Sag es mir!
Er starrte den Schotten an, als könne er ihn durch Gedankenkraft dazu bringen, wieder zu verschwinden. Ausgerechnet Johnny sollte nicht hier sein!
„Hey“, murmelte der Rothaarige verlegen. Er sah zur Seite und war sich nicht sicher, was er nun tun sollte. Madleine hatte gesagt, Robert würde ihn gerne sehen und nun sah der Deutsche drein, als habe man ihn furchtbar erschreckt. Wusste er etwa gar nichts davon, dass sie Johnny hierher eingeladen hatte? Und wo waren die anderen? Er hatte während des Wartens nirgendwo Oliver oder Enrico entdecken können. Langsam fragte er sich, was das hier werden sollte.
Madleine schob eine Hand an Johnnys Rücken und verfrachtete ihn mit sanftem Druck in den Raum. „Nicht so schüchtern. Du tust ja so, als kennt ihr euch nicht“, brummte sie. „Bin ich nicht!“, schnappte der beleidigte Schotte sofort und wandte sich ab. Sie seufzte. „Denk dran, was ich dir gesagt habe!“
Und mit diesen Worten schritt sie durch die Tür, welche sie halb zuzog. „Übrigens: Ich lasse euch beide hier nicht raus, bevor ihr nicht zumindest die wichtigsten Sachen geklärt habt, klar?“ Sie wartete gar nicht erst auf eine Antwort, sondern schloss die Tür und machte sich auf den Weg in die Küche.
Dort lauerte schon Gustav auf sie. Kaum war die Tür geschlossen, hechtete der alte Butler überraschend schnell nach vorn. „Und?“, fragte er bemüht leise. Madleine ignorierte das erwartungsvolle Gesicht vollkommen und ging um den alten Mann herum, um sich einen Tee einzuschenken. Genüsslich trank sie davon, ehe sie wieder zu Gustav sah. „Wird schon werden. Er hat mich zumindest nicht angeschrien.“ Darauf wusste er nichts zu erwidern, denn das hieß leider nicht viel. Robert schrie nie herum.
„Helfen Sie mir mit dem Tee? Und dem Kaffee für Robert?“, fragte sie und sah sich in der Küche um. Einige Gläser lagen ungespült herum – Gustav hatte erst gestern ein Dienstmädchen entlassen müssen, das eigentlich für den Abwasch zuständig gewesen war, weil sie zu viel tratschte. Er mochte seinen Herrn sehr und wollte dummen Gerüchten vorbeugen. Schließlich ging es um die Ehre der von Jürgens!
Er nickte ihr nun zu und krempelte die Ärmel hoch. „Ich mache das schon, sehen Sie nur nach dem Teepulver.“ Er hatte lernen müssen, dass Madleine sich äußerst ungern bedienen ließ und lieber mal kräftig mit anpackte. Als Zimmermädchen wäre sie für den Butler ein Geschenk des Himmels gewesen, aber als Gast sollte sie so etwas eigentlich nicht tun. Nur tat sie es einfach – und Gustav hatte einsehen müssen, das Widerspruch zwecklos war. So war er dazu übergegangen, ihr die leichtesten Aufgaben zuzuteilen, wenn sie da war, damit sie nicht mit ihm schimpfte.
„Geht klar. Soll ich Earl Grey nehmen? Ach, nein, den mag ja nur Alan so gern. Johnny wollte ja lieber Darjeeling!“ Nun musste er grinsen. Alan war Johnnys zweitältester Bruder und Madleines Hauptansprechpartner gewesen, wenn sie bei den McGregors anrief, um über Robert zu berichten. Bei den ersten zwei Gesprächen war es noch Johnny selbst gewesen, der mit ihr sprach, aber er war so laut geworden, dass sie den Hörer genervt auf Armeslänge von sich weghalten musste, um nicht taub zu werden. Dann hatte sein Bruder ihm das Telefon abgenommen und ruhig mit ihr geredet. Von da an war immer Alan drangegangen, wenn die Nummer des Deutschen auf dem Display erschienen war. Madleine schien sich auch außerhalb des Berichtes über ihren Schützling ausgezeichnet mit dem älteren McGregor zu verstehen.
„Miss Yuki? Darf ich Sie etwas fragen?“, begann er nun, als das Wasser in die Spüle lief. „Mmh-hmm“, murmelte sie zur Antwort. „Sie mögen Herrn McGregor sehr, nicht wahr?“ Er sah aus dem Augenwinkel, wie ihre Wangen pink wurden. „Ach ja?“ Plötzlich war sie sehr mit dem Teepulver beschäftigt. „Nun, Mr. Alan hat gestern hier angerufen. Als er hörte, dass sie nicht da waren, war er sehr enttäuscht. Ich sagte ihm, ich würde Ihnen etwas ausrichten.“ „Und das wäre?“, fragte sie und tat betont lässig. „Er lässt anfragen, ob Sie bereit wären, sich einmal mit ihm zu treffen. Schließlich sollten Sie das Recht haben, denjenigen zu sehen, mit dem Sie jede Woche telefonieren.“ Schlagartig drehte Madleine sich herum und sah Gustav erschrocken an. Dann glättete sie sorgfältig ihre Gesichtszüge, bevor sie antwortete: „Dann sagen Sie ihm bitte, wenn er sich mit mir verabreden wolle, solle er mich selbst darum fragen. Ich mag es nicht, über Dritte zu vermitteln, wenn es um meine eigenen Angelegenheiten geht.“ Der Butler lachte leise. „Sagen Sie ihm das doch direkt, Miss.“ Jetzt starrte sie wirklich schockiert. „Wie bitte?!“
Er zeigte in Richtung des Wohnzimmers. „Master Johnny ist nicht allein gekommen. Als Master Alan hörte, dass Sie seinen kleinen Bruder einladen, hat er sich der Reise angeschlossen. Er erwartet Sie bereits.“ Jetzt wurde sie wirklich rot.
Robert versuchte unterdessen, die Situation in den Griff zu bekommen. „Eh, setz dich doch.“ Er deutete fahrig auf den Sessel, der seinem gegenüberstand. Steif nickte Johnny und ließ sich hinein plumpsen. Einige Minuten herrschte Schweigen. Keiner von beiden wusste, wie er anfangen sollte. Schließlich fasste sich Johnny ein Herz und räusperte sich. „Du wusstest nicht, dass ich hier bin, oder?“ „Nein, erst seit einer Minute, bevor du hier reinkamst.“, erwiderte der Deutsche ehrlich. „Das wusste ich nicht.“ „Hn. Schon gut.“ Nervös knetete Robert seine Hände. Was sollte er tun? Was erwartete Johnny überhaupt von ihm?
Er saß nur in dem Sessel und schien zu warten, bis Robert seine Gedanken sortiert hatte. Das war so ungewöhnlich für ihn. Normalerweise hätte er schon längst verlangt, alles erklärt zu bekommen. Robert konnte ja nicht wissen, dass Madleine dem Schotten eingeimpft hatte, Robert nur ja genug Zeit zu geben, damit der sich nicht gedrängt fühle. Sei nicht so aufbrausend! Lass ihn die Sache erzählen und passe dich seinem Tempo an! Er braucht das jetzt! Diese Sätze von ihr schwirrten Johnny im Kopf herum, während er sich auf die Zunge bis, um nicht die Beherrschung zu verlieren. „Leg einfach los“, sagte er dann leise.
Robert sah ihn verblüfft an. Dann holte er Luft und entschied sich, erst einmal anzufangen. Wie viel er seinem besten Freund wirklich anvertrauen würde, dass wusste er selbst noch nicht so genau. „Vor ungefähr vier Monaten haben wir in Japan die anderen getroffen, nicht wahr?“ Johnny nickte und bedeutete ihm mit einer Geste, weiterzureden. „Und ein paar Tage, nachdem Tyson und Daichi Weltmeister geworden waren, war ich am Flughafen, um unsere Rückreise zu organisieren. Zum selben Zeitpunkt, als ich am Schalter nach unserer Reservierung fragte, landete die Maschine aus Russland mit Boris darin. Heute denke ich, dass das alles geplant war.
Nun, jedenfalls fing er mich am Ausgang ab und brachte mich zu seinem Hotel.“ Er musste ja nicht sagen, dass der Russe ihn bewusstlos geschlagen hatte und er nicht wusste, wie genau er in dieses Zimmer gekommen war. „Dort eröffnete er mir dann, dass er die BBA so gut wie übernommen habe und eine neue Organisation daraus machen wolle. Er sagte, die anderen hätten keine Chance, sich weiterhin zu halten, aber er wolle mir eine Möglichkeit geben, weiterhin zu bladen. Ich müsse nur für ihn arbeiten. Als Spion.“
„Was für ein Schwachsinn! Dem hätte ich was erzählt!“, brauste Johnny auf. Müde nickte Robert. „Ich habe – unfein ausgedrückt – ihm erklärt, er könne sich seine Spionage sonst wohin stecken. Ich hätte so etwas niemals getan. Aber...“ Er stockte und sah zu Boden. „Aber was?“, hakte Johnny nach. Er bekam keine Antwort.
Schließlich sprang er genervt auf. „Oh, Himmel! Hast du dann ein Angebot bekommen, das du nicht ausschlagen konntest, oder wie? Bist du käuflich?!“ Er wusste, dass das jetzt zu weit ging – schließlich hatte er Olivers Video noch zu gut in Erinnerung – aber es frustrierte ihn, dass er keine Antworten bekam. Roberts Kopf schnellte hoch. „Das denkst du also von mir! Gut zu wissen, dass ich in deiner Achtung so wenig wert bin!“ Auch er hatte jetzt die Stimme erhoben, denn Johnny hatte einen wunden Punkt getroffen. Und das wusste der Schotte eigentlich auch ganz genau!
„Dann sag doch einfach, was los war! Du willst mir jetzt nicht erzählen, dass der große, böse Russe dich bedroht hat? Oder mich? Ha, was für ein Witz!“ Er schnaubte sarkastisch.
Robert ballte die Hände zu Fäusten und unterdrückte mühevoll die Tränen. Johnny wollte ihn nicht verstehen, nicht wahr? Wie hatte er sich auch nur Hoffnungen machen können?!
„Es geht nicht immer nur um dich, Johnathan McGregor! Ich wollte deine ganze Familie schützen!“ „Ha!“, schnaubte er. Jetzt platzte Robert der Geduldsfaden. Johnnys Ignoranz war einfach zu viel. „Er hat mir gedroht, dir etwas anzutun! Und ich rechnete eigentlich nicht damit, dass du wirklich zu Schaden kommen würdest, aber denk doch einmal an deine Schwester! Er sagte, sie sei nicht sonderlich gesund und Aufregung wäre zu gefährlich für sie. Wenn du angegriffen worden wärest, hätte sich deine Schwester dann nicht so sehr aufgeregt, dass sie eventuell das Baby verloren hätte?! Hättest du das verantworten wollen, du elender Trampel? Und ich werfe für dich auch noch meinen Stolz über Bord und lasse Boris an mich ran mit seinen Drecksfingern! Wenn ich nur daran denke, dass ich deinetwegen nicht mehr will, dass mich je wieder jemand anfasst-“ Er unterbrach sich schockiert, als Johnny hörbar nach Luft schnappte. Verdammt, das hatte er nicht gewollt! Er hatte die Kontrolle verloren und beinahe alles erzählt! Jetzt war es gänzlich vorbei.
„Robert“, flüsterte Johnny nach einer Weile, vollkommen schockiert, „Soll das heißen....Boris hat dich...?“ Er schluckte schwer. Streckte zögernd die Hand nach dem Deutschen aus. Konnte das wirklich sein? Hatte sich dieses Scheusal an seinem besten Freund vergangen? Robert zuckte zurück und sprang auf. „Lass mich in Ruhe! Lass mich einfach in Ruhe, Johnathan. Endgültig.“ Und er rannte aus dem Zimmer und verschwand die Treppe hinauf.