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Der Weg aus dem Kampf

Wenn Träume Berge versetzen
von

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Beschnuppern

Kapitel 2

Beschnuppern
 

Der nächste Morgen begann mit einem Regenschauer. Dhaôma kannte das schon. Zuerst kamen nur ein paar Tropfen – die Zeit, wo es über den Bäumen schüttete, was das Zeug hielt – und dann würde es kontinuierlich regnen, sachte, weich, das Wasser, das von den Blättern tropfte. Er mochte den Regen. Er war beruhigend und angenehm auf der Haut, aber es war besser, er wurde nicht nass, denn so wie er die Lage einschätzte, würde es erstmal nicht mehr aufhören.

Geschmeidig sprang er von dem Baum, griff sich die Kleider des Hanebito und hängte sie über einen Ast, der in eine Lücke im Blattwerk hineinragte. Damit war gesichert, dass sie einmal vollkommen durchnässt wurden. Feinwaschgang. Dann huschte er in die Höhle. Ein kurzer Blick: War Hanebito schon wach? Nein. Aber das Tuch auf seiner Stirn fehlte. War ihm wohl verloren gegangen.

Vorsichtig erneuerte er es, bevor er möglichst leise begann, das Frühstück aus den Tonkrügen auf dem Regal zusammenzusammeln. Wasser musste er diesmal nicht holen, es kam förmlich von draußen rein.
 

Der Geflügelte registrierte die Geräusche und Bewegungen um ihn herum, auch wenn sie fast im Plätschern des Regens untergingen. Doch solange er nicht offiziell geweckt wurde, sah er keinen Sinn darin, kostbare Energie zu verschwenden. Bedauerlicherweise hatte sich seine geistige Unruhe auf seinen Körper ausgebreitet. Er wollte nicht mehr tatenlos herumliegen und sich betüddeln lassen. Er wollte sich bewegen, etwas tun, auch wenn es nur eine Kleinigkeit war.

„Kann ich helfen?“, fragte Mimoun, während er sich aufrichtete.
 

„Oh?“ Etwas erschrocken drehte sich Dhaôma um, dann lächelte verschämt. „Klar kannst du.“ Er brachte ihm ein paar Kräuter in einer Steinschale. „Mit einer Hand solltest du die mörsern können, oder?“ Ihm gefiel die Situation, wie sie jetzt war, irgendwie. Vielleicht war es nicht Vertrauen und nicht Freundschaft, aber zumindest war diese unterschwellige Feindschaft scheinbar gegangen. Mit mehr Elan als vorher machte er sich wieder ans Werk, begann damit Nüsse zu knacken. Seine Wangen fühlten sich warm an. Warum war er so glücklich?
 

Na ja. War nicht die große Herausforderung, die man ihm da übertragen hatte. Aber wenigstens etwas.

Während seine Hand immer wieder dieselbe Bewegung ausführte, konzentrierten sich seine Sinne völlig auf seinen Gegner. Seine Augen registrierten jede Bewegung, seine Ohren nahmen jedes Geräusch wahr. Momentan schien er guter Laune zu sein. Den Grund dafür konnte Mimoun nicht ausmachen. Aber das war auch nebensächlich. Vielleicht war es so einfacher, an nützliche Informationen heranzukommen. Doch wie es anstellen?

„Stört es deine Familie denn überhaupt nicht, dass du längere Zeit unauffindbar verschwunden bist?“
 

„Nein.“, tat der Braunhaarige diese Frage mit einem halbherzigen Schulterzucken ab. Die letzte Nuss gab unter seinen Handballen nach, dann war das Essen fertig. „Du kannst Pause machen, jetzt wird gefrühstückt. Danach gehe ich zu den Bienen. Das Wetter ist perfekt dafür.“
 

Mimoun stellte die Gerätschaften und Kräuter beiseite und griff nach dem Frühstück. Ein einsamer Junge also, bei dem es sicher auch niemanden interessieren würde, sollte er für immer verschwinden. Kein Wunder, dass er dann versuchte, auf der gegnerischen Seite Kontakte zu knüpfen, befand der Geflügelte. Auch wenn das so ziemlich die hirnrissigste Idee war, die er sich vorstellen konnte.

„Sind die Bienen weit weg?“, fragte er zwischen zwei Bissen.
 

„Ein wenig. Sie sind gefährlich, deshalb sollte man nicht zu nahe an ihnen wohnen. Aber ihr Honig und ihr Wachs werden deinen Wunden gut tun.“ Er kicherte leise. „Und der Regen wird mich sauber spülen.“ Dann legte er den Kopf schief. „Aber das müsstest du eigentlich wissen, oder? Oder gibt es auf den Inseln keine Bienen?“
 

„Einige wenige Völker gibt es. Aber ich wollte hier nicht tatenlos herumsitzen.“

Sein Blick glitt nach draußen. Stimmte. Es regnete noch. Das Plätschern hatte sich in eine angenehme Hintergrundmusik gewandelt, als er begann den anderen zu erforschen. Ob das so gut war, wenn er da hinausging? Ein 'Bad' konnte er nach den letzten zwei Tagen sicher vertragen, nur sollte er sich keine Erkältung oder wieder Fieber zuziehen. Das würde seine Heilung behindern. Er verzog missgelaunt das Gesicht.
 

„Deine Aufgabe als Patient ist es, das Bett zu hüten.“, antwortete Dhaôma geradeheraus. „Nicht abgekochtes Wasser wird deine Wunden nur entzünden, da wird die Wäsche warten müssen.“
 

Mit einem tiefen Seufzen zeigte er an, dass er verstanden hatte, es ihm aber ganz und gar nicht passte. Mimoun griff wieder nach den Kräutern und dem Mörser und begann seine Arbeit fortzusetzen. Von wegen zwei, drei Tage. Wenn es jetzt anfing, ununterbrochen zu regnen, würde er hier nicht vor seiner vollständigen Genesung herausgelassen werden. Und das würde Wochen dauern. Beim letzten Verbandswechsel hatte er seine Wunden ausreichend begutachten können. Und selbst als Nichtarzt hatte er erahnen können, wie schlimm es um ihn gestanden hätte, wäre er nicht gefunden worden.
 

„Mach dir keine Sorgen. Ich bringe dich schon zu dem Ort, wo du deine Leute sehen kannst. Es gibt Möglichkeiten, den Regen abzuhalten.“ Es war eine Vermutung ins Blaue hinein, aber er konnte sich gut vorstellen, dass der Gedanke, noch länger hier bleiben zu müssen, nicht gerade angenehm war.

„Also dann, ich gehe. Die Kräuter sollten ein Pulver sein, also streng dich an!“ Kurz winkte Dhaôma, dann lief er in den Regen hinaus. Es galt ein paar zusätzliche Vorbereitungen zu treffen. Für die nächste Nacht brauchte er einen trockenen Unterstand, er musste zusehen, dass er irgendwo den Ölbaum fand, und natürlich der Honig. Aber der musste warten, bis er wieder zurückkehrte.

Am Ende dauerte es viel länger, als er gedacht hatte. Der Regen hatte die Felsen am Fluss rutschig gemacht und er war ins Wasser gefallen, bevor er an den Bienenstock herangekommen war. Und der Ölbaum hatte keine Samen mehr getragen, weshalb er nach einem kleinen Keimling suchen musste. Es war nicht so leicht gewesen, unter all den Keimlingen gerade den richtigen zu finden. Und sein Unterstand hatte ihm eine Menge Kraft geraubt.

Als er zurückkam, war er erschöpft. Möglichst leise trat er ein, um den Hanebito nicht zu wecken, aber der war wach. Entschuldigend lächelte er ihn an. „Hier ist das Wachs. Verreib es mit den Kräutern.“ Dann ging er noch mal nach draußen, um den Keimling einzupflanzen, damit er nicht einging, bevor er sich magisch darum kümmern konnte.
 

Dass der Magier sich so angeschlichen hatte, hatte Mimoun in Alarmbereitschaft versetzt, doch er entspannte sich schnell wieder. Müde sah der andere aus. Und völlig durchnässt. Wortlos nahm er das Wachs entgegen und verarbeitete es den Anweisungen entsprechend.

„Fang dir bloß keine Erkältung ein.“, rief er nach draußen. „Ich darf ja mein Lager nicht verlassen.“
 

„Ich bin es gewöhnt.“, sagte Dhaôma, als er wieder eintrat. Mit einer fließenden Bewegung entledigte er sich dem Hemd und wrang es aus. „Ich mag das Gefühl, wenn der Regen über die Haut rinnt. Und noch ist es nicht kalt.“ Danach löste er den Zopf und drückte auch aus den Haaren das Wasser. Das war ein Gefühl, das er nicht mochte. Kalte Haare auf nackter Haut. Brr.

Sich schüttelnd ging er zu dem Regal und holte aus einer der Büchsen Wechselkleider.
 

„Klar. Deshalb zitterst du ja auch so.“, schmunzelte der junge Geflügelte amüsiert, während er spielerisch einen Finger in die Pampe, die er kreiert hatte, bohrte.
 

Der Braunhaarige kicherte wieder. „Das ist der Preis.“ Als er fertig war mit umziehen, kam er wieder zu ihm. „Das ist gut, du hast schon angefangen. Das ist die Salbe für deine Wunden. Diese hier ist besser als die letzte, weil sie genau auf dich abgestimmt ist.“

Er nahm etwas auf und prüfte die Konsistenz. Sein Patient hatte gute Arbeit geliefert. Die Pflanzenteile waren fast nur noch Staub. Ob er sich gelangweilt hatte? „Wobei mir einfällt: Gibt es irgendwelche Pflanzen, die ihr nicht vertragt? Manche Tiere können bestimmte Pflanzen nicht essen, ohne davon krank zu werden. Genauso wie wir sterben würden, wenn wir das essen, was die Sperberdrossel an einem normalen Tag zu sich nimmt.“
 

Mimoun nickte und nannte ihm eine kleine Auswahl diverser Pilze und Kräuter. Auch eine Beerensorte war dabei, diese verursachte aber nur Übelkeit und Durchfall. Jedenfalls soweit es die Pflanzen der fliegenden Inseln betraf. Er konnte nicht bestimmen, inwieweit sie mit den Pflanzen hier unten übereinstimmten.

„Genau auf mich abgestimmt? Du kennst mich und meinesgleichen überhaupt nicht. Wie willst du das nach zwei Tagen so einfach bestimmen können?“
 

„Uh?“ Dhaôma kratzte sich am Ohr. War das nicht offensichtlich? „Tja, ich würde sagen, das liegt weniger an dir als an der Schwere der Wunden, die du aufweist. Das vorher war eine Salbe, die ich für mich gemacht hatte, um kleine Kratzer und dergleichen zu behandeln. Sie verhindert lediglich, dass sie sich entzünden. Das jetzt ist dafür gedacht, Wunden abzudecken und möglichst wasserdicht zu verschließen. Du wolltest doch morgen zu deinen Leuten gehen, oder?“ Er lächelte fröhlich. „Außerdem ist Weißmoos drin, das gerbt die Wundränder.“
 

Morgen war also der alles entscheidende Tag. Morgen würde sich zeigen, was der Magier wirklich mit ihm vorhatte. Auch wenn dieser ihm immer wieder beteuerte, ihn zu seinen Leuten zu bringen, wehrte sich in Mimoun etwas, seinem Gegenüber zu vertrauen.

Wortlos, ernst betrachtete der junge Geflügelte den Magier vor sich, versuchte ein Anzeichen für eine Falle oder Hinterlist zu entdecken, doch da war nichts. Und selbst wenn, wer garantierte ihm, dass der Kerl wirklich tun und lassen konnte, was er wollte? Was, wenn er doch heimlich überwacht wurde und die Verfolger nur darauf warteten, dass sich der Feind aus seinem Versteck wagte?
 

„Starr mich nicht so an. Das macht mich nervös.“, murmelte Dhaôma. „Na los, Bein ausstrecken, damit ich da anfangen kann, deine Wunden zu behandeln.“
 

Gehorsam tat Mimoun was ihm gesagt wurde.

Er machte ihn also nervös? Hatte der Kerl etwa entgegen seines Gehabes doch Angst vor ihm? Der Geflügelte legte leicht den Kopf schief und grinste amüsiert. Was für ein lustiges Kerlchen.
 

In der Zwischenzeit entfernte Dhaôma den Verband und tupfte Salbenreste mit einem weichen Tuch weg. Es sah schon wesentlich besser aus, war allerdings noch weit davon entfernt, wirklich verheilt zu sein.

„Ich befürchte, da werden Narben bleiben.“, sagte er leise, drückte etwas herum und entfernte weißliches Sekret. „Schon blöd.“ Dann griff er in die Schüssel und gab großzügig von der Salbe darauf. „Keine Verbände mehr. Stoff hält die Feuchtigkeit, das wäre nicht so gut. Und die Haut muss atmen können.“
 

„Falls es dir entgangen sein sollte, Kleiner.“, erwiderte Mimoun ernst. „Wir haben Krieg. Hier geht es nicht um Schönheit. Hier geht es darum, zu überleben.“ Seine Finger wanderten wie so häufig davor über die zerrissene Haut seines Flügels. „So gut es eben geht.“
 

Dhaôma hielt inne, dann seufzte er. So kalte Worte von so einem jungen Kerl. Es war schon traurig, was ihr Zeitalter aus den Menschen machte. Offenbar war sein Volk nicht allein davon betroffen.

„Kämpfst du denn gerne?“, fragte er und sah ihm in die grünen Augen.
 

Mimoun schnaubte. „Es war meine erste Schlacht. Ob ich gern kämpfe, hat rein gar nichts damit zu tun. Ich versuche meine Familie zu verteidigen.“ Er begutachtete erneut jede einzelne seiner Verletzungen. „Sehr erfolgreich bin ich auf jeden Fall nicht gewesen.“
 

„Tja, ich frage mich, was es deiner Familie gebracht hätte, wenn du gestorben wärst.“ Der Braunhaarige richtete sich auf, hielt noch immer an seinen Augen fest. „Ich frage mich, wessen Herz es gebrochen hätte. Ich frage mich, wessen Herz gebrochen wäre, wärst du erfolgreich gewesen.“
 

Mit einem Knurren sprang Mimoun vor und griff nach Dhaômas Kehle. „Mein Vater starb bereits durch eure Hand, Magier! Ich habe gesehen wie meine Mutter daran zerbrach. Und ich werde euch das niemals vergeben!“ Mit soviel Wucht, wie es seine Kräfte momentan zuließen, stieß er den anderen von sich. Tief einatmend zwang er sich zur Ruhe und zog sich in die letzte Ecke der Höhle zurück.

Ja. Er wusste es. Es gab immer jemanden, der trauernd zurückblieb.
 

Dhaôma blieb zitternd liegen, atmete tief ein und aus, um das Gefühl des Erstickens auszublenden und die aufgekommene Panik zu unterdrücken. Irgendwann fühlte er sich fähig, die Augen zu schließen. „Ja, das mag sein. Aber ich war es nicht, der ihn getötet hat.“, sagte er leise. „Was bitte kann ich für die Verfehlungen eines Volkes, in das ich geboren wurde?“
 

Mimoun antwortete nicht. Er blieb stumm in seiner Ecke sitzen und versuchte Klarheit in seine Gedanken zu bringen.

Den wahren Mörder seines Vaters würde er nie zu fassen kriegen, dass wusste er. Aber es gab noch so viele andere Magier, die sein Volk zu unterdrücken versuchten. Sollte er sich etwa nicht dagegen auflehnen dürfen? Sollte er etwa tatenlos zusehen, wie seine Heimat zerstört wurde?

Und ob dieser hier wirklich so harmlos war, wie er Glauben machen wollte, würde sich erst morgen beweisen.
 

Letztlich stand Dhaôma auf. Dass der Hanebito nicht antwortete, war für ihn schon fast ein Beweis dafür, dass auch er sich nur mitreißen ließ. „Ich frage mich, wann sie begreifen, dass Krieg sinnlos ist. Dass es Hass ist, der den Tod so vieler fordert.“ Am Eingang blieb er stehen, lehnte sich gegen das warme Holz und sah hinaus in den Regen. „Sag, weißt du, warum dieser Krieg herrscht? Kennst du den Grund?“
 

Nein. Er wusste es nicht, gestand sich Mimoun nach einigem Überlegen ein. Es wurde zwar gesagt, dass die Magier grausame Geschöpfe waren, die den Untergang der Geflügelten wünschten, doch ob das auch der wahre Grund war, vermochte er nicht zu sagen. Mimoun konnte noch nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob es überhaupt jemanden gab, der den wahren Grund dafür kannte.

„Ich bin müde.“, murmelte er in der Hoffnung, dass der andere gehen würde.
 

„Kann ich mir vorstellen. Emotionale Schlachten mit einem geschwächten Körper zu schlagen, ist Kräfte zehrend.“ Zufrieden nahm Dhaôma zur Kenntnis, dass der Hanebito nicht geantwortet hatte. Das hieß entweder, dass er den Grund nicht kannte, oder dass er die Schuld nicht auf eines der Völker schieben wollte, in diesem Falle auf seines, weil er das der Magier genug verachtete, um eine solche Schuldzuweisung direkt anzubringen.

Der Braunhaarige lächelte. „Es würde mich freuen, wenn du dir Gedanken darüber machen würdest, warum dieser Kampf nicht endet. Dann wäre ich nicht mehr der einzige.“ Damit verschwand er nach draußen.

Der kurze Weg zu seinem Unterschlupf dauerte nicht lang genug, um ihn zu durchnässen, aber kalt war ihm trotzdem. Innerlich. In diesem Moment war er sich nicht sicher, ob er den morgigen Tag überleben würde. Der Angriff vorhin war schnell gekommen und wegen einer Sache, die nicht wirklich einen Grund zu einem Angriff liefern würde. Er hatte nur Fragen gestellt. Er hatte ihn nicht einmal beschuldigt, nur ein paar generelle Gedanken zum Krieg geäußert. Vielleicht hatte er sich geirrt. Vielleicht hatten seine Leute Recht und es war lebenswichtig, sich gegen die Hanebito zu wehren. Vielleicht waren die Geflügelten nicht die Opfer, die er in ihnen gesehen hatte. Vielleicht war es für ihn nicht möglich, Freundschaft mit ihnen zu schließen.

Verzagt rollte er sich zusammen und verbarg den Kopf in den Armen. Wenn er wirklich sterben sollte, würde sein Tod mehr bringen, als der eines Kriegers, der ungehört im Wald umkam? Wenn er darüber nachdachte, hatte er eigentlich nichts erreicht mit seiner Freundlichkeit.

„Ich habe mein Versprechen noch nie gebrochen.“, murmelte er auf der Schwelle des Schlafes. Er würde den Hanebito am nächsten Tag zu den Felsen bringen. Und dann sah er weiter.
 

Mimoun saß noch lange in der Dunkelheit der Höhle. Er hatte sich nie über Sinn und Unsinn des Krieges Gedanken gemacht. Die Magier waren ihre Feinde, das wurde ihm schon seit frühster Jugend immer wieder eingeschärft. Die Magier hatten seine Familie zerstört. Die Magier mussten vernichtet werden, bevor sie das ganze Volk ausrotteten.

Und nun saß er friedlich mit einem von ihnen zusammen, aß und plauderte. Vielleicht war das ja gerade sein größter Fehler gewesen. Er hätte sich nie mit dem Magier unterhalten dürfen. Er hätte stumm alles ertragen müssen, um bei der nächstbesten Gelegenheit zu fliehen.

Sein Blick glitt zum Ausgang. Vielleicht sollte er das tun. Vielleicht sollte er von hier verschwinden, bevor der nächste Morgen anbrach.

Mimoun hatte sich schon halb erhoben, als er sich wieder zurücksinken ließ. Warum hatte ihm der Magier nur diese verwirrenden Gedanken in den Kopf setzen müssen? Was bezweckte er damit? Hoffte er etwa, so den Krieg zu beenden? Wenn er ein kleines Licht in der Armee des Feindes auf seine Seite zog?

Mit einem Seufzen zog er sich auf sein Lager zurück. Er würde den Morgen abwarten.
 

Am nächsten Morgen brachte Dhaôma zuerst Wasser in die Höhle, bevor er wortlos wieder nach draußen ging. Wasser am Boden und Wasser von oben, er nahm es nicht wahr. Er konzentrierte all seine Magie auf den Keimling des Ölbaumes, sah zu, wie er wuchs und gedieh, wie er sich wand und streckte, um größer zu werden. Auch er kämpfte ums Überleben, musste größer werden und würde schon in ein paar Minuten sterben. Sobald er groß genug war.

Das erste Blatt schälte sich von der Ranke, aber es war noch nicht groß genug, um als Schirm zu dienen. Es wurde anstrengend, die Konzentration zu halten, aber er zwang sich, durchzuhalten. Zwei Blätter, drei, vier. Das war groß genug für ihn, also ließ er noch ein fünftes wachsen, bevor er seine Arme zurückzog. Wie immer leuchteten die Tätowierungen noch ein wenig nach, bevor alle Magie versiegte. Er war fertig und brach die Blätter ab.
 

Die Bewegungen um ihn herum rissen ihn auch heute wieder aus seinem Schlaf. Doch der andere reagierte nicht darauf, schien nicht einmal besonders achtsam und vorsichtig wie die Tage davor. Auch ihn schien das Gespräch vom letzten Abend mitgenommen zu haben.

Als Dhaôma sich wortlos wieder verzog, erhob sich Mimoun und folgte zum Ausgang. Noch innerhalb des Baumes lehnte er sich an die Wand und beobachtete das Treiben da draußen. Sprachlos verfolgte er, wie das kleine Pflänzchen unter der Hand und Anleitung des Magiers wuchs und gedieh.

„Beeindruckend. Ich wusste gar nicht, dass ihr auch so was könnt.“ Er stockte kurz. „Ich meine, du hast zwar erwähnt, dass du die Dornenbüsche hast wachsen lassen, aber das so aus der Nähe zu sehen, ist beeindruckend.“
 

„Danke.“, erlaubte sich Dhaôma ein flüchtiges Lächeln. Er legte die beiden Blätter in den Eingang, um sie ein wenig welken zu lassen, dann ging er zum Regal. „Hier, Frühstück. Wir haben einen langen Weg vor uns. Falls du dich nicht fit genug fühlst, solltest du es lieber vorher sagen.“

Langsam begann er zu essen, während er sich zu entspannen versuchte. Die Kraft, die er gerade verloren hatte, würde ihm später sicher fehlen. Der einzige Vorteil war, dass sein Mitwanderer verletzt war.
 

Ein Schnauben erklang. „Ich war schon die ganze Zeit nicht begeistert hier zu sein und du bist es jetzt anscheinend auch nicht mehr. Ich glaube, es ist zu unser beider Vorteil, wenn wir das hier so schnell wie möglich hinter uns bringen.“

Mimouns Blick glitt über die Landschaft, die vor der Höhle lag, und blieb an etwas hängen. „Ob meine Sachen jetzt nass genug sind?“, sinnierte er halb zu sich selbst.
 

„Ja, sind sie. Kein Staub, kein Schweiß, kein Blut mehr.“ Der Braunhaarige kicherte. Er hatte sie vergessen. „Wir nehmen sie mit, dann können sie vielleicht unterwegs trocknen.“ Ausbessern würde sie der Hanebito dann selbst, wie er das sah.

Er war über die Bemerkung, dass er nicht begeistert war, hier zu sein, hinweggegangen. Natürlich war es besser so. Hanebito schien sich bei ihm nicht wohl zu fühlen. Und sich aufzwingen wollte er auch nicht. Aber er fand es schade, dass die Unleidlichkeiten ihrer beiden Völker für ein schier unüberwindbares Misstrauen sorgten.

Müde schloss er die Augen. Warum war es plötzlich so anstrengend geworden, diesen Mann in der Nähe zu haben?
 

„Hoffen wir mal.“ Mimoun wandte sich ab und ließ sich wieder an seinem Lager nieder, um zu frühstücken. „Ich würde lieber in meinen eigenen Sachen Zuhause auftauchen. Ich werde sowieso schon in Erklärungsnöte geraten.“ Der Geflügelte griff beherzt zu und schlug sich ordentlich den Bauch voll. Niemand konnte voraussagen, was ihn nun erwarten würde.

Währenddessen glitt sein Blick immer wieder zu seinen Rüstungsteilen. Die würde er auch noch mitschleppen müssen, sollte es tatsächlich nach Hause gehen.
 

„Willst du sie anlegen?“, fragte Dhaôma, dem der Blick nicht entgangen war. „Sie sind ziemlich schwer.“
 

„Mitnehmen auf jeden Fall. Wir gehören zu den wenigen Glücklichen, die ihren Angehörigen bestatten konnten. Es ist seine. Außerdem ist das Zeug teuer.“

Mimoun stockte und schüttelte irritiert den Kopf. Warum erzählte er so was? Es ging den Magier doch nichts an.
 

„Verstehe. Aber ich bin nicht stark genug, sie zu tragen. Du wirst sie also doch anlegen müssen. Oder du holst sie später ab, wenn dir jemand tragen helfen kann.“ Dhaôma war fertig mit essen und stellte die Schale beiseite.
 

Mimoun seufzte. Auch er stellte die Schüssel zur Seite.

„Nur wegen einer Rüstung, sei sie noch so teuer, werden sie niemanden so tief in Feindesland schicken.“ Forschend begutachtete der Geflügelte sein Gegenüber. „Machen wir es so. Ich lege sie probehalber an. Sollte ich mich in der Lage sehen zu marschieren, verschwinden wir von hier. Wenn nicht, warte ich noch ein paar Tage.“
 

Wegen seiner Rüstung wollte er noch länger bleiben? Das war wirklich faszinierend. Niemals hatte er zu seinem Vater eine derart tiefe Bindung besessen, dass er an ihn erinnert werden wollte. Aber da war noch etwas anderes.

„Wie geübt bist du im Laufen?“, wollte Dhaôma neugierig wissen. Er selbst würde nie wieder laufen, wenn er fliegen könnte. Dazu stellte er sich das Gefühl viel zu berauschend vor.
 

Prüfend wackelte Mimoun mit den Zehen. „Also laufen hat man mir beigebracht. Die Frage ist nur wie weit es tatsächlich ist. Diese Dinger...“ Er deutete auf seine Flügel. „...sind nämlich nicht nur zur Zierde gedacht.“
 

Er hatte sich so etwas in der Art schon gedacht. Hanebitos Beine waren um einiges schlanker als seine eigenen, die ihn täglich kilometerweit trugen.

„Dann wird es für dich Zeit, ihnen eine größere Bedeutung zuzuschreiben, deinen Beinen.“ Dhaôma ließ jede Emotion aus seiner Stimme heraus, sagte es ganz sachlich. „Los, ich helfe dir mit der Rüstung.“ Immerhin hatte er sie ausgezogen, da sollte er in der Lage sein, sie wieder anzuziehen.
 

Zum Fußgänger degradiert. Mimoun würde sich an den Gedanken erst noch gewöhnen müssen, nie mehr fliegen zu können. Bisher hatte er versucht, es zu verdrängen. Immer wieder, immer aufs Neue die Konfrontation mit dieser Tatsache hinausgezögert.

Der Geflügelte begab sich in die Hocke und wies an, welches Teil als nächstes kam und wie es zu befestigen war. Doch er ließ sie nicht so fest schnüren, damit sie nicht auf die Wunden drücken. Abschließend erhob er sich und spielte ein wenig mit den Flügeln, ließ die Schultern kreisen, um den anständigen Sitz zu überprüfen. Zu locker, für einen möglichen Kampf ungeeignet, doch für einen einfachen Transport geeignet. Das Gewicht störte ihn weniger. Er hatte sich schon vor einem Jahr daran gewöhnen müssen. Nur ob er einen Fußmarsch durchhalten würde, blieb abzuwarten.

„Wie weit ist es exakt?“
 

„Ich brauche mindestens drei volle Tage zu den Klippen.“, gab Dhaôma Auskunft. „Und auch dann ist nicht gesagt, ob du deine Leute direkt siehst. Manchmal warte ich Tage darauf, bis ich sie sehen kann.“

Offenbar machte die Rüstung keine Probleme, also konnten sie losgehen. Er nahm eines der Blätter und legte es dem Hanebito um die Schultern. Die Flügel waren im Weg, aber das ließ sich nicht ändern. Dann legte er sich das zweite Blatt um und nahm seinen Rucksack auf. „Gehen wir. Da es wohl erst morgen aufhört zu regnen, sollten wir heute zumindest bis ins Bieberversteck kommen.“
 

„Uff.“ Er hatte ja damit gerechnet, dass es nicht gerade um die Ecke war, aber drei Tage? Bei jemanden, der sich tagtäglich nur auf seine Füße verlassen musste und der unverletzt war. Na da konnte er sich auf einen wirklich langen Marsch gefasst machen.

„Nach Euch.“ Mimoun deutete eine leichte Verbeugung an.
 

Leicht überrascht hob der Braunhaarige Magier eine Augenbraue. „Mach dich nicht lächerlich.“ Aber er ging vor. Immerhin kannte der Hanebito den Weg nicht. Ohne ihn war er in diesem Wald verloren, denn er hatte keine Orientierung, da er nicht einmal wusste, wo er sich befand.
 

Achselzuckend folgte Mimoun. Da war jemand echt schlecht drauf. Ob der Magier nervös war wegen dem, was kommen würde?

Fast automatisch begann sich der Geflügelte anzuspannen und auf die Geräusche des Waldes zu lauschen, ob irgendetwas verdächtig war.
 

Dhaôma hielt sich zurück mit dem Tempo, versuchte auf seinen Patienten zu achten und sich dessen Schritten anzupassen. Dementsprechend beobachtete er aus den Augenwinkeln dessen Anspannung.

Er seufzte. „Entspann dich. Um die Uhrzeit sind draußen keine Raubtiere unterwegs. Noch dazu siehst du momentan aus wie eine Krabbe. Welches Tier könnte schon eine so große Krabbe knacken?“
 

„Moment. Lass mich überlegen.“ Mimoun kratzte sich am Kopf. „Ich glaub, es läuft zweibeinig durch die Gegend. Man trifft es eigentlich immer in Gruppen an. Sehr gefährliche Spezies, die immer aus dem Hinterhalt und mit unfairen Mitteln angreift.“
 

Schweigend musterte Dhaôma ihn, beobachtete wie das Wasser die aufgekratzten Haare wieder glatt strich. Letztlich wandte er sich ab. „In diesem Wald gibt es keine Magier. Nicht, wenn sie nicht müssen. Da, wo wir hingehen, gibt es nichts, das sie interessieren würde, also werden sie dort auch nicht sein, zumal die Felsen keinen Schutz bieten.“ Sacht schob er einige Äste beiseite, um Hanebito das Durchkommen zu erleichtern. „Aber du kannst gerne weiterhin die Umgebung beobachten und deine Sinne dir Streiche spielen lassen. Es wird nichts daran ändern, dass wir unser Ziel erreichen.“
 

„Willst du es mir verdenken? Ich bin in Feindesland, muss mich auf das Wort eines Jungen verlassen, der eigentlich zum Gegner gehört.“ Mimoun klappte seine Flügel so dicht an den Körper wie möglich, doch dieses enge Gestrüpp zerrte an seinen Nerven und seinen Kräften. „Hab ich schon erwähnt, dass ich aus dir nicht schlau werde?“
 

„Nein.“ Leise lachte Dhaôma. „Aber ich kann es verstehen. Wie sollte man Ehrlichkeit verstehen können, wenn man immer nur nach versteckten Motiven sucht?“ Er schenkte ihm ein Zwinkern, bevor er die Zweige wieder losließ.
 

Wortlos betrachtete er sein Gegenüber. Forschend. „Es stimmt, was man über euch Magier sagt. Ihr seid grausam. Meine ganze Weltanschauung geht deinetwegen den Bach runter.“, gab er offen zu. „Das Leben war so einfach vorher.“
 

„Es ist immer einfach, nicht für sich selbst denken zu müssen.“ Achselzuckend schob Dhaôma einen Ast hinter einen Baum. Seine Stimme wurde kälter, verachtend. „Es ist so schwach, einfach dem zu folgen, was andere einem sagen, niemals Dinge zu hinterfragen und Befehle zu den eigenen Überzeugungen zu machen. Ein einfaches Leben im Schatten anderer.“
 

„Es hilft uns beim Überleben.“ Sein Schritt verlangsamte sich, stoppte schließlich. „Und dich mal ausgenommen, stimmte alles, was ich von deinesgleichen gehört hatte, mit dem überein, was ich selbst an Erfahrungen machen musste.“ Sein Blick wurde traurig. „Du scheinst dein Leben frei fernab des Kriegsgeschehens führen zu können. Wie willst du das Leben von jemandem verstehen, der mittendrin steckt?“
 

„Sicher hilft es beim Überleben.“, stimmte Dhaôma zu, blieb ebenfalls stehen und sah ihn abschätzig an. „Oder vielleicht ist es eher so, dass ihr deshalb sterbt?“ Dann seufzte er und schüttelte den Kopf. „Ich sage nicht, dass wir im Recht sind. Ich kenne die Gründe dieses Kampfes genauso wenig wie du. Aber auch ich lebe nicht hinterm Blauen Mond. Mein Vater starb, nachdem er uns eure Gefährlichkeit predigte. Meine ältere Schwester hatte das Pech, zu selbstbewusst in den Kampf zu ziehen. Ich habe gesehen, wie sie zerrissen wurde. Zum Glück für sie war sie da schon tot. Mein ältester Bruder beschützte meinen zweitältesten und ist dabei umgekommen. Radarr ist deshalb geblendet von Hass. Meine Mutter verlor schon sechs Jahre nach meiner Geburt das Vertrauen in mich, weil ich offenbar nicht das mitbekommen hatte, was dazu notwendig wäre, ihren Gatten zu rächen.“

Sein Lächeln wurde wieder kalt und er lehnte sich etwas vor. „Wie du siehst, hätte ich genug Gründe, euch zu hassen, aber ich habe dennoch nicht das Messer erhoben und dich umgebracht, nachdem es die Krieger versäumt hatten, dich zu töten.“ Ruckartig richtete er sich wieder auf. „Ich glaube einfach nicht, dass man alle Menschen über einen Kamm scheren kann, ob sie Flügel haben oder Magie einsetzen oder mit Schuppen bedeckt sind. Komm weiter, sonst kommen wir nie an.“ Damit setzte er seinen Weg fort.
 

Es vergingen noch einige Augenblicke, bevor Mimoun tatsächlich folgte. Nachdem er all das Furchtbare, das seiner Familie zugestoßen war, gesehen hatte, wie konnte er dann so vertrauensvoll einem Feind Zuflucht gewähren? Wie war es ihm gelungen, so unschuldig im Angesicht der Grausamkeiten des Lebens zu bleiben?

Mimoun versuchte keine weiteren Gespräche in Gang zu bringen. Diese endeten in letzter Zeit viel zu häufig zu seinen Ungunsten. Vielmehr konzentrierte er sich darauf, sich durch das Unterholz zu kämpfen. Er spürte seine Kräfte schwinden, doch sich körperlich anzustrengen half ihm, lästige Gedanken loszuwerden.

Schließlich ging es nicht mehr. Mimoun lehnte sich gegen einen Baum. „Pause. Bitte.“, keuchte er. „Nur kurz.“
 

Natürlich war Dhaôma nicht entgangen, dass der Hanebito langsamer wurde und hatte sich angepasst. Schon vor einiger Zeit hatte er eine Pause einberufen wollen, aber der Blick war so verbissen gewesen, dass er ihn gelassen hatte. Seine eigenen Grenzen zu kennen war wichtig. Dieser junge Mann kannte sie offenbar nicht.

„Geh noch drei Bäume weiter. Da vorne sieht es so aus, als gäbe es einen trockenen Platz unter dem dicken Ast.“, deutete er auf besagten Baum.
 

Mit einem abgehakten Nicken zeigte sich Mimoun einverstanden.

Endlich an der besagten Stelle angekommen, ließ er sich mit einem erleichterten Seufzen zu Boden gleiten. Obwohl die Bewegung doch eher einem Fallen glich. „Ich hasse Laufen jetzt schon.“ Sein Kopf kam an der Baumrinde zur Ruhe und mit geschlossenen Augen konzentrierte er sich darauf, seine Atmung wieder ruhig und gleichmäßig zu bekommen.
 

„Es ist gar nicht so schlecht. Du brauchst nur ein bisschen Übung.“ Dhaôma ließ sich neben ihn fallen und kramte in seinem Rucksack, bis er den Wasserschlauch zu Tage förderte. „Hier, trink.“
 

Mimoun gab ein abfälliges Geräusch von sich, nahm den Wasserschlauch dankend entgegen. „Das sagst du nur, weil du es nicht anders kennst.“
 

„Richtig.“ Der Braunhaarige lachte leise. Wenn er fliegen könnte, würde er es sich auch überlegen, noch einmal zu laufen.

Dann verfiel er in Schweigen. Die Unterarme auf die Knie gestützt, den Blick auf die Blätter vor sich gerichtet, die in unregelmäßigen Abständen von Regentropfen getroffen wurden, dachte er über etwas nach, was ihm schon seit einiger Zeit keine Ruhe ließ. Bis jetzt hatte er es noch nicht angesprochen, hatte sich nicht getraut. Aber irgendwann musste es zur Sprache kommen, nicht wahr?

„Hanebito. Was werden deine Leute sagen, wenn du zu ihnen zurückkehrst? Du kannst nicht mehr fliegen. Du bist nutzlos geworden für sie, denn du kannst die Inseln nicht mehr verlassen. Können sie dich heilen? Dir deine Freiheit wiedergeben? Oder werden sie dich meinetwegen im Stich lassen? Weil ich dir geholfen habe…“
 

„Heilen kann das niemand.“, erklärte Mimoun niedergeschlagen. „Und was dich angeht... Sie werden sicher wissen wollen, was ich für nützliche Informationen aus dir habe rauspressen können. Schließlich muss ich dich ja dazu gezwungen haben.“ Ja. Was würde jetzt aus ihm werden? „Aber du hast Recht. Zumindest was das unmittelbare Kriegsgeschehen angeht, bin ich nutzlos für sie geworden. Aber hinter der Front, bei den Verletzten könnte ich aushelfen. Oder bei der Nahrungsbeschaffung, wohl hauptsächlich Bauer. Ich find schon eine Beschäftigung.“ Dabei behagte ihm die Vorstellung, sich nun als Bauer betätigen zu müssen, nicht wirklich.
 

„Das ist gut.“, nickte Dhaôma, dann lehnte er sich aufseufzend zurück und schloss die Augen. Also brauchte er sich keine Sorgen zu machen, dass sie seinen Hanebito vielleicht alleine lassen würden, dass seine Mühe umsonst gewesen wäre. Vielleicht war es kein schöner Gedanke, Bauer zu werden, denn er hatte unwillig geklungen, aber es war weit vom Krieg entfernt. Die Magier kamen nicht hinauf auf die Inseln, also würden sie ihn auch nicht töten. Im Grunde war das doch ein Anlass zur Freude.
 

Mimoun stützte seinen Kopf auf die Hand und betrachtete sein Gegenüber. Dieser sah tatsächlich beruhigt aus. Fast so als würde sich dieser Magier Sorgen um das Schicksal eines Geflügelten machen.

Und noch etwas ging ihm auf. Er redete hier ganz entspannt mit ihm. Warum ging er wie selbstverständlich davon aus, dass Dhaôma sein Wort halten und ihn tatsächlich nach Hause bringen würde?

„Ach, verdammt.“, murmelte Mimoun, ließ sich weiter nach unten rutschen, bis er in der Waagerechten war und legte seinen Arm über das Gesicht. Gut. Ging er mal davon aus, dass dieser Magier so harmlos war, wie er vorgab zu sein, sinnierte Mimoun in Gedanken. Das bedeutete nicht zwangsläufig, dass der Rest seines Volkes genauso harmlos war. Aber auch nicht, dass es nicht noch mehr wie diesen hier gab. Doch das würde keiner von ihnen offen zugeben, waren also nicht erkennbar. Diese wären aber unschuldig, oder?

„Ach, verdammt.“, seufzte er erneut.
 

Dhaôma merkte auf. Anscheinend war der Hanebito doch erschöpfter, als er gedacht hatte. Ob er jetzt langsam realisierte, wie begrenzt seine Möglichkeiten waren, vor ihm eine Stärke zu zeigen, die er nicht besaß? Das wäre beruhigend.

„Mach dir keine Gedanken. Du kannst so lange rasten, wie du willst. Es ist nicht so, als würde irgendjemand dort auf uns warten, also macht es gar nichts, wenn wir zwei oder drei Tage länger brauchen.“, versuchte er ihn aufzumuntern.
 

„Gut zu wissen.“, lachte Mimoun. Darüber hatte er sich ja nun so gar keine Gedanken gemacht. „Aber je länger ich meine Familie in dem Glauben lasse, ich wäre tot, desto länger leiden sie unnötig.“ Er versuchte sich wieder zu erheben, doch seine Kräfte scheiterten bereits daran. „Doch, vielleicht sollte ich auf dieses Angebot eingehen.“
 

„Das solltest du tatsächlich. Du solltest dringend lernen, besser einzuschätzen, zu was du fähig bist und zu was nicht.“ Er kicherte. „Auch wenn Krieger häufig dazu neigen, stärker sein zu wollen, als es gut für sie ist.“
 

„Du kennst doch sicher dieses Jäger-Beute-Prinzip. Die Schwachen trifft es immer zuerst.“ Er streckte sich ein bisschen, suchte sich eine bequemere Position. „Außerdem bin ich noch jung. Ich lerne erst noch die Lektionen des Lebens.“
 

„Ich lebe auch immer noch. Und ich bin nicht stark.“ Dhaôma strich sich durch die Haare. „Aber ich weiß, was du meinst. Deshalb habe ich beschlossen, dass es nicht schlecht ist, schwach zu sein, solange ich einschätzen kann, ob ich in der Lage bin, zu überleben.“
 

„Du hast dir nur eine andere Überlebensstrategie zurechtgelegt. Eine deinen Kräften angemessene. Tarnen und verbergen.“ Sein Blick folgte den Tropfen auf ihrem Weg nach unten. „Wir müssen uns halt auf unsere körperliche Stärke verlassen.“
 

„Und du musst dich jetzt auf deine Intuition verlassen, bis du wieder etwas hast, worauf du dich verlassen kannst.“, schmetterte Dhaôma diese Aussage ab. Eigentlich würde er ihm lieber sagen, dass er ebenfalls schwach war, dass diese Art des Überlebens, die er selbst vertrat, auch für ihn eine Option war, aber es schien zu viel des Guten. „Momentan bist du zu schwach, um dich auf deinen Körper zu verlassen.“ Und mit einem frechen Funkeln in den Augen fügte er hinzu: „Oder vielleicht ist es für dich besser, dich auf deinen Sturkopf zu verlassen, denn er scheint eine nicht geringe Quelle deiner Kraft auszumachen.“
 

Bezeichnend wanderte eine Augenbraue in die Höhe. „Sieh es als Glück für dich an, sonst wäre unser Treffen vielleicht anders ausgegangen. Außerdem sollte man dir beibringen, dass nicht jeder Wahrheiten so gut verträgt.“ Er setzte sich doch wieder auf. „Ich hab nämlich gar keinen Sturkopf.“
 

Still grinste Dhaôma und lehnte sich wieder zurück. Eigentlich war der Mann ganz lustig. Und wie er vorher schon bemerkt hatte, kannte er sich selbst ganz und gar nicht.

„Du solltest schlafen.“, bemerkte er leise. „Damit wir heute noch ein Stückchen schaffen.“ Denn wie es aussah, hatte er sich gewaltig verschätzt. Sie würden das Bieberversteck heute wohl nicht mehr erreichen.
 

Wieder nickte Mimoun ergeben. „Weck mich in ein oder zwei Stunden.“, merkte er noch an, bevor sein erschöpfter Körper sein Recht forderte.
 

Dhaôma nickte. Dann würde er in der Zwischenzeit etwas zu essen suchen.
 

Zwei Stunden später schüttelte er den anderen wach. „Es gibt etwas zu essen, danach gehen wir weiter, okay?“
 

Mimoun fühlte sich nicht wirklich erholt. Es fiel ihm schwer, den Schlaf abzuschütteln. Vielleicht würde es ja während des Essens besser werden. Träge griff er nach den dargebotenen Speisen, doch wirklich dazu durchringen etwas zu essen, konnte er sich nicht. Vielmehr kaute er nur lustlos darauf herum.
 

Sie gingen danach weiter. Wie vorher war das Tempo nicht gerade das schnellste und der Hanebito schwieg eisern. Dhaôma vermutete, dass es daran lag, dass er mit sich kämpfte, seine Müdigkeit nicht die Oberhand gewinnen zu lassen.

Zweimal noch beorderte er Pausen, bevor sie ihr Nachtlager unter einem vorhängenden Felsen aufschlugen. Es roch nach Raubtier und Dhaôma hoffte inständig, dass dieses Tier nicht gerade in dieser Nacht zurückkehrte. Sie hatten nicht einmal die Hälfte des Weges geschafft, den er für sie geplant hatte.

Wenn er nicht so aussehen würde wie ein Magier, hätte er selbst vorlaufen und die anderen zur Hilfe holen können, aber das war keine Option. Sie würden ihn höchstwahrscheinlich töten und ihm keinen Glauben schenken, so dass Hanebito hier alleine bleiben musste. Das war der Grund, warum er es ganz alleine schaffen musste, den Weg zu gehen. Aber es war ein gutes Training für seine Beine.
 

Über solcherlei Dinge machte sich Mimoun momentan keine Gedanken. Seine Beine fühlten sich schwer an, zitterten leicht aufgrund der ungewohnten Anstrengungen. Ohne noch etwas zu sich zu nehmen, suchte sich der Geflügelte eine bequem aussehende Stelle und rollte sich dort zusammen. Er dachte nicht einmal daran, sich der Rüstung zu entledigen. Das hätte Kräfte beansprucht, die er heute definitiv nicht mehr aufbringen konnte. Kaum hatte sein Kopf den Boden berührt, war er eingeschlafen.



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