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Karashima - leere Insel [Leseprobe]

von

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X-act

„Woar, guckt euch das an!“, nörgelte Haruko so lautstark, daß seine Bandkollegen es selbst über den Krach der aufgedrehten Boxen hinweg hören mussten. „Das ist doch Konserven-Musik! Der spielt gar nicht live!“ Stinksauer zeigte er auf den Gitarristen auf der Bühne. Katori, Satsu, Ruri und er waren hier, um sich das Konzert einer aufstrebenden Mittelklasse-Band anzuschauen. Die Typen waren zwar noch nicht so richtig berühmt und erfolgreich, arbeiteten aber schon fleißig daran.

„Ja, und selbst das macht er schlecht.“, stimmte Ruri den Schimpfkanonaden zu. Ruri war ein Musikkollege aus einer befreundeten Band. So richtig leiden konnten ihn die wenigsten, erst recht Haruko und Satsu nicht, aber da er ein Kumpel von Mao war, wurde er mehr oder weniger geduldet.

„Was hier aus den Boxen leiert, müsste der Typ mindestens im 12. oder 13. Bund spielen. Guckt doch mal, wo der seine Finger auf der Gitarre hat!“, wetterte Haruko weiter. „Wieso macht der sich überhaupt noch die Mühe, seine Gitarre mitzuschleppen? Da hätte er sich auch gleich mit einem Glas Bier auf die Bühne setzen können! So eine Frechheit! Unverschähmt!“

Katorihito seufzte. „Nun krieg dich wieder ein, Haru.“

„Nein, ich will mich nicht einkriegen! Die Säcke verlangen einen Haufen Kohle für den Eintritt! Wenn die da schon playback spielen müssen, dann soll wenigstens die Performance stimmen!“

„Er hat Recht. Das hier ist wirklich drittklassig für eine Band, die erfolgreich werden will. Ich schätze, der Vox singt auch nicht live. Sonst würde man die Anstrengung an den Adern und Sehnen in seinem Hals sehen.“, stimmte Ruri zu.

Der Bassist begann die Band auf der Bühne lautstark auszubuhen und nahm sich dabei auch kein Blatt vor den Mund.

Katorihito wandte sich leicht ab und tat so, als würde er den Blonden nicht kennen. Man, war das peinlich. Die Leute ringsum warfen ihnen bereits böse Blicke zu. Auch die Aufmerksamkeit der Band auf der Bühne hatten sie schon auf sich gezogen. Aber die konnten natürlich nichts tun. Solange ihr Playback weiterlief, mussten sie brav weiter so tun, als würden sie Musik machen.

„Amateure! Heuchler! Buuuuuuh! Schande! Von der Bühne, ihr Abzocker! Lern erstmal Gitarre spielen!“

Ruri lachte, statt etwas zu sagen, und Satsu war ebenfalls auf die Verleugnungs-Masche verfallen und kannte Haruko plötzlich nicht mehr. Also blieb es wieder an dem Sänger hängen, Haruko am Jackensaum zu schnappen und davonzuschleifen. „Komm schon, lass uns gehen, bevor du den Kerl noch von der Bühne zerrst.“ Er ärgerte sich, Haruko mitgenommen zu haben. Er fand die Musik nämlich ziemlich toll. Klar war es blöd, wenn die nicht live spielten und dann auch noch so schlecht, daß man es sogar merkte. Aber musste man sich davon gleich das ganze Konzert vermiesen lassen?
 


 

„Hört mal, Ruri fragt, ob er mit in unsere Band einsteigen darf.“, meinte Mao ein paar Tage später in einer Kaffeepause im Probenraum. Es klang vorsichtig, fast kleinlaut, wie er es sagte.

„Hast du ne Macke? Der ist ein Arschloch!“, schnappte Haruko auch sofort hysterisch und tippte sich energisch an die Stirn. „Und ich meine nicht nur so wie Katori in den ersten drei Wochen, sondern so richtig von Herzen.“

„Willst du echt nen zweiten Gitarristen reinholen, Mao?“, hakte auch Satsu verständnislos nach und lehnte sich nach vorn auf seine Knie.

„Ich will gar nichts, ich richte es euch nur aus.“, gab Mao zurück.

„Also wenn schon, dann ganz sicher nicht Ruri!“, zeterte Haruko weiter.

„Ich sag´s euch ja nur.“

„Den Kerl, nie im Leben!“

„Der denkt wohl, bloß weil er mit seiner Band nicht vorwärts kommt und wir inzwischen einen Plattenvertrag haben ...“

„Weist du noch, wie wir damals mit ihm nach Osaka fahren wollten und er uns einfach an irgendeiner Raststätte hat stehen lassen?“

Haruko und Satsu redeten sich gegenseitig heiß.

„Ich fand es viel schlimmer, wie er sich damals so dreist mein Handy geschnappt und sauteure Ferngespräche damit geführt hat, während ich auf Toilette war!“

„Ach komm, er hat auf meine Kosten eine ganze Lokalrunde ausgegeben, das war viel teurer als deine paar Yen für das Ferngespräch.“

„Steigert euch doch jetzt nicht so rein! Katori, sag doch auch mal was!“, warf Mao hilfesuchend ein.
 

Alle Blicke richteten sich auf den Vocal, der am Tisch saß, mit dem Rücken zu ihnen, und ungerührt auf seinem Blatt Papier herumkritzelte. Stille setzte ein. Keine Reaktion.

„Katori?“, fragte Satsu nach ein paar Augenblicken nach.

„Ja, ich hab´s gehört.“, kam es nur zurück.

„Und? Was hältst du von der Sache?“

„Du bist der Bandleader, Satsu. Sowas solltest du entscheiden.“

Der Drummer seufzte enttäuscht. Das war nicht die Antwort, die er gewollt hatte.

Katorihito drehte sich auf seinem Stuhl um, damit er sich widerwillig für eine Weile am Gespräch beteiligen konnte. „Ruri ist ein guter Gitarrist.“

„Ja, aber ein totaler Vollidiot.“

„Ihr sollt ihn ja nicht heiraten.“, meinte Katori sanft, fast amüsiert. „Und er schreibt wirklich gute Songs.“

„Ach, dann sind dir meine Texte wohl nicht mehr gut genug?“, blaffte der Bassist beleidigt und verschränkte die Arme. Das war seine typische Art. Er wurde sofort unsachlich, wenn er sich mit einer Argumentation überfordert fühlte.

„Das habe ich nicht gesagt. Ich beantworte lediglich eure Frage, was ich von ihm halte.“ Der Vocal drehte sich wieder weg, seinem Blatt Papier zu, und schrieb weiter. „Ich will ehrlich sein, ich kann Ruri selbst nicht besonders leiden. Aber als Musiker hat er was drauf, das muss man ihm lassen.“, fügte er noch an, ohne seine Bandmitglieder überhaupt noch direkt anzusprechen.

„Dann bist du also dafür, daß wir ihn als 2. Gitarristen in unsere Band holen?“, wollte Satsu resignierend wissen.

„Das habe ich auch nicht gesagt. Und so eine Entscheidung würde ich mir auch nicht anmaßen. Du hast hier den Hut auf, Satsu.“

„Ka, so kommen wir nicht weiter. Jetzt gib doch mal ein klares Statement.“

Der Schwarzhaarige legte genervt seinen Stift auf den Tisch und drehte sich wieder zu ihnen um. Die Jungs machten ein entsetzliches Theater um etwas, was noch gar nicht in Sack und Tüten war. „Mein Gott, Satsu, jetzt bleib doch mal auf dem Boden. Ruri hat lediglich gefragt, ob er sich mal bei uns blicken lassen darf. Wer weis, ob es ihm überhaupt bei uns gefällt!? Wer weis, ob wir nicht doch mit ihm klarkommen!? Wer weis, ob unser Label ihn überhaupt will und in den Vertrag aufnimmt!? Wohlmöglich erübrigt sich das gesamte Thema ganz von alleine. Ladet ihn doch erstmal ein und probiert es aus, bevor ihr euch hier die Köpfe heiß redet. Bis jetzt musst du lediglich entscheiden, ob wir überhaupt Platz für eine 2. Gitarre haben oder nicht. Alles andere können wir getrost auf uns zukommen lassen. - War diese Ansage jetzt für dich klar genug, damit du als Bandleader damit arbeiten kannst?“

„Schon gut, das war klar und deutlich.“, winkte Satsu beschwichtigend ab. „Sei doch nicht gleich sauer, nur weil wir dich was fragen.“

„Ich bin nicht sauer, weil ihr mich was fragt. Ich will bloß, daß ihr endlich aufhört, mich als Kopf der Band zu betrachten. Wir waren uns alle einig, daß du hier der Chef bist. Also frag mich nach meiner Meinung, wenn du willst, beherzige sie auch, wenn du willst, aber stell mich nicht hinterher immer hin, als hätte ich die Entscheidungen getroffen.“

„Ja, ja, ich hab´s verstanden. ... Haruko, kommst du mit, Kaffee holen?“

Der Bassist schloss sich murrend an und die beiden verkrümelten sich aus dem Probenraum, um dem aufkommenden Streit auszuweichen. Die Lage sollte sich erstmal wieder etwas entspannen.
 

Mao setzte sich seufzend zu dem Schwarzhaarigen an den Tisch. „Wieso wehrst du dich so dagegen, daß wir was auf deine Meinung geben, Ka?“, wollte er wie beiläufig wissen und griff nach der Tageszeitung. „Du kannst nicht bestreiten, daß du der erfahrenste und objektiv denkendste von uns bist. Satsu würde dir liebend gern seinen Posten als Bandleader überlassen, hat er neulich gesagt. Seit du hier bist, fühlt er sich nicht mehr geeignet dafür. Er denkt, du würdest diesen Job besser machen als er. Haruko und ich wollen ihn nicht loswerden, oder so, aber wir teilen seine Meinung, was das angeht, durchaus. Du könntest uns in kürzester Zeit so unglaublich weit bringen!“

„Genau deshalb wehre ich mich ja so dagegen.“

„Das musst du mir erklären ...“, murmelte der Gitarrist ratlos.

Katorihito griff nur mit einem letzten, mitleidigen Blick nach seinem Stift und schrieb dann weiter an seinem Zettel. „Es gibt einige Dinge, die ihr noch nicht über mich wisst, Mao. Und ich hoffe, daß das auch noch lange so bleiben wird. Satsu ist der Bandleader. Belassen wir es einfach dabei.“ Dann setzte Stille ein, nur von dem leisen Scharren der Kugelschreibermiene auf dem Papier durchdrungen.
 


 

„Du, Katori, bitte sei mir nicht böse, wenn ich das jetzt sage ... aber ...“ Katori lachte schon, bevor Satsu seinen Satz auch nur vollendet hatte. Immer wenn er ein Gespräch so anfing, wurde etwas ganz besonders lächerliches daraus.

„Du nimmst mich nicht ernst!“, maulte Satsu scherzhaft, froh darüber, daß der Vocal überhaupt mal lachte. Das war ja schon selten genug.

„Entschuldige. Was gibt es denn?“

„Hör mal, wir machen hier zwar richtig geile Musik und alles, und ich weis, daß dein Power-Gesang den Hauptanteil am Sound einnimmt, aber ich fühle mich an meinem Schlagzeug in letzter Zeit ein wenig unterfordert. Ich würde gern mal richtig aufdrehen. Ich will jetzt nicht hochnäsig oder selbstgefällig klingen ...“

„Satsu, immer mit der Ruhe. Du bist ein erstklassiger Schlagzeuger und dafür musst du dich nicht entschuldigen. Wenn du dich noch weiter steigern willst, ist das doch super. Mach dich nicht kleiner als du bist.“ Katori überlegte kurz. „Ich glaube, ich hab da genau das richtige für dich. Der ist wirklich anspruchsvoll. Eigentlich wollte ich ihn noch entschärfen, bevor ich ihn dir gebe, aber versuch dich doch mal dran!“ Enthusiastisch klappte er seine Mappe auf und zog nach kurzem Suchen einen Songtext heraus. Er war dicht bekritzelt mit Drumsymbolen und Taktangaben, die Satsu schon beim ersten Blick den Kopf schwirren ließen.

„Fett.“, meinte er ernüchtert. Das war gleich eine GANZE Klasse über seinem Standard.

„Das ist ein Song, in dem das Schlagzeug echt gefeiert wird. Sehr schnell, sehr wechselhaft, du wirst einen großen Aktionsradius brauchen.“

„Das sehe ich. Das ist Wahnsinn, Ka. Das krieg ich doch nie im Leben alles gleichzeitig getaktet.“

„Musst du ja auch nicht. Wir können das Schlagzeug im Studio ja über zwei oder drei Tonspuren aufnehmen.“

„Dann werden wir den Song aber niemals live spielen.“

„Dann spielen wir ihn eben niemals live. Ist doch auch nicht schlimm.“, gab Katori zwischen fröhlich und sanftmütig zurück.

„Okay, ich geb mein bestes! Ich werde ihn einstudieren!“

„Lass dir Zeit damit. - Oh, da fällt mir ein, Haruko hatte mir ja auch seinen neuen Song gegeben. Ich hab ihn mir inzwischen zu Gemüte geführt. Hast du das Schlagzeug dazu schon drauf?“

„So halbwegs, ja.“

„Wir können ja mal versuchen ihn zu spielen. Mal schauen, wie weit wir kommen.“

„Meinst du <gato mio>? Yeah, lass uns loslegen!“ Haruko sprang aus der Sofaecke hoch und schnappte seinen Bass.
 

Katorihito fand ein Stück weit in die Realität zurück, als er mitbekam, wie das Schlagzeug hinter ihm ins Stolpern kam und die Gitarre verklang. Er brach seinen Gesang ab, in dem er gerade komplett versunken war wie in einer eigenen Welt, schaute in die ungläubigen Gesichter seiner Bandkollegen, musterte kurz sein Textblatt und schaute dann wieder fragend in die Runde. „Hab ich was falsch gemacht?“, wollte er verunsichert wissen.

„Hast du diese ganze Hammer-Passage wirklich gerade auf einen Atemzug gesungen?“, wollte Mao wissen.

„Ja!?“, meinte der Vocal irritiert. Er wusste noch nicht so richtig, ob die stolz auf ihn waren oder fassungslos.

„Wie schaffst du es, so lange mit solcher massiven Power zu singen und am Ende sogar noch genug Luft für ein langgezogenes Finish zu haben, ohne dabei an Sauerstoffmangel zu ersticken?“

„Training und Technik. ... Hauptsächlich Technik.“

Alle schüttelten den Kopf und widmeten sich wieder ihren Instrumenten.

„Soll ich es anders singen? Haru, wie soll der Song denn sein?“

„Nein, nein, alles super.“, gab der Bassist und Songwriter zurück. „Wir sind nur baff, wie phänomenal du bist, ohne daß du es selber merkst. Mach weiter so.“ Er hob motivierend den Daumen, um zu zeigen, daß er mehr als zufrieden war.

Verwirrt las Katori den Songtext in seiner Hand durch, als stünden dort verschlüsselte Botschaften, die ihm halfen, seine Band besser zu verstehen.

„Nochmal von vorn, oder?“, warf Satsu ein.
 


 

„Du, Katori, ich sag´s nur ungern, aber das Mikrophon ist keine Deko. Du kannst damit nicht so rumfuchteln, du sollst reinsingen.“

Der Vocal schaute kurz dumm auf den Mikroständer, den er sich über beide Schultern gelegt hatte wie ein Joch. „Entschuldige.“, meinte er dann kleinlaut und stellte die Konstruktion an ihren Platz zurück.

„Wir sollten ihm das Mikrophon doch in die Hand geben. Vielleicht klappt das besser. Dann kann er auch auf der Bühne rumrennen, wenn er´s denn eben so braucht.“, warf Mao resignierend ein.

„Ein Headset wäre vermutlich noch besser.“, konterte Haruko.

Sie hatten nun lange genug versucht, Katorihito an seinem Platz auf der Bühne festzunageln. Er war beim Singen einfach zu agil. Entweder er rannte vom Mikrophon weg – was natürlich blöd war, wenn man ihn noch hören sollte – oder er schleppte pausenlos den kompletten Mikrophonständer kreuz und quer durch die Gegend. Wobei auch letzteres keine Garantie dafür war, daß er das Mikro auch wirklich weiter benutzte. Er vergaß die Elektronik einfach, wenn er sang.

Katorihito seufzte ein wenig ernüchtert. Nun war ihm die Lust auf´s Singen etwas vergangen. Und wenn er in die Gesichter seiner Band schaute, war deren Motivation auch langsam aufgebraucht. „Lasst uns an den Outfits weiterarbeiten, was haltet ihr davon? Ich hab mir Special-Effekt-Schminke gekauft, die ich endlich mal antesten muss.“

„Hast du sie dabei?“, wollte Mao wissen.

„Ja.“

„Na dann los. Dann kann ich ja auch an meinem Drahtschmuck weiter rumbiegen.“
 

„Huoi!“, machte Satsu überrascht, als sein Vocal von der Toilette zurückkam. „Du warst aber mit der Schminke nicht sparsam!“, stellte er fest. Nur auf der Toilette gab es Spiegel, vor denen sie sich antünschen konnten. Inzwischen bastelten sie allesamt an ihrer Bühnenaufmachung und Katori schien seinen hellen Spaß daran zu haben.

„Ja, bei Raumbeleuchtung ist das ganz schön krass, was? Aber für die Bühne ist es genau richtig. Dimmt mal das Licht runter und guckt mich dann nochmal an!“

Mao, der gerade am nächsten am Lichtschalter stand, kam der Aufforderung sofort nach. „Immer noch ziemlich heftig.“

„Na hört mal, wollen wir Visual Kei sein, oder nicht?“

„Deine Haare passen noch nicht zu Visu.“

„Mit denen bin ich ja auch noch nicht fertig.“, hielt Katori übertrieben belehrend dagegen.

„Scheiße!“ Satsu sprang wie von der Tarantel gestochen hinter seinem Schlagzeug hoch. Alle schauten ihn verdutzt an. Solch eine Wortwahl waren sie von ihm nicht gewohnt. Hektisch begann er seinen Krempel zusammenzusuchen. „Ruri wird in 5 Minuten hier sein! Haruko, wir müssen weg!“

„Hallo?“, warf Mao perplex ein, um seiner Verständnislosigkeit Ausdruck zu verleihen.

„Mao, Katori, ihr kümmert euch um ihn, okay? Zeigt ihm den Probenraum und erklärt ihm ein bischen, was hier Phase ist, und so ...“

„Warum?“

„Weil du mit Ruri befreundet bist und Katori wenigstens fachlich eine gute Meinung von ihm hat.“

„Nein, ich meinte: Warum verschwindet ihr zwei? ... Nagut, warum Haruko nicht hier sein sollte wenn Ruri kommt, sehe ich ein.“, gestand der Gitarrist kleinlaut.

„Wir sehen uns morgen zur üblichen Zeit, tschaui!“, flötete Satsu noch, dann war er auch schon zur Tür hinaus und zog seinen Bassisten hektisch mit sich davon.

Katorihito und Mao sahen sich gegenseitig vielsagend an. „Das meint er jetzt nicht wirklich ernst, oder?“

„Sieht ganz so aus, doch. Ich finde, wenigstens er als Bandleader hätte da sein sollen, wenn es darum geht, ob ein neues Mitglied in die Band kommt oder nicht.“

„Tja ... dann soll er sich hinterher aber auch nicht beschweren, wenn Ruri wirklich bleiben will.“, gab Mao grinsend zurück.
 


 

„Wouw. Ihr habt nächste Woche eure Live-Premiere, oder?“ Ruri spazierte mit großen Augen und der Euphorie eines kleinen Kindes im Probenraum herum und sah sich alles genau an. Die Bilder an der Wand, der Markenname auf den Drums von Satsus Schlagzeug, die herumliegenden Bass-Ersatzsaiten, Satsus unaufgewaschene Kaffee-Tasse, Katorihitos Tabellenkalkulation auf dem offenstehenden Laptop, ihm entging kein Detail.

„Erinner mich bloß nicht da dran.“, nörgelte Mao. „Mir ist schon ganz schlecht. Ich bin nervös wie eine Tüte Mücken.“

„Ach Quark, komm schon, es wird alles super laufen. Wir rocken den Staub aus den Mauerritzen.“, warf Katori beruhigend ein.

„Darf ich mitspielen???“

„Nein!!!“, schnappte Mao eine Spur schärfer als nötig.

„Ruri, du kannst kein einziges unserer Lieder. Und du wirst sie vermutlich auch nicht binnen 4 Tagen lernen. Was willst du da?“, wollte auch der Vocal wissen.

„Naja, ich dachte, vielleicht lerne ich bis dahin ja zumindest einen Song und ihr lasst mich wenigstens bei der Zugabe mitspielen.“ Ruri grinste siegessicher.

„Au ja, Satsu wird begeistert sein.“, gab der Gitarrist zynisch zurück.

Katori winkte ihm unterbrechend zu. „Hör zu, Ruri. Du weist selbst, welchen Ruf du hast. Haruko wird sich definitiv nicht mit dir rumärgern. Und Satsu ist sich auch noch nicht so richtig schlüssig, ob er dich wirklich hier haben will. Ich schätze, wir alle sind besser beraten, wenn wir dir nicht vorgaukeln, hier sehr willkommen zu sein. Wir sollten mit offenen Karten spielen.“

„Du meinst, das wird nix mit euch und mir?“

„Ich meine, du solltest dir keine allzu große Hoffnung machen, wenn du nicht vorhast, ganz gehörig an deiner Art zu arbeiten. Du bist ein verdammt guter Gitarrist und Songwriter, das will dir keiner absprechen. Aber für Exzentriker ist in einer Band, die mit ihrer Musik ihren Lebensunterhalt verdienen will, einfach kein Platz.“

„Ich wünschte, Satsu hätte dich jetzt gehört.“, meinte Mao leise. „Das ist genau die Art von klarer Ansage, für die wir dich so lieben. Satsu hätte das niemals so treffsicher in Worte fassen können.“

Katorihito verdrehte nur die Augen.

„Ach ja, hey, wo ist Satsu überhaupt? Ich dachte ja, er wäre bloß mal kurz aus dem Zimmer. Aber inzwischen ist er schon so lange weg ... er kommt nicht mehr, oder?“

„Nein. Er und Haruko sind gegangen.“, gab Mao ehrlich zurück.

„Mögen sie mich so wenig?“

Der Gitarrist musste bewusst an sich halten, nicht nachdenklich den Kopf hin und her zu wiegen, sonst wäre es zu sehr aufgefallen, daß er sich eine Ausrede überlegte. „Nein. Sie wollten nur, daß du dir erstmal alles in Ruhe mit mir ansiehst und schaust, ob es dir bei uns überhaupt gefällt. Weil du und ich doch Freunde sind.“

Ruri grinste. „Du bist lieb, Mao, aber anlügen musst du mich nicht.“

„Wieso bist du hergekommen, wenn du es wusstest?“

„Weil ich damit leben kann. Ich lege keinen Wert darauf, von allen gemocht zu werden. Ich lege auch keinen Wert darauf, von Satsu oder Haru gemocht zu werden. Oder von Katorihito hier.“, fügte er mit einem Deut auf den Vocal an. „Ich will einfach nur so gut Musik machen wie ich kann. Meine Meinung ist, Professionalität setzt keine Sympathie voraus. Ich will Arbeitskollegen, und keine Kumpel.“

„Sympathie braucht es vielleicht nicht, aber zumindest gegenseitige Akzeptanz und rücksichtsvolles Miteinander.“, warf Katorihito sachlich ein. „Und daran fehlt es dir. Hast du dir überhaupt schon überlegt, was du bei uns machen willst? In einer Band mit zwei Gitarren ist immer eine Gitarre rhythmusgebend und eine die melodiegebende Leadgitarre. Mao hier ist eher der rhythmische Typ, und nach allem was ich von dir kenne, bist du auch Rhythmiker. Ihr solltet euch schonmal drum streiten, wer von euch beiden Leadgitarrist werden muss.“
 


 

„Was ist das denn jetzt?“

„Ich hab einen neuen Bass.“

„Den hattest du doch gestern noch nicht.“, meinte Satsu argwöhnisch und beobachtete weiter, wie sein blonder Bassist hektisch versuchte, einen Tragegurt an das unbekannte Instrument zu fummeln.

„Nein, musste mir heute früh schnell einen neuen beschaffen, hab meinen geschrottet.“, gab Haruko kleinlaut im Telegrammstil zurück.

„Du gehst mit einem Instrument auf die Bühne, das du noch NIE gespielt hast? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Haben wir jemals Sound-Check damit gemacht? Verträgt sich der Bass überhaupt mit unseren Röhrenverstärkern? Was, wenn sich die Technik aufschaukelt!? Hast du die Saiten vernünftig aufgedehnt, damit dieses Ding wenigstens halbwegs stimmstabil ist? Die Saiten sind doch sicher brandneu! Unsere Tontechniker werden eine Macke kriegen! Und wir auch, wenn du nach jedem Lied nachstimmen musst!“

„Das ist eine Fender, die wird schon funktionieren.“

„Fender!“, jaulte Satsu hysterisch. Er hasste Fender!

„Jetzt steigert euch nicht rein.“, seufzte Mao aus dem Hintergrund. „Mach wenigstens noch das Preis-Etikett ab, das da baumelt, bevor du auf die Bühne gehst.“

Kopflos, aber hektisch nickend, machte sich der Bassist am Preisschild zu schaffen. In seiner Nervosität riss er es letztlich einfach ab.

Satsu schloss kurz die Augen und faltete mit einem tiefen Durchatmen die Hände auf der Nasenspitze. Immer mit der Ruhe. Alles würde gut werden. Hilfesuchend öffnete er die Augen wieder, weil der übliche Seiten-Kommentar ausblieb, der ihn sonst immer wieder auf den Boden zurückholte. „Wo ist Katori?“, wollte er verdutzt wissen.

„Ähm ... nebenan?“
 

Katorihito stützte mit beiden Händen an dem großen Wandspiegel, hatte den Kopf aber gesenkt, um nicht hineinsehen zu müssen. Er wirkte endfertig, als müsse er sich abstützen, obwohl das Konzert noch nichtmal angefangen hatte.

Der Drummer zog die Tür hinter sich zu, als er eintrat, damit die anderen beiden nicht auf die Idee kamen, ihm zu folgen. „Bist du aufgeregt?“, wollte er sanft wissen. Nur nicht laut reden. Ruhe ausstrahlen. Obwohl er selber kaum noch welche hatte.

Der Vocal hob schwerfällig den Kopf wieder und musterte sich selbst im Spiegel. „Ob es auffällt, wenn ich den Seidenschal weglasse?“, gab er zurück, was nicht ansatzweise zu der gestellten Frage passte. Ein Ablenkungsmanöver. Das kannte Satsu von ihm. Und meistens duldete er es auch. „Ich werde auf der Bühne sterben, wenn ich ihn trage. Das blöde Teil ist so warm ...“
 


 

Katorihito kam als letzter in die Umkleidekabine und lies sich schwer auf eine Bank fallen. Obwohl seine Ohren vom Krach des Konzertes halb taub waren, drangen die Zugabe-Rufe des Publikums selbst bis hier zu ihm durch. Er lehnte sich nach vorn, stemmte den Ellenbogen auf seinen Oberschenkel und wollte die Stirn in die Hand stützen, wurde aber von einem ekelhaft unguten Gefühl daran gehindert. Ihm drehte sich der Magen um. Entsetzt starrte er auf seine Hände, die plötzlich zitterten als hätte er fortgeschrittenes Parkinson. „Scheiße.“, flüsterte er leise, fast panisch werdend und sah sich um. Seine Bandkollegen waren zum Glück zu fertig und zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um es so direkt mitzubekommen. Der Vocal fuhr von der Bank hoch und versuchte ruhig zu atmen. Er musste sich bewegen, in Bewegung bleiben, seinen Kreislauf oben halten. Verdammt! ... Verdammt, verdammt, verdammt, das ganze beschissene Konzert hatte er durchgestanden, und jetzt fing es doch noch an! Mist!

„Was ist denn los?“, wollte Satsu müde wissen, als Katorihito so unvermittelt hochsprang.

„Die ... die Fans rufen nach Zugabe. Wir werden nicht drumrum kommen, wieder rauszugehen.“, keuchte der Sänger und krampfte die Finger in seine Jackenaufschläge, um das Zittern zu unterdrücken.

„Lass mich doch wenigstens noch ein trockenes T-Shirt anziehen. Ich bin komplett durchgeschwitzt.“, murmelte Satsu, musterte ihn aber trotzdem skeptisch.

„Ja, man, und du solltest mal nen Blick in den Spiegel riskieren, Katori.“, warf Haruko von der anderen Seite ein. „Deine Haare und dein Make-up ... bei dir ist Styling ja quasi nicht mehr vorhanden.“

Katorihito wandte sich ab und ging zur Tür, darum bemüht wenigstens nicht zu auffällig loszustürzen. Er wollte nicht in den Spiegel sehen. Er wusste genau, wie er jetzt gerade aussehen würde. Er schnappte nach Luft! Verdammt! Luft! Er erstickte! Er musste hier raus! Oder Wasser! Ja, ein Waschbecken! Die Toilette, das war eine Option!

„Der sieht nicht aus, als würde er noch ne Zugabe durchstehen.“, hörte er Mao durch die offen gelassene Tür noch sagen, dann war er schon außer Hörweite.
 

„Ka?“

Der Sänger antwortete nicht. Er rang nur weiter um Luft, während er mit einer Hand schwer auf dem Waschbecken stützte und mit der anderen kaltes Wasser unter dem laufenden Wasserhahn hervorzuschöpfen versuchte. Er zitterte so stark, daß ihm das Wasser ungehindert durch die Finger rann. Bis in sein Gesicht bekam er es nicht, keine Chance. Aber auf der Hand tat es auch schon gut.

„Ka, alles okay bei dir?“

„Willst du eine ehrliche Antwort?“

„Schon gut.“

Katorihito richtete sich vorsichtig auf, damit ihn das Schwindelgefühl nicht von den Füßen holte, vermied den Blick nach vorn in den Spiegel und sah Satsu an, der ihm auf die Toilette gefolgt war.

„Ruft das Publikum immer noch nach Zugabe?“, wollte er heißer wissen und drehte unbeholfen den Wasserhahn ab.

Der Drummer lauschte kurz in die Umgebung. „Ja.“

„Dann los.“

Satsu sah ihn endlose Sekunden strafend an. Er wusste, was mit dem Sänger los war. Er kannte ihn und seine Geschichte. Er wusste, was aus seiner letzten Band geworden war und warum er nicht Bandleader werden wollte. All diese kleinen Puzzleteile, die nur Satsu kannte und zu einem Bild zusammenfügen konnte. Er wusste aber genauso gut, daß er Katorihito nicht würde ausreden können, in diesem Zustand nochmal auf die Bühne zu gehen. Und vor allem – und das war das schlimmste – wusste er, daß Katorihito jetzt gleich auf der Bühne wieder phänomenal sein würde, als wäre nichts gewesen. Der Kerl war wie ein Stehauf-Männchen, eine Maschine die einfach funktionierte wenn sie musste. Er war kompromisslos gut und zog konsequent, fast gewaltsam seine Show durch, ohne Rücksicht. Unter Menschen merkte man ihm nie im Leben an, was wirklich mit ihm los war. Die „professionelle Ernsthaftigkeit“, wie Satsu es immer nannte, war nur eine Phasette davon. Aber wenn Katorihito wirklich allein und unbeobachtet war, fiel er in sich zusammen wie ein Häufchen Elend. Nur Satsu wusste, daß der Vocal mitunter tagelang nichts aß, letzte Nacht nur eine halbe Stunde geschlafen hatte und psychisch kurz vor dem Zusammenbruch stand.

Satsu seufzte. „Gut, wenn du darauf bestehst ...“, meinte er resignierend und hielt dem Schwarzhaarigen die Tür auf. Brachte ja nichts. Ein <nein> stand gar nicht zur Debatte, das wusste er genau. Katorihito richtete sich spürbar auf und straffte seine Schultern. Seine schwarzen Augenringe und die Blässe auf seiner Haut waren binnen Augenblicken wie weggeblasen, der leidende Ausdruck in seinen Augen einfach verschwunden. Man merkte ihm absolut nichts mehr an. Diese Verwandlung, die sich an Katorihito vollzog, hatte Satsu bisher nicht oft gesehen, aber sie machte ihn immer wieder fassungslos. Und er fragte sich, wie lange der das noch würde durchziehen können, bevor er endgültig zusammenklappte.

„Mikro!“, verlangte der Sänger im Gehen.

„Ich glaube, das hast du auf der Bühne liegen lassen.“ Er steckte im Vorbeilaufen den Kopf in die Umkleidekabine und rief den beiden Saitenzupfern zu, daß die Zugabe losgehen sollte.
 


 

Katorihito verließ die Bühne als letzter und schenkte Satsu, der sich noch mit besorgtem Blick zu ihm umdrehte, ein beruhigendes Victoria-Zeichen. Zufrieden drehte sich der Drummer und Bandleader wieder um und stapfte voran. Die anderen folgten ihm matt. Auch Katori war müde. Sie hatten die Halle echt gerockt. Sie waren voll abgegangen, das Publikum hatte bei der Zugabe nochmal getobt wie ein Hexenkessel und er selbst war nochmal zur Höchstform hochgefahren. Ihr Debüt war ein voller Erfolg gewesen. Jetzt fühlte er sich wieder ein bischen komisch. Katorihito lies sich ein paar Schritte zurückfallen, lächelte den anderen noch müde hinterher und bog dann wortlos in einen Seitengang ab, ohne daß es jemand merkte.
 

„Au man, ich bin fertig.“, gestand Mao.

„Ja, man, aber wir haben denen richtig eingeheizt. Ich glaube, wir haben einen bleibenden Eindruck hinterlassen.“, gab Haruko zufrieden zurück.

„Hm, Ka hat gut durchgehalten ... ich meine, er hat sich gut gehalten. - Wo ist der überhaupt?“

„Sicher nur auf dem Klo.“, warf Haruko ruhig ein.

Satsu sah auf die Uhr. Als versuche er abzuschätzen wie lange Katorihito schon weg war. Aber sie waren erst vor Sekunden von der Bühne gekommen und hier im Aufenthaltsraum gelandet. Sie hatten sich noch nichtmal umgezogen, sie trugen noch ihre Showklamotten und die Instrumente auf den Schultern. „Ich geh ihn trotzdem mal suchen.“, beschloss er mit einem unguten Gefühl, das er vor den anderen nur mit Mühe verbergen konnte.

Haruko schüttelte den Kopf, als die Tür hinter ihrem Leader zugefallen war. „Warum macht er neuerdings so einen Wind um Katori?“

„Lass ihn doch, er wird schon einen Grund haben.“, gab Mao verteidigend zurück. Er hatte schon eine ganze Weile den Verdacht, daß zwischen Satsu und Katorihito etwas nicht stimmte, oder zumindest mehr vor sich ging als die anderen wissen durften. Er wusste nicht was, und er hütete sich auch danach zu fragen. Aber Haruko schien bisher nichts aufgefallen zu sein. Mao vertraute einfach darauf, daß Satsu sie schon über alles in Kenntniss setzte, was wichtig war.
 

Satsu stockte der Atem, als er in das kleine Equipmentlager kam. Da er den Vocal nicht an den Plätzen gefunden hatte, wo man ihn hätte vermuten können, hatte er begonnen, wahllos alle Türen abzuklappern, an denen er vorbeikam. Und er hatte ihn gefunden. Bewusstlos auf dem blanken Boden liegend, zwischen einigen Kisten und Kabelrollen. Er brauchte eine Sekunde, um zu erfassen, was er da eigentlich sah.

„Ka!“, keuchte er dann endlich und hechtete zu ihm. Als er sich langsam wieder in den Griff bekam und Herr der Situation wurde, fluchte er ungehalten los. Das hier war genau das, was er die ganze Zeit hatte kommen sehen. Und er war stinksauer, daß Katorihito sich dafür auch noch versteckt hatte, damit ihm auch ja keiner half. Ihm hätte sonstwas passieren können. Im Zweifelsfall wäre er erst nach Tagen gefunden worden, wenn Satsu ihn in seiner kontrollwahnartigen Vorahnung nicht sofort überall suchen gegangen wäre. Das Lager machte keinen sehr oft benutzten Eindruck.
 


 

„Ich hab einen Song geschrieben!“, jubelte Satsu, als er Tage später in den Probenraum platzte und mit einem Zettel winkte. Ein irgendwie gehässiges Grinsen lag auf seinen Lippen. Katori hatte spontan den Verdacht, daß ihm dieses Ding zur echten Herausforderung gereichen würde. Wenn ein Rhytmus-Junkee Texte schrieb, wurde sicher was sehr mathematisches, taktreiches draus.

„Also ... er ist ... naja ... Ich bin noch unschlüssig, wie man das am besten singen könnte. Ich glaube, du solltest besser mal selber schauen, wie du dir den Text auf die Takte verteilen willst, Katori. Ich fürchte, ich habe ein paar echt miese Zungenbrecher eingebaut.“

„Das ist jetzt die Revange für die Drum-Orgie, die ich dir neulich auf´s Auge gedrückt habe, oder?“, gab der Vocal nur zurück, noch unschlüssig ob er amüsiert oder erstmal pauschal überfordert sein sollte, und streckte die Hand nach dem Papier aus. Er war den ersten Tag wieder da. Nach dem Konzert war er für ein paar Tage kommentarlos verschwunden. Er war weder zu den Proben aufgetaucht, noch hatte er sich gemeldet. Mao und Haruko hatten ihn seit dem Verlassen der Bühne nicht mehr zu Gesicht bekommen, und Satsu hatte nichts gesagt. Weder in all den Tagen in denen von dem Frontmann jedes Lebenszeichen gefehlt hatte, noch jetzt wo er wieder hier saß. Er hatte nur die Label-Manager und seine beiden verbliebenen Bandkollegen mit ungewohnter Konsequentheit im Zaum gehalten. Das Thema wurde regelrecht totgeschwiegen, und zwar mit solcher Vehemens, daß Mao und Haruko sich gar nicht getrauten zu fragen, wenngleich man ihnen einen gewissen Argwohn doch anmerkte. Sie unterstellten ihrem Drummer sehr wohl zu wissen, was los gewesen war, und fühlten sich an den Ereignissen nicht ausreichend beteiligt.

„Sagt mal, hat sich Ruri eigentlich jemals wieder bei uns gemeldet?“, warf Satsu scheinbar ohne Sinnzusammenhang in den Raum. Aber Katorihito entdeckte da auch schon die zweite Gitarrenstimme auf dem Textblatt und wusste sofort, worauf er hinaus wollte.

„Ich hätte da auch noch einen Song.“, warf Haruko ein, ohne den Bandleader zu beachten. „Der Melodieverlauf ist sehr anspruchsvoll. Kennst du das, wenn man so inbrünstig singt, daß einem der normale Melodierahmen nicht mehr ausreicht und man den vorgegebenen Tonumfang einfach sprengen muss? Diese Ausdruckskraft und Intensität wird im Laufe dieses Songs dreimal gesteigert.“

„Au man, Leute, ihr hattet ja ein Kreativitäts-Feuerwerk. Was ist los mit euch?, seufzte der Sänger. Er fand es zwar toll, daß seine Bandmitglieder alle so viele Ideen hatten, aber irgendwann mussten sie die ganzen Lieder ja auch erstmal einstudieren und am besten auch gleich aufnehmen. „Ruri hat abgedankt. Er sagte, unsere Musik wäre doch nicht so sein Fall. Er will was anderes spielen als wir.“, fügte er beiläufig an.

„Hattest du Kontakt zu Ruri?“, wollte Satsu zwischen erstaunt und sauer wissen. Mit diesem Sacktreter Ruri, den er nichtmal sonderlich leiden konnte, betrieb er Konversationen, und ihn, seinen Bandleader und langjährigen Freund, würdigte er tagelang keines Lebenszeichens nachdem er ihn bewusstlos hinter der Bühne aufgesammelt hatte? Unerhörte Frechheit.

Katori nickte nur wortlos, während er konzentriert den Songtext in seiner Hand durchlas. Schweigen setzte ein, skeptisch beobachtet von Mao und Haruko, der sich eingeschüchtert an seinem neuen Song festhielt, welchen er ebenfalls gerade hatte loswerden wollen. Der Drummer atmete einmal kurz durch und regte sich ganz bewusst wieder ab. Er wusste, daß das Verhältnis zwischen Katori und Ruri nicht so gewöhnlich war wie man gemeinhin annahm. Er konnte es Katorihito nicht verübeln.
 

In diesem Moment zerriss der Sänger mit ernster Miene Satsus Songtext und knüllte die Überreste mit einem entschiedenen „Auf keinen Fall.“ zu einem Ball zusammen. Dieser landete dann in einem treffsicheren Bogen im Mülleimer.

„Was ... Hallo?“, machte Satsu perplex. „Wenn ich was dran ändern soll, dann SAG es gefälligst, und zieh hier nicht so eine Nummer ab!“, maulte er überfordert.

„Da dran gibt es nichts zu ändern. Schreib einfach einen neuen.“ Der Schwarzhaarige erhob sich mit einer so souveränen Körpersprache, daß Mao und Haruko automatisch aufsprangen, um ihm eilig Platz zu machen, und verließ den Probenraum.

„Katori wirkt ziemlich unausgeglichen. Ist irgendwas passiert?“, wollte der Bassist vorsichtig wissen. Und wenn sogar er mit seiner kaum vorhandenen Sozialkompetenz sowas schon sagte, musste es wirklich unübersehbar sein. Während Satsu einen Augenblick traurig die zugefallene Tür ansah, fischte Mao den Songtext wieder aus dem Papierkorb und entknitterte die Einzelteile.

„Er sollte es euch besser selber sagen.“, gab Satsu ruhig zurück und nahm seinem Gitarristen das Papier aus der Hand, bevor er es ganz zu Ende gelesen hatte.

„Das ist ein verdammt guter Text. Was hat Katori dagegen?“, protestierte der.

„Und wieso ist er nach dem Konzert spurlos verschwunden und tagelang nicht wieder aufgetaucht? Satsu, du weist irgendwas!“

„Bitte, Jungs. Fragt ihn selber. ... Nein. Ich weis nicht, ob ich euch lieber bitten soll, ihn selber zu fragen, oder ihn in Ruhe zu lassen.“

Haruko verschränkte die Arme. „Ist das wieder so eine Arschloch-Nummer wie in den ersten 3 Wochen? So ein fucking Test, um zu sehen, wie wir reagieren?“

„Nein. Das hier ist bitterer Ernst.“, gab Satsu nur zurück.

Mit einem leisen Murren schnappte Mao nach seinem Handy und schickte eine sms an Ruri. Er musste sich unbedingt mit ihm treffen. Möglichst bald.
 


 

„Oh, hey, du bist aber früh dran.“, meinte Ruri und streifte sich die Lederjacke ab, als er in das Cafe kam und Mao bereits mit einer halb ausgetrunkenen Cappuccino-Tasse darin saß.

„Danke, daß du kommst.“, entgegnete Mao nur. Er wollte sich nicht die Blöße geben, zu sagen, daß er schon seit fast einer Stunde hier saß und auf Ruri wartete, weil er es vor Nervosität und Klärungsdrang nicht mehr aushielt.

Suchend schaute Ruri sich um. „Wo ist Ka?“

„Er wird nicht kommen.“

Ruri hielt kurz in allen Bewegungen inne, schaute ihn fragend an, setzte sich nach einem Moment des Haderns aber doch. „Wie, er wird nicht kommen! Sagtest du nicht, wir müssten reden? ... Du hast ihm gar nicht gesagt, daß wir uns hier treffen, oder?“

„Nein.“

Ruri lehnte sich seufzend auf seinem Stuhl zurück. Verdammt. Er konnte sich schon denken, worum es ging. Jetzt erst recht. Das war nicht gut. Er hatte eigentlich nicht vor, Katorihitos Belange auszuplaudern, wenn dieser nichtmal anwesend war.

„Ich brauche deine Hilfe, Ruri, bitte.“ Ohne auf Zustimmung oder Protest zu warten, begann der Gitarrist zu erzählen.
 

Ruri saß mit verschränkten Armen da und starrte vor sich auf die Tischplatte. Eine gedrückte Stille stand wie eine Mauer zwischen ihnen, nachdem Mao geendet hatte und er seinen darauf folgenden Gesprächspart nicht angetreten hatte. Er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Oder wieviel er überhaupt erzählen durfte. Katori hatte all die Jahre hart dafür gearbeitet, daß diese Hintergrundgeschichte niemals groß die Runde machte. Eben diese Hintergrundgeschichte hatte ihn allerdings auch ruiniert. Es war ihm nicht gut bekommen, sie für sich zu behalten. Er hatte das alles nie richtig verarbeitet.

„Also ...“, begann Ruri nach einer Weile, nur um überhaupt erstmal was zu sagen und zu signalisieren, daß er noch nicht abwesend war. „Sagt dir X-act was?“

Mao kniff nachdenklich die Augen zu engen Schlitzen zusammen. „Ganz dunkel. Diese Band ist auf ihrem Karriere-Höhepunkt einfach zerfallen. Ich weis nicht viel über die, das war ne komische Musikrichtung, die ich selber nie gehört habe. Ist ja schon etliche Jahre her.“

„Der Bassist ist gestorben und der Rest der Band ist im Streit auseinander gegangen. Darum waren die so plötzlich weg vom Fenster. Erinnerst du dich an den Sänger, Yoku hieß er damals?“

„Schwach, ja.“

„Das war Katori.“

„Oh.“

„Hat sich ganz schön verändert, was? ... Und erinnerst du dich noch an den zweiten Gitarristen Ronin?“, legte Ruri nach, um ihm nicht allzu viel Zeit zum Nachdenken und Fragenstellen zu geben. „Das war ich. Katori und ich waren zusammen in dieser Band. Katori war der Bandleader. Er hat uns zwar ziemlich durch die Terminkalender, Konzepte und Pläne geprügelt, aber scheiße, er hat seine Sache gut gemacht. Wir waren erfolgreich und hatten Spaß an unserer Sache. ... Dann ist unser Bassist gestorben. Burn-Out. Zusammenbruch, Schicht im Schacht. Er musste viermal wiederbelebt werden, beim fünften Mal haben sie es nicht mehr geschafft ihn nochmal zu reanimieren. Er ist noch am gleichen Tag im Krankenhaus gestorben.“

„Fuck.“, hauchte Mao überrumpelt.
 

„Wie man´s nimmt. Der eigentliche Horror fing danach erst an. Unser Drummer und unser erster Gitarrist haben Katori in der Luft zerfetzt. Sie sagten, es wäre seine Schuld gewesen, weil er uns immer solchen mörderischen Druck und solche utopischen Terminvorgaben gemacht hätte. Ich war den beiden nicht gewachsen, also habe ich mich aus diesem Streit rausgehalten, statt Katori zu verteidigen. Und abgesehen davon hatte ich auch eigene Probleme, wegen denen ich so schwierig geworden bin wie mir heute nachgesagt wird. Die zwei haben Katori gemeinschaftlich in einen Nervenzusammenbruch getrieben, er lag wochenlang in einer psychiatrischen Einrichtung. Danach kam die Freundin unseres verstorbenen Bassisten und hat an der Stelle weitergemacht, wo unsere Bandkollegen aufgehört haben. Katori ist wieder in der Psychiatrischen gelandet. Seither hat er endgültig ein paar seelische Narben zurückbehalten. Inzwischen glaubt er selber, für den Tod unseres Bassisten verantwortlich zu sein und hat diese Schuld nie ganz verarbeitet.“

„Shit. Das erklärt dann wohl, warum er sich partu weigert, unser Bandleader zu werden und warum er immer bis zum Umfallen schuftet, um möglichst alle Arbeit selber machen zu können.“

Ruri entknotete seine Arme wieder und lehnte sich auf die Tischplatte. „Wenn es bloß das wäre.“, seufzte er. „Katori hat einen echten Knacks wegbekommen. Ich war ehrlich gesagt zu tiefst erstaunt, als ich hörte, daß er sich wieder einer Band angeschlossen hat. Er hat eine Sozialphobie, er hat monatelang seine Wohnung nicht verlassen und sämtliche Kontakte zu anderen Menschen komplett unterbunden. Satsu hat sich mit einem nachgemachten Wohnungsschlüssel Zugang zu ihm verschafft und ihn regelmäßig mit roher Gewalt aus seiner Wohnung herausgeprügelt, damit er noch zu einem Minimum an Außenweltkontakt gezwungen war. Ich bewundere Satsu für diese Hartnäckigkeit und aufrichtige Freundschaft. Ohne Satsu wäre Katori heute nicht mehr zu retten. Er wäre durchgedreht und würde heute in irgendeiner geschlossenen Anstalt versauern. Euer Drummer hat echt ein Wunder vollbracht.“

Mao wusste einfach keine Worte, die so einer Nachricht gerecht wurden, daher schwieg er völlig überrumpelt.

„Ich frage mich gerade wirklich, wie euer erstes Konzert eigentlich hinter den Kulissen abgelaufen ist. Das erste Mal nach so vielen Jahren, daß Katori sich wieder mit einer größeren Menschengruppe konfrontiert gesehen hat. Schlimmer noch, er hatte auch noch ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Und das gleich über 2 Stunden. Ich hatte ehrlich gesagt damit gerechnet, daß er diesem Druck nicht standhalten würde.“

„Ich weis nicht ... Er ist von der Bühne weg verschwunden und ein paar Tage lang nicht mehr aufgetaucht.“, sinnierte Mao nachdenklich. Schon wieder so ein paar Details, die plötzlich erschreckend viel Sinn gaben. Inclusive Satsus Songtext, den Katori zerrissen und weggeworfen hatte. Er hatte nur wie ein ganz gewöhnliches Gute-Laune- und Motivationslied geklungen. Schön wortgewaltig, ja, aber nicht sehr tiefsinnig. Mit diesem Hintergrundwissen allerdings wurde der Song ein direkt an Katori gerichteter Brief, ein eindringlicher Appell. Kein Wunder, daß Katori ihn hasste.

„Ich habe mir euer Konzert in der Hörhalle angeschaut.“, fuhr Ruri fort. „Katori hat eine Show gespielt. Das da auf der Bühne war nicht er. Das war nur eine ... ich kann das gar nicht beschreiben ... das war ein professionell aufgesetzter Charakter, den er auf der Bühne zur Schau getragen hat. Aber das war nicht er selber. Und wenn er sowas auf der Bühne vor ein paar hundert Menschen hinkriegt, dann kommt mir der leise Verdacht, daß er auch euch all die Monate nur was vorgespielt hat, Tag für Tag, bei jeder Bandprobe und jedem anschließenden zusammen-einen-trinken-gehen, und ihr noch nicht ein einziges Mal sein wahres Gesicht gesehen habt. Ich glaube nicht, daß er seine Sozialphobie jemals überwunden hat. Er hat lediglich Strategien entwickelt, möglichst unauffällig an anderen Menschen vorbeizukommen, ohne sich ihnen wirklich öffnen zu müssen. Nur ewig wird er das nicht durchhalten. Ich weis nicht, was zwischen euch passieren wird, wenn seine psychische Schutzmauer wirklich irgendwann einstürzt.“, fand Ruri mit besorgtem Gesicht.

Mao überdachte das kurz. Nein, das war unrealistisch. In den ersten drei Wochen hatte Katori das Arschloch vom Dienst gespielt und war damit einen rund-um-die-Uhr-Konfrontationskurs gefahren. Er hatte sich 24 Stunden am Tag und 7 Tage die Woche mit ihnen herumgestritten und war dabei arroganterweise immer Herr der Lage geblieben. Haruko war sogar handgreiflich gegen ihn geworden und Katori hatte ihn dafür noch ausgelacht. Das schaffte niemand, der sich wegen seiner Sozialphobie kaum unter Menschen wagte. ... oder? „Meinst du, Katori könnte gefährlich für uns werden?“

„Nein.“ Der fremde Gitarrist schüttelte energisch den Kopf. „Ich meine eher, daß IHR gefährlich für KATORI werden könntet. Wenn er den sozialen Druck irgendwann doch nicht mehr aushält und wieder einen Nervenzusammenbruch bekommt oder abdreht, dann endgültig. Dann wird er nicht mehr wiederherstellbar sein, fürchte ich. Er ist zu vorgeschädigt.“ Ruri seufzte. „Willst du meine ehrliche Meinung hören? Katorihito ist ein phänomenaler Sänger, keine Frage. Aber er sollte nicht mehr als Vocal arbeiten. Bestenfalls als Studio-Musiker. Er sollte besser keine Konzerte mehr vor Publikum geben. Mag sein, daß Satsu sich in den letzten paar Jahren intensiver mit Katori auseinander gesetzt hat und das anders einschätzt. Sicher hat er Katori nicht grundlos gefragt, ob er in seine Band kommen will. Aber ich sehe das trotzdem kritisch. Zumindest solltet ihr euch mit dem Gedanken anfreunden, daß Katori immer in gewisser Weise unnahbar bleiben wird und auch ganz schnell mal nicht mehr da sein kann. Und einen Sänger wie ihn zu ersetzen, ist schwer. Eure Karriere könnt ihr abhaken, wenn Katori ausfällt.“
 


 

Mao schaute gebannt der Tür zu, bis sie hinter Katorihito zugefallen war, dann fuhr er herum. Seine Chance! Haruko war noch nicht da, Katori war gerade in die Küche gegangen, sie waren allein. „Satsu, wir müssen reden!“

Der Drummer lehnte sich leger zurück und griff nach seiner Tasse, bevor er Mao interessiert ansah. „Klar, worum geht´s?“

„Um X-act!“

Satsu prustete seinen Kaffee schockiert in die Tasse zurück und würgte dann eine Weile an einem massiven Hustenanfall. „Wie ... !?“

„Was ist damals wirklich passiert? Sag es mir.“

Satsu packte den Gitarristen am Kragen und zog ihn grob zu sich heran. „Rede niemals über X-act! Niemals, verstehst du mich?“, zischte er ungewöhnlich sauer. „Sonst ist Katori die längste Zeit unser Vocal gewesen!“

„Das Thema muss irgendwann geklärt werden, Satsu!“

„Nein!!!!“

Die beiden lieferten sich ein längeres, finsteres Blick-Duell, dann lies der Drummer Mao´s Oberteil wieder los und sank seufzend in seinen Sitz zurück. „Woher weist du überhaupt von X-act?“

„Google.“, warf Mao schulterzuckend ein.

„Quatsche doch nicht. Auf sowas bist du nie im Leben alleine gekommen. Vermutlich hast du mit Ruri geredet, gib es zu!“

„Ja, schon gut. Ich hätte aber gern noch eine zweite Meinung zu der Sache. Wir können nicht mehr lange so weitermachen, sonst werden wir Katori nicht mehr lange haben.“

„Versprich mir, daß du dieses Thema nie wieder anschneiden wirst! Katori und ich wissen, was wir tun.“, zischte Satsu gedämpft und verstummte dann, als die Tür aufging und der Schwarzhaarige mit etwas zu essen wieder hereinkam.

Katori maß die beiden mit einem allessagenden Blick. Er hatte es mitbekommen. Dann setzte er sich wortlos an den Tisch, stopfte sich ein Stück Teig in den Mund, leckte sich flüchtig die Finger sauber, angelte mit spitzen Fingern sein Handy heraus, legte es auf den Tisch und drückte ein paar Knöpfe. Es war auf Freisprechfunktion gestellt, denn das darauffolgende Klingeln in der Leitung hörte man laut und deutlich im ganzen Probenraum.

„Ka, hey, was macht das Leben?“, drang die Antwort aus dem Lautsprecher. Sie war so verzerrt, daß Mao und Satsu die Stimme erst nach kurzem Überlegen erkannten. Beiden fiel die Farbe aus dem Gesicht.

„Ruri, du bist ein Arschloch.“, entgegnete der Vocal sanft, beinahe amüsiert, ohne sich die Mühe einer Begrüßung zu machen, und schob sich ruhig einen weiteren Teigfetzen in den Mund.

Am anderen Ende der Leitung vernahm man ein Seufzen. „Der kleine Idiot hat es ausgeplaudert.“ Es war eine Feststellung, ganz eindeutig. „Ich hatte ihm extra eingetrichtert, daß er es um Gottes Willen für sich behalten soll.“

„Wieso hast du Mao davon erzählt?“

„Was hätte ich denn machen sollen, Ka? Er hat mich in ein Cafe gelockt und mich konkret danach gefragt. Hätte ich den Unwissenden spielen sollen? Ganz dumm ist Mao ja auch nicht. Ich hatte ihn nur für vertrauenswürdiger gehalten.“

„Schon gut. Hast du heute noch was vor? Unsere Bandprobe fällt aus.“

„Nein. Hab nix vor.“, meinte Ruri gelassen. „Du kannst ja auf nen DVD-Nachmittag vorbeikommen. Bring Sake mit, wenn du kommst.“
 

„Ka ... !? Was meinst du damit, unsere Bandprobe fällt aus?“, wollte Mao verstört wissen, als der Vocal das Telefonat wieder beendet hatte und aufstand, um sich seine schwarze Jacke überzuwerfen.

Katorihito lächelte ihm nur traurig zu und spazierte dann los. Ohne Antwort.

„Satsu!“, meinte Mao panisch.

Aber der Drummer und Bandleader saß nur mit gesenktem Blick auf seinem Stuhl und ließ den Dingen ihren Lauf. Er sagte nichts. Weder verabschiedete er Katorihito, noch hielt er ihn auf.

„Was ist los? Was ist denn los, hey? ... Katori! ... Satsu!“

„Lass ihn gehen.“, bat der Schlagzeuger müde, ohne aufzusehen. „Er hat sich entschieden zu gehen. Du hast Dinge erfahren, die du nie hättest wissen sollen. Katorihito kann mit den Ereignissen von X-act nicht mehr leben. Er erträgt es nicht, wenn irgendjemand davon weis. Er wird nicht wiederkommen.“

„Aber ... was!?“ Mao konnte den vielen verwirrten Fragezeichen in seinem Kopf gar keinen richtigen Ausdruck verleihen. Hastig riss er die Tür auf und stürzte hinaus. „Katori!“, rief Mao ihm im Gang hinterher.

Der Vocal, der sich ganz demonstrativ seine Jacke übergeworfen hatte um zu gehen, blieb kurz stehen und sah zurück.

Mao rang um Worte. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte das akute Bedürfnis, sich zu entschuldigen. Aber wofür? War es falsch, sich um andere Sorgen zu machen und wissen zu wollen, was mit ihnen los war? Egal wie, er musste Katorihito aufhalten. Katorihito durfte nicht gehen. Nicht jetzt. Nicht so.

Als Mao partu nicht weitersprach, schob der Vocal die Hände in seine Jackentaschen und ging einfach weiter. Wortlos.

„Nun warte doch mal.“ Mao beeilte sich, zu ihm aufzuholen. „Wieso hast du so ein Problem damit, wenn jemand von der Sache mit X-act weis? Ich meine, gut, es ist ein unschönes Kapitel in deinem Leben. Aber es ist vorbei. Und niemand macht dir Vorwürfe. Ich nicht, und erst Recht Satsu nicht. Es ist doch alles gut, Katori. Und deine Phobie ... also damit kommen wir auch schon irgendwie klar.“

„Hör auf, Mao. Du machst es nicht besser.“, bat Katori leise. Schwach, als hätte er kaum noch die Kraft, zu reden. Unbeirrt ging er weiter. Immer weiter. Er hatte sein Auto fast erreicht. Mao wusste, wenn Katori da jetzt einstieg und losfuhr, war es für immer vorbei. Sie würden den Sänger nie wiedersehen.

„Bitte! Hilf mir, dich zu verstehen. Rede mit mir.“

Katorihito stieg ein und zog die Autotür von innen zu. Und startete den Motor. Und fuhr ohne Eile los.
 

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„Es tut mir leid, Satsu.“

„Das muss es nicht. Du hättest es nicht verhindern können. Katori wäre so oder so irgendwann gegangen. Es war eine schöne Fantasie von mir, ihn unbedingt halten zu wollen. Aber es war vorbestimmt. ... Ich muss mich bei euch entschuldigen. Ich habe euch mit dieser Band falsche Hoffnungen gemacht. Ich habe euch eingeredet, wir könnten erfolgreich werden und einer langen Karriere entgegen sehen, dabei habe ich im Prinzip immer gewusst, daß es dazu niemals kommen würde. Nicht mit Katori. Verzeih mir.“

„Ich verstehe das alles nicht.“

„Das wirst du wohl auch nie. Die Logik von psychisch angeschlagenen Leuten erschließt sich dem gesunden Menschenverstand nicht. Wir werden Katoris Entscheidungen nie verstehen. Weder warum er zu uns gekommen ist, noch warum er wieder gegangen ist.“
 

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Dreieinhalb Monate später saß Mao alleine im Probenraum und klimperte gedankenversunken auf seiner Gitarre herum. Er wusste nicht, was ihn dazu bewog, immer noch die Miete für diesen Raum zu bezahlen, statt ihn einfach aufzugeben. Vielleicht Nostalgie. Vielleicht Hoffnung. Wenn er ehrlich war, hatte er nie aufgehört, zu glauben, daß Katori plötzlich wieder in der Tür stehen würde. Irgendwann. Aber er tat es nicht. Satsu hatte resigniert das Schlagzeugspielen aufgegeben und ging jetzt einer bezahlten Otto-Normal-Arbeit nach. Er hatte sich schlicht und ergreifend geweigert, es nochmal mit einem anderen Sänger zu versuchen. Dabei hätten ihnen nicht wenige zur Verfügung gestanden. Haruko hatte sich eine neue Band gesucht und feierte damit bescheidenen, szene-internen Erfolg. Und er, Mao? Saß hier in einem leeren, seelenlosen Probenraum mit nackten Betonwänden, in dem nichts weiter als ein abgeranztes Sofa und ein Gitarrenverstärker standen. Und hoffte auf ein Wunder. Und fragte sich hin und wieder, was eigentlich schiefgegangen war. Ob er irgendwas anders hätte machen können? Anders machen sollen? War es Ruris Schuld gewesen, weil der ihm alles erzählt hatte? Oder seine eigene, weil er Ruri überhaupt erst gefragt hatte? War Satsu wohl sauer auf ihn? Ob es Katorihito wohl gut ging? Seufzend legte er die Gitarre zur Seite, ging zum schmutzigen, gardinenlosen Fenster und lies sich für einen Moment oranges Sonnenlicht ins Gesicht fallen.



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