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Erwachen im Frühling

Neuauflage
von

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Wiedersehen

Melinarés verdiente nach der Meinung von Frederik einen goldenen Heldenorden. Warum? Sie war seit gut zwei Wochen meine Nachhilfelehrerin und das mit Bravour. Sie hatte nicht nur viel Geduld mit mir, nein sie schaffte es auch noch mich innerhalb einiger Tage in die Gruppe aufzunehmen. Wir verbrachten das erste Wochenende, welches ich in die neue Klasse ging natürlich zusammen, gingen ins Kino und abends sogar in eine der etwas besseren Discos.

"Wohin zieht ihr Mädels denn heute schon wieder?", fragte Anna, als ich Freitag nach der Schule mit einer großen Einkaufstüte nach Hause kam.

"Melinarés möchte mich noch ein wenig in die Gruppe eingliedern."

"Und...dafür brauchst du dieses Outfit?"

Ich packte das Cocktailkleid aus, welches ich mit Melinarés vor knapp einer Stunde gekauft hatte und zeigte es ihr. Meine Tante pfiff anerkennend und legte eine Hand in die Hüfte. Dazu kamen noch die kurze schwarze Perlenkette und die ovalen flachen schwarzen Ohrringe.

"Gehst du zu einer Grammy-Verleihung?"

"Nein. In eine Special Ladies Lounge. Melinarés meinte da gehen die ganzen Mädels hin, die irgendwo etwas zu sagen haben, aber sie meinte, wenn ich mich brav benehme dann nimmt sie mich wieder mal mit."

Ich beäugte das Kleid und wünschte mir, es wäre doch ein paar Zentimeter länger, so dass es mir auch wirklich bis über die Oberschenkel ginge. Vorhin in der Umkleide ging es zumindest knapp über meinen Hintern, aber da stand ich ja auch nur still da, heute Abend würde ich mich auch bewegen.

"Sehr gewagt, bist du dir sicher, dass du darin weggehen möchtest?", fragte Anna und zog die Augenbrauen hoch.

"Manchmal muss man sich im Leben einer Frau etwas wagen...", wiederholte ich, was mir Melinarés vorhin gesagt hatte.

Anna sah mich groß an und ich konnte nur schweigen. Frederik kam aus dem Wohnzimmer um sich eigentlich nur eine Cola zu holen und erblickte das Kleid, welches ich auf dem Küchentisch gelegt hatte, damit es keine Falten bekam. Er schaute es sich zuerst bewundernd, dann skeptisch an. Sein Blick wanderte zu Anna, welche den Kopf schüttelte und auf mich zeigte.

"Du? Ziehst DAS an? Habe ich Geburtstag?"

"Sie möchte heute mit Melinarés in eine Lounge gehen. Anscheinend ist das der ermäßigte Eintritt...", erklärte meine Tante und widmete sich wieder dem Abendessen.

Ich warf ihr einen bösen Blick zu und sammelte meinen Schmuck wieder ein. Natürlich kam ich mir in dem Kleid etwas komisch vor, auch nachdem mir meine Freundin versichert hatte, ich sehe wunderbar darin aus.

Um halb sieben kamen Melinarés und Daniela vorbei, um mich abzuholen. So schnell wie ich in den hochhackigen Schuhen laufen konnte eilte ich zu dem Auto und schnallte mich an.

"Sexy!", lächelte Daniela mir durch den Rückspiegel zu und fuhr weiter.

"Glaubst du, ich kann meinen Hintern heute vor den Kameras verstecken?"

"Süße, wenn du morgen im Forum die ganzen Fotos von uns dreien siehst wirst du begeistert sein!", versicherten mir die beiden im Chor.

"Ich habe mich nicht mal getraut etwas zu Abend zu essen!", beklagte ich mich.

Daniela kicherte: "Das haben wir auch nicht!"

Melinarés blickte vom Beifahrersitz zu mir nach hinten und lächelte ebenfalls. "Wenn wir auf dem Heimweg sind, fahren wir noch mal in den Drive in, damit du mir nicht zusammenkrachst. Aber in der Zwischenzeit müssen wir uns alle etwas zusammenreißen. Auch mit dem trinken...wenn man später ein Bild von dir sieht, wo du bereits einen glasigen Blick hast und den Mund zu einem übertriebenen Lachen aufreißt ist alles nette vorbei..."

Daniela bog an der nächsten Ecke rechts ab. "Ja, bei mir war es allerdings ein glasiger Blick und ein ziemlich schief hängendes Glas."

"Und jetzt?", fragte ich nach, obwohl ich mir das Ende zusammenreimen konnte.

"Naja...ich musste einigen Leuten ziemlich den Arsch aufreißen, um wieder dort zu sein, wo ich jetzt stehe. Auch wenn ich in der Abschlussklasse bin, soetwas verfolgt dich ewig, wenn du nicht sofort handelst."

Ich lehnte mich auf der Rückbank zurück und versuchte nicht zu tief Luft zu holen. Dabei dachte ich daran, wie ich mich auf die Couch hätte flacken können und genüsslich ein Eis verspeißte, zusammen mit meinem Onkel den heutigen Blockbuster schauend. Nein, ich musste mich ja in einen kleinen Stofffetzen zwängen und stundenlang auf mein Essen verzichten, nur um ein paar Mal abgelichtet zu werden, damit mich mehr Leute an meiner Schule kennen würden. Auch wenn es ein Freundschaftsgefallen von Melinarés und Daniela war, es würde nicht sehr oft vorkommen, wenn ich auf so viel Gutes verzichten müsste!

"Weißt du noch, wie du Shane deinen Cocktail ins Gesicht geschüttet und Shanes Kopf unter den Wasserhahn gehalten hast?", lachte Melinarés und klatschte in die Hände.

"Man, ihre Haare stanken nach Zigarettenqualm und sonst noch was, ich habe ihr nur einen Gefallen getan!"

"Ja, sie stanken aber auch nur nach Zigerettenqualm, weil du ihn ihr vorher in die Haare geblasen hast."

"Ich brauchte doch einen Grund, ihre Haare unters Wasser zu halten, damit sie einen kühlen Kopf bewahrt!"

"Trotzdem! Du hast angefangen."

"Hab ich? Hab ich angefangen mich kleines leicht abzufüllenes Flittchen zu nennen?"

"Okay...", gab ich dazu, allein dass mich die beiden nicht vergaßen.

"Nein, nicht okay, das kleine Miststück hat mich leicht abzufüllenes Flittchen genannt, nachdem ich leider einen glasigen Blick und ein schief hängendes Glas auf einem Bild hatte!"

Ich kannte Daniela zwar schon seit fast zwei Wochen und wusste, dass sie ihre Hysterie nur spielte, dennoch hatte ich riesigen Respekt vor ihr. Niemand legte sich mit ihr an, nicht mal die Jungs aus der Oberstufe, welche richtige Rüpel sein konnten. Bei Daniela fühlte ich mich jedoch auch sicher, solange sie in meiner Nähe war fühlte ich mich gar nicht mehr als "Neue". Auch wenn ich mittlerweile meine Uniform trug, es gab Personen, zum Beispiel Shane, welche immer noch nicht mit mir sprachen.

"Mädels, wir sind daha!", verkündete Daniela und half mir aus Auto, da sie bemerkte, dass das Cocktailkleid doch ziemlich kurz war.

"Oh, seht mal...Shane ist auch schon da..."

Das Mädchen stand am Eingang des Clubs und schien auf jemanden zu warten. Ich staunte nicht schlecht, als ich sie in diesem hautengen apricotfarbenen Blazer und der Jeans sah. Eigentlich ein ziemlich simples Outfit, jedoch sah es sehr elegant und sexy aus. Ihre cappuccinobraunen Haare fielen in weichen Locken links und rechts über ihre Schultern und ein dünnes Goldkettchen zierte ihren Hals. Obwohl ich noch nicht mit ihr direkt konfrontiert wurde, jeder der mittlerweile mit mir befreundet war riet mir davon ab und ich hielt mich daran, wollte ich gerne irgendwann mal ein paar Takte mit ihr wechseln. Wegen eines Smalltalks würde mich Sahne doch nicht gleich kopfüber ins Klo hieven, oder…? Daniela würde sich Shane wahrscheinlich nur wieder mit aufs Klo zerren um ihr einen kühlen Kopf zu bewahren, ich würde es aber erst gar nicht zum Konflikt kommen lassen, dass hatte ich mir fest geschworen.

Daniela hackte sich glücklicherweise gleich bei mir ein, sonst wäre ich mit diesen Wunderwaffen die sich eigentlich Highheels schimpfen nie die Treppe hinuntergekommen. Sie ließ mich auch nicht los, als mich Melinarés ein paar anderen Mädchen vorstellte, von denen ich gleich ein Kompliment erhielt.

"Hey ist das Teil cool, und erst diese Kette!"

Fast hätte ich die Mädchen aus meiner neuen Schulklasse nicht erkannt, auch nicht, als einige von ihnen direkt vor mir standen. Klar ein paar von ihnen liefen auch in der Schule geschminkt herum…aber nicht so!

"Wow! Siehst echt sexy aus!"

"Ich hätte auch gern so ein tolles Kleid...wo hast du es gekauft?"

Melinarés und Daniela nahmen mich mit zur Bar wo letztere gleich die Digicam aus ihrer Tasche holte und ein Foto von uns dreien machte. Wir bestellten unseren ersten Drink und mischten uns unters Volk. Es wurde gute Musik aufgelegt und die Tanzfläche war voll. Überall sah ich nur kurze Kleider und Röcke, überall sah ich bis zum Ultimo aufgestylte Mädchen und ich sah Shane. Den Blick, den sie mir in genau dieser Sekunde zuwarf hätte Welten vernichtet. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter und eine Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen und Beinen aus. Ich konnte den Blick nicht von ihr abwenden, ich wollte…doch es ging nicht. Daniela drehte sich zu mir um, nachdem sie und Melinarés bemerkt hatten, dass ich ihnen nicht mehr folgte. Sie verfolgte wohin ich blickte und stoppte in ihrem Satz, den ich durch meinen Trancezustand nicht mitbekommen hatte und hackte sich erneut bei mir ein um mich wegzuzerren.

"Hey...Kleines...Clarissa!!", hörte ich sie wie durch Unterwasser.

Sie schüttelte mich leicht durch, und ich überlegte mir, besser gleich zu antworten, bevor sie mir auch einen kühlen Kopf besorgte.

"Ich bin da, ich...mir geht‘s gut!"

"Wenn irgendetwas ist, dann sag es mir."

"Weißt du was...es ist was! Ich bin einfach viel zu nüchtern!", lachte ich und schnellte zurück zur Bar.

„Hey krieg ich noch einen davon?“, rief ich dem Barkeeper zu und zeigte auf mein leeres Glas.

Er nickte mir zu und machte sich gleich ans mischen, während ich mich ein bisschen über die Theke lehnte um ihn zu zusehen. Ich spielte ein bisschen an meiner Kette herum und blickte in den riesigen Spiegel der hinter der Bar angebracht war und bemerkte wie zwei glühende Augen mich fixiert hatten. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen und drehte mich zu Gabriell um.

„Na?“

„Na?“, grinste er zurück und lehnte sich an die Theke, ich hätte dich in dieser Aufmachung fast gar nicht erkannt.“

Ich lachte kurz auf aber auch nur weil ich nicht wusste ob er das negativ oder positiv gemeint hatte.

„…und unter so viel Farbe im Gesicht.“

Jetzt hielt ich inne. Das war definitiv negativ…

„Hey! Das war doch nur ein Witz! Das ihr Frauen sowas immer gleich ernst nehmt“, verteidigte er sich und hob die Hände.

„Bei euch Männern weiß man sowas nie“, gab ich zurück und nahm meinen Cocktail entgegen, „ich dachte das hier sei eine Ladies Lounge?“

„Jupp.“

„Willst du mich dann nicht aufklären, was DU hier machst?“

Gabriell lächelte triumphierend und meinte: „Naja dann hat sich das Geld gelohnt.“

„Geld? Hast du den Türsteher bestochen?“

„Nein aber den Arzt der aus mir einen Kerl gemacht hat.“

Ich verschluckte mich an meinem Cocktail und hustete stark. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Gabriell hatte natürlich nichts Besseres zu tun als hellschallend zu lachen.

„Du Arsch!“

„Nein!“, lachte er immer noch, „falscher Engel, wenn ich bitten darf!“

Ich sah ihn fragend an und nahm noch mal einen Schluck, damit sich meine Speiseröhre wieder beruhigen konnte.

„Du hast mir immer noch nicht gesagt wie du hier rein gekommen bist!“

„Na durch die Tür“, erklärte er und zeigte Richtung Eingang.

Ich verdrehte die Augen und nahm meinen Cocktail wieder in die Hand um Melinarés und Daniela zu suchen.

„Hey wohin gehst du?“

„Zu den Mädels, wohin denn sonst?“

Gabriell ließ den Blick durch die Menge schweifen und sah mich ziemlich hilflos an: „Zu welchen?“

„Zu Melinarés und Daniela.“

„Okay“, grinste Gabriell und nahm seinen Drink in die Hand und kam zu mir, „ich hefte mich so lange an deine Fersen, bis meine Kumpels kommen. Die brauchen anscheinend noch ein wenig.“

Ich lachte lautlos und ging voraus, der falsche Engel folgte mir.

„Hey! Ich dachte schon wir hätten dich verloren!“, rief mir Daniela entgegen, als sie mich in der Menge erblickte und kam mir gleich entgegen.

„Nein ich habe mir doch nur einen neuen Cocktail geholt“, versuchte ich sie zu beruhigen und zeigte auf Gabriell, „außerdem hätte er sicher auf mich aufgepasst.“

Daniela sah ihn fassungslos an: „…und wie kommst du hier rein?“

„Durch die Tür.“

„Hallo Gabriell!“, mischte sich Melinarés in die Unterhaltung mit ein.

„Hi!“

„Was machst du denn hier?“

Er verdrehte die Augen: „Darf ich nicht mal Hahn im Korb spielen?!“

„Nein!“, giftete Daniela.

„Zicke.“

„Casanova.“

„Hey Leute!“, schlichtete Melinarés zwischen den Beiden, „wir sind hier um Spaß zu haben und nicht um uns gegenseitig irgendwelche kindischen Schimpfwörter an den Kopf zu werfen!“

Sie nahm ihre Rolle als Klassensprecherin sehr ernst. Zum Glück auch außerhalb der Schule!

Gabriell und Daniela drehten sich voneinander weg und schienen den anderen keines Blickes mehr zu würdigen.

„Zum Glück haben wir dich!“, dankte ich Melinarés.

„Naja…wenn sie sich heute nicht an die Kehle gehen machen sie’s irgendwann woanders…“

Sie seufzte und zuckte mit den Schultern.

„Gabriell da bist du ja!“, ertönte eine andere Männerstimme.

Zwei weitere Jungs kamen auf uns zu und beschwerten sich, dass es hier so eng wäre, so heiß und stickig und dass sie so schnell wie möglich in eine andere Kneipe auswandern sollten. Gabriell schien noch irgendetwas mit den beiden zu diskutieren doch sie stellten auf stur. Somit blieb ihm nichts anderes mehr übrig, als sich zu mir umzudrehen und mit den Schultern zu zucken: „Sorry…aber den beiden gefällt es hier überhaupt nicht…wir gehen in ne‘ Kneipe…“

„Okay“, antwortete ich und machte eine hilflose Geste, „wir sehen uns Montag!“

Erst als die drei weg waren wandte sich Daniela zu mir: „Ey! Respekt, kleines!“

„Hä? Was ist nun kaputt?“

„Ich hätte dir ja viele Jung aus deiner Klasse zugetraut, aber Gabriell? Nicht schlecht!“, zwinkerte sie mir zu.

„W…was?! Ich…du meinst…wir…NEIN! Wir haben nichts miteinander!“

„Wie heißt es so schön…? Getretene Hunde bellen?“, grinste Daniela zu Melinarés.

„Nein!“

Melinarés legte mir eine Hand auf die Schulter und meinte beruhigt: „Keine Angst…sie zieht dich nur damit auf, weil sie ihn nicht bekommen hat…“

„HEY!“, beschwerte Daniela sich plötzlich.

Während die beiden das Ganze Thema versuchten auszudiskutieren machte sich bei mir der Alkohol bemerkbar und ich machte mich auf in Richtung Toiletten.

„Ah…so langsam muss ich mit den Cocktails langsamer machen…“, sprach ich in den Spiegel, als ich mir die Hände wusch.

„Das wäre auch besser…wir wollen ja nicht, dass du hinfällst oder ähnliches…“

Ich drehte mich in Richtung der Stimme und erblickte Shane. Sie stand nur wenige Meter von mir entfernt und mustere mich ganz genau.

„Oh…hi…“, war das einzige was ich ihr entgegnete, was anscheinend zu wenig ihres Erachtens war.

„Ich frage mich sowieso, wie jemand wie du…der vollkommen neu ist in der Stadt Zutritt in einen der Clubs bekommt, für den man entweder sehr viel Bekanntschaften haben muss oder eine persönliche Einladung…“, sagte sie in einer Stimmlage, die mir nicht wirklich angenehm war, „nachdem ich ja schon erwähnte, dass du ziemlich neu hier bist können wir Punkt eins wohl streichen…und Punkt zwei…kann ich mich nicht daran erinnern deinen Namen auf die Gästeliste gesetzt zu haben…also; wie bist du hier reingekommen?“

„Durch die Tür“, erwiderte ich und wollte an ihr vorbeigehen, doch Shane hielt mich auf, indem sie mich am Arm festhielt.

„Ich habe dir eine ernste Frage gestellt!“

„Und ich habe dir eine ernste Antwort gegeben!“, erwiderte ich und zog meinen Arm aus ihrem Griff, „…wenn du mich jetzt nun entschuldigen würdest…mein Cocktail wartet auf mich.“

„Pass lieber auf, dass du nicht zu tief ins Glas schaust…“, waren ihre letzten Worte, die ich verstand bevor sich die Toilettentür hinter mir schloss…
 

***
 

Ich wusste nicht mehr wann, doch ich wusste dass mich Daniela mit ein paar gewaltigen Zacken in der Krone wieder nach Hause brachte, wo meine Tante noch im Sessel saß und mich empfing. Wie ich allerdings die 24 Stufen bis in meinen Bunker hockgekommen war wusste ich überhaupt nicht mehr.

Ich schlug meine Augen auf und merkte wie sich alles drehte. Ich versuchte mich an meinem Bett irgendwo festzuhalten, doch es drehte sich alles weiter.

"B...boah...", stöhnte ich und drehte mich halb im Bett, bemerkte aber dass das ein Fehler war und versuchte stillzuliegen.

"Clarissa? Bist du wach?", flüsterte mein Onkel und öffnete die Tür zum Dachboden.

"Ich glaub schon...", stöhnte ich zurück.

"Willst du mit uns frühstücken? Anna hat dir einen Kamilletee gemacht."

"Ich komme sobald ich meine Orientierung wieder erlangt habe..."

"Okay, bis gleich."

Ich blieb noch gut zehn Mintuen liegen, dann raffte ich mich auf und zog mir meine Sweatshirtjacke über, um mit meinem Onkel und meiner Tante zu frühstücken.

"Guten Morgen, Sonnenschein! Lebst du wieder?", grinste Anna mir entgegen und reichte mir meine Tasse mit Tee.

"Ja, ich lebe noch...wieder..."

"Hattest ja heute früh gut geladen."

"Wann bin ich denn gekommen?"

"Daniela und Melinarés haben dich so gegen halb vier gebracht."

Ich ließ nicht auf meinen Stuhl sinken und stützte meinen Kopf auf meine Hände.

„Ohje doch so schlimm?“, lächelte mein Onkel, „aber nach ein bisschen Sport und einem heißem Bad geht’s dir schnell wieder besser…“

„Sp…Sport…?“

„Japp“, grinste meine Tante, „fördert die Durchblutung, ist gesund und du schwitzt die ganze Sauce aus dir raus!“

„Kann ich nicht einfach ein paar Aspirin bekommen?“
 

***
 

Nach dem Frühstück packte Frederik bei der Hand und nahm mich mit in den Schuppen. Er grinste mir breit zu, als ich in der hinteren Ecke ein Fahrrad vorfand, welches eigentlich das alte meiner Tante war.

„Wieso…?“

„Du hast dich doch sowieso über deine miserable Kondition beschwert und das dich der Sportunterricht immer so schlaucht.“

„Ja…aber wieso…?!“, knörte ich.

Frederik lächelte immer noch wenn auch etwas leicht genervt. Er tätschelte mir die Schulter und versicherte mir, wenn ich erst mal bei diesem milden Novembertag eine Runde geradelt wäre, würde es mir gleich viel besser gehen!

Ich verdrehte die Augen und schon das Rad nach draußen. Der Himmel war grau und von der Sonne konnte man anhand des kleinen hellen runden Kreises nur vermuten wo sie gerade war.

„Hattest du nicht gesagt, dass es ein ‚schöner Novembertag‘ sei?“, fragte ich ironisch an meinen Onkel.

„Ich sagte ‚an so einem milden Novembertag‘. Fang nicht an mir die Wörter im Mund umzudrehen…es reicht mir vollkommen wenn deine Tante das tut!“

„…zieht da hinten gerade Nebel auf…?“, fragte ich mit leichtem Zittern in der Stimme.

Frederik lachte und gab mir einen leichten Schups: „Dann fährst du ganz einfach in die andere Richtung.“

Ich schaute ihn gekünstelt entsetzt an, erwiderte jedoch nichts, setzte mich brav auf das Fahrrad von Anna und versuchte meine Kondition wieder aufzubauen. Der Sportunterricht schlauchte mich wirklich gewaltig und ich wollte nicht als Einzige schwer schnaufend am Rand stehen müssen, wo mich alle sehen und belächeln konnten.

"Wenn du möchtest, ich kann mit dir trainieren, ich spiele Handball, also ist meine Kondition erste Sahne“, hatte mir Melinarés nach der ersten Sportstunde vorgeschlagen.

„Mit was willst du mir eigentlich noch helfen??“

„Solange ich es kann und es mir meine Freizeit erlaubt kann ich dir doch helfen, oder?“

„DU…? Du willst mir nicht wirklich weiß machen, dass du neben der Schule, der Sport AG, deinem Reitkurs und dem Lernen immer noch Freizeit hast?!“

„Doch…“

"Ich überlege mir, ob ich nicht auch irgendeinem Club oder so einer AG beitrete..."

Melinarés hatte mich nur mit einer hochgezogenen Braue angeschaut und den Mund zu einer Grimasse gezogen: "Schau du erst mal, dass du unser Niveau erreichst und es auch halten kannst!"

Andererseits hatte ich ein wenig Speck angesetzt und wollte diesen nun auch loswerden. Immer wenn ich Shane, Melinarés oder ein anderes Mädchen aus meiner Klasse sah wurde ich neidisch; so eine perfekte Figur, top gestylt und doch so gut in der Schule. Mein Ehrgeiz war geweckt worden!

"Viel Disziplin und Übung!", hatte mir Daniela zugezwinkert, als ich Melinarés und sie nach ihrem Geheimnis fragte.

Ich stemmte mich in die Pedale, jetzt kam der Berg, den ich mir extra ausgesucht hatte, damit meine Oberschenkel auch von meinem Training profitieren konnten. Ich dachte daran, wie ich später am Computer sitzen und mir die Partybilder von gestern anschauen würde, als plötzlich mein Fuß von der Pedale abrutschte und ich eine Rolle über meinen Lenker schlug. Natürlich fuhr ich gerade an einem kleinen Abhang, wo ich jetzt runter kullerte und mir an ein paar Dornenbüschen Arme und Beine mit kleinen roten Striemen verzierte. Ich lag vielleicht eine Minute so da und dachte noch daran, wie das nur passiert sein konnte, als schon jemand zu mir her gerannt kam.

"Bist du okay?"

"Mir is schwindelig...", stöhnte ich und merkte, wie dieser Jemand versuchte mir aufzuhelfen.

"Und sonst? Hast du irgendwelche Schmerzen?"

Ich sah ihn an und wollte etwas Ironisches sagen wie "nein, ich bin ja nur von dem Hang gerollt und habe mich überall geritzt, aber sonst geht’s mir gut!", als ich in zwei bernsteinfarbene Augen blickte. Mir lief der Schauer über den Rücken und eine Gänsehaut machte sich auf mir breit, während ich leise vor mich her wimmerte:" J...ja, mein Bein tut ein bisschen weh..."

Gabriell setzte mich auf und tastete meine Beine ab. "Welches? Das hier?"

"N...n...nein das linke", meinte ich und unterdrückte einen schmerzenden Schrei, "da, genau da…autsch!"

"Sorry!", entschuldigte er sich gleich und lächelte leicht, "ich habe ein umgekipptes Rad da oben gesehen und geschaut, ob jemand hier gestürzt ist. Warst anscheinend du?", erkundigte er sich und blickte zu mir auf.

"Ich bin noch nicht so gut darin...im Abrollen versteht sich", erklärte ich Gabriell und erwiderte seinen Blick.

"Tut‘s hier weh? Oder mehr am Knöchel?"

"Knöchel."

Ich bemerkte, dass er, trotz das es schon Ende November war, immer noch im Sweatshirt herumlief. Ich sah eine Halterung für den MP3-Player am Arm, anscheinend joggte Gabriell am Wochenende? Glauben würde ich es gern, es erklärte zumindest warum er immer mit Sporttasche herumlief und abends nie mit auf Tour war.

"Geht's wieder? Nach so einem Sturz ist man meistens ein wenig benommen und vor allem nach so einem", erzählte er mir und zeigte auf den Abhang.

Ich folgte mit meinen Blick in die Richtung die er zeigte und bemerkte, dass dieser eigentlich gar nicht so kurz gewesen war. Oben auf der Straße lag mein Rad, wo sich der vordere Reifen immer noch drehte.

"Oh...doch so ein Stück...?"

"Meinst du, dass du aufstehen kannst?", fragte Gabriell schon fast fürsorglich besorgt.

"Ja."

Er reichte mir seine Hand und half mir auf die Füße, welche aber sofort wieder nachgaben, da sie immer noch vom Anblick seiner Augen so weich waren. Ich knickte nach vorne weg und fiel in seine Arme an seinen Körper, wo ich mich ins Oberteil krallte, um nicht abzurutschen um auf Hüfthöhe zu fallen. Er roch verdammt gut nach Wald und Wiese und ein bisschen nach männlichem Schweiß. So vergrub ich mein Gesicht in seiner Brust, damit er nicht merkte wie ich rot anlief und nochmal an ihm roch.

"Sicher, dass du aufstehen willst?", fragte er leicht verlegen und packte mich an den Schultern, um mich gerade hinzustellen, "du wirkst etwas benommen?"

"N...nein, mir geht es wirklich gut! Danke ich glaube ich fahre wieder heim..."

Er zog eine Augenbraue hoch und musterte mich ganz genau, wahrscheinlich sah er jetzt auch, wie meine Hose voller Erde war und leicht in Fetzen hing.

"Du bist ganz schön blass um die Nase, ich denke du setzt dich wieder hin...?", schlug er vor und deutete auf den Rasen. Er bemerkte natürlich auch, dass ich meine Finger in sein Oberteil gekrallt hatte und dass er mich wiederrum an der Schulter festhielt. Der folgende Blick sprach Bände...

"Ja, ich bin abgerutscht und hier runter gefallen...ich weiß! Aber du hast super erste Hilfe geleistet und mit mir gewartet", erklärte ich Gabriell und löste langsam meinen Griff aus dem Oberteil um mich dann alleine hinzustellen. Der falsche Engel erkundigte sich noch mal nach meinem Befinden und fragte wie ich jetzt nach Hause kam.

"Ich fahre, wie denn sonst?"

"Fahren? Du?" Gabriell lachte und hielt sich den Bauch. Ich stemmte eine Hand in die Hüfte und versuchte ihn düster anzuschauen. So viel dazu, dass ich ihn gerade noch netten Jungen nennen wollte...

"Ich glaube kaum, dass du mit diesem Rad noch irgendwohin fahren wirst. Ich habe es mir genauer angeschaut...die Kette ist gerissen."

"Dann laufe ich eben!", murrte ich und begann den Berg hinaufzuklettern, was mir nicht leicht fiel, da mein Knöchel immer noch schmerzte.

"Komm...ich kann mitgehen, Clarissa! Du schaffst es nicht mal zweihundert Meter weit, bis du unter den Schmerzen zusammenbrichst!", rief mir Gabriell hinterher.

Ich versuchte es zu überhören bis ich am Hang oben angekommen war. Nervensäge!, dachte ich mir und drehte mich dann zu ihm um. Gabriell wartete anscheinend, dass ich irgendetwas sagte oder etwas tollpatschiges machte, doch da musste ich ihn enttäuschen. Ich war froh darüber, dass er mir geholfen hatte, aber er bewies wieder mal, dass Gabriell doch nur ein Mann war...

"Ach ja, bevor ich es vergesse: danke für deine Hilfe!", rief ich ihm dann doch runter.

Er winkte kurz und ich hätte mir gewünscht, dass er mich noch mal fragte, ob er mich heim begleiten sollte, denn irgendwie wäre Gesellschaft nicht schlecht bei einem Marsch von knapp zwei Kilometern und das mit schmerzenden Knöchel...und dem heraufziehenden Nebel…

Dann humpelte ich zu dem Rad und es war wie Gabriell gesagt hatte...die Kette war gerissen. Ich kniff die Augen zusammen um den Schmerz besser zu ertragen, der sich plötzlich von meinem Knöchel aus verbreitete. Ich hob das Rad auf um es zu schieben und als Stütze zu nehmen, doch wie der falsche Engel mir prophezeit hatte knickte ich nach nicht mal zweihundert Metern ein und hielt mir den schmerzenden Knöchel.

"Verdammt!", fauchte ich und zwang die Tränen zu verschwinden, welche sich in meinen Augenwinkeln angesammelt hatten. Ich hätte fluchen können, denn ich hatte natürlich nichts dabei kein Handy, kein Funkgerät...nichts! Und um den falschen Engel zu fragen, mich doch zu begleiten war ich zu stolz gewesen, also saß ich am Straßenrand und rieb meine Verletzung, in der Hoffnung sie würde schnell vorüber gehen.

"Habe ich es dir nicht gesagt?! Keine zweihundert Meter schaffst du!", lachte er triumphierend.

Ich drehte mich zu Gabriell um und war ihn einen giftigen Blick zu, worauf er wieder kicherte. Er kniete sich neben mich, legte meinen Arm um seinen Nacken und hob mich hoch.

"Bist du wahnsinnig? Lass mich runter!"

"Du hast Sendepause, Kleines!", meinte er und sah die Straße hinunter, "da lang?"

Ich nickte nur und hielt mich an seiner Schulter fest. Die meiste Zeit sagten wir nichts, ich beschwerte mich noch zwei, dreimal, dass ich doch laufen konnte aber es brachte mir nicht viel. Nach einer dreiviertel Stunde sah ich zu ihm hoch und bemerkte ein besorgtes Lächeln auf seinem Gesicht.

"Dank dir nochmal, dass du mir geholfen hast."

Er blickte mit seinen bernsteinfarbenen Augen zu mir und grinste: "Kein Problem Clarissa."

Ich spürte wie Gabriell durch die Nase schnaubte und kniff ihn aus Spaß in die Innenseite seines Oberarms. Vor dem Gartentor meines Onkels angekommen lief uns dieser schon in eiligen Schritten entgegen und erkundigte sich sofort nach meinem Zustand.

"Es ist nichts schlimmes...", versuchte ich ihn zu beruhigen, doch schon allein die Tatsache, dass ich von einem fremden Mann heimgetragen wurde war ihm suspekt.

"Was ist denn passiert?"

"Die Kette ihres Fahrrads ist gerissen, Monsieur Ulmer", erklärte Gabriell und setzte mich wieder auf den Boden ab, wo ich mein linkes Bein schonend in der Luft hielt," und dadurch ist Clarissa abgerutscht und gestürzt."

Die Blicke meines Onkels wanderten zu Gabriell, der wie eine Skulptur einfach nur reglos dastand.

"Und...wer bist du?"

"Das ist Gabriell aus meiner Klasse. Er hat sozusagen erste Hilfe geleistet", warf ich gleich ein. Frederik hielt eine Zeit lang inne, anscheinend verdaute er die Tatsache, dass ich wirklich von einem Mann den er nicht kannte heimgebracht worden war und das nach dem ich heute früh noch so geladen hatte. Schließlich entschied er sich die Situation als harmlos einzustufen und bedankte sich bei Gabriell. Er wollte ihn sogar einen Kaffee oder Tee anbieten, welchen dieser jedoch ablehnten, er hätte noch viel zu erledigen.

"Ach so...na dann trotzdem nochmals danke, dass du meiner Nichte geholfen hast!"

Der Junge grinsten mich nur vielsagend an und ich verstand sofort Gabriells nicht ausgesprochenen Worte: Du bist mir was schuldig!

Ich konnte nur die Augen verdrehen und mit meinen Onkel mit humpeln.

"Wir hatten uns schon langsam unsere Gedanken gemacht, da du sonst nie über zwei Stunden brauchen würdest und gerade als ich mein eigenes Rad holen und nach dir schauen wollte kamt ihr auch schon angelaufen. Geht’s mit deinem Fuß?", erzählte Frederik und gab mir im Wohnzimmer einen Eisbeutel.

"Ja, es zieht ein kleinwenig aber ich glaube ich werde es überleben."

"Deine Tante weiß von dem nichts. Sie ist mit Juliens Mutter in die Stadt gefahren, um für morgen Kuchen zu kaufen. Ich denke wir belassen es auch dabei, ihr zu enthalten, dass du so arg gestürzt bist. Sie würde sich sowieso nur übertrieben aufregen, es reicht schon wenn ich das mache!"

"Is gut", grinste ich breit und legte das Bein hoch, "wieso kaufen sie Kuchen?"

"Weißt du das denn nicht mehr? Morgen ist der 30. November."

"Ja…das weiß ich, wir haben ja mehrere Kalender im Haus."

Frederik schaltete den Fernseher ein und zippte auf den Sportkanal: "Morgen ist Juliens Geburtstag. Wir sind eingeladen…"
 

***
 

Es ist weit untertrieben wenn ich sage, dass ich kaum Zeit vor dem Kleiderschrank verbracht hätte, während ich mein Outfit für Juliens Geburtstagfeier aussuchte. Auch wenn ich ihn schon seit fünf Jahren nicht mehr gesehen hatte, verspürte ich den Drangt ihm doch irgendwie zu gefallen. Anna und Frederik machten sich da weniger verrückt, sie kannten Marie und Sean seit ihrer Jugendzeit und hatten Julien aufwachsen sehen, da konnte man natürlich auf der Feier auftauchen wie man gerade lustig war.

"Mach dich doch nicht so verrückt, Clarissa!", hatte Anna zu meinem Dachboden gerufen, "ihr seht euch nach fünf Jahren das erste Mal wieder, da ist es nicht ausschlaggebend, wie du aussiehst!"

"Wenn du wüsstest!", hatte ich erwidert.

Am Ende stand ich vor der Entscheidung ob ich ein hellblaues T-Shirt anziehen würde oder ein zimtfarbenes. Frederik saß bereits im Auto, Anna schloss gerade die Haustür ab und ich spürte, wie sich tausende kleiner Schmetterlinge in meinem Bauch breit machten. Wie würde Julien jetzt aussehen? Hatte er Pickel bekommen, wie die Jungs in seinem Alter, wuchsen ihm schon erste Barthaare, oder waren aus den zwei Augenbrauen bereits eine geworden? Ich verdrehte innerlich die Augen und schimpfte mich selber aus, weil ich mir solche Gedanken darüber machte, wie mein Sandkastenkumpel ausschauen würde.

Es fielen schon kleine Schneeflocken, als wir nach einer halben Stunde Autofahrt am Haus der Minuarés ankamen. Anna reichte mir das Geschenk und zwinkerte mir zu: "Ich denke, er freut sich mehr wenn er es von dir bekommt."

"Du könntest mich vorwarnen und mir sagen, was er überhaupt bekommt...", raunte ich, denn wir standen schon vor der Tür und hörten Stimmen von drinnen.

Wir waren nur zum Kaffee eingeladen worden, doch wie ich Sean und Marie kannte würden sie uns doch bitten, noch bis zum Abendessen zu bleiben.

"Ein silberner Porsche als Modellauto im Maßstab 1:18."

"Hätte ich mir ja eigentlich auch denken können..."

"Warum fragst du dann?", lächelte Frederik.

Just in diesen Moment machte uns Sean die Tür auf und breitete strahlend die Arme aus: "Hey! Freddy, Anna! Schön euch zu sehen!"

Er umarmte die beiden und sah mich dann leicht verwirrt an: "Clarissa? Bist du das?"

"Hi, Sean", begrüßte ich ihn und reichte ihm die Hand.

Davon hielt dieser jedoch nicht viel und umarmte mich ebenfalls. Wir betraten die Wohnung und mir stieg der Geruch von Kaffee und Kuchen in die Nase, vom Wohnzimmer zu meiner linken trat ein blonder Junge heraus, mit dem Rücken zu uns.

"Na Geburtstagskind?", begrüßte Anna den Jungen, welcher sich Schlagartig zu uns umdrehte.

Die Schmetterlinge in meinem Bauch tanzten Tango, als ich meinen Freund aus Kindertagen vor mir stehen sah...Julien war kein kleiner Knirps mehr, dem ich mal stolz über den Kopf schauen konnte, sondern jetzt konnte er es bei mir machen.

"Hallo Anna! Hi Frederik!", begrüßte er die beiden und wie sein Vater machte er kurz bei mir Halt.

"Hey Julien, kennst du Clarissa noch?", grinste Anna und sah von ihm zu mir.

"Clarissa?", fragte der Junge noch mal nach und schaute mich mit großen Augen begeistert an, "wirklich?"

Ich nickte wie in Zeitlupe und horchte seiner Stimme. Sie war angenehm, nicht zu hell und nicht zu rau. Zum Glück hatte ich ein langärmliches Oberteil an, so konnte Julien wenigstens nicht meine Gänsehaut sehen, die ich bekam, als er mich umarmte und ich den Duft seines Aftershaves tief in die Nase einzog. Wahnsinn..., dachte ich benommen, und erwiderte die Umarmung.

"Das ist die schönste Überraschung, die mir heute beschert wurde!", freute sich Julien und begutachtete mich jetzt genau, "du siehst toll aus!"

"Danke", lächelte ich charmant und warf Anna einen vielsagenden Blick zu, diese verdrehte die Augen und widmete sich Marie und den anderen Gästen im Wohnzimmer.

"Ich habe gehört, dass du jetzt an meinem Gymnasium bist. Gefällt's dir?"

"Ja, es ist nicht schlecht, den Stoff habe ich auch schon gut aufgeholt...eine Freundin hilft mir dabei."

"Hm...ich hatte ein Vorstellungsgespräch an meiner Uni, weswegen ich die zwei Wochen nicht da war. Ich musste dort zum Unterricht gehen, damit die Lehrer sehen, wie ich mitkomme..."

"Und?"

"Sieht nicht schlecht für mich aus", grinste Julien, "ist zwar viel weniger Zeit für privates aber ich denke, dass muss ich nun mal in Kauf nehmen."

"Ich habe mich noch gar nicht für eine Uni entschieden, Anna und Frederik drängen mich nicht so wie deine Eltern."

Julien nickte und belächelte meine Aussage: "Sie wollen das Beste für mich, da ich ja ihr einziges Kind bin. Ich weiß, dass sie es nur gut meinen, doch es nervt langsam."

"Wie wahr."

"Kommst du mit in mein Zimmer? Dann kann ich auch gleich das Päckchen aufmachen."

Plötzlich hatte ich wie einen Kloß im Hals und eine Menge Bilder im Kopf. Während Julien bereits die Hälfte der Treppe emporstieg schüttelte ich mich kurz und dachte daran, wie wir uns nach all den Jahren näher kommen würden...und noch näher und noch näher...

Nein!, schimpfte ich mich selber, so einer kann Julien gar nicht geworden sein!

"Ähm...Clarissa? Alles klar?"

"J...ja."

Als könnte er meine Gedanken lesen grinste er breit und meinte: "Keine Angst, Mädchen...ich beiße nicht!"

Juliens Zimmer war typisch männlich eingerichtet: ein Schreibtisch, wo ein Laptop eingeschaltet stand, ein Bett, schlichte Vorhänge am Fenster und eine Glasvitrine, wo er eine kleine Sammlung von Modellautos besaß. Boden und Tapete waren ebenfalls schlicht gehalten, Poster waren großzügig verteilt worden.

"Nicht schlecht", grinste ich ihn an, als ich mit meiner Inspektion fertig war, "so hatte ich es fast noch in Erinnerung."

"Ja, ich habe kaum was verändert...", seufzte er und sah sich auch noch mal um, "der Schreibtisch ist neu und das Bett habe ich verstellt...sonst ist noch alles wie damals."

"Die Glasvitrine ist schön."

"Danke."

Ich begutachtete seine kleine Sammlung, während Julien sein Geschenk öffnete und schon fast wie ein kleiner Junge jauchzte, als er erkannte was es sein sollte.

"Cool! Das neue Modell!"

"Ich sag's dir gleich, dass es Frederik ausgesucht hat. Anna hat es verpackt und ich habe es dir übergeben!"

Julien lächelte und begutachtete sein neues Spielzeug. Er freute sich wie ein kleines Kind, es war schon fast zu albern. Ich blickte zu dem Laptop und bemerkte, dass er das Forum mit dem Partybildern geöffnet hatte. Es juckte mich in den Fingern die Bilder des gestrigen Abends anzuschauen.

"Julien?"

"Hm?"

"Darf ich mir die Bilder anschauen? Ich war gestern mit ein paar Freundinnen dort."

"Klar, bedien dich", sagte er und stellte das neugewonnenen Auto in die Vitrine.

Schon beim Seitenüberblick konnte ich vier Bilder sehen, wo Daniela und ich drauf waren. Ich klickte sie an um sie mir genauer anschauen zu können. Der Fotograf hatte uns gut getroffen, man bemerkte nicht, dass ich da schon gut gebechert hatte. Das nächste Bild war eines von Melinarés und Daniela, wo man nur meinen Rücken sah, als ich mir einen neuen Cocktail an der Bar holte. Dann bemerkte ich ein Bild, wo nur eine einzige Person drauf war und erinnerte mich an Danielas Kommentar, dass nie Bilder veröffentlicht wurden, wenn du alleine drauf abgebildet warst, es sei denn du hättest so eine sexy Ausstrahlung, dass die Manager sich die Finger nach dir leckten. Ich klickte auf das Bild und stutze. Shane stand da wie ein Supermodell: perfekte Haltung, geniales Styling, trotz dass es schon fast drei Uhr war. Und der Blick erst...

"Oh, Shane ist wieder mal aufgetakelt erschienen...", bemerkte Julien und sah sich das Bild an.

"Sie ist eine Granate...jedes Mal wenn sie das Klassenzimmer betritt meinst du, dass niemand außer ihr existiert. Alles ist ruhig und schaut auf sie. Du kannst gar nicht anders!", regte ich mich auf und schmunzelte. Ich hörte mich schon wie Daniela an.

"Mag sein. Sie ist überhaupt nicht mein Typ und sie ist zickig."

Ich lachte auf. Julien hatte sich kein bisschen verändert.

"Sag mir mal was ich noch nicht über sie weiß!"

Julien zog die Mundwinkel nach unten: "Sie macht alles, um dich in Grund und Boden zu rammen, wenn du ihr nicht passt."

"Kann ich mir gut vorstellen...sie schaut mich immer mit ihren 'ich bin was besseres wie du und dass weiß du auch'- Blick an."

Julien grunzte und schüttelte nur den Kopf: "Sie wäre so viel beliebter in der Schule, wenn sie nicht so eingebildet wäre."

"Findest du sie nicht hübsch?"

"Ich steh nicht auf eingebildete wie sie..."

"Nein, ich meine jetzt nur vom äußeren her."

"Tse! Nein danke."

Ich lachte mit Julien über die Kommentare und über die, die noch kamen an dem Abend. Er hatte sich wirklich nicht verändert.



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