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Lost Future - Dark Paradise?

Same as it never was...
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Michelangelo 16, Raph 28, Chen 32 Komplett anzeigen

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Alone in this world?

10 Jahre später - Oktober…
 

Gedankenverloren gleitet er mit der Zunge über den Rand des hauchdünnen Papierstreifens. Der schale Geruch alten Tabaks steigt ihm dabei in die Nase und kitzelt ein leises Verlangen in ihm wach. Noch vor ein paar Jahren hätte er nie gedacht, dass er sich das Rauchen einmal angewöhnen würde. Splinter hätte ihm schon allein für den Gedanken die Hölle heiß gemacht. Mit einem melancholischen Lächeln rollt er die Zigarette zusammen und denkt dabei an seinen verstorbenen Meister. Splinter war immer der Ansicht, dass Alkohol und Drogen nichts für einen Ninja sind. Damit hatte er vermutlich auch Recht, aber wenn man es genau nimmt, sind solche Dinge für niemanden eine gute Wahl. Im Hause Hamato waren sie streng verboten. Nicht einmal Bier oder alkoholhaltige Pralinen waren erlaubt. Umso mehr hat Raph die Abende genossen, an denen er mit Leo um die Häuser ziehen konnte. Dort konnten sie sich mal ein Bier oder ein paar Drinks gönnen und solang sie nicht betrunken nach Hause gekommen sind, war alles in Ordnung. Splinter fand es zwar nicht schön, zu wissen, dass seine Jungs getrunken haben, aber verboten hat er es ihnen nicht.
 

Wahrscheinlich aber auch nur aus dem Grund, dass sie es nicht Zuhause gemacht haben und auch nie mehr als angeheitert zurückgekehrt sind. Gut kann sich Raphael noch daran erinnern, wie er mit Leo zusammen an der Bar gesessen und sie sich gegenseitig aufs Korn genommen haben. Nüchtern war Leonardo so schrecklich empfindlich wenn man ihn geärgert hat, doch nach einem Bier hat er schon genauso fiese Worte gebraucht, wie es sonst Raphael eigen war. Es war herrlich und sie haben sich oft stundenlang so blöd angemacht und gelacht. Keiner der anderen Gäste schien zu verstehen, wie die beiden Jungs so mit einander umgehen können, ohne sich gegenseitig an die Gurgel zu springen. Blanke Ironie, dass sie das immer den Rest des Tages getan haben. Leo in diesen Momenten so locker zu erleben, war immer etwas ganz besonders für den Saikämpfer. Nur da schien er zu merken, dass sie Brüder sind, da sie sonst so grundverschieden waren, dass es schwer zu glauben war, dass sie dieselben Eltern gehabt haben sollen. Was würde er jetzt dafür geben, mit Leo ein Bier trinken zu können. Doch nach über zehn Jahren ist alles Bier schal, ungenießbar oder längst getrunken. Und über seinen ehemaligen Leader will er gar nicht erst nachdenken.
 

Langsam reißt er ein Streichholz an der Lehne des Throns an und hält es an die Spitze der Zigarette. Verträumt saugt er den Rauch ein, spürt wie er sein Hirn vernebelt und bläst ihn wieder aus. Das zartgraue Wölkchen schwebt einen Moment vor seinem Auge und verteilt sich dann unbemerkt in dem großen Saal. Wirklich schmecken tut ihm das Zeug nicht, auch nicht nach all der langen Zeit, doch irgendwie befreit es seine Gedanken und beruhigt ihn auf seltsame Weise. Wenn Splinter das gewusst hätte, hätte er ihm das Rauchen dann wohl gestattet? Schmunzelnd schüttelt er den Kopf. Nein, mit Sicherheit nicht. Doch nun kann der Meister es dem Schüler nicht mehr verbieten. Und selbst wenn er es versuchen würde, ist Raph immerhin schon fast dreißig und muss sich solche Tadeleien ja nicht mehr unbedingt gefallen lassen. Dennoch würde er es ihm zu liebe sofort wieder aufgeben. Es ist fast fünf Jahre her, seit er es sich angewöhnt hat, dennoch hat er es nie geschafft mehr als sechs Stück davon an einem Tag zu vernichten. Hauptsächlich benutzt er sie zum Nachdenken oder um sich für etwas zu belohnen, dass er nach langer Zeit geschafft hat.
 

Da alles aber nur sehr schleppend vorangeht, gibt es nicht allzu viele Augenblicke um sich zu belohnen, daher dient sie ihm wirklich mehr als Denkanstoß und um runterzukommen. Mit leerem Blick macht er einen weiteren Zug und verzieht dabei leicht das Gesicht, als sich der bittere Geschmack in seinem Mund ausbreitet. Kurz darauf strömt der Rauch durch seine Nase in die Freiheit und ist vergessen. Der Rote kann sich noch sehr gut an seinen ersten Versuch erinnern. Damals tränte ihm höllisch das Auge und ihm war so schlecht, dass er sich mehrmals übergeben musste. Dennoch hat er es wieder versucht und dann ging es auch. Gedanken hat er sich deswegen nicht gemacht. Früher, in einer anderen Zeit und einer Welt, die längst vergangen ist, hatte er allerhand Freunde, die geraucht haben und daher wusste er, dass vielen beim ersten Mal schlecht wird. Das gehört einfach dazu, wenn man seinen Körper überzeugen will, Gift zu schlucken. Früher oder später akzeptiert er es und wird süchtig. Doch trotz seines Kummers und allem um sich herum, schien Raph nie süchtig nach diesen Dingern zu werden. Fragt sich nur ob er sich darüber freuen soll oder nicht…
 

Sie halfen ihm über nichts hinweg und sie haben ihm auch keinen Trost gespendet. Allerdings erzeugen sie dieses leichte Gefühl in seinem Kopf, das ihm beim Denken hilft und das genügt ihm vollkommen. Lässig klemmt sich der Saikämpfer die Kippe zwischen die Lippen und steht auf. Er verschränkt die Hände hinter dem Rücken und schlendert qualmend wie eine kleine Lock, zu dem großen Fenster hinüber. Durch die Scheibe kann er beobachten, wie Chen die Foot-Ninja trainiert. Sie können ihn jedoch nicht sehen, wie er erfreut festgestellt hat, da das Glas nur auf einer Seite durchlässig ist und auf der anderen aussieht wie ein gewaltiger Spiegel. Durch ein Mikrofon, das in die Wand eingelassen ist, kann Raph ihre Gespräche mit anhören oder sie zu sich rufen. Doch im Moment genügt es ihm, dem komischen Treiben beizuwohnen. Chen ist ein ganz ausgezeichneter Lehrer, was wohl auch daran liegt, dass sein ursprünglicher Berufswunsch eigentlich Lehrer war. Nur hätte er Japaner nie gedacht, dass er mal Ninjutsu statt amerikanischer Gesichte unterrichten würde. Trotz allem scheint er aber sehr zufrieden mit seiner Arbeit zu sein.
 

Er legt unendlich viel Geduld an den Tag, um seinen ungeschickten und oftmals sehr unmotivierten Schülern die Techniken beizubringen. Man sieht ihm nur zu gut an wie mühsam und kräfteraubend das Ganze ist, dennoch verliert er nie die Beherrschung. Raph hat noch nicht mal erlebt, dass Chen irgendwann mal laut geworden und einen von ihnen bestraft hätte. Seine Ruhe ist echt beneidenswert, dennoch wär sie überhaupt nichts für den Rüstungsträger. Er befürchtet, dass Chen all seinen Ärger einfach in sich hineinfrisst und er irgendwann explodieren wird. Ein leichter Schauer läuft ihm über den Rücken. Der Schwarzhaarige kann auch ganz anders, das hat er immerhin am eigenen Leib erfahren, als er von ihm angegriffen wurde. Der Ältere hat eine dunkle Seite an sich, die er bestens zu verstecken weiß und das macht Raphael schon manchmal Sorgen. Der Gedanke löst leichtes Misstrauen in ihm aus, weiß Chen doch mehr über ihn als alle anderen hier zusammen. Stumm mustert er die gut fünfzig vermummten Gestalten, die sich um den Japaner scharen und versuchen seine Übungen zu begreifen.
 

Mittlerweile sind sie vollständig und Raph denkt nicht, dass es nötig ist noch mehr Leute zu rekrutieren. Sollten sich weitere Männer freiwillig melden, bitte. Sollen sie es tun. In den Augen ihres Führers sind sie mehr als genug. Schließlich sind sie nicht mehr im Krieg und er braucht keine tausend Mann starke Armee um sich horten. Je mehr Soldaten es werden, desto unwohler fühlt sich Raph in ihrer Gegenwart. Die einstigen Foot-Ninja sind längst dahingeschieden. Eine Sache, um die sich Chen diesmal allein gekümmert hat. Raph hat ihm lediglich gesagt, dass er sie loswerden soll. Wie, spielte dabei keine Rolle, nur sollten sie nicht die Möglichkeit haben, zurückzukommen oder sich gegen sie zu stellen. Der junge Mann hat das Ganze ziemlich schnell erledigt und Raph weiß bis heute nicht wie. Doch er hat einen seltsamen Glanz in diesen grauen Augen gesehen, der ihm gezeigt hat, dass alle Foot das Zeitliche gesegnet haben und ihr Mörder nicht gerade Reue für seine Tat empfindet. Ganz anders Raph, den es schon fertig gemacht hat, nur einen von ihnen zu töten, ohne das er es eigentlich wirklich wollte.
 

Chen schien damit keinerlei Problem zu haben. War das Ganze für ihn vielleicht einfach nur die Erfüllung eines Befehls? Leicht schüttelt der Rothaarige den Kopf, um diesen Gedanken loszuwerden. Der andere wirkt so sanftmütig, dass es einem schwer fällt, etwas anderes zu glauben und doch ist es so. Ein ungutes Gefühl, dennoch würde Raph niemandem mehr Vertrauen schenken als ihm. Warum weiß er selbst nicht genau. Irgendetwas tief in ihm sagt ihm, dass es das Richtige ist. Stumm betrachtet Raphael die beinahe kläglich wirkenden Versuche seiner neuen Soldaten. Es sind alles Flüchtlinge, die er in den letzten zehn Jahren aufgenommen hat. Die jungen Männer, die hier ihr Glück versuchen, sind früher entweder bei der Army gewesen, bei den Mariens oder haben Kraftsport gemacht. Alle vertraut mit hartem Training und bereit für ihr Land zu kämpfen. Dennoch traut er ihnen nicht so über den Weg wie er es bei Chen macht. Viele von ihnen kannten den alten Shredder und waren nicht gerade begeistert von ihm. Andere hatten schon damals den Wunsch mal in seiner Truppe mitkämpfen zu dürfen.
 

Nun haben sie die Möglichkeit, aber der einstige Shredder ist nicht mehr da und das frustriert die Männer. Raph ist schließlich kein Vergleich zu dem gefallenen Tyrannen. Klar versucht sich Raphael möglichst hart zu geben und ihnen Angst zu machen, dennoch fällt es ihm schwer. Schließlich will er sein Selbst nicht verlieren und erneut in diese Tiefe abdriften. Dies hat aber zur Folge, dass nicht alle seine Männer so loyal sind wie er es sich wünscht. Daher kann er ihnen nicht sein völliges Vertrauen schenken und ist froh, dass sie für ihn nichts weiter als namenlose, wandelnde Schatten sind. In den letzten Jahren ist viel passiert. Das alte Krankenhaus wurde so gut es geht saniert und zu einer Unterkunft umgebaut. Man könnte sie jetzt wohl mit einer Art Studentenwohnheim oder so vergleichen. Es gibt unzählige Zimmer, in denen zu meist zwei bis drei Leute ihre Schlafplätze haben. Es gibt eine große Küche, in der ganz spartanisch mit Holz, Kohle oder Gas gekocht wird. Jede Menge Lagerräume stehen zur Verfügung und es gibt eine behelfsmäßige Krankenstation. Insgesamt wohnen dort an die fünfhundert Menschen jeden Alters und jeder Herkunft.
 

Damit ist das Krankenhaus mehr als ausgelastet und sie sind bereits dabei, einen Anbau zu planen. Die neuen Foot wohnen hier im Bunker, so wie es die alten getan haben. Je nach Erfahrung und Qualifikation hat jeder der Flüchtlinge eine bestimmte Arbeit. Meistens richtet es sich danach, was sie früher einmal gemacht haben. Wer schon mal auf dem Bau zu tun hatte, hilft nun dabei, neue Unterkünfte zu errichten, was einen Großteil der Leute ausmacht. Kinder und alte Leute sind von dieser Arbeit entbunden. Dennoch machen auch sie sich nützlich, wenn sie körperlich in der Lage dazu sind. So helfen sie beim Waschen, Kochen oder bei Feldarbeiten. Sie unterrichten die Jüngeren und helfen einander. Zu Raphaels größter Freude zählen drei Flüchtlinge, die erst letzten Monat angekommen sind. Zwei Krankenschwestern und ein Tierarzt. Die Schwestern kümmern sich um die Alten und vor ein paar Tagen ist es ihnen auch gelungen, einer Frau bei der Geburt ihres ersten Kindes zu helfen. Ein sehr gutes Zeichen in den Augen des Roten. Die letzten Frauen, die schwanger waren, haben entweder ihr Kind bei der Geburt verloren oder sind selbst gestorben.
 

Ein schwerer Schlag, doch nun besteht endlich Hoffnung die Zivilisation wieder aufzubauen! Der Tierarzt tut sich noch etwas schwer mit seiner Arbeit. Viele Tiere zum Behandeln gibt es hier nicht. Gut, sie versuchen hier Schweine, Hühner und auch Kühe zu halten, aber die Tiere brauchen eher selten einen Arzt. So besteht seine Hauptaufgabe darin, sich um die Verwundeten zu kümmern. Seien es nun neue Flüchtlinge oder Foot-Ninja. Dies behagt ihm gar nicht, da der menschliche Körper doch ganz anders zu behandeln ist wie der eines Tieres. Ihm graut es davor irgendwann an den Punkt zu gelangen, an dem er jemanden operieren muss. Ganz zu schweigen davon, dass ihm nicht nur viel Wissen sondern auch die nötigen Maschinen fehlen. Die Foot haben zwar allerhand zusammengetragen, doch es wird wohl kaum für eine lebensrettende Operation reichen. Das Meiste wurde im Krieg eh zerstört. Das einzig wichtige Gerät, das sie hier für die Behandlung haben, ist eine Herz-Lungen-Maschine. Doch was soll man mit den Anzeigen anfangen, wenn man sie nicht ändern kann? Natürlich gibt es hier auch allerlei Medizin, zumindest welche, mit einem langen Haltbarkeitsdatum.
 

Das Meiste ist jedoch über die Jahre längst unwirksam geworden. Die Dosen für Menschen und Tiere unterscheiden sich zudem auch rapide. Und nicht alles was für Tiere gut ist, ist es auch für Menschen. So etwas wie Narkosemittel gibt es hier nicht. So müsste eine OP ohne sie durchgeführt werden. Dem Arzt graut es davor, zu groß ist seine Angst, jemanden umzubringen statt ihm zu helfen. Raph hat ihm jedoch klargemacht, dass er ihre einzige Hoffnung ist, bis sie eines Tages vielleicht einen richtigen Arzt und bessere Geräte finden. Und damit war die Diskussion beendet. Noch immer liegt die Stadt in Trümmern und die Aufräumarbeiten gehen nur sehr langsam voran. Es ist wichtiger sich um die geretteten Leute zu kümmern, als den Schutt wegzuräumen. Zudem fehlen ihnen jede Menge Wissen und Maschinen, was die Arbeit erheblich ins Stocken bringt. Wenn man all diese kleinen und großen Tragödien wegnimmt, ist Raph aber schon ziemlich zufrieden mit dem, was sie in den letzten Jahren gemeinsam auf die Beine gestellt haben. Und je mehr Leute hierher kommen, desto leichter wird es!
 

Am Abend – Kilometer entfernt…
 

Langsam senkt sich die Sonne am Horizont und hüllt Manhattan allmehlig in den Schleier ein, der die bevorstehende Nacht ankündigt. Der Tag war angenehm warm und klar. Doch jetzt, Ende Oktober, werden die Nächte nach und nach immer kühler und kündigen den nahenden Winter an. Schon in zwei oder drei Wochen könnte der erste Schnee fallen, aber noch scheint diese Tatsache weit entfernt. Allerdings ist das Wasser des East River schon gefährlich kalt und nicht mehr zum Schwimmen geeignet. Umso mehr verwundert es einen, zu sehen, wie in der aufkeimenden Dämmerung hektisch Blasen vom Grund aufsteigen. Diese Blasen treiben in einem Nebenarm des East Rivers, genannt Bronx Kill. Der Name klingt nicht sonderlich einladend und dass soll er auch nicht unbedingt. Dieser schmale Zulauf, der Port Morris und die Insel Randall´s Island voneinander trennt, hat eine besonders tückische und starke Strömung und hat damit schon viele Schiffe in ihr feuchtes Grab geschickt. Der einzige noch intakte Anleger der Insel erhebt sich als dunkles Gebilde vor dem Sonnenuntergang und genau vor ihm steigen die ganzen Blasen auf.
 

In dem aufgewühlten Wasser erscheinen immer mehr Blasen, die mit leisem Klang zerplatzen. Es sieht aus, als wäre dort etwas versunken und all die Luft entweicht nun. Oder als würde jemand kurz vor dem Ertrinken stehen und verzweifelt versuchen sich an die Oberfläche zu kämpfen. Langsam erhebt sich ein dunkler Schatten vom Grund des Wassers und nähert sich der Oberfläche. Dabei werden die Blasen noch einmal stärker und wühlen das kalte Blau noch mehr auf. Momente später stößt eine Hand aus den Fluten und sucht verzweifelt nach einem Halt. Eine zweite Hand gesellt sich dazu und kurz darauf taucht auch ein Kopf auf. Heftig nach Luft schnappend und mit weit aufgerissenen Augen rudert die Gestalt mit den Armen. Das blonde Haar hängt dem Jungen tropfend ins Gesicht und versperrt ihm fast die Sicht. Er mag kaum älter als sechzehn sein, sieht jedoch in seiner Panik wie ein kleines Kind aus. Hilflos strampelt er näher an den Anleger heran und versucht sich daran festzuhalten. Das Holz ist dick mit Moos und Algen überwachsen und so rutschig wie poliertes Eis. Verzweifelt klammert sich der Junge fester daran.
 

Genau in diesem Moment gibt der Pfahl nach und bricht zusammen. All die Jahre, in denen sich niemand um ihn gekümmert hat, haben ihm schwer zugesetzt. Mit lautem Klatschen schlägt er neben dem Jungen ins Wasser und zerfällt dabei wie trockener Sand. Der blonde Junge verliert dadurch das Gleichgewicht und versinkt für einen Augenblick erneut im Wasser. Als er wieder auftaucht, kann er noch sehen wie der gesamte Anleger auseinanderbricht und ins Wasser stürzt. Das aufschlagende Holz erzeugt in der aufgewühlten See einige große Wellen, die den Jungen ein weiteres Mal unter Wasser drücken. Atemlos und völlig kraftlos taucht er wieder auf und versucht sich oben zu halten. Den Tränen nahe betrachtet er die hölzernen Reste des Anlegers, die von den Fluten in den East River hinaus gesogen werden. Die Strömung zieht heftig an ihm, doch er weiß beim besten Willen nicht wie er an Land kommen soll. Verzweifelt blickt er sich um. Alles was er sieht ist eine hohe Betonmauer, die die Insel an dieser Seite begrenzt. Der Anleger war an dieser Stelle der einzige Zugang zum trockenen Land. Entkräftet schwimmt der Junge zur Mauer hinüber, doch sie ist viel zu glatt und zu hoch, um an ihr hinaufzuklettern.
 

So wird er also keinesfalls nach oben kommen. Fieberhaft denkt er nach, während er große Mühe hat sich über Wasser zu halten. Er hat einfach keine Kraft mehr und ihm ist so schrecklich kalt. Seine Füße sind schon ganz gefühllos und seinen Fingern geht es nicht viel besser. Er könnte um Hilfe rufen, doch dieser Gedanke kommt ihm gar nicht erst. Nein, kein einziger Gedanke durchströmt seinen Kopf. Er scheint vollkommen leer zu sein. Keine Gedanken, keine Erinnerungen und auch keine Ideen. Er weiß nicht, wer er ist und er weiß auch nicht wie er hier ins Wasser kommt. Er weiß nicht einmal wo er hier überhaupt ist. Das einzige was er weiß ist aber, dass er schnell aus dem verfluchten Wasser raus muss, bevor er noch erfriert oder ertrinkt! Langsam gleitet seine eine Hand an seiner Hüft hinab und ertastet dort einen Gegenstand. Kann er ihm wohlmöglich helfen hier rauszukommen? Hoffnungsvoll holt er ihn an die Oberfläche und betrachtet ihn. Mit gerunzelter Stirn starrt er das Ding an und kann sich dennoch nicht erklären was es darstellen soll. Dennoch liegt es irgendwie so vertraut und gut in seiner Hand, fast als wäre es ein Teil von ihm.
 

Bei dem Gegenstand handelt es sich um einen rundgeschliffenen Holzstab, an dessen einem Ende eine lange Metallkette befestigt ist. Am Ende der Kette befindet sich ein zylindrisches Gewicht. Am anderen Ende des Stabes springt eine gebogene Klinge heraus. Scharfgeschliffen glänzt sie im letzten Licht des Tages. Allerdings kennt er weder den Namen dieses seltsamen Gebildes, noch weiß er, dass es sich um eine Waffe handelt. Eine Waffe, mit der er schon sein Leben lang trainiert hat, unzählige Kämpfe bestritten und dessen Benutzung ihm sogar im Schlaf gelingt. Er weiß nichts. Doch tief in seinem Inneren hört er eine leise Stimme, die ihm sagt wie er sie benutzen muss. Es kommt einem Reflex gleich und seine Bewegungen sind so geschmeidig, als hätte er nie etwas anderes getan. Geschickt lässt er die Klinge an der Kette über seinem Kopf kreisen und wirft sie dann in einer fließenden Bewegung an der Mauer empor. Trotz dieser tiefverwurzelten Geschicklichkeit staunt er nicht schlecht, als die gebogene Klinge über die Mauer fliegt und sich dort verkeilt. Prüfend ruckt er mehrfach an der Kette, doch sie scheint zu halten.
 

Der Blonde sammelt all seine Kräfte zusammen und zieht sich langsam an der Kette hinauf. Auf dem feuchten Beton finden seine blanken Füße kaum einen Halt. Dennoch gibt er nicht auf. Sein Körper scheint eine Tonne zu wiegen, als er endlich den oberen Rand der Mauer erreicht. Kraftlos lässt er sich auf der anderen Seite auf den Boden fallen und bleibt dort japsend wie ein Fisch auf dem Trockenen liegen. Inzwischen ist die Sonne vollständig verschwunden und die Temperatur um mehrere Grad gefallen. Der Mond wirft sein kaltes Licht auf ihn und lässt ihn erzittern. Er friert ganz entsetzlich. Schwach richtet sich der Junge auf und versucht so viel Wasser wie möglich aus dem zerschlissenen, grünen Overall und dem orangen Shirt, das er trägt, auszuwringen. Er schüttelt seinen Kopf und ein Regen aus tausenden Tröpfchen verteilt sich in der Nacht. Die Sachen, die er trägt, sind an vielen Stellen zerrissen. Schuhe hat er keine, dafür entdeckt er an seinen Hüften noch mehr seltsame Gegenstände. Sie sind ihm ebenfalls fremd, obwohl er auch mit ihnen aufgewachsen und trainiert hat. Doch die Erinnerung daran hat er nicht mehr.
 

Gedankenverloren tapst er an die Mauer heran und blickt auf das weite, dunkle Wasser hinaus. Wild bricht sich die Strömung am Beton und die Wellen machen dabei klatschende Geräusche. Außer den tosenden Fluten sieht er nichts und sonst scheinen auch keine Geräusche zu herrschen. Alles kommt ihm so fremd vor. Hat das Gewässer einen Namen und wenn ja, welchen? Was ist das hier für eine Insel, falls es überhaupt eine ist? Langsam dreht er sich um und blickt auf den kleinen Hafen. Viel ist von ihm nicht übrig geblieben. Andererseits war diese Anlegestelle nie ein richtiger Hafen gewesen. Hier tauten hauptsächlich kleine Freizeit- oder Sportboote an. Früher war mehr als die Hälfte von Randall´s Island mit Vegetation bedeckt. Ein großer Park direkt am Wasser zählte zu den beliebtesten Plätzen. Dazu kamen großen Tennis- und Sportanlagen, die sich über weite Teile der Insel zogen. Gebäude gab es nicht viele und wenn waren es verschiedene Ausbildungsbehörden, zum Beispiel für die Feuerwehr oder Pflegepersonal. Da ist es kaum verwunderlich, dass der blonde Junge nichts weiter als Grün vor sich sieht.
 

Mannshohes Gras bildet den Großteil des Anblicks. Es gibt nur wenige Bäume, da die meisten im Krieg verbrannt sind. Die wenigen, die jetzt wieder gewachsen sind, haben es schwer sich Gras und Sträuchern gegenüber zu behaupten. Der Blauäugige fühlt sich verloren und einsam, als würde er in einem Dschungel feststecken. Nirgends ist ein Licht auszumachen. Doch wenn irgendwo Menschen leben, müsste es doch auch Licht geben. Erst recht wo die Sonne gerade erst untergegangen ist. Er versteht nicht, was eigentlich los ist. Sein Kopf ist so schwer und pocht unaufhörlich. Kein einziger Gedanke möchte sich darin formen, um ihm auch nur eine seiner Fragen zu beantworten. Ein heftiger Windstoß fegt über ihn hinweg und lässt ihn erzittern. Es wird sehr kalt und er ist immer noch ganz nass. Müdigkeit zerrt heftig an ihm. Er muss sich dringend einen Platz für sich Nacht suchen. Auf wackligen Beinen macht er sich auf den Weg. Vor ihm erstreckt sich schier endloses Grün, durch das er sich mühsam hindurch kämpft. Es kommt ihm so vor, als würde diese grüne Wand niemals enden. Dann stolpert er plötzlich über einen Stein und fällt auf die Knie.
 

„Verdammt…“, platzt es mit brüchiger Stimme aus ihm heraus. Dann verstummt er auf einmal und blickt sich mit großen Augen um. In der immer mehr zunehmenden Dunkelheit erblickt er vor sich tatsächlich eine Straße. Der Mond kommt hinter einer Wolke herauf und schenkt ihm etwas Licht. Sein kindlich wirkendes Gesicht hellt sich sichtbar auf, als er den kratzigen Asphalt unter seinen Fingern spürt. Glauben kann er es noch nicht ganz. Doch es ist wahr! Er hat wirklich eine richtige Straße gefunden und wo eine Straße ist, da sind ganz bestimmt auch Menschen! Neue Hoffnung keimt in ihm auf. Und nun, da der Mond scheint, kann er in einiger Entfernung sogar ein Gebäude erkennen. Doch irgendetwas stimmt damit nicht. Er braucht eine Weile bis er merkt, was es ist. Dann jedoch trifft es ihn schwer. Das Gebäude ist völlig zerstört! Was ist hier passiert? Ziellos blickt er sich weiter um. *Er steht langsam auf. Seine Beine fühlen sich schwer an, sein Magen fühlt sich schwer an. Nur sein Kopf fühlt sich merkwürdig leicht an; ein mit Gas gefüllter Ballon, der an einem Bleigewicht gefesselt ist. Er ertrinkt plötzlich in Einsamkeit, leidet unter dem hellen und trotzdem bedrückenden Bewusstsein, ein Lebewesen zu sein, das von seinesgleichen verstoßen wurde.
 

Tränen laufen ihm heiß an den Wangen hinab und er schlingt zitternd die Arme um seinen Körper. Schluchzend geht er weiter, immer auf der Suche nach anderen Menschen und einen Platz zum Schlafen. Nach und nach versiegen seine Tränen wieder und sein Blick wird klarer. Unweit kann er ein weiteres Gebäude erkennen. Mit wenig Hoffnung nähert er sich. Es ist weit weniger zerstört wie das andere, doch das macht es nicht unbedingt besser. Niemand ist hier, er ist und bleibt völlig allein. Doch er kann nicht mehr weiter. Alles schmerzt und er ist so schrecklich müde. Vorsichtig betritt er das alte Gebäude, das vor vielen Jahren einmal der New Yorker Feuerwehr als Trainingslager gedient hat. Als sich der Blonde umsieht, beschleicht ihn immer mehr das Gefühl, dass die Menschen diesen Ort ziemlich schnell verlassen haben. Vieles steht noch ungerührt an Ort und Stelle, als warte es nur darauf benutzt zu werden. Frierend durchstöbert er alle Räume, die sich gefahrlos betreten lassen und sammelt ein, was ihm hilfreich erscheint. Schließlich lässt er sich in einem der Räume nieder und schlägt sein Lager auf.
 

In einem Schrank hat er ein paar Decken gefunden. Eine davon rollt er zu einem Bündel zusammen, das ihm später als Kissen dienen wird. Zwei weitere legt er auf den harten Boden und die letzten zwei wird er dann benutzen, um sich zu zudecken. In einem anderen Schrank hat er jede Menge Papier gefunden, dass er nun in eine Blechtonne stopft. Nach schier unendlich vielen Versuchen gelingt es ihm, damit ein Feuer zu machen, an dem er sich aufwärmen kann. Nun endlich kann er sich auch von den nassen Sachen befreien. Er wirft sie zum Trocknen über zwei Stühle. Leider hat er weder etwas zum Anziehen noch etwas Essbares befunden. Also wickelt er sich nackt, zitternd und mit knurrendem Magen in die Decken ein und rutscht so dicht wie möglich an das Feuer heran. Es dauert lange, ehe ihm warm wird, doch kaum das er sich hingelegt hat, ist er auch schon eingeschlafen. Er träumt von Dingen, die er nicht versteht und dennoch scheinen sie ihm vertraut zu sein. Aber schon kurze Zeit später verfällt er in einen so tiefen Schlaf, dass er nichts mehr träumt und sein Körper sich endlich etwas erholen kann.
 

Am nächsten Morgen…
 

*Als der Blonde aufwacht, singen die Vögel voller Zuversicht. Das Tageslicht ist stark und hell, es muss früher Vormittag sein. Er hätte sogar noch länger schlafen können, aber das lässt sein Hunger nicht zu. In seinem Inneren tobt eine große Leere von der Kehle bis ganz hinunter zu seinen Knien. Und genau in der Mitte tut es weh, richtig weh. Es ist, als wird er irgendwo dort drinnen gezwickt. Dieses Gefühl erschreckt ihn. Er war schon früher hungrig gewesen, aber nie so hungrig, dass es auf diese Weise wehgetan hat. Er muss heute dringend etwas zu Essen finden, sonst wird ihn bald all seine Kraft verlassen. Wackelig kommt er auf die Beine und streift sich seine inzwischen trockenen Sachen über. Noch immer weiß er nicht wer er eigentlich ist, woher er kommt und ob es vielleicht sogar jemanden gibt, der irgendwo auf ihn wartet. Sein Kopf scheint genauso leer zu sein wie sein Magen. Seinen Hunger kann er hoffentlich bald stillen, doch wird ihm irgendwann jemand sagen können, wie er heißt? Aber damit es ihm jemand sagen kann, muss er erst einmal einen anderen Menschen finden!
 

Mit einem letzten Fünkchen Hoffnung verlässt er sein provisorisches Lager und macht sich auf die Suche. Stunden vergehen, in denen er sich beinahe ziellos durch fast undurchdringbares Grün kämpft. Nur an manchen Stellen wächst weniger Vegetation, sodass er eine Straße oder ein Gebäude findet. Doch jedes Mal bietet sich ihm dasselbe, enttäuschende Bild der Zerstörung. Die Bauten sind entweder völlig zusammengebrochen oder stark beschädigt. Dennoch findet er nirgends Anzeichen für menschliches Leben, geschweige denn irgendetwas Essbares. Das Einzige was er inzwischen mit Sicherheit sagen kann, ist, dass er sich auf einer Insel befindet und sie scheint völlig verlassen. Verloren beginnt er die Insel zu umrunden, um einen Weg zum Festland zu finden. Weit kommt er jedoch nicht, da ihm einfach die Kraft fehlt. Er kann sich beim besten Willen auch nicht erinnern, wann er das letzte Mal etwas gegessen hat oder was war, bevor er im Wasser aufgetaucht ist. Seine Beine werden immer schwerer und schließlich kann er keinen Schritt mehr weiter. Unbeholfen lässt er sich auf die Knie fallen und beginnt stumm zu weinen.
 

Wie ein kleines Kind drückt er dabei seine Fäuste gegen die Augen und schnappt angestrengt nach Luft. Die Verzweiflung umarmt ihn wie eine sehnsüchtige Geliebte. Doch diese Geliebte ist eiskalt und wünscht ihm alles Schlechte dieser Welt. Langsam droht er sich in ihr zu verlieren. Er spielt sogar kurz mit dem Gedanken, sich einfach hinzulegen und auf sein Ende zu warten, als er plötzlich etwas rascheln hört. Was folgt gleicht einem Reflex, der tief in ihm verwurzelt zu sein scheint. Schlagartig hören seine Tränen auf zu fließen, er hält die Luft an und macht sich ganz klein, als hätte er Angst gesehen zu werden. Instinktiv und vollkommen ohne das er es je erklären könnte, wandern seine Hände an seinen Hüften hinab zu den seltsamen Waffen, angeln sie aus ihren Halterungen und umklammern sie so fest, dass seine Finger ganz weiß werden. Seine Augen huschen nach allen Seiten und seine Ohren lauschen auf das kleinste Geräusch. Dann auf einmal wieder ein Rascheln ganz in seiner Nähe. Er kann sehen wie sich das hohe Gras vor ihm bewegt, als würde ein böiger Wind hindurch fegen. Sein ganzer Körper spannt sich schmerzhaft stark an.
 

Ohne es bewusst wahrzunehmen, bereitet sich sein Körper auf einen möglichen Angriff vor und er kann nichts dagegen tun. Was auch immer sich dort im Gras versteckt, sobald es sich zeigt, wird er es angreifen und wenn es sein muss auch bekämpfen. Langsam kommt das Rascheln näher und die Halme schwanken nun wie bei starkem Seegang. Dann endlich teilt sich das Grün und eine Gestalt tritt in die Nachmittagssonne hinein. Der blonde Junge springt in einer einzigen, schnellen Bewegung auf und will nach vorn stürmen, als er im letzten Moment erkennt, dass von seinem Gegenüber wohl keine Gefahr ausgehen wird. Wie angewurzelt bleiben beide Seiten stehen und starren sich einfach nur an. Schließlich scheint die Hirschkuh nicht der Ansicht zu sein, dass von diesem seltsamen Wesen eine Gefahr ausgeht und so setzt sie sich einfach wieder in Bewegung. Sie ist jung, hier auf dieser Insel geboren und hat in der ganzen Zeit noch nicht einen Menschen gesehen, was bei der dichten Vegetation auch kein Wunder ist. Zudem gibt es hier außer einigen Ratten keine Raubtiere die sie fürchten müsste.
 

Völlig perplex starrt der Junge weiterhin die Hirschkuh an und lässt dabei die Waffen sinken. So etwas Schönes hat er in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen, oder zumindest kann er sich nicht daran erinnern. Mit offenem Mund beobachtet er wie das Tier langsam, ohne Scheu und von einer unheimlichen Eleganz umgeben, an ihm vorbei läuft. Unentwegt zuckt sie dabei mit Ohren und Nase und behält das seltsame Wesen mit dem wenigen Fell genau im Auge. Man weiß ja nie, ob es vielleicht doch noch gefährlich ist, immerhin trennen sie kaum zehn Meter voneinander. Ganz langsam steckt der Junge seine Waffen wieder ein und starrt die Hirschkuh mit großen Augen an. Jedem anderen, der halbverhungert hier herumirrt, wäre wohl in den Sinn gekommen, dass Tier zu töten und daraus ein Festmahl zu machen, doch ihm nicht. Er ist so fasziniert von diesem Anblick, dass er seinen Hunger sogar vergisst. Mit gemächlichen Schritten ihrer langen Beine entfernt sich die Hirschkuh immer weiter von ihm. Schließlich gelangt sie an die nächste Wand auf mannshohem Gras und stoppt. Mit schiefgelegtem Kopf beobachtet der Junge sie.
 

Warum hält sie einfach an? Ehe er sich eine Antwort überlegen kann, beginnt sein Magen lautstark zu knurren. Die Hirschkuh zuckt mit den Ohren und wendet ihren Kopf zu ihm um. Wieder zucken ihre Ohren und sie bewegt die Nase. Ein leichter Rotschimmer bildet sich auf den Wangen des Blonden, so als wäre es ihm peinlich, dass sie seinen Hunger so überdeutlich hören kann. Die Hirschkuh wedelt ein paar Mal mit ihrem kurzen Schwanz und öffnet dann das Maul. Heraus kommt ein leiser Ton, fast wie von einer kaputten Hupe. Überrascht zuckt der Blonde zusammen. Wieder legt er den Kopf schief, da er nicht versteht, was sie ihm damit mitteilen will. Ein weiteres Mal zucken Ohren und Nase der Hirschkuh, ehe sie ihren Schwanz aufstellt und das weiße Fell auf der Unterseite präsentiert. Dann stolziert sie in das Gras hinein und ist kurz darauf verschwunden. Der Blonde sieht wie sich das Gras bewegt und es raschelt, als sich das Tier hindurch bewegt. Dann schient es anzuhalten. Wieder ertönt dieses merkwürdige Hupgeräusch, diesmal nur lauter, damit er es wohl besser hören kann.
 

Will sie ihm damit etwa irgendwas sagen? Er kann sich jedoch so überhaupt nicht vorstellen, was dieses Tier von ihm wollen würde. Wieder das Geräusch – noch etwas lauter, fast schon ungeduldig. „Will sie vielleicht, dass ich ihr folge?“, flüstert er sich selbst zu. Vorsichtig macht er einen Schritt vorwärts und im selben Moment bewegt sich auch die Hirschkuh im Gras wieder. Diese Tatsache scheint seine Frage zu beantworten und so bahnt er sich seinen Weg durch das Grünzeug. Wenige Meter vor ihm raschelt die Hirschkuh durch das Gras. Sie scheint überhaupt keine Angst vor ihm zu haben. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreicht er endlich das Ende und betritt eine betonierte Fläche. Sie war vielleicht einmal ein Parkplatz. Zumindest ist sie ziemlich groß. Hier und da wurde der Beton von ein paar Pflanzen aufgesprengt, doch das meiste ist noch heil, was nach so langer Zeit ohne Menschen, die sich darum kümmern ein echtes Wunder ist. Verwundert blickt sich die Blauäugige nach der Hirschkuh um. Warum hat sie ihn hierher geführt? Die Hirschkuh steht ein paar Meter abseits und trötet ihn ein letztes Mal an, dann verschwindet sie im Grün und wart nicht mehr gesehen.
 

Mit fragendem Gesichtsausdruck bleibt der Junge zurück und versteht überhaupt nichts mehr. Als er auch das Rascheln der Hirschkuh nicht mehr hören kann, lässt er seinen Blick über den Platz schweifen. Am hinteren Ende erblickt er ein kleines Gebäude, das eine Garage sein könnte. Schmale Betonstreifen führen von dort aus zu einer eispurigen Straße, die vielleicht zu einer Brücke oder Ähnlichem führen könnten. Doch die Vegetation ist zu dicht um etwas zu erkennen. Neben dem kleinen Gebäude steht ein großer Baum, der hoch in den Himmel hineinreicht. Der Blonde traut seinen Augen kaum, aber der ganze Baum hängt voller dicker, großer Äpfel! Hat die Hirschkuh tatsächlich gemerkt, dass er Hunger hat und ihn deswegen hierher gebracht? Er kann es einfach nicht glauben. Heiße Tränen rinnen an seinen Wangen hinab. Endlich scheint er mal etwas Glück zu haben! Haltlos stolpert er auf den Baum zu. Wind kommt auf und weht einige der überreifen Früchte von den Ästen herunter. Schluchzend sammelt der Junge sie ein und setzt sich in den Schatten des Baumes. Endlich kann er seinen Hunger stillen und muss sich keine Gedanken mehr machen!
 

Nach einer ganzen Weile lehnt er sich pappsatt gegen den Stamm des Baumes und schließt erschöpft die Augen. Um ihn herum liegen fast zwei Dutzend Kerngehäuse, die langsam von ein paar emsigen Ameisen in Beschlag genommen werden. Nach und nach driftet der Junge in den Schlaf über. Doch ehe er anfangen kann zu träumen, rumort es plötzlich in seinem Magen. Erschrocken reißt er die Augen auf und setzt sich gerade hin. Heftige Krämpfe erfassen ihn und er krümmt sich unter ihnen zusammen. „Was – was – ist nur los?“, presst er verzweifelt hervor. Kaum, dass er die Worte ausgesprochen hat, drängt sich alles an die Oberfläche und er muss sich so heftig übergeben, dass ihm fast die Luft wegbleibt. Das Erbrechen scheint überhaupt kein Ende nehmen zu wollen. Alles schmerzt und ihm wird fast schwarz vor Augen. Dann endlich scheint er alles von sich gegeben zu haben und lehnt sich zitternd und nach Luft schnappend an den Baumstamm zurück. Tränen rinnen abermals an seinen Wangen hinab und er versteht einfach nicht, was los ist. Stimmt irgendwas mit den Äpfeln nicht oder liegt es wohlmöglich an ihm?
 

Er findet keine Antwort, weiß nur, dass ihm schon schlecht wird, wenn er nur an die Äpfel denkt. Er zittert wie verrückt und ihm ist auf einmal so schrecklich kalt. Waren die Früchte vielleicht vergiftet? Oder ist er krank? Nach einigen Minuten gelingt es ihm aufzustehen und zum Eingang des Gebäudes zu wanken. Die Tür ist nicht verschlossen und als er hineingeht, stellt er fest, dass es tatsächlich eine Garage ist. Ein altes Auto nimmt den meisten Platz darin ein. Auch der Wagen ist nicht verschlossen und so rollt sich der Junge einfach auf dem Rücksitz zusammen und fällt augenblicklich in tiefen Schlaf. Er ahnt nicht, dass er keineswegs krank ist. Dennoch fehlt ihm einiges. Es ist nicht klar, was dazu geführt hat, dass er an die Wasseroberfläche gelangen konnte oder welche Fehlfunktion an Baxters Strahlenkanone ihn vor zehn Jahren hat einfrieren lassen, statt ihn in seine Atome zu zerlegen. Doch sein Kopf hat damals einen mächtigen Schlag abbekommen, der sein Gedächtnis gelöscht hat. Einzig Reflexe und Instinkte sind ihm geblieben, wozu auch sein Ninja-Sinn zählt, doch das er einst ein aufstrebender Ninja war, weiß er nicht mehr.
 

Er weiß nicht, dass er eine Familie hatte, von der nur noch einer übrig geblieben ist und er weiß auch nicht, der Shredder an alledem Schuld ist. Die schwere Gehirnerschütterung, die ihm seine Erinnerungen genommen hat, ist auch für seine körperliche Verfassung verantwortlich. Genau diese Verletzung hat ihm auch vorgegaukelt, dass er eine Hirschkuh sieht, die ihn zu einer Nahrungsquelle führt. In Wirklichkeit war dort kein Hirsch, nur eine große Ratte, die sich durch das Gras gekämpft hat. Sie ist an ihm vorbei gehuscht, hat ihn angefacht und ist verschwunden. Sein umnachteter Verstand hielt sie jedoch für eine sagenhafte Schönheit, die ihm in der Stunde der Not zur Seite steht. Der Apfelbaum ist jedoch echt und seine Früchte ebenso. Jedoch ist sein Körper viel zu angeschlagen, um mit der schieren Masse überhaupt fertig werden zu können, die er sich in seiner Gier zugemutet hat. In seiner hilflosen Verzweiflung versucht der namenlose Junge, der einst das wilde Herz der Ninja Turtles war und den Namen des berühmten Künstlers Michelangelo trug, noch mehrfach die Äpfel zu essen. Jedes Mal jedoch mit demselben Ergebnis.
 

Am nächsten Tag…
 

Die Sonne steht hoch am Himmel und der blonde Junge setzt verzweifelt seinen Weg fort. Auch heute konnte er noch nichts essen. Alles was er versucht hat, kam früher oder später wieder hoch. Sein Hals schmerzt mittlerweile so stark, dass er gar nicht mehr versuchen will etwas zu essen. Das viele Erbrechen hat ihn nur wertvolle Kraft gekostet, die er eh nicht hatte und so kann er sich inzwischen kaum noch gerade auf den Beinen halten. Er schlurft langsam einen Weg entlang, der zu einer Brücke führt, die Randall´s Island mit dem Festland verbindet. Beim Gehen, wenn man seine kläglichen Bemühungen überhaupt noch als Gehen bezeichnen kann, schwankt er so stark hin und her, dass er wie ein völlig Betrunkener wirkt. Mehrfach fällt er auf die Knie und rappelt sich nur schwerlich wieder auf. Jedes Aufrappeln fällt ihm schwerer. Langsam betritt er die Brücke und denkt noch, dass sie ihn vielleicht doch noch zu ein paar Menschen bringt, die ihm helfen können. Doch noch ehe er den Gedanken richtig festigen kann, wird ihm endgültig schwarz vor Augen. Seine Kräfte verlassen ihn völlig und er fällt haltlos zu Boden.
 

Bewusstlos bleibt er auf dem rissigen Beton der Brücke liegen. Etwa eine Stunde später nähern sich vier Gestalten der Stelle von Festland aus. Es sind Foot-Ninja, die den Auftrag haben, die Insel nach etwas Brauchbarem abzusuchen. Soweit kommen sie aber nicht. Als sie den reglosen Körper des Jungen auf der Fahrbahn sehen, bleiben sie abrupt stehen. Ihnen ist bewusst, dass sie jeden Menschen ins Versteck bringen sollen, doch lohnt sich das überhaupt noch? Vorsichtig nähern sich die Männer der Person am Boden. Einer von ihnen geht auf die Knie und sucht nach einem Pulsschlag. Nach ein paar Augenblicken erhebt er sich wieder und gibt seinen Kollegen zu verstehen, dass sie ihn mitnehmen können. Soweit er es beurteilen kann, scheint es dem Jungen aber nicht sonderlich gut zu gehen und wahrscheinlich wird er auch keine zwei Stunden mehr leben, aber das ist ja dann das Problem eines anderen. Außerdem haben sie vor ein paar Jahren auch begonnen, alle Leichen einzusammeln und zu verbrennen, um die Ausbreitung irgendwelcher Krankheiten so gering wie möglich zu halten. So oder so muss Shredder über diesen Fund informiert werden.
 

Den Meister interessieren die Leichen eigentlich überhaupt nicht. Er sieht sie sich höchstens an, um festzustellen, ob er denjenigen vielleicht mal gekannt oder einer der anderen Flüchtlinge ihn wohlmöglich kannte und der Tote somit vielleicht ein richtiges Begräbnis verdient hätte, statt als namenlose Asche im East River verstreut zu werden. Chen hingegen interessiert sich für jeden, ob nun tot oder lebendig, denn er führt streng Buch über alle Menschen, was sich ab und an schon als nützlich erwiesen hat. Also machen sich die Foot mit ihrem Fund wieder auf den Weg zum Versteck. Ihr Suchauftrag ist bei so einem Fund nur zweitrangig, von daher können sich die Männer über einen leichten und kurzen Auftrag freuen. Und vielleicht besteht ja sogar die Möglichkeit, dass sie den Rest des Tages frei bekommen! Sie ahnen ja auch noch nicht, dass ihr Fund eine ganz besondere Bedeutung hat und was er alles verändern wird…


Nachwort zu diesem Kapitel:
Zitate: *Er steht langsam auf. Seine Beine fühlen sich schwer an, sein Magen fühlt sich schwer an. Nur sein Kopf fühlt sich merkwürdig leicht an; ein mit Gas gefüllter Ballon, der an einem Bleigewicht gefesselt ist. Er ertrinkt plötzlich in Einsamkeit, leidet unter dem hellen und trotzdem bedrückenden Bewusstsein, ein Lebewesen zu sein, das von seinesgleichen verstoßen wurde.
Stephen King - Das Mädchen 1999

*Als der Blonde aufwacht, singen die Vögel voller Zuversicht. Das Tageslicht ist stark und hell, es muss früher Vormittag sein. Er hätte sogar noch länger schlafen können, aber das lässt sein Hunger nicht zu. In seinem Inneren tobt eine große Leere von der Kehle bis ganz hinunter zu seinen Knien. Und genau in der Mitte tut es weh, richtig weh. Es ist, als wird er irgendwo dort drinnen gezwickt. Dieses Gefühl erschreckt ihn. Er war schon früher hungrig gewesen, aber nie so hungrig, dass es auf diese Weise wehgetan hat.
Stephen King - Das Mädchen 1999 Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Leucan
2015-08-11T18:37:22+00:00 11.08.2015 20:37
Oh gottt....er lebt.....er lebt.....ich bin geflasht....erfreut geflasht....ich dachte schon Raphael endet allein......ganz allein...

LG KC
Von:  Temari-nee-chan
2015-07-15T19:12:53+00:00 15.07.2015 21:12
Heyyyy:D
Also ich bin super happy das neue Kap gelesen zu haben. Auch wenn ich so ziemlich die Einzige bin. Aber es ist einfach super.
Raphie... er ist irgendwie ruhiger und ausgeglichener geworden und es ist wunderbar zu sehen, was er erschaffen hat.. es ist wie eine ARt ARche...
Und ich bin wirklich überrascht, dass MIkey überlebt hat... er wurde also eingefroren und ist nicht gealtert... das erklärt auch, warum er weiterhin so jung ist... allerdings kann er sich an nichts mehr erinnern...
Aber die Foots haben ihn gefunden und ich will jetzt natürlich unbedingt wissen, was Raphael sagen wird, wenn er MIkey sieht.. Sicher denkt er seine Sinne spielen ihm einen Streich... aber... es ist wirklich echt.. Mikey lebt... hoffentlich kann er sich bald wieder erinnern...
schreib wirklich schnell schnell weiter... und villeicht wird ja am Ende für Raphie doch noch allesg ut...
Auch wenn ich Leo und Donnie vermisse:(


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