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Stray Dog

Ich Bin Es Nicht Wert
von

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Aufgenommen

Späti's spärliches Licht.

Einnehmende Dunkelheit.

Nächtliche Kälte.

Durchweichender Regen.
 

Ich rolle mich enger zusammen auf meiner Bank und ziehe den Rucksack, in dem sich mein einzig übriges Hab und Gut befindet, dichter an meinen Körper. Ich möchte ihn davor bewahren, nass zu werden. Viel habe ich nicht mitgenommen aus meinem alten Leben und dieses Bisschen halte daher sehr in Ehren. Die Erinnerungen sind heilig. Sie stammen aus einer Zeit, da die heile Welt noch real war. Das ist sie heute nicht mehr. Ich denke zurück. Vor zwei Jahren, als ich knappe achtzehn war, lebte ich im Paradies. Damals hatte ich ein sehr gutes Abi hingelegt und eröffnete mir dadurch alle Möglichkeiten, die ein junger Mensch haben kann. Ich hätte eine Lehre machen können oder ein Studium beginnen. Oder erst das eine und dann das andere. Ich hätte alles tun können. Alles.

Also habe ich angefangen zu studieren. Hier oben im Norden, nicht zufällig in der selben Stadt, in der auch meine Mom damals ihr Pharmazie-Studium absolviert hat. Ich hatte und habe nichts gegen diesen Ort, irgendwie habe ich mir immer eingebildet, mich hier wohlzufühlen. Ich habe auch immer gedacht, ich müsste niemals die kalten und rauen Seiten dieser Stadt kennenlernen.

Nun. Manche Dinge kann man nicht planen. Oder vorhersehen.
 

Ich war immer der Überzeugung, in Deutschland muss niemand auf der Straße leben. Das glaube ich auch heute noch. Wir haben einen verfluchten Wohlfahrtsstaat und wer Hilfe sucht wird unterstützt.
 

In den wenigen Wochen und Monaten, in denen mein Leben hier in Greifswald koordiniert verlief, habe ich das ein oder andere Mal mit Menschen gesprochen, deren Existenzen sich gänzlich von meiner differenzierten. Darunter war ein Pensionierter, der genau wie ich nachts um vier im Zug in Pasewalk saß und auf die Weiterfahrt wartete, um seine Frau von sonst irgendwo zu holen. Ein Auszubildender, der in der selben Nacht noch nach Neubrandenburg wollte. Zwei Streifenpolizisten, die ein geregeltes Leben führten und den Nachtdienst auf dem Bahnsteig schoben. Und dann dieser Mann, von dem ich eigentlich sprechen wollte. Seine Bekanntschaft hat mich am meisten beeindruckt damals. Nicht positiv. Aber auch nicht negativ. Ich weiß nicht, wie alt er war oder ist. Bei solchen Menschen, die gezeichnet sind von Alkohol, Zigaretten oder was auch immer, kann man ob der Rotgesichtigkeit, der Wetter gegerbten Haut und den verdrehten, nicht mehr ihrer Generation entsprechenden Ansichten nicht sagen, wie alt sie sind.

Ich bin der Überzeugung, dass er sie nicht mehr alle hatte, aber ich habe dennoch, nachdem er mir, wie tausend anderen Leuten täglich, wieder einmal zugewunken hatte, den Kopfhörer auf der einen Seite zurück geschoben und ihm Gehör geschenkt. Er bat wie sonst auch um einen Euro und ich wiederholte, was ich immer sagte.
 

„Von mir bekommst du kein Geld. Eine Zigarette kannst du haben, aber mehr nicht.“
 

Er war erfreut und ich kam heran, in meiner Tasche kramend. Ich fand die Zigarettenschachtel nicht. Hatte sie daheim gelassen. „Entschuldige. Ich glaube, ich hab sie nicht dabei."
 

Unschuldig hab ich dann gelächelt. Ich weiß, wusste schon damals, dass ich mit meinem Lächeln viel erreichen kann. Es ist schön. Wenn auch sonst nicht viel schön ist an mir, aber das ist es. Und unter anderem deshalb traute ich mich auch zu fragen.
 

„Hast du vielleicht eine für mich?“
 

Sofort bot mir der Mann eine an. Ich nahm dankend an und setzte mich zu ihm an die Bushaltestelle.
 

„Ich heiße Stefan.“, stellte er sich im Laufe des sich entwickelnden Gespräches vor.
 

„Solekk.“, erwiderte ich.
 

Ich nehme mir oft die Freiheit zu entscheiden, ob jemand meinen echten oder meinen 'eigenen', meinen Künstlernamen erfährt. 'Solekk Samedha' ist das Synonym, das ich mir erschaffen habe. Mein Bruder hat eines, ich habe mir auch wie selbstverständlich irgendwann eines zugelegt. So wie man seine Unterschrift übt. Mittlerweile gibt es Solekk und Sophia. Beide sind reale Teile von mir und weiß nicht, wer ich lieber bin. Weiß ich wirklich nicht mehr. Ich glaube, dass Sophia aufgegeben hat in den letzten Monaten. Sophia war ehrgeizig, eine gute Schülerin und Studentin. Sie versagte nie. Solekk...nun...Solekk ist mein derzeitiges Ich. Denn ich habe versagt. Ich habe das Studium abgebrochen. Alles abgebrochen. Ich lebe nur noch.
 

Im ersten Semester lief es noch gut. Es war zwar nicht einfach, aber ich war motiviert und habe mich mit viel Elan und Aufregung und neuen Menschen an meiner Seite durchgeschlagen. Das waren tolle vier Monate. Danach ging es nur noch bergab. Freier Fall. Ich habe mich nicht mehr auf das Studium konzentriert, weiß nicht, ob ich dachte, ich kriege das alles mit links hin. Ich habe meine Aufmerksamkeit allen möglichen Dingen geschenkt. Dingen, die es nicht wert waren. Menschen, die es ebenso wenig verdienten. Ich habe gelitten und mich schlecht gefühlt. Den Ausweg gesucht. Dann fand ich ihn. In Form einer kristallklaren Flüssigkeit mit dem klangvollen und verurteilenswerten Namen Wodka. Anfangs war es ein Glas mit einer Halbe-halbe Mische, doch das steigerte sich schnell. Jetzt bin ich bei mehr als einer Flasche pro Tag, damit ich wirklich drauf komme. Und vergesse, dass ich versagt habe. Dass ich im zweiten Semester durch alle Prüfungen fiel und sich die Klausuren im dritten Semester nur so stapelten. Ich gab auf.

Ich war nie diejenige, schnell aufzugeben und das ist keine Phrase. Ich war immer mutig, selbstsicher und willensstark. Irgendwann hab ich das verloren. Habe mich verloren. Ich bin nicht mehr ich selbst. Und ich glaube, die wesentliche Verantwortung trägt der Alkohol. Ich bin abhängig. Allein das zu sagen, es mir einzugestehen, ist so schwer. Aber ich weiß es jetzt. Ich weiß, dass ich ein Problem habe. Nur: Jetzt ist es zu spät. Es ist gelaufen. Ich habe verloren. Nachdem ich im dritten Semester auch durch alle Prüfungen fiel, war mir klar, dass ich mit meinem Studium nicht auf den grünen Zweig kommen würde. Ich brach ab. Sagte meiner Mutter nichts. Hob das Telefon nicht mehr ab. Brach jeglichen Kontakt ab. Und jetzt bin ich allein. Selbstverschuldet. Ich wünsche mir Mitleid, doch weiß selbst, dass ich es nicht verdiene. Ich würde es mir selbst nicht geben. Irgendwann nach dem ich nicht mehr ans Handy ging und jeglichen Kontakt nach zu Hause ablehnte, blieben die Unterhaltszahlungen aus. Ein paar Wochen machte ich es danach noch mit dem Ersparten, dann war das Geld alle. Ich mache meiner Mom keine Vorwürfe. Sie hat völlig nachvollziehbar gehandelt. Es tut mir Leid, dass sie auch Kind Nummer zwei verloren hat. Als dann der Brief kam, der mich zum Auszug aufforderte, begann ich zu packen. Saß ein paar Tage später mit Sack und Pack auf der Straße und verkaufte, was ich verkaufen konnte. Hab das Geld für meinen Rausch ausgegeben und bin schließlich da gelandet, wo ich jetzt bin. Wo ich nie sein wollte und wofür ich mich sehr schäme. Ich huste. So sehr und so lange, dass mir die Rippen weh tun und in meiner Faust ein bisschen Blut klebt. Ich weiß, dass ich eine Lungenentzündung habe. Aber ich werde nichts dagegen tun. Ich will einfach nicht mehr. Es ist kalt. So kalt. Ich will mich weiter zusammenrollen, doch das ist unmöglich. Liege schon so zusammen gekrümmt wie es nicht mehr natürlich ist auf dieser Bank, die hart und unbequem mein Bett im strömenden Regen ist. Zittern wärmt mich ein bisschen, viel hilft es nicht, aber besser das als nichts und irgendwann schlafe ich unter Husten und Scham ein. Ich wollte nie so werden und doch bin ich so geworden. Ich kann nicht mehr mit mir und meiner Existenz.
 

Es ist so schön warm. Ich blinzle ohne zu sehen. So schön warm. Ich brumme angenehm berührt. Was ist das hier? Ein Traum? Der Tod? Ich weiß es nicht und ich will es auch nicht wissen. Kuschle mich stattdessen tiefer in das, was sich zwischen meinen Fingern und um meinen Körper findet. Decken. Weiche Dauendecken, so wie damals im Studentenwohnheim, nur noch viel besser. Ich seufze und mummle mich ein. Wenn das ein Traum ist, dann soll er nicht enden. Wenn das ein Scherz ist, dann ist es kein guter, falls er jemals enden sollte. Wenn das die Realität ist, bin ich wohl nicht mehr zurechnungsfähig. Raunend strecke ich mich in den Federn. Fühlt sich an wie der Himmel. Was ist das nur? Da erklingen Schritte. Ich hebe mühevoll den Kopf, sehe nichts, aber vermute, dass ich in einem Zimmer bin. Aus einem angrenzenden Flur kommen dann auch die Schritte. Sie nähern sich, indes ich den Kopf sinken lasse und auf den Kissen bette. Ich lausche. Ein paar weitere Geräusche noch, dann herrscht Stille. Was ist das hier für eine merkwürdige Situation? Wo bin ich? Warum habe ich ein Dach über dem Kopf und liege in einem weichen Bett? Wo ist mein Rucksack? Ich habe noch die nassen Klamotten an, aber sie sind durchgewärmt, was bedeutet, dass ich schon einige Stunden hier bin, aber definitiv nicht spinne. Das alles ist real. Vorsichtig setze ich mich auf und schaue verwirrt umher. Im Türrahmen, den ich nur durch einen ganz schwachen Schimmer Licht aus einem weiter entfernten Zimmer ausmachen kann, steht eine Gestalt. Sie ist groß, breit und mit ziemlicher hoher Sicherheit männlich. Sofort schießen mir die typischen Gedanken durch den Kopf. Was ist das für ein Typ und was will er von mir? Er wird mich doch nicht...?! Es ist in meinen Augen völlig selbstverständlich, dass ich auf solche Ideen komme, schließlich hat ein fremder Mann mich junges Mädchen von der Straße mit zu sich nach Hause genommen und in sein Bett verfrachtet. Andererseits trage ich noch immer meine Kleidung. Ich bin unsicher und etwas verängstigt, als der Unbekannte die Stimme hebt. Sein Bass ist tief und grollend, der Ton aber ruhig und um eine geringe Lautstärke bemüht.
 

„Du solltest die nassen Sachen ablegen und dich heiß duschen. Das Bad ist nebenan.“
 

Ohne ein weiteres Wort verschwindet die Silhouette dann im dunklen Flur. Er hat keine Fragen gestellt, mir jedoch ebenso wenig die Gelegenheit gegeben, dies zu tun. Seltsam.



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