hab‘ dich gefragt, warum du das fragst und du hast gesagt, weil du wissen wolltest auf was ich stehe. Dann hab‘ ich gesagt, dass man das so gar nicht sagen kann. Immerhin mochte ich Josi in ihren Kleidern lieber als dich in ihren Kleidern, aber trotzdem hab‘ ich dich mehr lieb als sie. Dann bist du still geworden und hast gefragt, wie sehr ich dich lieb hab‘.“ René brach kurz ab. Ich sah wie er rot wurde und ich selbst fühlte wie ich nervös wurde. Das Kribbeln in meinen Fingern und meinem Bauch wurde so stark, dass ich mich in die Bettdecke krallte.

„I-Ich hab‘ gesagt, dass ich dich eben sehr mag. Eben viel mehr als alle anderen zusammen. Du hast gefragt, so wie die Erwachsenen? Und ich … hab nicht geantwortet. Dann bist du näher gekrabbelt und hast angefangen etwas zu sagen, aber ich sah nur deine Hände. Wie sie nacheinander den Ast umklammert haben und wie du danebengegriffen hast.“

René biss sich erneut auf die Lippen. Aber ich fragte nicht weiter nach. Egal was er eben noch hatte sagen wollen, er schob den Gedanken zur Seite und sah mich klar und direkt an. „Jay, ich … ich mag dich sehr. Im Vergleich bestimmt so sehr wie die Erwachsenen einander mögen. Aber … du weißt deine Antwort bestimmt nicht mehr, oder?“

Sein mutiger, selbstbewusster Blick wich einer deutlichen Unsicherheit. Es war verständlich, denn ich sah weg. Das war gerade ziemlich viel Input und ich wusste weder was ich damals antworten wollte, noch was ich jetzt sagen sollte. Ich war verwirrt und fühlte einen leicht pochenden Schmerz an der Schläfe. Zudem wollte ich nicht irgendwas sagen. DAS war es, was mich so quälte, da war ich mir sicher. Aber wenn ich nicht wusste was ich antworten wollte oder schlimmer noch, nicht alle Erinnerungen beisammenhatte, um sagen zu können, ob ich ihn ebenso mochte oder nicht, wie könnte ich René jetzt eine aufrichtige Antwort geben? Betrübt sah ich auf meine Finger. Ich spürte noch immer mein Herz rasen und hörte es deutlich in meinen Ohren pochen. Etwas war da. Aber immer, wenn ich glaubte, jetzt konnte ich es greifen, verlor sich das Gefühl und der Gedanke glitt wie Wasser durch meine Hände.

„René …“, begann ich und er schluckte schwer. „Ich habe mich noch nicht an alles erinnert. Ich weiß nicht, was ich dir antworten wollte, aber ich will dir antworten.“

Ich kratzte das bissen Mut zusammen, was ich finden konnte und war mir sicher, dass mein Gesicht ebenso hochrot war wie seines. „Ich will dir antworten, also … wartest du noch etwas? Bis ich mich erinnere. Bitte.“

Stocksteif nickte René. Ich glaube wir wussten beide nicht, was in dem Moment peinlicher gewesen war. Dass wir Jungs über so was wie Gefühle redeten oder dass ich ihn bat zu warten und er wartete. Zumindest war ich mir sicher, dass sein Herz genauso schnell schlagen musste wie meines. Vor Scham, vor Aufregung und ein bisschen auch aus Vorfreude. Ich hatte da so ein Gefühl, auch wenn ich es nicht in Worte fassen konnte.

Nach ein paar Minuten war die angespannte Stimmung verflogen. Irgendwie hatten wir das Thema mit dem Klassenkameraden von vorhin wieder aufgenommen und erzählten nun locker und vollkommen entspannt miteinander. Als Josi und C.G. zurückkamen, staunten sie nicht schlecht. Sofort stiegen sie mit ein und abermals hocken vier Kinder auf einem Bett. Er wurde unterhaltsam, lustig und laut. Als eine Schwester reinkam und uns ermahnte leiser zu sein, nahm meine Oma das als Zeichen den Besuch abzubrechen.

„Schade. Dann bis morgen“, sagte ich zu den Dreien mit einem breiten Grinsen.

Ich freute mich wirklich. Noch bevor ich Pläne schmieden konnte, nicht zu viel zu denken, damit ich mich möglichst schnell an den ganzen Rest und vor allem an meine Antwort für René erinnern konnte, bemerkte ich, dass noch eine Person im Zimmer stand. Ihre Augen funkelten und wirkten trotz der ganzen Falten scharf wie Krallen. Die drei Kinder hatte sie vorgeschickt und die Tür geschlossen. Ruhigen Schrittes kam meine Oma auf mich zu. Ich weiß nicht, ob das noch jemandem so geht, aber wenn ein Erwachsener auf mich zukommt, dabei guckt, als hätte ich eine ganze Packung Kekse über der Couch zerkrümelt, wurde mir gleich ganz anders zu mute. Das fluffige Gefühl in meinem Magen verschwand gänzlich und eine nervöse Unruhe machte sich breit, durch die meine Finger kalt wurden.

„Oma“, meinte ich freundlich zu ihr und Lächelte. Sie nickte nur distanziert und besah mich von oben bis unten. Ich hatte nur normale Jogger und ein Shirt an. Nicht mal das Krankenhausnachthemd von vor ein paar Tagen. Es dürfte nichts geben, was an mir schlecht aussah und trotzdem, sah ich an mir herunter und versuchte zu verstehen, was ihr Blick bedeutete.

„Jareth, weißt du noch wie du mit deinem Opa, Gott habe ihn seelig, das Einschlagen von Nägeln geübt hast?“

Ich brauchte einen Moment. Das Thema war zu abrupt und irgendwie kam ich nicht hinterher. Dennoch meinte ich verschwommen eine solche Erinnerung greifen zu können. „Nicht wirklich. Etwas verschwommen.“

Meine Oma seufzte. Scheinbar viel ihr ein, dass mein Gedächtnis im Moment nicht das Beste war. „Sicherlich, entschuldige. Aber du verstehst mich trotzdem. Dein Opa hat immer auf korrekte Arbeit bestanden. Ihm waren nicht nur Disziplin und Ausdauer wichtig, sondern auch die ordentliche Ausführung. Das hat er dir beigebracht, als du fünf warst und ihr zusammen ein Vogelhaus gebaut habt.“

Wo sie es erwähnt. Dunkel erinnerte ich mich an etwas. Ein Vogelhaus … Groß hatte es sein sollen und es stand immer noch im Garten meiner Großeltern.

„Einen Nagel schlägt man gerade ein, sonst hält er nicht.“

„Stimmt und Löcher mussten auch akkurat gebohrt werden. Aber dass der Akkuschrauber damals noch zu schwer für mich war, hat er nicht mitbedacht“, ergänzte ich, etwas von mir selbst überrascht. Meine Oma indes nickte nur zufrieden. Keine Ahnung was das sollte, aber ich fühlte mich erleichtert, dass ich mich richtig erinnert hatte. Als sie mich wieder ansah, verflüchtigte sich meine Erleichterung wie Rauch im Wind. Ihre eben so freundlichen Augen wirkten wie schwarzer Obsidian und die Falten um ihre Augen herum, ergänzten den furchterregenden Blick.

„Dann ist dir bewusst, dass das, was du und dieser Junge eben beredet habt, das Gegenteil von dem ist, was dein Opa dich gelehrt hat.“

Sprachlos sah ich sie an. Mein Gespräch mit René eben? Es ging um die Schule und…

„A-Aber Oma… das war doch nur-“

„Versuche nicht dich herauszureden“, sagte sie streng. Obwohl sie normal laut sprach, glaubte ich sie hätte mich angeschrien. Meine eh schon wackelige Widerrede verstummte und jedes weitere Wort blieb mir im Halse stecken. „Viel zu lange gucke ich mir das mit an. Schlimm genug, dass der Vater deines Freundes solch ein Thema zu uns nach Hause bringt. Und das beim Tee! So unglaublich taktlos kann nur jemand ohne Prinzipien sein. Diesen Jungen scheint das ebenso angesteckt zu haben. Jungs in Mädchenkleidern. Selbst zu Fasching habe ich solche unnütze Verkleidung noch nie gesehen! Habt ihr euch nicht geschämt?“

Sie sah mich an, ihr Blick so streng, dass ich nichts zu erwidern wusste. Flüchtig dachte ich, dass es mir schon peinlich gewesen war. Trotzdem hatten alle Spaß gehabt und es war nur eine Verkleidung gewesen, nicht mehr.

„Jareth, du wirst einmal in deines Vater Firma arbeiten, sowie deine Kinder nach dir. Glaubst du mit einer Verwirrung wie dieser Bengel versucht dir einzureden, kommst du weit im Leben?“

„Oma … was?“

„Jungs und Jungs sind Freunde, loyal wie Brüder. Alles was darüber hinaus geht, solltest du als Verrat an eurer Freundschaft ansehen. Im Moment scheint es nicht wichtig für dich zu sein. Doch du wirst dein Interesse an Freuen noch entdecken und zwar nur an Frauen. Mein Enkel, ich meine es nur gut mit dir. Wenn du deinen Freund das nächste Mal siehst, wirst du ihm sagen, dass du dich an nichts erinnerst und ihr nur ganz normale Freunde seid. Das ist für dich und auch ihn das Beste. Gefühle anderer Art existieren nicht und werden nie existieren. Nicht in meiner Familie!“
 

Es war spät in der Nacht und ich saß noch immer wach im Bett. Omas Worte brauchten lange um durchzusickern. Wenngleich ich bei ihrer Rede sofort Angst, Pein und Scham verspürte, wurde mir die Bedeutung all dessen erst Stunden später bewusst. Ich war ihre Worte immer und immer wieder durchgegangen. Dachte über René und mich nach, über Josi, die meinte, ich sollte mich entscheiden, sonst spricht sie zuerst mit René. In dem Wirrwarr meiner Gedanken spürte ich etwas wie einen roten Faden. Mit Worten griff ich ihn nicht. Doch mit jedem Gedanken an Josi, an René, an den Unfall, an Oma, an das Gefühl, welches sich brennend durch meine Brust fraß wie zähflüssige Lava, hangelte ich mich an diesem roten Faden entlang bis zur einzigen und überdeutlichen Wahrheit. Mit einem Mal verschwand der Nebel in meinem Kopf. Die Bilder und Erinnerungen wurden klar. Die Gefühle und Worte alle an ihrer Stelle.

Ich freute mich so sehr, dass ich breit grinste. Dann spürte ich etwas wie abertausende Schmetterlinge in meinem Bauch. René! Sicher, wie konnte ich das nur vergessen! Ich wusste was ich sagen wollte, was ich fühlte. Seit langem fühlte. Nur hatte ich mich nie getraut etwas zu sagen. Angst saß mir im Nacken und endlich wusste ich um ihre Quelle. Immer wenn René und ich alleine spielten, bemerkte ich Oma unweit von uns. Wenn die eigene Oma in der Nähe war, dachte man sich nichts bei. Aber jetzt… Sie hatte nicht einfach so ihre Dinge erledigt, sondern uns aktiv beobachtet. Dieser kalte Schauer, den ich spürte, wenn ich René zu nah kam, wenn wir uns nur etwas zu lange umarmten oder zu sehr tollten, das war sie gewesen. Ihre Missbilligung dessen, was wir Kinder nicht sahen oder wusste, aber sie bereits erahnte?!

Wie konnte sie nur, fragte ich mich und fühlte wie alles Fluffige und Leichte wie Steine niederfielen. Ihre Worte machten Sinn. Einen grausamen Sinn, der sich wie Ketten um mich legte.

Ich wollte ihr gerne genügen, aber … aber!
 

Als am nächsten Tag der Besuch kam, war ich noch immer zerknittert von der vergangenen Nacht. Ich war zu spät eingeschlafen und hatte dann auch noch einen sehr unruhigen Schlaf gehabt. Davon abgesehen hatte ich einen Entschluss gefasst. Selbst wenn ich eine Gänsehaut bekam, da ich sicherlich nicht einfach davonkommen würde. Aber ich war mir sicher. Lieber ging ich nach dem, was ich deutlich fühlte und für gut empfand, als nach dem, was man mir verbieten wollte. Selbst wenn mein Opa mir damals viel beigebracht hatte, hatte er nie meinen Sturkopf und Freigeist gebändigt bekommen. Darum war das Vogelhaus auch nicht wie jedes andere Vogelhaus geworden, sondern dreimal so groß mit zwei Etagen. Selbst als Opa über diese unsinnige Idee geschimpft hatte, hatte ihm die Fertigstellung Spaß gemacht.

Darum konnte ich es kaum erwarten, René zu sagen, dass ich mich erinnerte! Er sollte es zuerst erfahren und dazu meine Antwort. Alle sollten er hören. Egal was danach für Ärger auf mich zukommen würde. Ich war so aufgeregt Renés Gesicht zu sehen, dass ich es kaum aushielt.

Josi und C.G. kamen zum späten Nachmittag. Laut meiner Schwester war Oma auch da, doch wollte sie uns Kindern die Zeit alleine gönnen, weil der Besuch heute nur kurz sein würde.

„Und kommt René nicht?“, fragte ich, versucht ruhig zu bleiben.

„Er wollte nachkommen“, antwortete C.G.

„Er kommt sicher gleich. Wie sieht es mit deinen Erinnerungen aus?“, fragte Josi indes.

Da René der Erste sein sollte, log ich ihr etwas vor. Ich sagte, dass ich mich an mehr erinnern könne und die doofen Kopfschmerzen auch weg sein. Es gelang mir meine Show aufrecht zu erhalten, bis die beiden sich verabschiedeten. Ich zog meine Schuhe an und meinte, dass ich sie noch hinaus begleiteten würde. Im Foyer angekommen begrüßte ich meine Oma. Sie lächelte, doch spürte ich ihren beißenden Blick. Wie ein unsichtbarer Rohrstock, der auf meine Hände zielte.

Zu meinem Bedauern war René nicht im Foyer. Er kam auch nicht nach oder rief an. Gut, ich habe keine Ahnung warum er hätte anrufen sollen, aber … ich war so fest davon ausgegangen, dass er heute kommen würde, dass mich sein Nichterscheinen schwerer traf als ich zugeben wollte.

Am nächsten Tag rechnete ich mir neue Chancen aus, welche durch meine Entlassung zunichte gemacht wurden. Meine Eltern nahmen mich mit nach Hause und sagten, dass ich erstmal alles in Ruhe erkunden sollte, auch wegen meiner Rippen, welche nur noch etwas zwickten. Sie wussten nicht, dass ich mich erinnerte und ich hatte nicht vor es ihnen zu sagen. Zwei Tage schaffte ich es die Beine still zu halten. Am dritten Tag wollte ich wenigstens mit meinen Freunden Telefonieren dürfen. Mutter war sich unsicher. Aber mein Vater meinte, da ich mich ohne Probleme im Haus zurechtfinden würde, war mein Gedächtnis wohl nicht mehr doll beeinträchtigt. In anderen Worten, er glaubte, dass ich durch den Sturz nicht dumm geworden war.

Ich rief C.G. an und wir erzählten eine halbe Stunde. Dann rief ich René zu Hause an, aber niemand nahm ab. Ich versuchte es später erneut und nochmal, aber niemand nahm ab. Wenigstens seine Eltern müssten doch rangehen, selbst wenn er Beleidigt oder böse mit mir sein sollte, oder? Erst am nächsten Tag nahm endlich jemand ab. Es war René Mutter, die sagte, dass sie gerade keine Zeit hätte und René wäre wohl in der Schule. Ich schlug mir in Gedanken auf die Stirn. Sicherlich. Josi war ja auch in der Schule. Ich bat darum, dass René mich zurückrufen sollte, wenn er wieder zu Hause wäre. Aber seine Mutter versprach nicht, dass sie die Zeit dafür haben würden. Ich meinte noch, dass es dringend sei, da legte sie bereits auf.

Mit runtergezogenen Augenbrauen starrte ich auf das Telefon. Was bitte sollte das? Warum um alles in der Welt war es so schwer René zu erreichen?! Es half alles nichts. Als meine Mutter nach Hause kam, bat ich sie morgen in die Schule gehen zu dürfen.

„Jay, mein Schatz. Du bist noch bis Ende der Woche Krankgeschrieben. Es reicht doch, wenn du Montag zur Schule gehst.“

„Nein, Mama … weißt du, mir geht es doch wieder ganz gut. Ich verpasse so viel und habe ja noch meine Sportbefreiung. Josi kann mir keine Mitschriften mitbringen und C.G. habe ich nicht in allen Fächern. Ich wollte René fragen, ob er für mich in den anderen Fächern mitschreibt, aber ich erreiche ihn nicht.“

„René?,“, widerholte meine Mutter und sah überrascht aus. „Schatz, rufe ihn doch einfach an.“

„Das habe ich. Gestern auch und heute ist nur seine Mutter rangegangen.“

„Hast du sie gefragt, ob sie deine Bitte weitergibt?“, fragte meine Mutter nach.

„JA, aber sie schien irgendwie beschäftigt.“

„Schatz, wenn sie sagt, sie gibt es weiter, wird sie es auch tun. Und nun sei so lieb und hilft mir mit dem Einkaufstüten.“

Artig wie ich war, nahm ich ein paar der Tüten und trug sie in die Küche. „Aber Mama es ist so langweilig hier“, versuchte ich mein Glück erneut.

„Hast du das neue Spiel schon durch, dass du für deine Konsole bekommen hast?“

„Fast, aber …“

Was ich auch versuchte, ich biss auf Granit. Gut, dachte ich und wartete bis mein Vater nach Hause kam. Wieder versuchte ich artig und überzeugend zu sein und wurde nur vertröstet. Mein Vater schaffte es sogar fast dieselben Antworten zu geben wie meine Mutter. Es war frustrierend. Josi hielt sich aus dem Gespräch raus und einen Rückruf bekam ich auch nicht.

Am nächsten Tag rief ich noch vor der Schule bei René an, aber es ging keiner ran. Abends rief ich nochmal an, aber wieder nahm keiner ab. Ich war nicht mehr einfach nur frustriert. Je länger ich warten musste und nichts von René hörte, desto unruhiger wurde ich, bis ich meinen Fingern bei Zittern zusehen konnte. Ich hatte Angst er könnte sich wirklich nicht melden, mich einfach ignorieren. Weggehen. Loslassen. Dabei waren wir doch im Guten auseinander gegangen! Meine Angst wurde zu einem hektisch-panischem Stress, welcher mich selbst nachts wachhielt.

Am Wochenende rief ich nochmals an, bis meine Mutter mir das Telefon verbat. Ich sollte doch keinen Telefonterror machen. Wenn sie nur wüsste! Verärgert knallte ich das Telefon auf den Tisch und ging in mein Zimmer. Später am Abend griff ich mir das blöde Ding erneut.

„Jareth, ich hoffe, du willst nicht wieder-“, begann mein Vater mit strenger Stimme.

„Ich rufe nur C.G. an“, unterbrach ich ihn wirsch. Entnervt ging ich auf mein Zimmer und telefonierte mit meinem Freund. „Hey, wie geht’s? Ah cool. Mir geht’s gut. Jaaa, es geht mir blendend. Hach… nein, ich bin nur etwas gestresst, glaub ich. …Natürlich ist das nicht förderlich, deswegen nervt es mich umso mehr. Aber sag mal C.G. weißt du zufällig was mit René ist? Ich bekomme ihn zu Hause nicht erreicht und meinte Eltern lassen mich ja nicht aus dem Haus. … Zur Schule kann ich erst übermorgen wieder... genau Montag bin ich wieder da!“, sagte ich grinsend und voller Vorfreude. C.G. jubelte mit mir und erzählte mir die neusten Storys aus den Klassen und vom Schulhof. Ich hörte zu, merkte aber, dass er mir auswich. Immer wenn ich ihn nach seinem Cousin fragte, lenkte er ab. Im Endeffekt legte er auf, ehe ich ihn darauf festpinnen konnte.

Am Sonntag sprach ich Josi an. Sie wusste natürlich nicht, was in der Schule passierte, da sie dort mit ihren Mädels abhing. Aber ein bisschen hätte sie doch wissen müssen.

„Jay, weißt du … als du noch im Krankenhaus warst, da … weißt du, René war wirklich traurig dem einen Tag.“

„Ja, das tut mir auch Leid, aber ich habe mich da an noch nichts erinnert. Darum muss ich ihn ja jetzt unbedingt sprechen.“

Mit großen Augen sah Josi zu mir. „Heißt das, du erinnerst dich?“ Ein Lächeln zuckte an meinem Mundwinkel. Ich war so überdreht, dass ich bereit war, mein Geheimnis mit Josi zu teilen.

„Jareth, komm doch mal bitte und hilf mir in der Küche“, rief meine Mutter aus besagtem Raum. Ich stöhnte hörbar auf und trottete nicht erfreut zu ihr.

„Muss das sein? Ich unterhalte mich gerade mit Josi.“

Überrascht von meinem Ton, sah meine Mutter auf. „Ja, das muss sein. Ihr könnt später reden.“

„Ach, Mum… bitte.“

„Was? Jay, was soll dieses nörgelnde Verhalten? Du weißt, dass du dich nicht aufregen sollst und doch machst du das Gegenteil von allem, was ich von dir verlange.“

„Mum vielleicht“, schaltete sich Josi ein, wurde aber von unserer Oma unterbrochen.

„Kind misch dich da nicht ein.“

„Aber Oma! Er will doch nur mit seinen Freunden reden. Warum darf er das nicht?“, fragte Josi protestierend.

„Wenn er wieder gesund ist, kann er alles machen, was er will“, schaltete sich mein Vater ein, der seine Zeitung am Küchentisch las und nicht mal aufsah.

„Ha! Sicher … und so lange bleibe ich hier eingesperrt.“

„Morgen gehst du doch in die Schule“, meinte meine Mutter besänftigend.

„Wenn Jay nicht raus darf, können die Anderen doch herkommen!“, schlug Josi vor.

„Er braucht seine Ruhe Kind“, ermahnte Oma uns.

„Ich bin sehr viel ruhiger, wenn ich meine Freunde um mich habe“, insistierte ich.

„Du hast deine Freunde im Krankenhaus oft genug gesehen. Keiner von ihnen hat zu einer schnelleren Genesung beigetragen“, sagte Oma streng. Ich sah sie an und dachte nur an unser „Gespräch“. War sie immer noch sauer deswegen. Scheinbar. Aber ich wollte nicht aufgegeben. Nein, ich wollte René sagen, was ich fühlte und dann-

„Hast du René deswegen verboten Jay zu besuchen?“, platze es aus Josi heraus.

Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken, während ich meine Oma ungläubig anstarrte.

„Das war nur zu seinem Besten. Außerdem hat der Junge es verstanden“, bestätigte Oma.

„Du hast was?! Aber dazu hast du kein Recht!“, brüllte ich unvermittelt los.

„Jay!“, riefen meine Eltern zeitgleich erbost und mich ermahnend, mich zu zügeln.

Oma blieb indes ruhig und sah mich mit ihren undurchdringlich alten Augen an. „Ich habe alle Rechte, die es gibt in dieser Familie. Dein Freund hat es verstanden, du solltest es auch.“

„Jay, mein Schatz. Reg dich nicht auf. Es war sicherlich besser für René. Immerhin hat er viel zu tun“, ergänzte meine Mutter im ruhigen Ton. Mein Herz raste bereits, vor Aufregung und Zorn. Trotzdem fühlte ich einen neuen Schauer meinen Rücken runterrollen.

„Wie meinst du das?“, fragte ich nach und wandte mich meiner Mutter zu.

Sie seufzte schwer und legte das Messer zur Seite mit dem sie eben noch das Gemüse geschnitten hatte. „Ich habe Renés Mutter vor ein paar Tagen in der Stadt getroffen. Wir haben uns unterhalten und sind zu dem Schluss gekommen, dass es für euch beide besser ist, euch eine Zeitlang nicht zu sehen.“

„Wie ... .meinst du das?“, wiederholte ich meine Frage und spürte meinen Mund trocken werden.

„So wie ich es sage. Weißt du, René hat sich wirklich schwere Vorwürfe gemacht, dass du vom Baum gefallen bist. Seine Mutter sorgt sich sehr um ihn. Nach jedem Besuch bei dir, sei er niedergeschlagener gewesen als zuvor. Und da der Umzug anstand-“

„Umzug?!“, riefen Josi und ich aus einem Mund.

„Ihr Mann hat eine bessere Anstellung bekommen und sie ziehen näher an seinen Arbeitsplatz. Eigentlich sollte der Umzug erst Ende des Monats stattfinden, aber mit all den Umständen“, sie deutete auf nichts bestimmtes und doch verstand ich, dass sie mich damit meinte, „haben sie es vorgezogen.“

„Wann? Wann ziehen sie um?“

„Dieses Wochenende. Eigentlich sollten sie bereits in der neuen Wohnung angekommen sein.“
 

Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt hatte ich meinen ersten wirklich Blackout. Nicht, dass ich hyperventiliert hatte oder wütend irgendwas durch die Gegend warf. Ich war einfach out of order. Stumm und steif stand ich da, sodass selbst mein Vater die Zeitung weggelegt hatte. Josi rüttelte sanft an mir. Das half mir, soweit zu mir zukommen, um monoton zu antworten und dass niemand einen Notarzt rufen musste. Ich ging auf mein Zimmer und stand dort lange einfach nur rum. Als sich meine Gedanken endlich träge zu bewegen begannen, fiel ich auf meine Knie und blieb dort Sitzen, wo ich eben noch gestanden hatte.

Nicht nur, dass meine Oma gegen mich und René war. Sie hatte obendrein verboten, dass wir uns sehen konnten. Josi hatte von dem Verbot gewusst und mir nichts gesagt und meine Mutter fand, dass uns Abstand guttun würde?! Aber egal wie sehr mich das Verhalten meiner Familie in jenem Moment verletzte, René … er zog um und ging nicht ans Telefon. Seine Mutter hatte gesagt, er wäre niedergeschlagen gewesen. Wegen Oma? Wegen dem Verbot oder weil ich ihm nicht antworten konnte?

Dieses Gefühl, dass ich nach meinem Aufwachen gehabt hatte, war eindeutig wegen René gewesen, dass wusste ich jetzt. Hatte ich ihn zu sehr verletzt, als ich ihm keine Antwort geben konnte? Vielleicht, weil er wusste, dass er bald wegzog, wollte René umso mehr eine Antwort haben. Eine, die ich ihm nicht geben konnte. Darum bat ich ihn zu warten. Ich dachte mir nichts dabei! Wie auch? Woher sollte ich wissen, dass Oma René ein Besuchsverbot aussprechen würde? Dass mich alle in Watte packen und anlügen würden. Dass er wegzog und es nicht mit einem Wort erwähnt hatte. Selbst C.G. hatte nichts davon erzählt! Und René? Was war mit den Anrufen, er musste sie gehört haben, oder? Hatte seine Mutter ihm Bescheid gegeben?

Ich hockte auf meinem Fußboden und hörte mich schluchzen, noch ehe ich meine Tränen fühlte. Was dachte ich da? War es nicht meine Schuld, dass alles so gekommen war? Warum passte ich auf diesem blöden Ast nicht auf und griff daneben? Warum musste ich so einen Unfall bauen, bevor ich René gesagt hatte, was ich fühlte?! Warum musste ich meine Erinnerungen verlieren und René hinhalten?! Es geschah mir recht, wenn René nach all dem nichts mehr von mir wissen wollte. Er ging, schwieg sich aus, sagte nichts. Hätte er gewollt, hätte er mich anrufen können oder seinem Cousin einen Zettel mitgeben können. Es hätte Möglichkeiten für ihn geben mich zu erreichen, wenn er gewollt hätte. Da er es nicht getan hatte und nun so lautlos verschwunden war, hieß das doch, dass ihn meine Antwort nicht mehr kümmerte, oder nicht?

Ich kauerte mich mehr auf dem Boden zusammen. Bedacht leise zu sein. Ich wollte niemanden auf mich aufmerksam machen und erklären müssen, warum ich über den Umzug eines Freundes so weinte. Ich wollte nicht erklären, warum mir das Herz so weh tat, mir jede Faser in Schmerz aufschrie und der Kloß in meinem Hals nicht kleiner wurde. Es tat so weh! Ich erinnerte mich! Der erste den ich hatte sehen wollen, dem ich alles erzählen wollte, war René! Aber der war weg. Einfach weg. Warum ließ er mich hier alleine zurück!?

Ich hatte von Anfang an nur zu René gewollt!

Daheim

Mein erster Liebeskummer zu meiner ersten Liebe. Es tat so sehr weh, dass ich tagelang nicht richtig denken konnte. Fühlen noch weniger. Ich funktionierte einfach. Wie, konnte ich jetzt nicht mehr sagen. Am Abendbrottisch sah ich nur niedergeschlagen und müde aus. Meine Mutter schob die roten Augen auf die Müdigkeit und dass ich zu viel an Informationen bekommen hatte.

„Vielleicht solltest du morgen doch nicht zur Schule gehen“, schlug sie besorgt vor.

„Schon ok. Ich brauche nur etwas schlaf“, gab ich monoton wieder.

Sie nickte ab, wenngleich ich weiterhin ihre abschätzenden Augen auf mir spürte.

Keine Ahnung was die Tage danach geschah oder wie meine Klasse und die Lehrer mich aufgenommen hatten. Lange hatte ich verdrängt, was damals geschehen war. Das Krankenhaus, die Schule, mein Leben, ich hatte mich von all dem losreißen wollen. Darum begann ich diesen Schmerz zu hassen. Es zu hassen so niedergeschlagen zu sein, sobald ich alleine war. Zu hassen, wie man mich eine Zeitlang mit Samthandschuhen anfasste. Zu hassen, dass meine Schwester mir nicht sofort Bescheid gegeben hatte, als Oma René das Verbot aussprach. Meine Eltern zu hassen, wie sie mich behandelten, als wüssten sie genau, was in mir vorginge. Oma … Für sie fand ich nicht mal mehr Worte. Zu hassen, dass ich weinen musste, wenn ich an René dachte. Dazu kam dieses dämliche Foto! Mutter rahmte es in der Stube ein, wenngleich wir lange nicht über diesen Tag mit meinem Unfall redeten. Viel später erst, sprachen wir in Auszügen von diesen Tag, über das Cosplay und redeten alles schön. Eine Farce die half eine andere aufrecht zu erhalten. Zunächst jedoch mochte ich dieses Foto nicht mehr ansehen. René und ich sahen viel zu glücklich aus. Wie konnte ich damals nur so glücklich sein?

Wenngleich ich meine Erinnerungen nach dem Sturz zurückerhalten hatte, war ich was meine Psyche anging labil. Gute Miene zu Bösem Spiel gemacht, merkte wahrscheinlich keiner, wie düster es in mir aussah oder dass ich nicht wusste mit all dem umzugehen. Da ich niemanden erzählt hatte, dass ich mich bereits seit dem Krankenhaus vollständig erinnern konnte, warum gab ich dann nicht vor, dass ich mich nicht erinnern konnte? Josi hatte ich den einen Tag zwar einen Hinweis gegeben, aber nachdem ich so niedergeschlagen war, war sie sich nicht mehr so sicher. Was wenn ich mich nur teilweise erinnerte? Ginge das? Lückenhafte Erinnerungen ohne René. Ginge das wirklich? Keine Ahnung, ob so was überhaupt möglich war, ich würde es einfach möglich machen!

Erfolgreich überschrieb ich meine Erinnerungen. Wohlgemerkt dauerte es Monate bis ich mich selbst erfolgreich manipuliert hatte. Tatsächlich war es nicht ungewöhnlich, wenn man sich an bestimmte Teile seines Lebens nicht erinnerte oder Ereignisse abänderte, die zu schockierend und schmerzhaft gewesen waren. Jahre später las ich einen Artikel, bei dem ein Kind seine Erinnerungen an den Tod seines Vaters so überschrieben hatte, dass das Kind komplett vergessen hatte, bei dem Tod des Vaters dabei gewesen zu sein. Erst als Erwachsener mit einer entsprechenden Hypnosetechnik gelang es ihm die Erinnerungen geradezurichten. Josi hatte mir den Artikel gezeigt und war fest davon überzeugt gewesen, dass ich dasselbe mit René machen würde. Ich erinnerte mich daran, sie nur verständnislos angeguckt zu haben und fragte: „Welcher René?“
 

Eine Hypnose brauchte ich nicht. Mir hatte es gereicht mit der Wurzel meines Leidens konfrontiert zu werden, da René zu meinem Glück noch Lebendig und Fidel war. Die Tage mit René, die Dates, die Neckereien und Küsse. Alles hatte nach und nach die meterdicke Lüge enttarnt. Am Morgen nach unserer gemeinsamen Nacht, konnte ich mir das Weinen kaum verkneifen. Der, den ich die ganze Zeit haben wollte, lag neben mir. Er war zärtlich und liebevoll gewesen. Trotzdem glaubte ich nicht, dass nach all der Zeit und all dem hin und her einfach alles gut und vergessen sein sollte. So lief doch keine Liebesgeschichte ab!

René hatte mich damals verlassen. Ungeachtet der Umstände hatte es sich genauso angefühlt. Was, wenn seine Liebe nicht so war, wie er es sich vorstellte? Wenn ICH nicht war, wie er es sich vorstellte? Besser ich ging und beendete all das, bevor es anfangen konnte und wir es gemeinsam gegen die Wand fuhren. Sicherlich, das wäre am besten.
 

-Flashback Ende-
 

René hielt unseren Kuss ruhig. Seine Zunge umspielte meine, seine Arme hatten sich um mich gelegt und somit etwas vom Türrahmen fortgezogen. Mit weichen Knien hielt ich mich an Renés Armen fest. Noch ehe uns die Luft ausging löste René sich.

„Was?“, fragte er und nahm seine Hände von meinen Rücken, nur um mir die Tränen von den Wangen zu wischen. Es brachte nichts, denn es kamen immer wieder Neue. Heiße, dicke Tränen wie ich sie nur einmal geweint hatte. Damals vor langer Zeit.

„Jay, was hast du? Tut dir was weh? Ist dir schlecht?“

Ich schüttelte meinen Kopf. Wenngleich mir wirklich etwas flau im Magen war und die Kopfschmerzen vom Kater durch das Weinen nur stärker wurden. Ich drückte René von mir weg, griff nach dem Glas mit dem Aspirinwasser und setzte mich auf die Couch. René folgte mir schweigsam, aber mit Argusaugen. Unsicher was er tun sollte, blieb er vor mir stehen. Da ich nicht mehr wie ein Schlosshund heulte, schien er ruhiger zu werden, aber trotzdem noch unschlüssig, was eben los war.

Ich seufzte schwer. „Setz dich, ich … will das hier erstmal wirken lassen, ok?“, meinte ich und hob mein Glas, ehe ich noch einen Schluck nahm. Wie gewünscht setzte René sich. Einen Platz weit von mir entfernt. Den Abstand wahrend, doch nah genug um reagieren zu können. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie angespannt er war, obwohl er eigentlich bequem hätte sitzen können. Ich konnte René wirklich viel an den Kopf werden, aber nicht, dass er nicht aufmerksam genug war. Gott! Wie sein Blick mich taxierte. Ob er fürchtete ich würde mich übergeben oder ich rastete wieder aus? Ein Schmunzeln bahnte sich ein Weg nach oben, dass ich nicht unterdrücken konnte. Natürlich sah René das und spannte sich gleich noch mehr an. Schon süß, ne?

Das Glas geleert, stellte ich es auf dem Couchtisch ab und zog meine Beine heran, um meinen Kopf auf meinen Knien abzulegen. Ich schloss die Augen und seufzte vernehmbar. „Ich hab‘s wirklich verbockt, oder?“

„Was meinst du?“

„Das mit Marry.“ Ich sah es nicht, hörte aber wie René ein unzufriedenes, leises Geräusch von sich gab.

„Marry wird es verkraften“, war seine Antwort.

„Hmhm, sicherlich.“ Ich schwieg wieder. Wie sollte ich nur anfangen? Gut war, dass mein Kopf weniger schmerzte und ich langsam wieder denken konnte. Wäre es mit einer Entschuldigung getan? Wahrscheinlich nicht. Ein Zusammenleben würde wohl auch nicht mehr drin sein. Dazu hatte ich viel zu viel verbockt und René wirklich viel Unrecht getan.

Ich merkte nicht, wie lange ich schwieg. Erst als René Anstalten machte sich zu bewegen, drehte ich meinen Kopf so, dass ich ihn ansehen konnte. Er griff nach meinem Glas und wollte es sicher in Ermangelung anderer Tätigkeiten, in die Küche bringen. Als er bemerkte, dass ich ihn ansah, stockte er, hielt inne und setzte sich untätig wieder hin. Was ging nur in seinem Kopf vor?

„Du weißt schon, dass du auf mich keine Rücksicht nehmen musst. Es ist deine Wohnung.“

„Ich weiß“, entkam es René. Seine Stimme war dunkel, sein Blick betrübt auf seine Hände gerichtet.

„Danke für das Aspirin.“

„Mhm.“

„René?“, fragte ich und beobachtete ihn weiter.

„Brauchst du was?“ Er sah nicht wirklich auf, hob aber den Kopf ein Stück.

Ich brummte verneinend.

„…“

„René?“, fragte ich erneut und diesmal hob er den Kopf.

„Hm?“, brummte er fragend und das Grau sah mich endlich an. Mein Kopf war eigentlich ziemlich leer in diesen Moment. Es erinnerte mich etwas an den ersten Tag im Krankenhaus, als ich aufgewacht war. Ein leichter pochender Schmerz, ein leerer Kopf und dieses eine Gefühl.

„Es tut mir leid.“

René hielt unseren Blickkontakt. Ich konnte sehen wie es in seinem hübschen Köpfchen ratterte.

„Wofür entschuldigst du dich“, fragte er langsam und skeptisch nach. Dass er sich zurückhielt, war deutlich zu spüren.

„Für alles, was ich dir bisher angetan habe.“

Verwirrung und Skepsis legte sich auf Renés Gesicht und er zog die Augenbrauen tiefer. „Hä?“

Ich schmunzelte. Klar, dass er nicht wusste wovon ich redete. Beschämt sah ich zur Seite. Meine Hände griffen nach dem braunen Stoff der Cowboyhose, die ich noch immer trug. „Ich habe dich schlecht behandelt, seit ich damals vom Baum gefallen bin“, begann ich. „Ich weiß, du hast dir nur Sorgen gemacht und dir die Schuld an meinem Unfall gegeben, aber das stimmt nicht. Du hast keine Schuld daran, wenn ich zu doof zum Klettern bin.“

Ich fasste etwas Mut und sah auf. René war eindeutig sprachlos, also redete ich schnell weiter. „Als ich damals aufgewacht war, hatte ich ständig diese leichten Kopfschmerzen und mein Kopf war so blank wie ein weißes Stück Papier. Ganz zu Anfang, noch ehe die Schwestern ins Zimmer gekommen waren, hatte ich eine Erinnerung und ein Gefühl. Beides war unheimlich wichtig, aber es verschwand, als mich die Schwestern mit mal ansprachen. Danach war es schwer sich an irgendwas zu erinnern, aber mit den Tagen fiel es mir leichter. Ihr habt mir ziemlich dabei geholfen“, bemerkte ich mit einem Lächeln und sah René an, dass er in der gleichen Erinnerung war wie ich. Zumindest zierte seine Wangen eine feine Röte und Unglauben seine Gesichtszüge. Verständlich, denn Oma hatte ihnen gesagt, dass sie mir mit ihrer Anwesenheit nicht geholfen hatten.

„Als wir uns dann unterhalten hatten, wusste ich wirklich noch nichts. Nichts vom Baum, nichts davon wie sehr ich dich mochte oder was ich dir damals hatte sagen wollen. Aber dass du mir die Ereignisse von dem Tag erzählt hast, dass du so deutlich und ehrlich warst, haben sehr geholfen. Als ich am nächsten Tag aufwachte, wusste ich es wieder. Gott, war ich aufgeregt“, gestand ich und blinzelte vermehrt. Die Erinnerung war nicht nur peinlich, sondern auch schön. „Ich war total erleichtert. Ich wusste alles wieder. Alles! Darum konnte ich es kaum erwarten, es dir zu erzählen. Aber… du kamst nicht.“

„Deine Oma hatte mich an jenem Tag verwarnt dich weiter zu besuchen“, gestand René. Seine Stimme war dunkel und leicht brüchig. „Ich wäre ein schlechter Umgang für dich und sollte dir nicht zu nahekommen. So einer … seist du nicht, meinte sie.“

Betrübt sah ich auf. „Ja, sie hatte mich den Tag auch verwarnt. Ich sollte mich ja normal verhalten. Normal sein.“ Ich schüttelte meinen Kopf. René ließ den Kopf sinken und ich konnte ihm ansehen, was er dachte. Sicherlich so was wie „Recht hatte sie, du hast dich normal verhalten“.

„Aber ich hatte nicht vor auf sie zu hören“, gestand ich und Renés Kopf schoss hoch. Ein Grinsen zupfte an meinem Mundwinkel. „Hast du vergessen, dass ich ein Sturkopf bin? Erinnerungen oder nicht, das hat sich nie geändert. Gerade weil sie es nicht wollte, wollte ich umso mehr. Außerdem…“, ahh, verdammt, nicht rot werden, „war das Gefühl in deiner Nähe zu sein viel zu schön. Unser Gespräch damals drehte dich darum, ob ich dich nicht nur mögen, sondern lieben würde. Ich wusste damals zwar nicht, ob es wirklich Liebe war, aber das was ich fühlte und wollte, konnte auch unmöglich keine Liebe sein. Deswegen solltest du zuerst erfahren, dass ich mich an alles erinnerte. Ich hatte dir meine Antwort vor allen Anderen laut ins Gesicht schreien wollen, so glücklich war ich damals.“

„Jareth.“ Renés Stimme war noch brüchiger geworden. Er sah mich so schuldig an, als hätte er mich persönlich vom Baum gestoßen. Schnell schüttelte ich meinen Kopf und wurde etwas ernster.

„Schon gut, hör mir bitte noch zu.“

René nahm sich zurück und saß wieder gerade. Sein Blick aufrichtiger und ungeduldiger auf mich gerichtet.

„Ich habe damals nichts von deinem Umzug gewusst. Oder, dass Oma dir ein Besuchsverbot erteilt hatte. Oder, wie sehr dich das alles mitgenommen hatte. Zuerst verstand ich nicht, warum du nicht mehr ins Krankenhaus kamst, aber da ich einen Tag danach entlassen wurde, dachte ich mir nichts bei und redete mir gut zu, dass ich dich die nächsten Tage sehen würde. Zur Schule durfte ich erst eine Woche später. Meine Eltern waren streng und da noch keiner wusste, dass mit mir alles wieder in Ordnung war, behandelten sie mich wie ein rohes Ei. Nicht rausgehen, nicht wehtun, nicht anstrengen und ohhh stresst den armen Jungen bloß nicht. Er muss sich doch erinnern“, sprach ich mit deutlichem Hohn in der Stimme und verdrehte die Augen. „Dabei wusste ich alles und wollte eben nur mit dir zuerst Reden. Ich rief bei dir an. Hoffte, dass du zu Besuch kämst. Aber ich kam nur einmal durch und deine Mutter war im Stress. C.G. der Arsch hatte mir nichts erzählt und Josi wusste nur von deinem Besuchsverbot im Krankenhaus. Dann … den Tag bevor ich zur Schule durfte, platze plötzlich alles. Ich war so angespannt, dass ich meine Eltern anschrie. Es war ein heiden durcheinander, aber dabei stellte sich, dass mit dem Besuchsverbot heraus, dass du umgezogen bist und mir keiner was sagen wollte, da …“, ich machte eine künstliche Pause, ehe ich wieder sarkastisch wurde, „meine Mutter deine getroffen hatte und die hatte berichtet, dass es dir wegen dem Unfall nicht gut ginge. Sie waren sich einig, dass uns Abstand guttun würde.“ Ich holte Luft und sah erstmals wieder auf. Beim Reden hatte ich mich vollkommen verkrampft und René schien es ebenso gegangen zu sein.

Ich lehnte mich zurück, löste meine eingerollte Position auf, nur um meinen Kopf auf die Couchlehne fallen zu lassen. Jetzt kam der schwierige Teil.

„Ich hab’s nicht verstanden“, gestand ich matt und schloss die Augen. „Damals hab‘ ich es einfach nicht verstanden. Wenn dir eine Antwort so wichtig war, warum konntest du nicht anrufen, warum nicht vorbeikommen? Warum konnten wir uns nicht einmal sehen, ehe du umziehst? Irgendwie hab‘ ich mich von allen verraten gefühlt. Wenn mir keiner was erzählte, wenn die mir wichtigen Menschen einfach gingen, dann war ich doch nicht so viel wert. Warum behandelte man mich dann wie ein rohes Ei?“ Ich seufzte schwer. „Ich will mich nicht rausreden, weil ich verletzt und traurig gewesen war. Aber damals schien es mir das Beste, dass zu tun, was man von mir erwartete. Also redete ich mir jeden Tag, jede Stunde ein, dass ich mich nicht erinnern konnte. Dass meine Erinnerungen lückenhaft seien und das führte dazu, dass es dich einfach nicht gegeben hatte. Zu denken: Du hast mich verlassen, tat einfach zu weh… Allein die Version von dir als Mädchen auf dem Cosplaybild blieb zurück. Sowie ich dich vergessen hatte, hörte auch der Schmerz auf. Mir ging es besser.“

Nur seine Augen hatte ich nicht vergessen können. Seine grauen Augen, dich sich an jenem Tag auf dem Baum mit ihrer unheimlichen Strahlkraft so tief in mein Gedächtnis gebrannt hatten, dass es unmöglich war, sie je zu vergessen.

Ich setzte mich gerade hin und sah René direkt ins Gesicht. „Es tut mir leid. Weil ich damals so egoistisch gewesen war, hast du gelitten…“

„Meinst du, die Wutausbrüche von denen ich dir erzählt habe?“

Ich nickte schlicht und René zuckte mit den Schultern.

„Ich glaube, dass hätte ich auch ohne dich hinbekommen. Sicher warst du ein zentraler Punkt dabei, aber zum Teil war das einfach meine rebellische Phase. Ich habe meinen Eltern nie verziehen, dass wir weggezogen sind.“

„Schon, aber ich habe dich auch unheimlich dämlich abserviert.“

„Jay, wenn es dir leidtut, dass du mich abserviert hast, nachdem wir Sex hatten, dann lass es.“

Seine Worte waren ehrlich und harsch. Verletzt sah ich auf und nickte doch nur. Verdient hatte ich es.

„Nein, Jay“, begann René erneut und rückte etwas näher heran. Seine Hand hob mein Kinn an und schmiegte sich an meine Wange. Sie war so unheimlich warm. „Ich meine damit, bleib bei mir.“

„Hä?“, entkam es mir diesmal. Wie kam er jetzt darauf?!

„Sei mein Lover.“

„René … ich … weiß echt nicht, was in deinem Kopf vorgeht“, erklärte ich verwirrt.

„Was verstehst du nicht?“, fragte er auch noch nach.

„Ich habe mich gerade dafür entschuldigt, dir immer und immer wieder wehgetan zu haben. Wie kannst du da noch mit mir zusammen sein wollen?“

„Das ist ok. Zum einem ist es lange her und zum anderen habe ich mich dafür schon gerächt.“

„Du hast dich gerächt? An mir?“ Ein Nicken. „Wann?“

René zog seine Hand zurück und setzte sich gerade vor mich hin. Eine Armlänge trennte uns und er kratzte sich etwas verlegen am Kinn. „Naja. Marry ist, wie du weißt, eine Kommilitonin von mir. Sie ist aber auch dafür bekannt, sehr gute, analytische Fähigkeiten im Menschenlesen zu haben. Und weil ich sauer war, dass du mir mit schläfst, mich abservierst und ignorierst, habe ich sie gefragt, ob sie mit dir zusammenkommt und naja … mit dir Schluss macht.“

„Bitte was?!“ Ich sah ihn ungläubig an. Was stimmte mit ihm nicht? Wie konnte er so was Bösartiges freiwillig tun und „Ah- Warte. Dachtest du, dass ich nach dieser Abfuhr wieder zu dir angekrochen kommen würde?“

„Vielleicht? Die Chancen standen fünfzig fünfzig.“ Ich sprang auf und griff ihm am Kragen.

„Fünfzig zu fünfzig und du Arsch versuchst es auch noch?! Hast du sie noch alle? Gerade du solltest doch genug davon haben, mit den Gefühlen anderer zu spielen! Wie kommt man auf so’n Scheiß?!“, blaffte ich ihn an. René hob abwehrend aber entspannt die Hände.

„Sich sowas auszudenken war nicht schwer und du bist recht berechenbar.“

„Hackt es oder was?!!!“, fauchte ich ihn an. „Das heißt, wenn ich was tu, was dir nicht gefällt, krieg ich es zehnfach zurück?!“

„Jay beruhige dich. Das war einmalig, ich schwöre es.“

„Ah, und das soll ich glauben ja? Ich hab‘ mich eh schon gefragt, wie du dir das vorstellst, zusammen zu leben. Wir kennen einander gar nicht mehr. Wir keifen uns nur an und DAS willst du als Ausgangspunkt für eine Beziehung sehen? Ich kann dir sagen, wie das enden wird. Ich mache was Dummes und du spielst mich aus.“

„Ich sagte doch, es war einmalig. Und ich liebe dich halt. Egal wie sehr du dich verändert hast. Wir können doch ganz langsam anfangen, wenn es sein muss und schauen wohin es führt. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ich jemand anderen genauso sehr oder mehr lieben würde als dich.“

René blieb ernst und hatte seine Hände auf meine gelegt, die immer noch seinen Kragen packten. „Lenk nicht vom Thema ab“, forderte ich mit röter werdenden Wangen. „Du hast mich in ein Komplott verwickelt und seelenruhig zugesehen, wie ich mich in die Scheiße reite!“

„Und du hast mich absichtlich vergessen.“

Touché.

Wir schwiegen und starrten uns an. Das Grau war resolut und unnachgiebig. Aber nicht in seinem Trotz, sondern in seinen Gefühlen. Ja, seine Augen wirkten hart, aber zugleich voller Zuneigung. Wie Schneewolken, welche gleich weichen Schnee entsenden würden. Wäre ich nicht so geladen und angetan, hätte ich bei einem solchen Vergleich und Anblick sicherlich im Strahl gekotzt. Gerade jetzt war dieser Blick einfach nur entwaffnend. Also ließ ich von René ab und blieb vor ihm stehen, den Blick zur Seite gerichtet und die Wangen spürbar heiß.

„Und … was machen wir jetzt?“, fragte ich mit brüchiger Stimme nach. René schwieg eine Weile. Dabei setzte er sich entspannter auf die Couch, den Rücken gerade angelehnt und eigentlich perfekt, um auf seinem Schoß Platz zu nehmen.

„Du erinnerst dich also an alles?“, fragte er nach.

Ich nickte.

„Und du empfindest was für mich?“

Angepisst sah ich ihn, nickte aber trotzdem.

„Ich würde sagen, uns bleiben genau zwei Möglichkeiten. Nummer Eins: Wir sagen klipp und klar, dass wir nur Freunde sind und nie wieder eine Grenze überschreiten. Nummer Zwei: Wir kommen zusammen und lernen miteinander umzugehen.“

„Und was ist mit der dritten Möglichkeit?“, fragte ich zu patzig.

„Welche denn?“

„Wir könnten wieder getrennte Wege gehen. Keine Freunde, keine Bekannten.“

René verzog missmutig sein Gesicht. „Das würde ich nicht können.“

Ich schmunzelte und stimmte ihm innerlich zu. Ja, das würde ich auch nicht mehr können. Wenn ich was aus meinen Erinnerungen und den letzten Wochen gelernt hatte, dann dass ich nicht will, dass René mich verlässt. Das, was ich damals für ihn empfand, war schon groß gewesen. Jetzt, sowie ich es wiederentdeckt hatte, war es gewaltig geworden.

Ich liebte René.

Ich liebe ihn immer noch.

Auch wenn ich fürchtete, dass er mich nach all der Zeit idealisiert hatte und sobald wir zusammen waren, Dinge und Eigenheiten ans Licht kommen würden, welche mir gar nicht mehr auffielen. Es blieb die Angst René durch eine Unachtsamkeit verlieren zu können.

Aber nur Freunde?

Ich schloss meine Augen und sagte im klaren ernsten Ton. „Na dann bleibt ja nur eine Wahl.“

René sah auf und ich auf ihn hinab. Die Spannung steigerte sich, da keiner ein Wort sprach oder sich rührte. Ich sah Hoffnung, aber auch etwas Unsicherheit in Renés Augen. Schließlich hob ich mein Kinn an und sah selbstgefälliger auf ihn hinab. Langsam stellte ich mein Knie neben sein eines Bein, zog mein anderes nach und setzte mich auf seinen Schoß. Automatisch strichen seine Hände meine Oberschenkel hinauf bis sie sich an meine Hüfte legten und dort verweilten wie glühende Handschuhe. Die Wärme sickerte durch das dünne Cowboyhemd, sodass ich eine Gänsehaut bekam.

Ich fasste sein Gesicht ein und beugte mich vor. Noch einmal sah ich in seine Augen. Diese perfekten, grauen Augen. Aufregung und Freude strahlten mir entgegen. Ich schmunzelte und überbrückte die letzte Distanz. Seine Lippen waren weich und dünn. Nach der ersten Berührung, einem ersten sanften Streichen, öffnete er seine Lippen und ich erschloss die neu gewonnene Spielwiese mit meinem Mund. Dies war der erste Kuss, den ich willentlich mit ihm einging, den ich zu dominieren versuchte. Bei dem jede Berührung der anderen Zunge gegen meine ein elektrisches Kribbeln durch meinen Körper sandte. Angetan murrte ich in den Kuss und gestand mir ein, dass ich niemanden so dringend hatte küssen wollen, wie René. Atemlos löste ich mich von ihm. Renés Lippen waren feucht und glänzten, seine Wangen gerötet, aber ich sah wahrscheinlich nicht anders aus. Ein so einfacher Kuss hatte mich dermaßen außer Atem gebracht und zugleich ziemlich angemacht. Was sollte ich lügen? Ich war ihm doch bereits damals hinter der Disco auf dem Leim gegangen. Einen Wildfremden verpasste man für gewöhnlich eine oder zwei, wenn er zu aufdringlich wurde. René hingegen war ich verfallen.

Mit seinen Händen an meiner Hüfte zog er mich näher. Die harte Beule in meiner Hose, drückte sich ihm entgegen und ließ mich nach Luft schnappen. Ich wusste ja bereits, dass René ein toller Liebhaber war. Die Erwartung dessen und der überdeutlichen Begierde, auf welche ich nun saß, konnte ich nur aufgeregt entgegenfiebern.

„Einverstanden?“, fragte René.

„Einverstanden“, bestätigte ich und beugte mich zum nächsten Kuss vor.
 

Möge die Party beginnen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Nachdem ich nun alles noch mal durchgelesen habe, finde ich immer noch, da fehlt was. Das war mir früher nicht aufgefallen, aber gut, nach über zehn Jahren...
Ich denke, Jareth schuldet uns noch einen kleinen Einblick in seine kleine, verdrehte Gedankenwelt. (n_n)

tbc Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So ihr Lieben,
damit ist es nun wirklich beendet ^^

Ich hoffe, ihr hatten Spaß beim lesen. Bei Fragen und Anmerkungen, schreibt in die Kommentare.

Bis zur nächsten Story

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Kommentare zu dieser Fanfic (7)

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Von:  Syrachan
2014-01-14T21:38:18+00:00 14.01.2014 22:38
Sooo :) Eine schöne FF!
Leider muss ich auch sagen, dass ich am Anfang oft Probleme hatte die Sätze richtig zu verstehen, den Schreibfehlern sei Dank, somit auch manches 2-3 mal lesen musste. (Vielleicht ging das nur mir so?) Am Ende wurde es aber immer besser und die Story fand ich echt super! Mach weiter so! :D
Antwort von:  mikifou
15.01.2014 16:34
danke danke
für den Anfang muss ich sagen, hat mich mein Betaleser falsch beraten^^" aba so lange du alles verstanden hast, danke danke fürs Lesen XD
Von:  tenshi_90
2014-01-10T15:19:15+00:00 10.01.2014 16:19
Sehr schöne Story :)
Von:  Salwatore
2014-01-02T03:03:09+00:00 02.01.2014 04:03
Ich hoffe das es hier noch weiter geht o.o
Ich finde es echt faszinierend wie du schreibst und finde die ff richtig cool !!
Mit nächtlichen grüßen salwa :)
Von:  Rees
2013-10-06T13:20:52+00:00 06.10.2013 15:20
na schatzn...
also eins kann ich dir sagen xd... ich wäre gerne an josis stelle gewesen und nen bissel gespannt xd... und ich fand es total niedlich, dass jay eifersüchtig war und es nicht zugeben wollte xd, aber renechen hat ihn natürlich durchschaut xd...und eigentlich sind die beiden ja auch ein paar deppen *lach*, was soll ich sonst noch dazu sagen... und zwei wochen waren von rene ja richtig nett... aber jetzt mal so ernsthaft... we are the champions? ist jetzt nicht sein ernst, oder?... naja ich freu mich wie imemr auf das nächste kap und auf das heiß ersehnte date *xd*

Von:  Rees
2013-10-04T15:26:30+00:00 04.10.2013 17:26
hi schatzn...
dazu kann ich nur waiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii sagen...
ach war das schön... und so niedlich... und einfach waiiiiiiiiii xd
das jareth sich auf den kuss eingelassen hat xd... wurde ja auch langsam zeit, auch wenn er sich immer noch was anderes einreden möchte *lach* und dannach versaut er es natürlich wieder... BAKA... aber gut, dass rene so liebenswürdig ist und mal einfach so nen bissel darüber hinweg sieht... und dates? jetzt ehrlich *quitsch* ich freu mich jetzt schon und das mit dem pflegen hat doch schon mal gut angefangen xd... gib mir bitte, bitte, bitte ganz schnell mehr von dem geschmachte xd
Von:  wattebaellchen
2013-05-16T23:46:27+00:00 17.05.2013 01:46
So viel schöne Spannung, "nette" Sprüche und unterschiedliche Charaktere :D
Freu mich schon auf weitere Zeilen

Lg Watte
Antwort von:  mikifou
17.05.2013 22:39
danke danke danke *verneig* ich geb mir auch mühe -^__^-
Von:  Rees
2012-10-09T19:50:05+00:00 09.10.2012 21:50
so mein hasi...
hier ein kommi zu MEINER story. also weil du sie ja jetzt fast für mich schreibst... *lach*

Ja auch heteros können homosexuellen helfen warum auch nicht? Doofe frage bekommt auch ne doofe gegenfrage alla herr steffen … das ist jetzt aber mal wieder nen ganz typisches gespräch mit dem dj… was anderes hätte ihm nicht einfallen können lach
Aber die runterfallszene ist geil… so was will ich auch mal in zeitlupe wahrnehmen ist bestimmt lustig
Und jedesmal wieder stelle ich hier fest, dass mit rené eine hassliebe verbinde… manchmal mag ich ihn und manchmal nicht… gerade mag ich ihn… immerhin hat er rio aufgefangen und stichelt jetzt ein bissel XD und niedlich ist, dass du dich nicht entscheiden kannst wie du wieder schreiben sollst… also mit oder ohne e.. einfach süß
Kuss, kuss, kuss wäh… wie geil… und dieses gespräch… und warum muss er immer betonen wie viele weiber er schon flachgelegt hat? Mein gott… da muss man ja glatt von der dreierregel ausgehen^^
Und mal so als tipp es ist zu 99,998% immer einer von beiden stärker lach
Und noch mal kuss, kuss, kuss und er wird erwiedert… hehe wie war das mit absolut hetero???

so das wars auch schon wieder von mir... freu mich schon auf ein neues kap...
baibai



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