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Aus der Dunkelheit

von

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Eiskalte Luft sticht wie kleine Nadelspitzen auf meiner Haut. Dämmriges Licht und dichter Nebel nehmen mir die Orientierung. Langsam laufe ich in eine Richtung, den Kopf drehend einen Orientierungspunkt suchend. Nichts. Nur die Kälte und dieser undurchdringbare Nebel, die sich ihren Weg in die Tiefen meiner Seele bahnen. Hoffnungslosigkeit und Panik beginnen die Oberhand über meinen Verstand zu gewinnen.

Ein Schatten. Ich bleibe schlagartig stehen und sehe in der Ferne, wie sich ein Schatten aus dem Nebel abzeichnet. Zunächst ist er nicht mehr als ein dunkler Fleck, doch jede Sekunde die vergeht wird er deutlicher und erhält schärfere Konturen. Das ist ein Mensch! Euphorisch und voller Hoffnung will ich hinüberrufen, aber ich kann nicht. Meine Stimme versagt. Jeder Ton den ich versuche anzuschlagen gelingt mir nicht, heraus kommt nur dieselbe geräuschlose, eiskalte Luft, die ich eingeatmet habe. Vor Verwunderung wird mir nur sehr langsam bewusst, dass auch mein Körper erstarrt ist und ich mich keinen Zentimeter bewegen kann. Auch den Kopf kann ich nicht abwenden. Gezwungen sprachlos und bewegungslos an einer Stelle zu verharren sehe ich, wie der Schatten allmählich auf mich zukommt. Etwa zwanzig Meter vor mir erkenne ich, dass der Schatten einer zierlichen Person gehören muss. Aber was hat sie da um den Hals? Es sieht aus wie ein lockerer Strick, dessen Ende bis auf den Boden reicht. Im nächsten Augenblick steht sie nur etwa einen Schritt weit von mir entfernt, das Gesicht deutlich und klar vor mir, den Mund zu einem Schrei verzerrt, die Augen fast unmenschlich weit aufgerissen und gibt einen so markerschütternden Laut von sich, dass es mir das Blut in den Adern gefrieren lässt. Mir wurde schon klar, wer das war, als ich den Strick sah, aber ich wollte es nicht zulassen, ich wollte nicht zulassen, dass sie wieder in meine Gedanken kommt. Ich will mich abwenden, die Augen schließen und mir die Ohren zuhalten, doch ich bin unfähig mich zu bewegen. Gezwungen den grausamen Anblick zu ertragen zerbricht in mir ein Stück Seele wie Glas, das man mit einem Hammer bearbeitet. Zu meinem Erstaunen wird der Schrei erträglicher, nein, er verändert sich. Ist das eine Sirene? Sie zieht mich, immer deutlicher werdend, nach hinten. Weg von diesem schmerzerfüllten Gesicht und diesem kalten nebeligen Ort.

Mein Herz macht einen Satz, ich reiße die Augen auf und erblicke die kalte, graue Holzdecke meiner Hütte.

Warum heute? Nach all dieser langen Zeit. Warum träume ich gerade jetzt von ihr? Die Sirene heult unaufhörlich weiter. Ich zwinge meinen nun vollständig beweglichen Körper aus dem spartanischen Bett aus Stroh und mehreren Lagen Stoff und begebe mich zu meinem Wascheimer. Daneben liegt ein mehr oder minder sauberer Lappen mit dem ich mir das müde Gesicht wasche. Danach streife ich mein Nachthemd aus kratzigem Leinenstoff ab und ziehe mir meine Bergarbeiterklamotten über. Auf der alten, abgenutzten Kommode rechts von meinem Bett steht eine große Spiegelscherbe, die gerade so mein gesamtes Gesicht wiedergibt. Sie ist das wertvollste das ich besitze und ich war unendlich stolz, als ich sie in einem riesigen Sperrmüllhaufen gefunden hatte.

Ich schaue mir in die großen, mausgrauen Augen und stelle fest, dass meine ohnehin schon sehr helle Haut noch mehr an Farbe verloren hat. Nun sehe ich wirklich noch mehr aus wie ein Gespenst. Meine verstrubbelten, schwarzen Haare fasse ich grob in einen Zopf zusammen und gehe zu meiner provisorischen Küche, die aus einem Tisch, einem gefährlich wackeligen und instabilen Stuhl und mehreren alten, aber sauberen Töpfen und Tellern sowie ein paar Gabeln, Löffeln und Messern besteht. Ein trockener Laib dunkles Brot erweckt meine Aufmerksamkeit und wird sogleich in ein mundgerechtes Stück zerrissen. Schnell schiebe ich mir das Stück in den Mund, spüle es mit klarem Wasser runter und begebe mich zu meinen Bergarbeiterstiefeln.

Fertig angezogen und nur halb so Satt, wie ich es mir wünschte mache ich die Deckenlampe aus, das einzige elektrische Gerät hier, und gehe zur Tür. Da vor einigen Tagen ein Friedenswächter aufgrund meines Verschlafens die Tür eingetreten hatte ist sie nur angelehnt. Vorsichtig schiebe ich sie zur Seite, dass ich durch einen Spalt hindurch gelange, danach rücke ich sie wieder an ihren Platz. Sorgen brauche ich mir um den Zustand meiner Einzimmerhütte nicht zu machen, denn hier in einem der ärmsten Teile von Distrikt 2, einem kleinen Städtchen rund um ein Erzbergwerk gebaut, gibt es nichts zu stehlen. Ich wüsste nicht, was sich bei mir zu stehlen lohnen würde. Selbst wenn es zu Auseinandersetzungen kommen würde wären die Friedenswächter in Null Komma Nichts an Ort und Stelle und werden, egal wer im Recht und Unrecht ist, alle Beteiligten mit Gewalt zur Ordnung zwingen.

Die Zeit rennt mir davon und ich hechte an den anderen spartanischen Hütten vorbei, über den staubigen Weg an Müllbergen vorbei bis ich die Hauptstraße erreiche. Diese ist im Vergleich zum Rest des Ortes glatt geteert und ohne Risse. Dies ist der Weg, der direkt in die Basisstadt von Distrikt 2 führt, dem reichsten Ort aller zwölf Distrikte zusammen. Dort ist der wichtigste militärische Angelpunkt von Panem, wo sowohl die Herstellung von Waffen und Kriegsmaschinen als auch die Ausbildung von Militär und Friedenswächtern vorherrscht. Außerdem befindet sich dort auch die berühmte Akademie, in der Jugendliche von zwölf bis achtzehn Jahren im Umgang mit Waffen und im Kämpfen ausgebildet werden. Diese Kinder haben nur ein Ziel: die Hungerspiele. Ruhm und Ehre erwarten denjenigen, der es schafft die alljährlichen Hungerspiele als letzter überlebender zu überstehen. Ich habe nie verstanden, warum sich überhaupt irgendjemand freiwillig diesen Grausamkeiten hingibt, aber ich bin halt nicht von ihrem gehobenen militärischen Stand. Nicht mehr. Ich gehöre zur Bergarbeiterklasse und lebe nur dafür dem Distrikt und damit vor allem dem Kapitol mehr und mehr Erze zu liefern.

„Miss Prisca!“, ruft mir der Friedenswächter, der am Eingang der Mine steht und seine Liste von Arbeitern unter dem Arm hält, unfreundlich und aggressiv zu, „Sie sind schon wieder knapp an der zeitlichen Toleranzgrenze zum Arbeitsantritt erschienen. Wenn sie noch einmal ihre Ankunftszeit überschreiten müssen sie mit ernsthaften Konsequenten rechnen.“, „Natürlich!“, stoße ich leicht panisch hervor. Ich erinnere mich an den Tag als ich verschlafen hatte und mir drei Friedenswächter die Tür eintraten. Zwei hatten mich festgehalten während der Dritte mich immer und immer wieder mit seinem Schlagstock prügelte. Trotz der vielen Hämatome und enormen Schmerzen noch Tage danach musste ich zwei Wochen lang statt der üblichen zehn Stunden Bergwerksarbeit drei Stunden länger mit anderen „Regelbrechern“ ackern. „Das kommt nicht wieder vor“ schwöre ich und nehme mir vor demnächst zwanzig Minuten früher aufzustehen und loszugehen, um weitere Probleme zu vermeiden und meine Kooperation zu zeigen. „Das hoffe ich doch sehr. Sorgen sie dafür dass sie auch morgen pünktlich zur Ernte erscheinen“, zischt der Wächter, hakt mich von der Arbeiterliste ab und verschwindet in der Kontrollhütte.

Die Ernte. Stimmt. Morgen ist Tag der Ernte. Das hätte ich ernsthaft fast vergessen, die Zeit vergeht so unglaublich schnell wenn man Tag für Tag derselben Tätigkeit nachgeht. Arbeiten, sich um Nahrung kümmern, eventuell das eine oder andere in meiner Hütte reparieren, schlafen. Das alles in einem endlosen Zirkel, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Und einmal im Jahr das Erntefest. Ein Junge und ein Mädchen zwischen zwölf und achtzehn Jahren aus jedem Distrikt werden für die Hungerspiele ausgewählt. Ich habe das Glück in ein Distrikt hineingeboren zu sein, in dem sich die Militärkinder der Akademie jedes Jahr freiwillig in das Getümmel stürzen. Auch wenn ich weiß, dass ich noch weitere, etliche Jahre hier in Armut fristen und durch den Staub, der harten Bergwerksarbeit und vor allem mit wenig bis keinem Sonnenlicht früh sterben werde, reizt mich der bittere Kampf auf Leben und Tod in einer Arena um den Hauch einer Chance dieser trostlosen Welt zu entkommen und Ruhm und Ehre zu erhalten nicht wirklich. Dafür wäre mir das Risiko zu hoch und die Chancen zu gering.

Ich sehe jedes Jahr die Gesichter der Teilnehmer, die ihren letzten Atemzug machen. Voller Angst und Verzweiflung, schreiend, heulend, wimmernd und um Gnade bettelnd. Um nichts in der Welt würde ich mich für so ein Schlachthaus entscheiden. Den Karrieretributen aus meinem Distrikt sei Dank ist mir so ein Schicksal erspart, auch wenn mein Name durch die Tesserasteine mittlerweile so oft in der Wahlurne vorliegt, dass ich aufgehört habe zu zählen. Es wäre sowieso das letzte Mal, dass man mich ziehen könnte, schließlich bin ich mit achtzehn Jahren fast zu alt für die Ernte und nächstes Jahr sind meine Namenszettel dann endgültig alle weg. „Die 65. Hungerspiele“, sage ich zur mir selbst, „Ich bin gespannt, was für Grausamkeiten die Tribute dieses Jahr erwartet..“ Ich hole mir mein Werkzeug ab und mache mich an meine Arbeit.



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