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Der Weg aus dem Kampf

Wenn Träume Berge versetzen
von

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In der Klemme

Kapitel 16

In der Klemme
 

Nachdem der Schlag erfolgt war, wischte sich Mimoun noch immer lächelnd über das Gesicht. Genugtuung über den Zorn erfüllte ihn, doch sein Gesicht erfror zur Maske, als er den ersten Schrei hörte. Entsetzt ruckte sein Kopf herum und so sah er den zufriedenen Ausdruck des Ältesten nicht. Beunruhigt irrte sein Blick über die Fluten. Als der zweite Schrei nur Sekunden später erklang, krampfte sich alles in dem Geflügelten zusammen. Sie durften ihm kein Leid zufügen!

Halb hatte er sich schon erhoben, um in die Richtung der Schreie zu eilen, doch sein Gegner vertrat ihm mit einem schnellen Schritt den Weg. „Wage es nicht!“, drohte er mit eisiger Stimme und der junge Geflügelte ließ sich wieder auf die Knie herabsinken. Was hätte er auch tun können? Allein kam er nicht gegen alle an.

Voll verzweifelter Hoffnung hielt er seinen Blick in Richtung der Schreie, die brutal zerschlagen wurde, als er Dhaôma auf sich zukommen sah. In hilfloser Wut gruben sich seine Finger tief in den Grund. Langsam, um sein Gegenüber nicht noch einmal zu Gewalt zu provozieren, erhob er sich auf seine Füße. Ein kalter Blick warnte ihn davor, auch nur eine unbedachte Handlung zu begehen. Und so blieb ihm nichts als abzuwarten, bis sein Freund bei ihm war. Traurigkeit lag in seinem Blick, den er ihm zuwarf. Und stumme Furcht vor dem Kommenden.
 

Dhaôma schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. Sie hatten doch gesagt, dass sie ihn nicht töten sondern zum Hohen Rat bringen wollten. Vielleicht lief es nicht ganz so wie geplant, aber er hatte eh mit ihnen reden wollen. Sie hatten es ausgemacht. Nur der Fluchtplan war nicht ganz so einfach wie mit Drachen.

Er wandte sich an den Anführer, sofort wieder ernst. Abwartend sah er ihn an.
 

Der Blick, der den Magier traf, war voller Verachtung und Hass. Kurz spuckte er aus und wandte sich ab. Knapp wies er den Abflug an und erhob sich schon selbst in die Luft. Zwei seiner Untergebenen wollten nach dem Magier greifen, als Mimoun dazwischen trat.

„Rührt ihn nicht an!“, zischte er. Wie ein schneller Blick ihm zeigte, klaubten die beiden letzten, die aufgrund der deutlich hörbaren Schreie ebenfalls zurückgekehrt waren, ihre Habseligkeiten zusammen. Es beruhigte ihn ein wenig, dass die Sachen hier nicht zurückgelassen wurden.

„Werde bloß nicht frech, Bengel.“, erklang eine Stimme über ihnen. Mimoun ersparte es sich, zu dem Sprecher aufzuschauen, sondern ließ Dhaôma Zeit sich an seinem Hals festzuhalten, bevor er ihn hochhob und dem Kerl folgte. Beruhigend drückte er den Magier fester an sich. „Ich bleibe bei dir.“, versprach er leise.
 

„Mimoun, du bringst dich in Schwierigkeiten.“, wisperte der Junge genauso leise. „Mir wäre es lieber, das würde nicht passieren.“

Andererseits musste der Schwarzhaarige spüren, wie er zitterte und wie seine Muskeln sich verkrampften. Und er war beruhigt, wenn er daran dachte, gleich nicht völlig allein unter Fremden zu sein.

„Da gibt es noch etwas, das du wissen solltest.“, sagte er leise. „Ich bin nicht gut darin, viele Menschen um mich zu haben.“
 

Mimoun lachte leise. „Ich könnte meiner Mutter nie wieder unter die Augen treten, sollte ich dich wegen einiger Schwierigkeiten im Stich lassen.“ Bei dem anderen Problem konnte er ihm nur bedingt helfen. Er wusste selbst, wie es war, allein im Ring des Hohen Rates zu stehen. Wie versprochen würde er an seiner Seite bleiben und ihm emotionalen Halt geben. Mehr konnte er nicht tun. Mit gleich fünf Verfolgern und dem kompletten Gewicht des Magiers auf seinem Armen konnte er nicht fliehen. Er brauchte es erst gar nicht versuchen.

In einer ganz kleinen Ecke seines Bewusstseins war er froh, dass Dhaôma seine Tasche und damit seine Samen nicht bei sich trug. Er konnte sich lebhaft daran erinnern, was das letzte Mal geschehen war, als der Junge in seinen Armen voller Angst den Beutel umklammert gehalten hatte.

Ihre Bewacher schienen den gesamten Weg durchfliegen zu wollen. Ohne Gnade schwebten sie an einer Insel nach der anderen vorbei. Der junge Geflügelte konnte sich schon denken, was sie bezweckten. Sie wollten ihn ermüden. Niemand konnte so lange allein einen ausgewachsenen Mann tragen. Doch es gab eine Sache, mit der er eine Pause erzwingen konnte. Das Zittern des Magiers war stärker geworden. Konnte man dies anfangs noch auf Furcht zurückführen, war es das nun sicher nicht mehr.

„Wartet.“, rief Mimoun und steuerte die nächstgelegene Insel an. Sie war klein und eignete sich weder zum Bewohnen noch zur Nahrungsbeschaffung. Beinahe sofort waren zwei an seiner Seite und wollten ihn in die ursprüngliche Bahn zurückdrängen. „Wenn wir weiterfliegen, bringt ihr dem Hohen Rat nur eine Leiche. Ich freu mich schon auf eure Erklärung.“ Schon hatte er sein Ziel erreicht und setzte Dhaôma auf dem felsigen Grund ab. Klitschnass war der Junge, obwohl sie schon mindestens zwei Stunden geflogen waren. Er zwang ihn gerade sanft, den nassen Pelz auszuziehen, als der Anführer sich knapp neben ihm fallen ließ.

„Weiter! Der Rat tagt heute!“, herrschte er die beiden am Boden Hockenden an, doch Mimoun schüttelte nur den Kopf. „Das würde ihn umbringen. Magier sind empfindlicher als wir.“ Er ließ sich die Decke reichen und wickelte besagten Magier fest darin ein.
 

Dhaôma sagte dazu nichts, weil er nicht konnte. Damit seine Zähne nicht klapperten, biss er sie zusammen. Er war Mimoun dankbar, dass er daran gedacht hatte. Wenn er sich aber daran erinnerte, dass er ihm einmal gesagt hatte, dass er ihn eben nicht den ganzen Tag tragen konnte, schloss er entmutigt die Augen. Mimoun durfte auf keinen Fall abstürzen. Weder mit noch ohne ihm.

„K-k-kannst d-du mi-ch noch t-tr-tragen?“, stotterte er und nun schlugen seine Zähne doch aufeinander. Fest zog er die Decke um sich. „Ü-übernimm-m dich n-ni-nicht.“
 

Weich lächelte der junge Geflügelte bei diesen Worten. „Mach dir keine Sorgen. Ich überlasse dich nicht diesen Geiern. Wir machen eine Pause bis…“ Weiter kam er nicht, denn ein fester Griff an seinem Kragen zwang ihn nach oben.

„Ich habe kein Interesse, dieses Pestgeschwür länger als nötig in meiner Nähe zu haben. Nach ihm wird verlangt, nicht nach dir.“, zischte der Ältere. „Also. Weiter!“

Mimouns Hände glitten zu der Hand an seinem Kragen und er lächelte überlegen, als er jeden Finger einzeln von dem Leder löste. „Sie werden sehr begeistert sein, wenn ihr ihnen eine Leiche präsentiert. Jetzt noch weiterzufliegen, bringt ihn um.“

Er bekam einen tiefen Schlag in den Magen verpasst, der ihn von der Insel stieß.
 

Das Begreifen der Situation brauchte viel zu lange, um durch seinen von der Kälte betäubten Geist zu gelangen, doch Dhaôma zögerte keine Sekunde, als er verstand, dass Mimoun fiel. Während die anderen Mimoun hinterher sahen und zwei sogar lachten, duckte er sich unter einem der Arme hinweg, die mehr prophylaktisch gehoben waren, denn keiner rechnete damit, dass er wirklich springen würde. Als er es tat, war der Kleine der erste, der reagierte, doch auch er griff nur noch ins Leere.

Noch während er fiel, wusste Dhaôma, dass er soeben eine Dummheit begangen hatte. Wenn Mimoun sich noch abfangen konnte, dann würde er richtig Probleme bekommen, falls er versuchte, ihn auch noch zu fangen. Tränen traten in seine Augen. Was sollte er denn jetzt tun?
 

Es dauerte einige Augenblicke, bevor er den Schmerz bekämpft hatte und sich abfangen wollte. Er musste so schnell wie möglich zurück, bevor diese Bastarde sich an dem Magier vergriffen!

Erstaunen und Angst ergriffen ihn, als er diesen ebenfalls von der Insel fallen sah. Er spannte noch in Rückenlage die Flügel auf, um seine Sturzgeschwindigkeit zu verringern. So hatte der Magier ihn schon nach wenigen Augenblicken erreicht. Noch während er seine Arme um den zitternden Körper schlang, sah er vier Schatten von der Insel abheben und ihnen folgen. Mimoun schlang die Flügel beschützend um den Magier, während er seine Position in der Luft änderte. Langsam versuchte er den Sturz abzubremsen. Stück für Stück bot er dem Wind mehr Widerstand. Ein ruckartiges Abbremsen wäre zuviel für die Flügel gewesen. Nur wenig später spürte er Hände, die sowohl an ihm zerrten, um seinen Sturz zu verlangsamen, als auch an dem Magier, um ihn Mimoun aus den Armen zu nehmen. Doch dieser schlang die Arme nur fester um den Körper. So begnügten sich die anderen damit, sie aufzufangen. Danach zwangen sie ihn sofort zur Rückkehr auf die Insel. Keuchend landete er auf dem sicheren Grund und bettete seinen Kopf auf der Schulter des Magiers.

„Dummkopf.“, murmelte er erschöpft.
 

Dhaôma nickte, bevor er tief durchatmete. Das Adrenalin hatte die Kälte kurzfristig aus seinen Gliedern vertrieben. Mit bitterem Blick straffte er sich.

„Ihr werdet aufhören, Mimoun zu foltern, sonst werde ich nicht mit euch kommen.“, sagte er und seine braunen Augen versprühten eine Härte, die er selten zuvor so empfunden hatte. „Ich kann es nicht leiden, wenn jemand sinnlos Gewalt einsetzt. Ihr braucht euch auch nicht so anstellen. Ihr habt so lange nach mir gesucht, da werden ein oder zwei Stunden mehr oder weniger keinen großen Unterschied machen.“
 

Mimoun begann zu kichern. Ohne hinzusehen, konnte er sich denken, was für Gesichter ihre Begleiter machten. Wütende, da dieser Magier anscheinend seine Position noch nicht begriffen hatte und es wagte, Forderungen zu stellen. Ungläubige, da dieser Magier erneut alles daran setzte, einen Feind zu verteidigen.

Der junge Geflügelte richtete sich wieder auf. „Sie wollen dich.“, erklärte er sanft. „Ich bin ihnen völlig egal. Für sie bin ich nicht mehr wert als Abfall.“ Mimoun tat viel, um die Geflügelten um sie herum aus seiner Wahrnehmung zu streichen. Sie existierten nur als dunkle Bedrohung am Rand.
 

„Aber du gehörst zu ihrem Volk. Wie können sie jemals Frieden wünschen, wenn sie wahllos töten?“ Dhaôma schüttelte den Kopf und wandte sich wieder an die anderen. „Wie schon gesagt, werde ich mitkommen, wenn ihr Mimoun in Ruhe lasst. Er ist ein guter Mensch und solche muss man schützen.“
 

„Das ist so ähnlich wie mit deiner Familie.“, flüsterte er in Dhaômas Ohr, indem er sich wieder vorbeugte, während hinter ihm verächtliches Schnauben erklang. Danach setzte er sich wieder bequemer hin, um ausreichend entspannen zu können. „Für sie bin ich wertlos, weil ich mich nicht mehr am Krieg beteilige.“

„Irrtum.“ Mimoun wandte leicht den Kopf und sah den Sprecher über die Schulter hinweg an. „Da dein Flügel ja augenscheinlich wieder in Ordnung ist, gibt es keinen Grund für dich, der Front fern zu bleiben.“

Mimoun schenkte ihm nur ein überlegenes Lächeln. Er kannte sich gut genug in der Wildnis unterhalb der Inseln aus, um zu flüchten und zu überleben. Niemand würde ihn ständig im Blick behalten, um ihn als Schlachtvieh zu verwerten. Er würde nicht lange an der Front bleiben.

Seine Hand fuhr durch die Strähnen des Magiers, rieb sie zwischen seinen Fingern, um den Feuchtigkeitsgrad zu testen. Er zog die Decke des Magiers höher und über den Kopf.

„Ruh dich aus.“, verlangte er von seinem Freund.
 

Die fünf Wachen tauschten Blicke, bis der Anführer schließlich nachgab und eine Stunde Ruhe erlaubte. Für Dhaôma machte es das kein bisschen besser. Es war und blieb kalt, aber für Mimoun war es wichtig, seine Kräfte beisammen zu halten.

Dhaôma war wütend. Auf diese Männer. Warum sollte er mit den Diplomaten reden, wenn der Grund für seine Kooperation nicht mehr vorhanden war? Diese Leute wollten keinen Frieden. Warum auch immer, aber sie kämpften gerne. Sie waren wie sein Bruder. Und die anderen Geschwister, die schon gestorben waren, hatten auch so gedacht. Was bedeutete es überhaupt, wenn sie neugierig auf ihn waren? Sahen sie ihn als leichte Beute an, von der sie alles über den Feind erfahren konnten? Oder waren sie ernsthaft an seiner Person und seinen Gedanken interessiert?

Die Sonne war noch keine Stunde weiter gezogen, da befahl der Älteste die Weiterreise. Inzwischen behandelte er den Magier eher wie ein Ding denn wie einen Menschen. Ein Ding, das Mimoun zu tragen hatte.

Sicher im Arm des Hanebito ging die Reise weiter. Am Boden, weit unter ihnen, sah er, wie der Fluss sich entfernte. Ihr Reiseziel, die Schlucht des Todes schien in weite Ferne zu rücken. Und sein schönes Boot lag am Ufer dieses Flusses und würde dort verrotten. Diese Hanebito waren echt Barbaren.

Der Braunhaarige beschloss, sie ebenfalls als nichts weiter als Gegenstände zu betrachten und sie zu ignorieren. So wie er die Diener in seinem Haus hatte ignorieren müssen. Genug Übung hatte er ja damit. Wenn er bei den Diplomaten war, würde er sie fragen, warum dieser Krieg stattfand, dann würde er wieder gehen und seine Drachen suchen. An diesen Gedanken klammerte er sich, während er versuchte, die Kälte unter Kontrolle zu halten.
 

Dhaôma war still geworden und auch Mimoun sprach kein Wort. Es gab nichts zu sagen. Nichts, das sich durch Worte ändern ließ. Sie waren Gefangene.

Mimoun drückte seinen Freund fest an sich und versuchte Kräfte sparend zu fliegen, nutzte häufig Luftströmungen, um darauf zu gleiten, denn auch wenn die Ratsinsel glücklicherweise gerade nahe war, war es ein weiter weg. So war sein Kurs nicht unbedingt zielgerichtet, doch nach den anfänglichen Befehlen zur Kurskorrektur an den jungen Geflügelten sahen sie die Sinnlosigkeit ihrer Bemühungen ein. Zwei klemmten sich direkt hinter ihn und folgte seiner Spur. Mimoun schnaubte verächtlich. Als ob er fliehen könnte unter diesen Bedingungen!

Doch alle Bemühungen brachten nichts. Zu sehr zehrte das Gewicht des Magiers von seinen Kräften. Sein Atem ging schwer und seine Bewegungen wurden nach weiteren zwei Stunden zittrig und unsicher. Fast hatte er seinen Stolz und seine Aggressionen gegen ihre Bewacher überwunden, um eine erneute Pause zu erbitten, als er spürte, wie sich Dhaôma in seinen Armen bewegte. Dieser zog die Decke dichter um sich und barg sein Gesicht an Mimouns Schulter. Es musste entsetzlich kalt für ihn sein und er setzte schon an, nach einer Pause zu verlangen, als er die Finger spürte, die über seine Brust krochen. Mitfühlend schaute er dem Magier ins Gesicht. Doch es wandelte sich in Erstaunen, als er dessen Zeichen glühen sah. Nahezu gleichzeitig spürte er seine Kräfte zurückkehren. Er begriff, was sein Freund da tat und es erfüllte ihn mit tiefster Dankbarkeit.

„Schlaf ruhig. Ich passe auf dich auf.“, flüsterte er Dhaôma zu, als das Leuchten erlosch. Dieser wirkte müde und erschöpft und es dauerte nicht lange, bis er tatsächlich in seinen Armen eingeschlafen war.

Erleichtert und nach einer weiteren Pause sah der junge Geflügelte schließlich ihr Ziel vor sich auftauchen. Es war schon fast Abend. Die Insel war größer als die umliegenden und schwebte leicht über ihnen. Aufgrund der Höhe, in der sie schwebte, war es nur dünnem Gras und niedrigen, krüppeligen Sträuchern möglich, sich hier zu halten. Auf dieser Insel lebte niemand. Hier traf sich nur der Rat in regelmäßigen Abständen. Für diesen Zweck wurde in der Mitte ein großer Platz von allen Pflanzen befreit und in gleichmäßigen Abständen erhoben sich die dreißig Steinsäulen, auf denen die Würdenträger zu sitzen pflegten. Waren Versammlungen anberaumt, wurde der Platz von Lederbahnen umrahmt, um neugierige Blicke und Wind fern zu halten. So war es auch dieses Mal. Vorsichtig landete Mimoun bereits am Rand und ließ seinen Blick über die Insel schweifen. Es waren viele Neugierige hier. Nachrichten verbreiteten sich schnell. Und so schnell wie sich die Geschichte seiner Rettung verbreitet hatte, wurde auch die Nachricht verbreitet, dass genau dieser Magier nun hier herkam.

Mimoun drückte das schlafende Bündel in seinen Armen noch fester an sich und strebte dem verborgenen Ratsplatz entgegen. Möglichst schnell weg von hier, bevor Dhaôma aufwachte. Das wäre vielleicht zu viel für seine Nerven.
 

Der Junge erwachte durch die Änderung im Rhythmus. War es vorher ein sanftes Wiegen gewesen, war es nun Geschaukel. Sofort war er hellwach. Er konnte die geflügelten Gestalten sehen, die alle ihn anstarrten. Er hörte das Gewisper im Wind und spürte Mimouns Herz schnell unter seinen Fingern schlagen. Der Hanebito war genauso aufgeregt wie er.

„Du hast mich genug getragen.“, sagte er leise. „Lass mich runter. Ich kann gehen.“
 

„Bist du sicher?“ Zweifelnd sah er auf seinen Freund herab und schüttelte dann den Kopf. „Es ist okay. Es ist nicht mehr weit. Bleib noch unter deiner Decke.“ Er erhöhte den Druck des Griffes um den Körper in seinen Armen minimal, um anzuzeigen, dass Dhaôma sich nicht herauswinden sollte. Zügig schritt er weiter aus.
 

„Es macht einen schlechten Eindruck, wenn ich nicht einmal alleine laufen kann.“, wandte Dhaôma ein. „Der erste Eindruck ist wichtig.“ Fast hatten sie das komische Lederzelt erreicht.
 

Das sah der junge Geflügelte ein und stellte den Magier vorsichtig auf die Füße. Zur Stütze ließ er eine Hand auf dem Rücken seines Freundes ruhen. Tief atmete er ein und führte Dhaôma dann zu dem Zelt. Er stemmte eine der schweren Lederbahnen beiseite und ließ den Magier eintreten. Kurz ließ er ihm die Zeit sich auf dem großen Platz umzusehen und zeigte schließlich mit einer Handbewegung auf das Zentrum des Kreises.

Es waren alle anwesend. Nicht einer hatte es sich nehmen lassen, diesen ungewöhnlichen Magier selbst in Augenschein zu nehmen. Die Augen von jedem Einzelnen ruhten mit teils neugierigen, teils misstrauischen und auch dem zu erwartenden verabscheuenden Ausdruck auf den Eingetretenen.
 

Kaum berührten Dhaômas Füße den Boden, machte er eine Wandlung durch. Die angedrillte Erziehung zog, als sein Rücken gerade wurde und er seine Schultern zurückzog. Auf seine Lippen legte sich ein schmales Lächeln, freundliche Distanzierung, die zum Glück die Angst verbarg. Die Decke war nun mehr ein Umhang, vorne komplett offen, wehte sie hinter ihm her, als er selbstbewusst in den Kreis schritt. Die abgerissenen, nicht wirklich standesgemäßen Kleider minderten den Eindruck, den er vermittelte: nämlich, dass er nicht irgendwer war.

Seine Augen tasteten über die Anwesenden, bevor er sich den ältesten Hanebito auserkor, einen gebrechlichen Alten, der auf der höchsten der Säulen saß, und vor ihm eine formvollendete Verbeugung tätigte. Ob es bei diesen Menschen genauso viel bedeutete, wie bei ihnen, konnte er natürlich nicht sagen, aber das tat nichts zur Sache.

„Mein Name ist Dhaôma en Finochinu en Regelin.“, ließ er mit lauter Stimme verlauten. „Ihr habt nach mir gerufen?“
 

Uff. Das war ja ein komplizierter Name, befand Mimoun für sich, schwieg aber. Die Wandlung, die sein Freund eben durchgemacht hatte, hatte ihn erstaunt. Kein Anzeichen mehr für seine Angst, die sicher noch irgendwo tief in ihm schwelte.

Der Älteste neigte kurz sein Haupt zur Begrüßung. „Mein Name lautet Addar Maral. Es freut uns zu sehen, dass du unserer Einladung gefolgt bist.“ Der Blick des Alten richtete sich auf den jungen Geflügelten, der an der Seite des Magiers stand. „Geh nun.“

Mimoun straffte sich ebenfalls. „Verzeiht meinen Ungehorsam, aber ich werde bleiben.“, erwiderte er schlicht und mit allem gebührenden Respekt in der Stimme. Was er zu der Sache mit der Einladung zu sagen hatte, behielt er lieber für sich.
 

Dhaôma musste ein Lachen unterdrücken. Hätte er das bei seiner Mutter gewagt, hätte er eine Tracht Prügel bezogen. Und den Blicken der alten Herren nach zu urteilen war das hier nicht anders. Sein Lächeln wurde ein wenig breiter.

„Es wäre freundlich von Euch, würdet Ihr ihm erlauben, bei mir zu bleiben.“ Der braunhaarige Junge sah seinen Begleiter einen Moment lang warnend an, dann wandte er sich wieder an den Alten. „Er wurde von Euren Boten nicht gerade freundlich behandelt und es wäre mir lieber, sie bekämen keine weitere Möglichkeit, ihre Gefühle an ihm abzureagieren.“
 

Mimoun nickte leicht. Er würde ab jetzt den Mund halten und Dhaôma machen lassen. Seine einzige Aufgabe war es nun, seinem Freund emotionale Rückendeckung allein durch seine Anwesenheit zu geben.

Prüfend ruhte der Blick Addars auf dem Magier, bevor sein Blick zu Mimoun glitt. Dieser hatte den Kopf leicht gesenkt und stand vertrauensvoll mit geschlossenen Augen neben der Person, die eigentlich zu seinen Todfeinden zählte. Mit einem knappen Nicken erklärte sich der betagte Geflügelte einverstanden, was ein protestierendes Stimmengemurmel zur Folge hatte, das mit einer einfachen Handbewegung zum Schweigen gebracht wurde.

„Du scheinst dir große Sorgen um unseren Jungen zu machen.“, stellte er ruhig und sachlich fest.
 

„Verständlich, denn er ist mein Freund.“ Es fiel ihm nicht einmal schwer, das zuzugeben. Viel schwerer fielen ihm die Worte, die er folgen ließ, denn sie waren ein Angriff auf dieses Volk. „Aber es bereitet mir Kummer, dass es nötig ist, mir hier an diesem Ort Sorgen um ihn zu machen. Sagt, ist ein Leben in den Augen dieses Volkes wirklich so wenig wert, dass man jemanden, der seinen Tag erst begonnen hat, ohne einen besonderen Grund tötet?“ Das war reines Interesse. Je nachdem, wie die Antwort ausfallen würde, wusste er, ob er weiter mit ihnen sprechen musste oder ob sich das einfach nicht lohnen würde.
 

Auf Addars Stirn erschienen zu seinen üblichen Falten noch Falten des Unmuts. Doch im Gegensatz zu seinen Ratsmitgliedern blieb er stumm. Erneut musste er sie mit einer Handbewegung zum Schweigen bringen.

„Das sind schwerwiegende Anschuldigungen, junger Magier. Was treibt dich zu dieser Annahme?“
 

„Verzeiht, falls ich Euch beleidigt haben sollte, aber auf meiner Reise hierher musste ich mit ansehen, wie Mimoun von einer der Inseln gestoßen wurde, indem man ihn halb bewusstlos schlug.“ Ehrerbietig senkte er den Kopf, so dass seine Haare nach vorne fielen.
 

„Von einer Insel zu fallen ist eigentlich nichts, was einen gesunden Geflügelten töten könnte.“, erklärte der Alte nachsichtig. „Doch wenn das mit den Schlägen stimmt, wird dies Konsequenzen haben. Ihr solltet mit allem nötigen Respekt behandelt werden, der einem Gast des Hohen Rates zusteht. Dies bezog sich nicht nur auf dich.“ Langsam neigte er sein greises Haupt. „Verzeiht bitte die Unannehmlichkeiten, die euch widerfahren sind.“
 

Erleichtert lächelte Dhaôma und richtete sich wieder auf. „Schon vergessen.“, antwortete er. Und weil er nicht wusste, wie er fortfahren sollte, kratzte er sich am Hinterkopf, was er, als er es bemerkte, sofort unterband. Er wurde sogar leicht rot, aber unter der Kälte seiner Nase fiel es kaum auf.

„Aber diese Frage war doch sicherlich nicht der Grund, weshalb Ihr mich eingeladen habt?“, fragte er schließlich, einerseits, um seine Verlegenheit zu überspielen, andererseits, um es dem Rat leichter zu machen, Fragen zu stellen.
 

„Wir waren neugierig auf diesen Magier, der es wagte, sich gegen sein eigenes Volk zu stellen und einen unserer Jungen zu retten.“, gab Addar offen zu. „Wir wollten erfahren, welche Gründe dich dazu trieben. Natürlich glauben wir dem Wort eines der Unseren, der bereits viel von dir berichten konnte. Doch verzeih, aber diese Geschichte klingt in unseren Ohren ein wenig… unglaublich.“
 

Ja, Mimoun hatte ihm gesagt, dass er über ihn hatte Bericht erstatten müssen. Das bedeutete, diese Männer wussten schon einiges über ihn. Oder eigentlich wussten sie gar nichts.

„Der einzige Grund ist, dass ich es nicht einsehe, jemanden als böse oder Feind zu brandmarken, wenn ich diesen jemand nicht kenne.“, antwortete er ein wenig verlegen. Dieser Grund klang in seinen eigenen Ohren unglaubwürdig und dennoch war es nichts als die Wahrheit. „Außerdem kann ich schlecht tatenlos daneben stehen, wenn jemand verletzt ist und demnächst verbluten wird.“
 

„Maral?“ Mimoun wandte leicht den Kopf, um den Sprecher zu mustern, der nun um Erlaubnis bat, sprechen zu dürfen. Es war ein alter Kriegsveteran, der sich nicht scheute, seine Narben zu zeigen. Auch nicht die seines linken Armstumpfes.

Mit einem knappen Nicken wurde ihm diese Erlaubnis erteilt.

Der Blick, den der Mann dem Magier zuwarf, sprühte vor Hass, doch klang seine Stimme ruhig und berechnend. „Und durch diese vagen Aussagen sollen wir dir Vertrauen schenken? Wie sollen wir glauben, dass du dich völlig ohne Hintergedanken zwischen die Fronten stellst? Was, wenn du uns nur in Sicherheit wiegen willst?“
 

Dhaôma runzelte die Stirn. „Ich habe nicht darum gebeten, dass Ihr mir vertraut.“ Er schüttelte den Kopf. „Und ich habe mich auch nicht zwischen die Fronten gestellt. Ich habe mich nicht todesmutig dazwischen geworfen, um Mimoun zu retten, ich habe lediglich dafür gesorgt, dass die anderen ihn nicht finden können. Davon weiß keiner etwas außer mir, ihm und jetzt euch.“
 

„Das heißt, du würdest dich nicht offen gegen dein Volk stellen, um den Jungen zu schützen, wie dieser es anscheinend tut?“, fragte Addar. Er hatte sich von seiner Säule erhoben und hielt auf den Magier zu, blieb kurz vor ihm stehen und sah aus wachen grünen Augen zu diesem auf. Der Blick war forschend, neugierig, ohne eine Spur von Hass oder Abneigung.
 

„Inzwischen schon.“ Dhaôma begegnete diesem Blick völlig furchtlos. Er hatte nichts zu befürchten, wenn er die Wahrheit sagte. „Für ihn. Ich werde mich im Kampf nicht auf Eure Seite schlagen und Euch und Eure Männer gegen die Magier verteidigen.“
 

„Das hätte ich auch nicht erwartet.“, gab der alte Mann schmunzelnd zu. „Was würdest du tun, ließen wir dich wieder nach unten? Was hätten wir von dir zu befürchten? Dass dieser Junge anscheinend sicher bei dir ist, finde ich erstaunlich, aber nicht besorgniserregend. Doch was ist mit uns?“
 

Wieder runzelte der Junge die Stirn. „Ich werde nicht helfen, gegen euch zu kämpfen, wenn Ihr das meint. Ich möchte gar nicht kämpfen.“ Die vielen Falten in dem alten Gesicht waren auf eine unerklärliche Weise beruhigend. Dieser Hanebito war wirklich alt. Vielleicht alt genug, um zu wissen, warum die Kämpf begannen. „Sagt, Addar Maral, was ist der Grund für diesen Krieg? Wisst Ihr das?“ Ehrliches Interesse klang in seiner Stimme mit.
 

Der alte Geflügelte schwieg lange, während er noch immer aufmerksam den jungen Mann vor sich musterte. „Niemand kennt mehr den wahren Grund. Zu lange liegt der Anfang zurück. Heute geht es nur noch darum, die zu schützen, die man liebt und zu überleben.“, antwortete er nach langem Überlegen. Er wandte sich ab und ging wieder zu seiner Säule zurück. Mit einem erleichterten Seufzen ließ der alte Geflügelte sich wieder darauf nieder.

Erneut meldete sich der Kriegsveteran zu Wort. „Wie kommt es, dass du dich nicht am Krieg beteiligst?“ Schnell hob er eine Hand, um eine vorschnelle Antwort zu unterbinden. „Abgesehen von der Tatsache, dass du nicht kämpfen willst. Ich schätze die Magier als minderwertiges Ungeziefer ein, die auf jede einzelne Schabe zurückgreifen müssen, um gegen uns bestehen zu können. Warum nicht auf dich?“
 

Dhaôma überging die Spitze auf sein Volk geflissentlich und auch die Frage, ob es nicht klüger wäre, einfach mit dem Kämpfen aufzuhören, und lächelte den Mann vergnügt an. „Weil ich in ihren Augen wertlos bin.“, gab der Junge die gleiche Antwort, wie er sie damals Mimoun gegeben hatte. Und weil das inzwischen nicht mehr stimmte, fügte er nach kurzem Zögern hinzu: „Zumindest war ich das, bevor ich losgegangen bin. Jetzt sähe die Sache vermutlich anders aus. Ein guter Grund, um nicht zurückzugehen.“
 

„Was ist nun anders?“, wollte der Veteran wissen. Er lehnte sich ein wenig vor und fixierte den Magier mit bohrendem Blick.
 

„Ich habe gelernt, wie man heilt.“, gab der Braunhaarige ohne zu zögern zurück. „Diese Kraft ist selten und begehrt. Hätten sie gewusst, dass ich die Gabe tatsächlich in mir trage, hätten sie niemals zugelassen, dass ich gehe.“ Nun, in erster Linie hatte er sie nicht gefragt, aber sie hätten ihn wohl auch nicht so ungnädig behandelt all die Jahre über.
 

Ungläubiges Gemurmel erhob sich rings um die beiden in der Mitte Stehenden und wie zufällig schüttelte Mimoun in diesem Moment seine Flügel ein wenig. Der junge Geflügelte warf dem Magier neben sich erneut ein dankbares Lächeln zu.

„Ach darum.“, erhob wieder Addar seine Stimme. „Ich hatte mich schon gefragt, wie es möglich war, dass dieser zerstörte Flügel nun wieder intakt ist. Du hast ihm damit einen großen Dienst erwiesen. Einen größeren vielleicht noch, als sein Leben zu retten.“

Nun ergriff ein noch relativ junger Geflügelter zur Rechten des Ältesten das Wort. „Steht nicht von Anfang fest, wozu ihr fähig seid?“, fragte er ungläubig.
 

„Nein.“, war alles, was Dhaôma darauf erwiderte.

Von schräg hinter ihm kam eine weitere Stimme. „Und wozu bist du fähig?“

„Ihr meint, im Moment?“ Geduldig drehte sich der Junge um und sah den Mann an. Graues Haar, ein Auge fehlte. Offenbar war auch er ein Kriegsopfer. Aber es war der größte Hanebito, den er je gesehen hatte. Selbst ihn überragte er noch um gut zwei Köpfe. Was für ein Koloss. „Ich lasse Pflanzen wachsen und verdorren und kann Eis schmelzen. Und natürlich das mit der Heilkraft.“ Irgendetwas hatte er mit dem Fluss auch gemacht, aber das konnte er nicht genau benennen.
 

Bei der Erwähnung von Pflanzen wachsen lassen, musste Mimoun wieder an die Erdbeeren denken, die weit entfernt von hier unangerührt vor sich hin wuchsen. Das hatte ein leises Grummeln seines Magens zur Folge, schließlich hatten sie sowohl Frühstück als auch jede weitere Mahlzeit auffallen lassen müssen wegen unvorhersehbarer Vorkommnisse. Doch bevor er sein Bedürfnis stillen konnte, mussten sie dieses Gespräch hinter sich bringen. Geduldig wartete er ab.

„Könntest du uns das zeigen?“, riss ihn die Stimme des jungen Geflügelten neben Addar aus seinem Selbstmitleid. Mimouns Kopf ruckte zu Dhaôma herum und verneinte wortlos. Dieser hatte doch erst Magie eingesetzt. Der Geflügelte wusste nun, wie Kräfte zehrend das war.
 

Dhaôma ignorierte das. Eine Bitte, die zeigen konnte, dass Magie nicht durchgehend schlecht war, wollte er nicht abschlagen.

Mit offenem Gesicht wandte er sich an Addar. „Darf ich denn? Ich musste einem Eurer Boten versprechen, nicht zu zaubern. Und es sieht so aus, als wäre es eine Menge Arbeit gewesen, diesen Ort hier von Pflanzen freizumachen.“
 

Mimoun rieb sich über die Augen und die Nasenwurzel. Der Blick, den er Dhaôma zuwarf, sprach eindeutig ‚Dummkopf’.

Der Älteste der anwesenden Geflügelten sah diesen kleinen Disput mit leisem Amüsement. Er hätte nie erwartet, dass es möglich war, dass sich zwei Jungen der verfeindeten Völker anfreunden konnten. „Dein Freund scheint nicht damit einverstanden zu sein.“, wies er lächelnd auf Mimoun. „Aber so lange du nicht den kompletten Ratsplatz überwucherst, sondern dich auf einen kleinen Bereich beschränkst, sei es dir gestattet.“ Er war neugierig dies zu sehen. Ein Magier bei der Anwendung seiner Fähigkeiten, ohne dass etwas zu befürchten stand.

Seine Ratsmitglieder waren von seinem Einverständnis teilweise nicht begeistert, wie erneut anschwellendes Stimmengemurmel deutlich machte. Ihnen wäre es lieber, dieser Kerl würde seine Magie nicht einsetzen.
 

Nickend ging Dhaôma in die Hocke. Er würde sich später bei Mimoun entschuldigen, aber jetzt war das hier wichtig. Mit ein wenig Bewegung der Schultern entfernte er die Decke, bevor er nach einer Antwort auf seine Magie im Boden suchte. Fast sofort meldeten sich kleine Grassamen und Wurzeln, die nur darauf warteten, dass sie wieder keimen durften.

Ein weicher Ausdruck erschien auf dem jungenhaften Gesicht, als er endlich wieder ein wenig Sicherheit empfand. Das hier kannte er. Das hier war seine Welt. Die Zeichen auf seinen Armen begannen zu leuchten, um seine Hände sprossen grüne Triebe, die schnell zu ausgewachsenen Gräsern wuchsen. Eine gelbliche Staubwolke erhob sich mit einem sanften Luftzug, als die Pollen freiwurden.

Damit stoppte Dhaôma. Hier oben waren so wenig Pflanzen, dass diese hier ruhig bleiben durften. Mit einem Kichern stupste er einen der Grashalme an, dann erhob er sich wieder, nahm in der gleichen Bewegung die Decke mit hoch und legte sie sich wieder um die Schultern. Mit Herzklopfen wartete er auf die Reaktion, die er zuvor ausgeblendet hatte.
 

Mimoun unterdrückte sein Bedürfnis, dem Magier einmal mit der flachen Hand an den Hinterkopf zu klapsen. Misstrauisch suchte er nach irgendeinem Anzeichen, dass es Dhaôma nicht gut ging. Nicht nur, dass er Magie wirkte, er hatte auch noch kurzfristig die Decke weggelegt, das einzig Wärmende, das er bei sich trug. Zwar hielten die Lederbahnen den scharfen Wind fern, doch es musste noch immer empfindlich kalt für seinen Freund sein. Das Kichern, das zu ihm drang, beruhigte ihn ein wenig. Es schien ihm gut zu gehen. Er schien nicht mehr ganz so große Angst zu haben wie zum Beginn ihres Fluges hierher.

„Hinter meinem Heim wächst ein altes Bäumchen. Es trug letztes Jahr keine Früchte mehr und dieses Jahr scheint er nicht einmal mehr Blätter treiben zu wollen.“, begann Addar, als er auch schon von mehreren aufgebrachten Stimmen unterbrochen wurde. Da sie alle durcheinander redeten, war ein genaues Herausfiltern einzelner Worte und Sätze schwierig. Diesmal unterbrach er sie nicht durch eine Handbewegung sondern stellte sich auf seine Säule und überragte damit alle. „Ich habe fast hundert Sonnenläufe vorübergehen sehen. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, eine ausgezeichnete Menschenkenntnis zu besitzen. Dieser Junge mag zwar ein Magier sein, doch er hat nicht einmal gelogen und ohne zu zögern alle unsere Fragen beantwortet.“

„Soll das heißen, Ihr wollt ihn wieder nach unten schicken?“, kam ein empörter Ruf von der anderen Seite des Rundes.

„Nein.“, beschwichtigte Addar. Er ließ sich wieder nieder und wandte sich erneut dem Magier zu. „Verzeih. Versteh bitte, dass ich dich nicht gehen lassen kann. Keiner meiner Leute würde dies gutheißen.“

Mimoun spannte sich unmerklich an. Ihm behagte die Richtung nicht, die sich zu entwickeln begann.
 

„Soll das heißen, ich werde den Frühling verpassen?“, fragte Dhaôma mit einem Gesicht, das tiefes Entsetzen ausdrückte. Bis ihm klar wurde, was es wirklich hieß: Er war ein Gefangener. Das, was er sich am meisten wünschte, wurde ihm genommen: seine Freiheit.

Enttäuschung stieg in ihm auf. Was sollte er denn hier oben? Es war kalt und unwirtlich und er konnte nicht wie die anderen einfach die Inseln wechseln. Egal auf welcher der Inseln sie ihn ließen, er käme nicht mehr weg. Was wohl der Grund war, weshalb sie ihn nicht wieder hinunter ließen.

Aber er nickte niedergeschlagen. Er verstand es. Selbst wenn es aus seiner Sicht völlig übertrieben war, aus ihrer Sicht war er eine Gefahr. Das war bittere Realität. „Kann ich dann bei Mimoun bleiben?“
 

„Natürlich. Dieser Junge wird für alle deine Aktionen verantwortlich sein.“

Mimoun entspannte sich. Mitleid erfüllte ihn, dass sein Freund nun hier oben gefangen war. Erleichterung gesellte sich dazu, da er sicher und in seiner Nähe war. Sacht legte er eine Hand an den Rücken des Magiers und bot ihm emotionale Stütze. Für diesen musste diese Tatsache schwer zu ertragen sein.

„Aber nun geht. Ich kann mir vorstellen, dass das ein schwerer Tag für euch beide war. Wir werden dich bei Gelegenheit noch einmal bitten, hier herzukommen.“
 

Dhaômas würdevolle Haltung spannte sich noch einmal, als er sich verneigte, wie er es gelernt hatte, dann sah er Mimoun bittend an. Er wollte hier weg. Ganz weit weg. Er wollte wieder auf die Suche nach den Drachen gehen, aber da das nun nicht mehr möglich war, würde es ihm schon genügen, dass er nicht mehr hier in diesem Kreis aus Anführern stehen musste. Was würde werden?
 

Mimoun nickte verstehend und wandte sich nach einem kurzen Gruß an den Ältesten ab und führte seinen Freund nach draußen. Dort standen noch immer die Neugierigen, die dennoch einen angstvollen Abstand hielten. Längst hatte sich der Himmel rot gefärbt und hinter dunklen Wolken verschwand langsam die Sonne. Mimoun blickte über die Menge und suchte ihre Häscher. Doch bevor er sie sah, sah er einen Schatten auf sich zu fliegen. Im buchstäblich letzten Augenblick war es ihm möglich, den Körper auf- und auch abzufangen, bevor er durch die schiere Wucht aus dem Gleichgewicht gebracht werden konnte.

„Mimoun.“, hauchte eine vertraute Stimme an sein Ohr.

„Silia.“, keuchte er erschrocken, bevor er seine Arme um seine Schwester schlang. Wie kam sie so schnell hierher? Seine Heimatinsel musste wirklich nah sein, sonst hätte sie es niemals rechtzeitig geschafft. Doch er hielt sie nur kurz. Schnell schob er sie wieder von sich. „Bleib bitte kurz bei Dhaôma. Ich bin sofort wieder da.“ Erneut sah er sich nach ihren Häschern um. Kaum hatte er sie erspäht, ging er zu ihnen und forderte ihre Habseligkeiten. Diesmal ließ Mimoun es sich nicht nehmen seine Rüstung sofort anzulegen. Die restlichen Sachen in der Hand kehrte er zu seinem Freund zurück und sah nun auch seine Mutter bei ihm stehen.
 

Im Gegensatz zu Mimoun verdaute Dhaôma diesen Schreck nicht so schnell. Die letzte Begegnung mit diesem Mädchen war bezeichnend schlecht für ihn gelaufen. Erst hatte sie ihn angegriffen, dann hatte sie ihm gedroht und was sie getan hätte, hätte seine Magie nicht verrückt gespielt und sie verschreckt, wollte er gar nicht wissen. Auch damals hatte Mimoun sie abgefangen.

Panisch wollte er seinem Freund hinterher laufen, doch dessen Mutter schüttelte nur lächelnd den Kopf, so dass er wieder einen Schritt zurück machte. Die Decke enger um sich ziehend, sagte er misstrauisch: „Es geht ihm gut. Ihm ist nichts passiert!“
 

„Das sehe ich.“, sagte sie sanft und wandte sich ihrem Sohn zu, zog ihn kurz in ihre Arme. „Dein Flügel.“

Mimoun wandte sich grinsend an Silia und klappte ihn leicht auf, da sie darauf zustürzte und grob die Flügelkanten anpackte. Ungläubig blickte sie auf die unversehrte Flughaut und auch seine Mutter strich kurz mit den Fingerspitzen darüber. Doch schnell entzog er sich wieder ihren Händen.

„Bitte lasst uns alles weitere Zuhause besprechen.“ Mit einem traurigen Blick auf Dhaôma fügte er hinzu: „Wir haben ja nun viel Zeit.“ Er drückte den Frauen ihre Habseligkeiten in die Hand und schlang seine Arme um den jungen Magier. „Fliegen wir.“, sagte er leise und hob ab, strebte seiner Heimatinsel zu, als ihm ein Gedanke kam. Sofort stieg er ein wenig höher und wandte sich einer bestimmten Richtung zu. „Dhaôma. Sieh. Dort hinten.“
 

Der braunhaarige Junge folgte dem Blick, während er sich an ihm festhielt. Was er sah, überstieg seinen Verstand. Es sah aus wie eine Luftspiegelung. Es war blau und grau und blutrot und glitzerte ganz weit in der Ferne. Daneben oder dahinter war nichts außer Himmel.

Fragend sah er Mimoun an.
 

Traurig lächelte dieser, als er erklärte, worum es sich bei dem blau glitzernden Streifen handelte. „Das Große Wasser.“
 

Die braunen Augen weiteten sich ungläubig und er sah noch einmal in die Richtung. Das war das Große Wasser? Es war riesig! Niemals hätte er sich das vorstellen können! Hitze stieg in seine Wangen und Aufregung kribbelte in seinen Fingern.

„Das ist noch unendlich weit weg!“, rief er. „Viel zu weit, um in einem Jahr dorthin zu laufen!“ Das bedeutete, er würde es in diesem Jahr nicht schaffen. Gerade, weil ihm die schönste Zeit des Jahres geraubt wurde. Vorausgesetzt, er durfte irgendwann wieder hinunter.

Müde kuschelte er sich enger an den Schwarzhaarigen, war es dort doch wärmer. „Irgendwann komme ich dahin.“, murmelte er. „Immerhin habe ich es den Drachen versprochen, nicht wahr?“
 

„Ja. Das hast du.“, bestätigte Mimoun seinem Freund leise. „Du wirst dorthin gehen.“

Die Pause, die ihm bei dem Rat vergönnt war, hatte ihm einen Teil seiner Kräfte zurückgegeben. Doch nun mit der Rüstung trug er zusätzliches Gewicht und so beeilte er sich, seinen beiden Frauen zu folgen. Dass sie noch bei Dämmerung losflogen, bedeutete wahrscheinlich, dass die Insel zur Zeit wirklich ganz nah an der Ratsinsel war. Das passierte selten genug. Was für ein Glück für sie, dass es in diesem Jahr der Fall war.

Noch eine ganze Weile wurden sie von Neugierigen verfolgt, die noch einen letzten Blick auf den Magier erhaschen wollten, aber auch die Hartnäckigsten zerstreuten sich schließlich.
 


 

Sag mir, was ist geschehen,

was ist bloß los, mit unserer Welt?

Wann werden wir verstehen,

es geht um uns und das ist was zählt.

Keine Angst es ist niemals zu spät,

solang’ die Hoffnung in uns weiter lebt.

Wir warten nur auf den Augenblick,

wir sind bereit, es gibt kein zurück!
 

[Frei wie der Wind - Monsterrancher]



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