Zum Inhalt der Seite

Dornröschen...

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Dieses Kapitel ist vermutlich noch sehr zäh und uninteressant. Doch ich empfand es für mich persönlich recht wichtig zu erläutern was mit Noah nach dem Unfall geschehen ist - also bevor er im nächsten Kapitel recht fortgeschritten ist mit seiner Rehabilitation. Dafür kam mir seine jüngere Schwester Anna gerade Recht, welche doch vermutlich kein weiteres Kapitel aus ihrer Sicht bekommen wird, da die Geschichte ja eigentlich von Noah erzählt wird...

Ich hoffe es gefällt euch dennoch irgendwo. Viel Spaß beim lesen!

Liebe Grüße Emma Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Zuerst, vielen lieben Dank für eure Kommentare. Ich habe mich wirklich sehr darüber gefreut ö.ö ! Auch wenn mich Kommentare nervös machen und den Drang in mir wecken meine Story noch einmal komplett zu überarbeiten. Nebenbei gehöre ich zu den Menschen die am liebsten durch ihre Wohnung rennen und laut "Oh Gott, Erwartungsdruck!" schreien. Aber das klingt schlimmer als es wirklich ist - wie sagte meine Kollegin letztens zu mir? Ich gehöre zu der hysterischen Sorte der Menschheit...ja, eventuell liegt sie damit überhaupt nicht so falsch.

Ich sitze bereits am nächsten Kapitel und wenn ich mal kein Ansporn habe lese ich mir einfach eure Kommentare durch, da diese mich zum Schreiben motivieren! Also lange Rede, kurzer Sinn - Danke an euch ö_ö !!!

Viel Spaß beim lesen! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Danke noch einmal an alle die bisher ein Kommentar hinterlassen haben! Ich könnte euch knutschen. Also natürlich nicht wirklich, ach ihr wisst sicherlich wie ich es meine... Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Bah. Ich habe um mein Leben getippt um das Kapitel bis heute fertigzubekommen, da es nächste Woche auf die Gamescom geht und ich nicht weiß wie viele Kapitel ich bis dato noch fertigbekomme. Aber ich denke zwei dürften noch kommen. Aber daher dürft ihr euch gerne an allen nur erdenklichen Flüchtigkeitsfehlern bedienen u.u

Ganz besonders großer Dank geht an chaos-kao, haki-pata und DXS-Levy für die Kommentare ö.ö ! Dankeschön x3 Ich bin zwar zu alt um mit Konfetti um mich zu werfen, aber fühlt euch damit beworfen, bitte :D

Viel Spaß beim Lesen Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Vielen Dank an badluck1 & haki-pata für eure Kommentare :'3

Viel Spaß beim Lesen

(Vorne weg, das Kapitel ist diesmal irgendwie nicht so pralle D: Ich weiß noch nicht woran es liegt, aber ich bin arg unzufrieden. Vielleicht weil zu viel in einem Kapitel untergebracht wurde. Ich weiß es wirklich nicht :O) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Zuerst, dieses Kapitel ist "nur" ein Rückblick - doch ich habe überlegt es jetzt immer so zu machen, wenn ich einen Charakter aus Nono's Vergangenheit einbringen. Die Geschichte geht aber spätestens Freitag mit einem Kapitel weiter :)

Ganz lieben Dank an -Ray-, badluck1und haki-pata! ♥ eure Kommentare helfen mir dabei beim Schreiben am 'Mann' zu bleiben! :3

Liebe Grüße
Emma Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich habe noch nicht drüber gelesen. Aber das mache ich heute Abend um noch ein paar Schreibfehler rauszuholen ><

Vielen Lieben Dank an die Wiederholungstäter chaos-kao, badluck1 und -Ray- für die Kommentare! :3 ♥

Und hey, wir sind jetzt bei Kapitel Nummer 10 angekommen, ist das jetzt eine Art Jubiläum? :D Also inklusive der Special Chapters.

Viel Spaß beim Lesen.

Liebe Grüße

Emma Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallöchen, da ist endlich das nächste Kapitel. Dankt der Gamescom und der Schreibblockade - auch genannt LOL. Ich hasse dieses Spiel und dennoch habe ich mich nach der Gamescom hingesetzt und es raubt mir all meine kostbare Zeit nach der Arbeit. Ich schwöre Besserung.
Aber zurück zur Schreibblockade - ich merke gerade was passiert wenn man nicht plottet. Ich habe ziemliche Probleme nicht durcheinander zu werfen und muss mich unbedingt für die letzten Kapitel von 'Dornröschen' an einen anständigen Plot setzten.

Und weißt noch irgendwer von euch was für eine Haarfarbe Noah hat. Habe ich die schon einmal irgendwo erwähnt. Oh Gott, ich sollte mich schämen D: Ich habe alle Kapitel abgeklappert und nichts gefunden - traue mir selbst aber auch nur so weit wie ich mich sehe...also in meiner Vorstellung war Noah irgendwie blond - zumindest seit neustem.

Viel Spaß beim Lesen.

Ps. Das nächste Kapitel ist fast fertig...mir bluten die Finger D: Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Wie versprochen, hier das nächste Kapitel! Viel Spaß beim Lesen.

Und danke an haki-pata für dein Kommentar - let's do it, oder so ähnlich. Der Tempel wird kommen :D

x Emma Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Bitte verzeiht die lange Wartezeit. Derzeitig versuche ich die Kapitel zu überarbeiten und stecke zusätzlich noch in einem ziemlichen kreativen Loch was Dornröschen angeht. Aber keine Sorge, die Geschichte wird definitiv ihr Ende bekommen, auch wenn ich mit der 'Qualität' die ich euch liefere derzeitig überhaupt nicht zufrieden bin. Kennt ihr das, wenn ihr mit etwas überhaupt nicht mehr zufrieden seid und es eigentlich nicht mehr anschauen mögt? Das habe ich derzeitig bei Dornröschen. Ich bin vielleicht doch nicht so Kritikfähig wie ich immer dachte xD Ich werde nicht zickig oder so, um Gottes Willen. Aber ich nehme sie mir wohl etwas arg zu Herzen. Auf einer anderen Plattform wird meine Grammatik und Rechtschreibung regelmäßig zerpflückt - ja ok, ich weiß, sie ist nicht ganz so pralle. Aber sie haben recht, ich möchte euch eine angenehme Leseerfahrung bieten und das kann ich einfach nicht, wenn der Text von Fehlern durchsifft ist. Ah, das nervt mich alles so unglaublich.

Aber Schluss mit dem rumgeheule, ich hatte heute Lust auf ein neues Kapitel und da ist es.

Viel Spaß bei Kapitel 11.

X Emma Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

...hat sich nie an einer Spindel gestochen!

Prolog
 

...hat sich nie an einer Spindel gestochen!
 

~

Der Asphalt aufgeheizt durch die unnachgiebige Sonne, meine Haut schien an ihm zu kleben und die dunkle Flüssigkeit neben meinem Gesicht schlug sanfte Bläschen. Mein Kopf pochte wild und es fühlte sich an als würden Pferde nur wenige Millimeter an mir vorbeigaloppieren. Ein dumpfes Geräusch, welches mich vermutlich noch in meinem Träumen verfolgen würde. Es unterstützte den pochenden Schmerz an meiner Schläfe und schien ihn freudig tanzend zu nähren. Stetig blinzelte ich angestrengt, doch meine Augen bekamen kein scharfes Bild zustande, die Umgebung blieb verzehrt und verschwommen. Pausenlos rief jemand in der Ferne meinen Namen, ich wollte antworten, doch meine Lippen bewegten sich keinen Zentimeter. Jeder Atemzug fühlte sich an als hätte mir jemand Reißzwecken in die Lunge getan, der leicht metallische Geschmack auf meinen Lippen tat sein Übriges. Ein unangenehmes Rasseln entstand bei jedem Schnappen nach Luft, gefolgt von einem brennen.
 

Es wirkte alles wie in einem Traum, oder vielleicht fühlte sich so auch jemand der den Rauch eines Drogenexzesses auskurierte. Beinahe als würde sich die Welt um mich herum in Zeitlupe abspielen. Das änderte sich auch nicht als scheinbar mehrere Hände nach mir griffen, auch nicht als sich unter das dumpfe Pochen meines Kopfes die lauten und alleszerreißende Sirenen eines Krankenwagens mischten. Erst als mir eine fremde Stimme unverständliche und dennoch auf eine seltsame Art beruhigende Worte ins Ohr flüstert konnte ich spüren wie sich meine Gedanken beruhigten. Mein Bewusstsein begann abzudriften als es noch einige klare Gedanken erfasste:
 

Was sagte der nette Radiosprecher heute Morgen auf dem „gute Laune Sender“?
 

„Sie erwartet ein sonniger Tag mit blauem Himmel und schweißtreibenden Sechsunddreißig Grad im Schatten. Also macht euch auf einen wunderbaren Tag gefasst, denn bei diesem traumhaften Wetter kann der Tag nur fabelhaft werden! Ach und vergesst nicht ausgiebig zu trinken! Bis dann, euer Felix“.
 

Ein Scheiß auf fabelhaft. Ein Scheiß auf traumhaft und wunderschön! Ich sterbe bei Sechsunddreißig Grad im Schatten und das nur, weil diese bildungsresistente Autofahrerin unbedingt mit ihrer besten Freundin telefonieren musste!

Kapitel EINS
 


 

…bekam auch keinen Kuss – leider.
 


 

„Wenn er aufwacht können Sie nicht erwarten, dass er sofort mit Ihnen spricht, aufspringt und herumtollt“ ertönte genau wie in den letzten schier endlos wirkenden Tagen die Stimme der ambitionierten Ärztin im vorangeschrittenen Alter „Der Lernprozess ist schwierig und wird mit einer großen Anzahl verschiedenster Ärzte bis ins kleinste Detail geplant. Ihr Sohn muss vermutlich alles erneut lernen. All die Dinge welche für sie Frau Bram komplett verständlich sind. Wir müssen ihm zeigen wie er selbst atmet, schluckt, sich bewegt und vermutlich auch redet“.
 

Das Gezeter meiner Mutter brach allerdings nicht ab, auch nicht als mein Bruder, welcher bleich und bewegungslos im Bett lag ein leises Brummen von sich gab. Wie die Ärztin meiner Mutter verzweifelt versuchte zu erklären lag Noah momentan im sogenannten Wachkoma. Nichts von wegen „Er öffnet die Augen und die Welt ist wieder schön“. Dieses Wunschdenken gehörte nach Hollywood, doch nicht in die kalte Realität eines Schädel-Hirn-Trauma-Patient.

Nachdem Noah von einer Frau auf der Straße angefahren wurde erlitt er neben anderen inneren Verletzungen auch ein Schädel-Hirn-Trauma.
 

Damals erklärte mir die zuständige Ärztin ich sollte mir das Gehirn meines großen Bruders wie einen Luftballon vorstellen. Durch den Aufprall pumpte sich noch mehr Luft in den Ballon, solange bis er zu platzen drohte. Die Ärzte schickten meinen Bruder schlafen um den Ballon am Platzen zu hindern. Heute wusste ich es natürlich besser, sein Gehirn wäre nie wie ein Luftballon zerplatzt. Als Kind hatte mich diese Erklärung allerdings ziemlich erschrocken.
 

Ein künstliches Koma hieß nicht mehr, als das sie das Koma in dem mein Bruder lag medizinisch vertieften. Damit senkten sie den Gehirnstoffwechsel und schützten seine Gehirnzellen vor weiteren Schäden.
 

Nach zwei Jahren glaubten die Ärzte Noah wäre endlich soweit, sie reduzierten die Medikamente welche ihn in dem künstlichen Koma hielten. Doch es dauerte weitere zwei Monate bis sich überhaupt etwas tat. Irgendwann, es war ein kalter Wintertag im Januar an dem ich extra noch einmal beim Bäcker hielt um mir einen warmen Kakao zu kaufen, betrat ich sein Zimmer und mein Herz schien auszusetzen. Er lag in seinem Bett so wie immer, doch nach zwei Jahren voller bangen und beten um das Leben meines Bruders konnte ich sie sehen, seine wunderschönen blauen Augen die meinen so ähnlich sahen. Er schaute mich nicht an, es wirkte sogar als würde Noah nicht einmal einen direkten Punkt fixieren, doch er hatte sie geöffnet. Dies sollte einer der Momente in meinem Leben sein die ich niemals vergessen würde. Der kaum merkliche kühle Windzug, welches vom aufgeklappten Fenster hinweg über das Fensterbrett den leichten Duft der Orchideen herantrug. Die schwache Note von sterilem Reinigungsmittel und frisch bezogener Bettwäsche. Das leise piepen der Überwachungsgeräte und das Stimmengewirr auf dem Flur des Krankenhauses. Solch unbedeutende Dinge die den Knoten in meiner Brust zerrissen und mir das erste Mal seit zwei Jahren die Tränen in die Augen trieben. An diesem Tag schaffte ich es endlich um meinen großen Bruder zu weinen, denn mir wurde klar man würde mir Noah endlich wiedergeben.
 

Nun lag er bereits seit weiteren Wochen im Wachkoma, die Ärzte nennen es das Aufwachen. Ich nannte es eine weitere Zerreißprobe meiner Nerven. Wir sprachen jeden Tag mit ihm, ohne eine Antwort zu erhalten. Baten Noah seinen Finger oder sogar seine Hand zu bewegen. Wie oft saß ich nun bereits an seinem Bett und flehte ihn an wenigstens mit den Augen zu zwinkern – nichts.
 

„Musst du schon wieder herumschreien Marianne“ die Tür zu Noahs Zimmer wurde aufgestoßen und Marko – mein Vater betrat das Krankenzimmer mit genervter Mimik, in seinen Armen eine neue Orchidee. Noahs Lieblingsblumen. Man musste leider sagen, dass auch mein Papa bereits besser aussah. Sein Dreitagebart deutlich sichtbar und unter seinen braunen Augen ruhten dunkle Ringe.
 

Obwohl Marko nicht Noahs leiblicher Vater war sorgte er sich liebevoll um ihn und verbrachte beinahe jede freie Minute im Krankenhaus. Von meiner Mutter kam ein empörtes Schnauben und die Ärztin schien erleichtert über das Auftauchen meines Vaters. Marko lief zielstrebig an uns vorbei, streichelte kurz über meinen Kopf und lief weiter zum Fensterbrett um mittlerweile der sechsunddreißigsten Orchidee ihr neues Zuhause vorzustellen.
 

Mit empörter Miene – welcher der meiner Mutter sehr ähnelte – richtete ich mir meine Haare und wechselte meine Sitzposition auf dem Stuhl in einen Schneidersitz.
 

„Dr. Coenen. Wie sieht es aus, die Frage von Marianne zu Noahs Zustand. Ist eine vollständige Genesung wirklich gänzlich ausgeschlossen?“ mein Vater wendete sich weder zu Dr. Coenen, noch zu mir oder Mutter. Sein Blick schien starr auf die Orchidee gerichtet, welche er unkoordiniert hin und her drehte.
 

„Na ja“ es schien Dr. Coenen sichtlich schwer zufallen „Wissen sie. In den meisten Fällen muss man damit rechnen, dass der Komapatient nicht dieselbe Person sein wird welche sie vor dem Unfall war. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass sie genau denselben Noah zurückbekommen den sie vor zwei Jahren verloren haben“. Eine Antwort die sich bereits jeder von uns dachte, doch keiner hören wollte. Die Schultern meines Vaters verloren ihre Spannung und meine Mutter setzte sich wimmernd auf die Kante von Noahs Bett. Sie klang wie ein Welpe den man quälte und traktierte. Auch wenn Noahs Unfall sie verändert hatte, so konnte man ihr nicht unterstellen sie würde meinen Bruder nicht von ganzem Herzen lieben.

„Aber Noah ist jung Herr Bram. Es besteht eine unglaublich gute Chance auf eine körperliche Rehabilitation“.
 

„Dr. Coenen“ stellte ich nun eine Frage. Eine Frage die mich bedrückte und mir mein Herz schwerer werden ließ „Kann es passieren, dass sich Noah nicht mehr an uns erinnert?“. Ein sachtes Lächeln bildete sich auf den Lippen der brünetten Ärztin als sie auf mich zu trat und mir ihre Hand auf die Schulter legte „Keine Sorge Anna. Das passiert nur in wirklich wenigen Fällen“.
 

„Aber es kann nicht ausgeschlossen werden?“ hakte meine Mutter nach und schnäuzte in ihr Taschentuch. Sie sah mitgenommen aus. Die Ärztin schüttelte leicht den Kopf „Dazu kann ich zum momentanen Zeitpunkt noch nichts sagen“.
 

Nachdem die Ärztin gegangen war herrschte Stille im Raum. Mein Vater stand am Fenster und ließ seinen Blick auf Noah ruhe, während meine Mutter mit dem Rücken zu ihm weiterhin auf der Bettkante saß. Damals war alles besser. Worte die ich nie verstand, besonders da sie meist von älteren Menschen in Bezug auf die Vergangenheit benutzt wurden. Eine Vergangenheit die ich nur aus Büchern kannte und welche mich – um ehrlich zu sein – wirklich wenig interessierte. Vielleicht war es sogar etwas egoistisch, doch momentan interessierten mich die Probleme anderer Menschen nicht. Kein bisschen.
 

Seid Noahs Unfall hatte sich so viel geändert. Und irgendwie, ganz tief in mir, wünschte ich mir für Noah er würde weiterschlafen. Er mochte Veränderungen noch nie und vermutlich konnte er vieles nicht verstehen, da ihm die letzten zwei Jahre verwehrt blieben. Man konnte meinen man hätte sie ihm gestohlen. Einfach verweigert. Er hatte nie die Chance meinem ersten Freund lächerliche Androhungen zu machen, konnte mich nicht zu meiner Aufnahme auf meinem Wunschgymnasium beglückwünschen oder mir sagen wie schön mein Lächeln ist nachdem ich endlich meine Zahnspange los wurde. Und auch wenn mir all diese Sachen so lächerlich wichtig erschienen, so wusste ich, dass er ebenfalls viel verpasste. Seinen Schulabschluss, die Trennung seines Freundeskreises und so einiges mehr. Nur noch selten kamen ihn seine alten Freunde besuchen. Eventuell hatten sie auch einfach schon aufgegeben. So wie Mama und irgendwo auch Papa.
 

Die Stille umschloss mich, nachdem unsere Eltern das Krankenzimmer verließen und wie jeden Abend beobachteten du und ich den Sonnenuntergang, welchen wir von deinem Krankenzimmerfenster aus beobachten konnten. Das warme Farbenspiel. Das sanfte violett jenes tanzend in das kräftige orange überging. Ich wusste, die Ärzte wollten nicht, dass ich mich zu dir ins Bett legte. Ich könnte an eines der Kabel kommen mit denen sie dich verunstalteten. Doch es änderte nichts daran.
 

„Ich vermisse dich so sehr Noah“. Durch die letzten zwei Jahre lernte ich woher das Sprichwort „So nah und doch so fern“ kam. Denn auch wenn du hier warst, schien es als wärst du irgendwo an einem anderen Ort.
 

„An-na...“
 

Verwirrt öffnete ich die Augen, rappelte mich hoch und blickte zur Tür. Eine heisere, kratzige Stimme flüsterte durch den Raum. Es klang dumpf, als die Person einen Raum weiter stehen. Erst glaubte ich Marko wäre zurück, doch die Tür machte einen fest verschlossenen Eindruck.
 

„An-na“.
 

Ganz sanft, wie ein Windzug, ein streifender Atem fuhr es über meine Hand. Kühl und weich, schwach und dennoch bestimmend. Noch bevor ich meinen Kopf herumdrehte konnte fühlte ich wie sich meine Augen mit Tränen füllten und meine Brust schwerer wurde. Erneut hörte ich jemanden meinen Namen wispern. Meine Hand wanderte wenige Millimeter weiter und ergriff die Hand meines Bruders und da, kaum merklich erwiderte sie meinen Druck. Es dauerte eine Ewigkeit bis ich meine Augen auf Wanderschaft schickte, die Angst all dies wäre nur ein Gespenst, entstanden aus meinen Wünschen, war so unbeschreiblich groß.
 

„Noah…“
 

Und doch, seine Augen trafen direkt auf meine.

Kapitel ZWEI
 


 

…hat keine gute Fee.
 

Die Wohnung konnte durchaus als hübsch bezeichnet werden. Obwohl sie wohl eher als äußerst spartanisch durchging. Mit dem nötigsten möbliert und ohne dekorativen Schnickschnack wirkte sie wie das komplette Gegenstück zu unserem Einfamilienhaus. Anna und meine Mutter legte stets großen Wert auf die richtige Dekoration der Wohnräume - Marko ganz offensichtlich eher nicht.
 

Seufzend arbeitete ich mich mit meinen Krücken zurück in den Flur. Vielleicht schaffte ich es sogar durch die Wohnungstür sobald Marko nur einen Augenblick unachtsam schien.

Auf der einen Seite beglückte mich das Ende meines Krankenhausaufenthalts, doch diese Wohnung – Fahrstuhl hin oder her - vergraulte mich auf eine seltsame Weise.
 

Unter angestrengtem ätzen versuchte ich mich auf den Beinen zu halten und mich im selben Moment meinem Parka zu entledigen, gewiss kein einfaches Unterfangen. Zumindest nicht wenn man die Krücken benötigte um überhaupt auf den Beinen zu bleiben, denn meine aktuelle Muskulatur war lächerlich. „Komm, lass mich dir helfen Noah“ als Marko mir behilflich sein wollte und nach meinem Parka griff, zog ich den Arm zurück und brummte ein leises „Ne, ich schaff das schon. Bin ja nicht behindert“. Eigentlich fiel ich momentan schon mit meinen beiden lästigen Krücken in diese Sparte – mal ganz abgesehen von meinen Problemen beim Laufen und allgemeinen Gestikulieren. Wenigstens blieb mein Sprachzentrum von dem vergangenen Unfall verschont. Die letzten Monate quälten mich schon genug ohne auch noch stotternd und brabbelnd wie ein neugeborenes kommunizieren musste. Mein erster Erfolg war die Abgabe des Rollstuhles, obwohl, selbstständiges Essen und Trinken auch zu meinen liebsten Highlights zählte. Die Krücken empfand ich zwar als lästig und störend, doch anderweitig wäre mir eine Fortbewegung so ziemlich unmöglich.
 

„Tut mir leid…“ Marko wirkte wie ein getretener Hundewelpe und ich rang mit meiner Beharrlichkeit um mich nicht sofort zu entschuldigen. Mit gesenktem Blick streifte Marko sich seine Jacke ab, schlüpfte aus den Schuhen und verschwand mit meiner Reisetasche aus dem Flur. Home Sweet Home –oder so ähnlich. Vor meinem Unfall lebten meine Mutter, Marko, Anna und ich noch in einem kleinen Haus am Stadtrand. Doch bereits kurz nach dem ich mein Bewusstsein zurück erlangte bemerkte ich die Veränderung. Die Veränderung zwischen meiner Mutter und Marko. Sie versuchten sich natürlich zu erklären, redeten sich um Kopf und Kragen, doch sie vergaßen, ich war keine fünf mehr. Ganz im Gegenteil. Ich wusste was eine Trennung bedeutete und das stets beide Parteien daran die Schuld trugen. Ob man es einsehen wollte oder nicht. Um Gottes willen, es war ja bei weitem nicht so als wäre ich seit meinem Unfall zurückgeblieben, die Bedeutung einer Beziehungspause und getrennten Wohnungen war mir nicht sonderlich fremd. Auch wenn es mir an diesem Tag unmöglich erschien das lähmende Gefühl, die Trauer und die Wut darüber zu verbergen. Vielleicht tat ich beiden mit meinem vergangenen Wutanfall sogar Unrecht, denn ich hatte mich nicht in ihr Liebesleben einzumischen.
 

Die Beiden hatten es immerhin auch nicht einfach und während Marko sich nach meinem Unfall vor meiner Mutter zurückzog, vergrub Marianne ihre Sorgen in der Arbeit. Für Marko hatte es die Trennung von meiner Mutter zur Folge, während meine Mutter befördert wurde und nun öfters als geplant in der Weltgeschichte umherflog – zum Leidwesen aller. Nicht dass es sie zu einer schlechten Mutter machte, sie verarbeitete Stress einfach auf eine andere Weise. Nur, dass ich im Gegenteil zu Anna und Marko dieses Verhalten bereits aus der Zeit kannte in der mein Vater starb. Also mein biologischer Vater. Marko war gar kein so schlechter Ersatzvater, auch wenn ich es nicht so durchblicken ließ.
 

„Noah, kommst du. Ich will dir dein Zimmer zeigen, bevor Anna nachhause kommt und dich wieder in Beschlag nimmt“ riss Markos Stimme mich aus meinen Gedanken. Markos brauner Haarschopf erschien in meinem Sichtfeld und sein Blick sagte bereits alles. Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte er mir entgegen und vermutlich stellte er sich in Gedanken die Frage ob ich meine Jacke wirklich jemals allein ausgezogen bekam. Brummend lehnte ich mich gegen die Tür, stellte meine Krücken beiseite und zerrte mir den Parka von den Schultern „Ja einen Moment noch…“.

Mein Stolz verbot mir nicht unbedingt Hilfe entgegenzunehmen, doch nach monatelanger Rehabilitation wollte ich so viel wie möglich alleine tun. Angefangen dabei mich meiner Jacke eigenhändig zu entledigen. Vermutlich verstand Marko nicht wie erniedrigend einige Momente in den vergangenen Wochen für mich waren – woher sollte er auch. Eine Zeitlang schaffte ich es nicht allein auf Toilette, musste von einer völlig mir fremden Person geduscht oder gebadet werden. Ganz zu Beginn konnte ich nicht einmal den Löffel anheben und wurde gefüttert wie ein Kleinkind. Dann gab es Wochen in denen ich unglaubliche Fortschritte machte und wiederum andere Tage die mich in den Wahnsinn trieben, da überhaupt nichts passierte.
 

Mit grimmiger Miene streckte ich mich um den Kleiderhaken zu erreichen – erfolglos. Allerdings hielt mich diese Tatsache nicht davon ab Marko grob anzumachen als er mir zur Hilfe eilen wollte „Ich habe gesagt ich schaffe das alleine man“. Und tatsächlich, es gelang mir den Parka zumindest unten auf die Kommode zu bugsieren. „Das ist ästhetisch…“ erklärte ich dem hochgewachsenen Mann, griff meine Krücken und arbeitete mich an Marko vorbei ins Wohnzimmer.

Ein langgezogenes „Okay“ ertönte und Marko folgte mir ohne Wiederworte ins Wohnzimmer. Wenigstens begann er jetzt keine unsinnige Diskussion über mein Verhalten und „wohin Jacken denn nun wirklich gehören“ – meine Mutter würde es zumindest versuchen.
 

„Also ich wusste nicht wie du dein Zimmer gerne hättest“ begann Marko und tätschelte mir beim Vorbeigehen die Schulter. Trotz größter Anstrengung konnte ich die Perfektion eines genervten Augenaufschlags nicht verhindern. Jetzt einmal im Ernst, als hätte ich die Möglichkeit gehabt während meines komatösen Zustandes meinen Geschmack für die zukünftige Inneneinrichtung zu verändern. Marko wendete sich immer wieder nervös zu mir um „Daher dachte ich darüber nach es deiner Schwester zu überlassen, immerhin sollte sie dich ein ganzes Stück besser kennen als ich“
 

„Moment“ schnaufend blieb ich unter dem Klappern meiner Krücken stehen „Du wolltest ernsthaft einer Zehnjährigen die Zimmereinrichtung eines Sechzehnjährigen überlassen?“. Meinte Marko diese mehr als nur grausame Idee wirklich ernst? Erlitt er während meiner Abwesenheit ebenfalls einen Schlag auf den Kopf? Oder konnte man es einfach unter einem spontanen Einfall von geistiger Umnachtung abhacken?
 

„Also erstens bist du mittlerweile neunzehn und deine Schwester dreizehn“ er wirkte verunsichert „Zweitens habe ich diesen Einfall ja nur in Betracht gezogen um ihn dann doch wieder zu verwerfen und jemand anderes zu fragen“. Mein Blick nahm einen Hauch von Misstrauen an „Und wen, wenn ich fragen darf?“. Bildete ich mir Markos aufkeimende Unsicherheit nur ein?

„Ähm…Jan“ es wurde still, meine Augen haftete an meinem Stiefvater und ich fühlte das entfachte Brodeln in meiner Magengegend. Für ein tiefen entspanntes Zusammenleben, sollte Marko den Namen Jan nicht ganz so häufig in den Mund nehmen.

„Aha. Der also. Wie? Per Webcam“ angestrengt kämpfte ich meinen Tobsuchtsanfall herunter. Viel zu ungerecht wirkte es für mich, sollte ich Marko mit meinen Krücken erschlagen, da ich bei dem Namen „Jan“ kotzen könnte.
 

Zur Erläuterung. Jan war mein erster Freund. Genaugenommen mein erster fester Freund auf naiver sexueller Basis. Ihr wisst schon, die eine Person mit der man so langsam beginnt die unbekannte Welt des „Im Bett räkeln“ zu erforschen. Der Mensch mit dem es nicht nur bei harmlosen Küsschen und ein wenig Streicheln bleibt. Für mich persönlich, der größte Fehler meines Leben! Zumindest wusste ich bereits sehr früh, dass ich Mädchen zwar mochte, aber so wirklich nichts mit ihnen anzufangen wusste – zumindest nicht auf der sexuellen Ebene. Ganz im Gegenteil zu meinen eigenen Artgenossen die jedem Rock sabbernd hinterher watschelten. Nein, ich sabberte eher dem oben erwähnten Jan hinterher. Neu in unserer Klasse und mein Prinz Charming. Schon früh musste ich mir eingestehen: Ich galt als absolut unzurechnungsfähig sobald ich ihm irgendwo begegnete. Doch Fortuna stellte sich eisern auf meine Seite. Denn aufgrund von akuter Dummheit und vielleicht dem einen oder anderen Bier glaubte ich Gott zu sein und erklärte ihm vor allen Anwesenden meine unsterbliche Liebe – singend. Jan nahm meinen grandiosen und dennoch viel zu peinlichen Auftritt allerdings mit einer gewaltigen Portion Humor. Noch bevor ich die Möglichkeit erhielt schreien davon zu rennen, ging Jan vor mir auf die Knie und rief laut: „Ich will!“.
 

Lange Rede, kurzer Sinn. Von diesem Tage an zählten wir als das bekannteste homosexuelle Paar an der Schule. Tja, bis zu meinem Unfall. Als es soweit war mich nicht mehr für meine Existenz zu schämen fragte ich meine Schwester nach Jan. Ich hätte einfach nicht fragen sollen. Er hielt fast das komplette restliche Schuljahr aus, kam mich scheinbar regelmäßig besuchen und erkundigte sich stets wie es mir ging. Bis zu seinem Schulabschluss. Meine Schwester hatte es nur durch Zufall erfahren. Jan war für sein Abitur weggezogen – ohne ein Wort zu sagen.

Vielleicht war ich auch einfach zu egoistisch und deshalb wütend auf ihn, doch ich hätte zumindest einen Abschiedsbrief oder eine E-Mail erwartet, rein für den Fall meines unerwarteten Erwachens. Was ja wirklich passierte. Für mich gab es keine jahrelange Trennung, ganz im Gegenteil. Meine Gefühle für Jan bekamen nicht die Zeit sich von ihm zu entwöhnen. Ich wachte auf um zu erfahren, dass mein Freund sich von mir trennte– ohne ein Wort. Er war ein Scheißkerl oder ich einfach nur ein Egoist. Wer konnte das schon so genau sagen.
 

„Schau dir das Zimmer erst einmal an bevor du herummeckerst“ versuchte Marko mich aus der miesen Stimmung herauszuholen und schnaufend gab ich nach „Okay, hinter welcher Tür versteckt sich mein neues Heiligtum?“. Marko deutete auf die Tür gleich rechts „Aber warte kurz“. Er drückte sich an mir vorbei und blieb mit der Hand auf der Klinke stehen. Sein Gesicht zierte ein breites Lächeln, beinahe als wäre er ein kleiner Junge welcher jeden Moment seine Weihnachtsgeschenke bekam.

„Okay, okay. Stelle dich hier hin und mache deine Augen zu. Los, schau nicht so. Mach schon“ forderte mein Stiefvater mich auf. Mit grimmigem Gesichtsausdruck kam ich der Bitte nach. Wenigstens verlangte von mir nicht mit geschlossenen Augen in mein Zimmer zu hinken.

„Sind sie zu“ ein Windhauch zeigte mir, dass Marko wild vor meinem Gesicht herumwedelte. „Ja-ha. Jetzt mach endlich man“.

„Schon gut“ ein Klicken ertönte, gefolgt von dem leisen Knarren der Tür „So jetzt kannst du aufmachen“.

Wie befohlen öffnete ich meine Augen. Vor mir erstreckte sich ein scheinbar völlig normales Zimmer, definitiv kein Grund solch ein riesigen Tamtam zu veranstalten.

„Nett“ brummte ich und arbeitete mich mit meinen Rücken in das Zimmer vor. Es wirkte geräumig, besaß zwei große Fenster und scheinbar einen kleinen Balkon. Ein großer weißer Kleiderschrank nahm beinahe die komplette rechte Wand ein, daneben hatte man ein Bücherregal hineingequetscht. Ich erkannte sogar einige der Bücher wieder. Die Wand blieb Weiß, doch die Vorhänge, die Bettwäsche und der runde Teppich, welcher seinen Platz auf dem hellen Laminat fand, waren tief blau.
 

„Ja, wirklich nett“ Enttäuschung machte sich auf Markos Gesicht breit „Nein Marko. Ich meine es ernst. Es sieht wirklich gut aus, das Blau gefällt mir besonders“. Und schon gab es in der Mimik meines Vaters ein Wechselbad der Gefühle. Ziel erreicht, der alte Herr wirkte glücklich.
 

Als meine Augen zum Schreibtisch wanderten, geriet ich ins Trudeln und näherte mich dem hölzernen Ungetüm wackelig „Das sind nicht meine alten Schuldbücher“. Mein Blick glitt zurück zu Marko. Er stand Schulterzuckend an der Tür und seine Freude schien just in diesem Augenblick zu verpuffen „Na ja, deine Mutter und ich haben darüber nachgedacht ob du deinen Schulabschluss nicht an einer Abendschule nachholen magst. Aber das lass uns lieber ganz in Ruhe besprechen. Nicht jetzt zwischen Tür und Angel“.
 

„Aha. Und da es noch keine entschiedene Sache ist habt ihr auch bereits die passenden Schulbücher hier zu liegen?“ ätzte ich in Markos Richtung, wendete mein Gesicht schnaufend ab. Scheiß drauf ob Marko happy war oder nicht.
 

„Noah bitte. Nicht jetzt. Lass es uns besprechen, wenn Marianne morgen kommt“
 

„Ein Scheiß werde ich mit euch besprechen. Vielleicht habe ich das zu entscheiden und nicht ihr!“
 

„Noah...“
 

„Nein. Nicht Noah. Darf ich dich daran erinnern, ich bin jetzt neunzehn. Volljährig. Ihr könnt mir gar nichts!“ auf der einen Seite wusste ich wie unnötig mein Wutausbruch war, auf der anderen Seite schien ich ihn kaum zurückhalten zu können.
 

„Ja vielleicht. Nur benimmst du dich dafür überhaupt nicht erwachsen, sondern eher wie ein kleines Kind“ damit verschwand er aus meinem neuen Zimmer, allerdings nicht ohne die Tür einmal laut ins Schloss fallen zu lassen – ich zuckte erschrocken zusammen. Scheinbar konnten auch Erwachsene mit Türen knallen. Wer benahm sich jetzt bitteschön wie ein Kind?
 

Fluchend ließ ich mich auf mein neues Bett fallen, schmiss die Krücken von mir. Meine Beine schmerzten, sie waren es nicht gewohnt an so einem langen Stück in Gebrauch zu sein. Stöhnend verzog ich das Gesicht uns massierte meine Oberschenkel durch den festen Stoff der Jeans. Ich hasste mein Leben. Selbst die Koordination meiner Arme ließ mich hin und wieder noch im Stich. Ich konnte nicht verstehen wie die Beiden jetzt bereits darüber nachdenken konnten mich zurück auf eine Schule zu schicken, wenn ich körperlich noch nicht einmal ansatzweise Alltagstauglich war. Zumindest in meinen Augen. Ich wollte mich mit den Krücken nicht durch die Öffentlichkeit kämpfen, oder in meiner neuen Klasse der Krüppel sein.
 

Mühsam robbte ich mich in die Mitte des Bettes und legte mich auf den Rücken. Im Normalfall – soweit wie ich mich erinnern konnte – habe ich eigentlich stets sehr gerne auf der Seite gelegen, eingerollt wenn möglich. Nun konnte ich es nicht mehr. Die Wahrscheinlichkeit alleine aus der Position wieder herauszukommen war äußerst gering.
 

Also noch einmal. Getrennte Eltern, kein Freund mehr, eine Schwester mitten in der Pubertät und Krücken. Home Sweet Home. Hätten sie die Medikamente doch bloß nie abgesetzt. Ich fand mein Leben bereits jetzt zum Erbrechen toll.
 

~
 

Ich erwachte durch das leise dudeln des Radios und durch etwas Schweres was scheinbar daran arbeitete mir meinen Arm abzuschnüren. Ganz zu schweigen von den fremden Haaren welche unablässig in meinem Gesicht herumkritzelten „Anna“ brummte ich und wackelte mit meinem Arm soweit wie es mir möglich war.
 

„Gibt Ruhe du bissiger Yorkshire. Wenn du mit mir nicht kuscheln möchtest muss ich dich halt dazu zwingen sobald zu wehrlos bist. Außerdem sahst du so süß aus als du geschlafen hast“ murmelte meine kleine Schwester und klang äußerst verschlafen. Nannte man das in ihrem Fall bereits Bruder-Komplex?
 

„Du bist schwer Anna…“ versuchte ich es erneut und schob sie mit meiner freien Hand ein Stück weg. Worauf hin sie mir ihre Hand ins Gesicht drückte „Gib Ruhe hab ich gesagt“.
 

„Du bist unmöglich Anna. Lass mich weiterschlafen“
 

„Du meinst wohl eher: In Ruhe weiter schmollen. Daddy hat mir von eurem Streit erzählt“
 

„Wir hatten keinen Streit, nur eine Meinungsverschiedenheit“
 

„So nennt man es also, wenn man seinen Daddy an den Abgrund der Verzweiflung treibt. Hättest du mir mal früher sagen müssen“ Anna richtete sich ein wenig auf, stützte sich mit ihren Armen auf meinem Brustkorb ab und starrte nachdenklich zu mir hinab „Seit du wieder wach bist erinnerst du mich stark an einen tollwütigen Hund. Du warst doch früher nie so explosiv“.
 

Vermutlich hatte Anna bei ihrer Feststellung sogar Recht. So streitlustig war ich eigentlich noch nie. Meine jüngere Schwester seufzte theatralisch „Du bist so eine Diva geworden Noah“.

Noch bevor ich meinen Mund öffnen konnte um eine lautstarke Beschwerde von mir zu geben wurde ich von einer mir bekannten Stimme unterbrochen:
 

„Und hier sind wir wieder bei eurem Gute Laune Radio. Es ist Sechzehn Uhr, das Wetter ist traumhaft und wird die nächsten Tage mit frühlingshaften Achtzehngrad weitergehen. Auf Regen muss niemand hoffen, lieber sollten wir die freie Zeit dafür nutzen im aufkeimenden Sonnenlicht zu baden“.
 

Wie bereits unzählige Male kämpfte sich ein Brummen aus meiner Kehle „Anna. Mach den Mist aus. Ich kann den Idioten nicht ertragen“. Felix, der Muntermacher im Gute Laune Radio. Nur leider löste er nicht unbedingt gute Laune bei mir aus. Ganz im Gegenteil.
 

„In der nächsten Stunde werden wir euch mit neuen und auch alten Tophits versorgen. Wem ein Lied fehlt, einfach anrufen und euren Wunschsong verlangen. Ihr fordert, wir liefern. Warm, heiß und womöglich auch romantisch“.
 

Anna kicherte „Ich finde ihn toll. Außerdem sieht er wirklich gut aus“. Ihre blauen Augen starrten mir belustigt entgegen und ich zog die Stirn kraus „Er sieht gut aus? Wie willst du das beurteilen, der Typ ist doppelt so alt wie du“.
 

„Aber nun zu einem anderen Thema meine werten Zuhörer und Zuhörerinnen“ begann Felix mit theatralisch gesenkter Stimme „Wie ihr bereits wisst habe ich mich unsterblich verliebt“. Ich konnte nicht anders als die Augen zu verdrehen. Musste man sein Privatleben in der Öffentlichkeit so breittreten? Erneut ertönte ein kindisches Kichern meiner jüngeren Schwester. War sie zwölf oder doch eher zweieinhalb?
 

„Vor langer Zeit verlor ich meinen Traummann aus den Augen“ so typisch, nicht nur sein Liebesleben der ganzen Welt offenbaren. Nein, er musste scheinbar sein homosexuelles Liebesleben der gesamten Welt eröffnen.

„Mein Dornröschen ist wie ihr wisst aus dem Krankenhaus entlassen worden, doch gewisse Umstände zwingen uns voneinander fernzubleiben. Im Krankenhaus konnte ich ihn wenigstens besuchen und in seiner Nähe sein. Doch jetzt weiß er nicht einmal mehr von meiner Existenz“. Felix seufzte herzzerreißend, doch ich konnte nur spottend Schnauben. So ein Trottel.
 

„Aber ich werde nicht aufgeben. Ich werde warten bis ich ihn wiederfinde. Denn du begegnest in deinem Leben nur einmal deinem Prinz Charming und meiner bist nun einmal du Noah Bram“.
 

Wäre ich körperlich dazu in der Lage gewesen, dann wäre ich vermutlich entsetzt in eine kerzengerade Sitzposition aufgeschreckt. Doch anstatt diesem Drang nachzugeben starrte ich mit weit aufgerissenen Augen meine Schwester an. „Der ist ja verdammt mutig“ ihr Gesicht zierte ein breites Grinsen. Sie wusste davon. Sie wusste, dass mich scheinbar irgendein geisteskranker Irrer im Schlaf beobachtet hatte und meinen Namen gepaart mit seiner naiven Vorstellung von der großen Liebe im Radio preisgab?
 

„Er war so süß und total oft da um dich zu besuchen. Da deine Freunde immerhin nicht sonderlich häufig zu Besuch kamen, dachte ich es wäre doch eigentlich absolut in Ordnung“ erklärte mir Anna freudestrahlend und hätte sie ihren Kopf nicht immer noch auf meinem Arm würde ich just in diesem Moment versuchen sie zu erdrosseln – mit meinen eigenen Händen.
 

Also hatte ich nicht nur mit meiner verflossenen Liebe, meinem nicht vorhandenen Freundeskreis, der Trennung meiner Eltern und einer gestörten minderjährigen Schwester zu kämpfen. Nein, irgendein mir unbekannter Irrer schickte mir durchs Radio Liebeserklärungen. Sprich unsere ganze Region kannte diesen Sender und nun auch meinen Namen.

Nun gab es nur noch eine Möglichkeit. Ich würde dieses Zimmer niemals mehr verlassen. Aber gut, wenn meine Schwester nicht die Freundlichkeit besaß mir aufzuhelfen würde ich dieses Zimmer womöglich wirklich niemals mehr verlassen.

Kapitel DREI
 

…wurde zur Berühmtheit – eher unfreiwillig!
 


 


 

„Wenn ihr mich fragt hat der Vogel sie nicht mehr alle“ brummte ich und stocherte mit leicht angewiderter Miene in meinen Spagetti herum. Nicht das ich Spagetti nicht mochte, doch seit der Lernphase des Essens standen feste Nahrung und ich allgemein auf Kriegsfuß. Man konnte es quasi mit der unsinnigen Angst vergleichen etwas zu schlucken. Oh Gott, das klang auf so unglaublich vielen Ebenen falsch…

„Ich finde es unheimlich romantisch“ warf meine Schwester ein, doch Marko schüttelte nur den Kopf „Noah hat schon irgendwo recht. Dieser Felix nimmt sich gewaltig viel raus, aber er hat Noahs neuen kratzbürstigen Charakter noch nicht kennengelernt – da erscheint es mir falsch von Liebe zu reden“.
 

„Na danke aber auch“ so eine männliche Zicke war ich sicherlich nicht. Obwohl ich meine derzeitigen Stimmungsschwankungen selbst kaum ertrug. Wenn ein Arzt bei mir nun Schizophrenie diagnostiziert, würde ich es ihm ohne weites abkaufen. Zumindest unter den momentanen Umständen.
 

„Viel schlimmer finde ich es allerdings, dass ihr Beide auch gar nichts dagegen unternommen habt. Ihr habt dabei zugesehen wie ein wildfremder Typ in eurer Abwesenheit in meinem Zimmer ein und aus ging. Was wenn es ein Psychopath gewesen wäre? Vergewaltigung? Mord?“ es schüttelte mich am ganzen Leib. Schon allein die Vorstellung genügte. Was wenn er mich berührte während ich schlief?

„Du bist ein ziemlicher Schwarzseher geworden Noah“ Marko deutete mit seiner Gabel auf mein Essen um mich aufzufordern auch endlich mit dem Verzehr seiner Kreation zu beginnen.

„Außerdem ist Felix wirklich super nett“ mischte sich meine Schwester erneut ein und schien den Mann aus dem Radio geradezu anzuschmachten. Verdammt, sie war erst zwölf! Entschuldigung, dreizehn.

„Schön für dich, dann heirate ihn doch wenn du alt genug dafür bist. Außerdem kann das doch auch nicht rechtens sein!“ zickte ich über den Tisch, doch mein abwehrendes Verhalten löste bei meiner pubertierenden Schwester nur ein Schmunzeln aus „Ach du bist wirklich ein süßer großer Bruder Noah“.

„Zudem deine Mutter ja auch mal etwas hätte sagen können“ verteidigte sich Marko, auch wenn mir sein belustigter Gesichtsausdruck nicht entging. Wenigstens konnte er sich köstlich amüsieren. Marko geriet ja auch nicht in die Lage seinen Namen nie wieder in der Öffentlichkeit erwähnen zu können.
 

„Mal ganz abgesehen davon, dass Felix Rosenthal gar nicht so unbedingt fremd ist“ erneut gerieten meine Gedanken ins Strudeln und das leichte stetige Pochen im Bereich meiner Schläfe wurde drängender „Wie bitte?“. Und dann geschah etwas Ungewöhnliches. Für einen Bruchteil der folgenden Sekunde wurde es ungewöhnlich still am Essenstisch. Beinahe wäre es mir sogar entgangen wie unauffällig Anna und Marko rasche Blicke austauschten. Was ging hier gerade vor? Was bekam ich nicht mit? Und zum Teufel noch einmal, was verschwiegen die Beiden mir?

Marko räusperte sich leise „Na Felix ist nicht unbedingt fremd meinte ich“. Doch seine Worte ließen mich weiterhin im Dunkeln tappen. „Aha. Ich kenne ihn also?“ hakte ich ruhig nach und zog voller Misstrauen eine Augenbraue in die Höhe. Nun war auch Anna an der Reihe auffällig kräftig zu nicken „Seine Mama hat geheiratet und eigentlich heißt Felix mit Familiennamen Lemke“. Meinem Gesicht konnte man deutlich entnehmen, dass ich kein Stück schlauer wurde.

„Ich kenn keinen Lemke“ endlich fand eine Gabel voller Spagetti ihren Weg in meinen Mund.

„Doch, doch. Der Junge dessen Mutter das Café Goldregen gehört. In dem hat Papa uns doch immer nach der Schule Eis gekauft“. Nein, bei mir klingelte nichts. Mein Blick wanderte von Marko zu Anna bis hin zu meinem Teller, welchen ich nun doch von mir schob. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass mir meine Familie etwas verschwieg.

„Nein. Ich kenne weder einen Felix Rosenthal noch einen Felix Lemke und ich werde jetzt meine Volljährigkeit dafür nutzen um herauszufinden ob er meinen Namen überhaupt vollständig im Radio nennen darf. Ich kann mir kaum vorstellen, dass sowas erlaubt sein soll“ niemand sollte sich momentan über meine Verärgerung wundern. Irgendein Typ den ich nicht kannte veröffentlichte meinen vollständigen Namen im Radio und nur ich sollte darunter zu leiden haben? Sicherlich nicht.
 

Brummend griff ich nach meinen Krücken und stand auf. „Was hast du jetzt vor Noah?“ fragte Marko unsicher und ich konnte ein spottendes Schnauben nicht verhindern „Ich werde zu diesem Radiosender fahren und verlangen, dass man diesen Spinner feuert. Oder sie verklagen!“
 

„Und von welcher Rechtsschutzversicherung willst du das tun?“ nun war ich komplett verwirrt „Rechtsschutz was?“. Marko schmunzelte „Na ja, entweder stellst du einen Antrag auf Rechtsbeistand bei der zuständigen Behörde oder du hast eine Rechtsschutzversicherung. Andersherum musst du die Anwaltskosten selbst tragen. Ganz zu schweigen von den Kosten die auf dich zukommen falls du mit deiner geplanten Klage nicht durchkommst“.
 

Erwachsen sein ist scheinbar ziemlich scheiße…“Ich werde da trotzdem hinfahren“. Mein Trotzkopf wollte nicht nachgeben. „Um die Uhrzeit ist Felix vermutlich gar nicht mehr im Radiosender“ ich folgte Markos Hand, welche kurz auf die Uhr an der Wand deutete – fast neun Uhr abends. Mist. „Zudem…von welchem Geld willst du das Fahrticket bezahlen?“. Geld. Geld. Geld. Alles schien sich mit einer Volljährigkeit nur um Geld zu drehen.
 

„So ein blödes Fahrticket wirst du mir ja wohl zahlen können. Ich bin dein Kind. Bekomme ich jetzt plötzlich kein Taschengeld mehr?“ ich klang vermutlich etwas pampig. Markos schmunzeln entwickelte sich zu einem Grinsen als er sich nach hinten lehnte und die Arme vor der Brust verschränkte „Ich dachte du bist jetzt volljährig. Wie sieht es damit aus, dass du deine Fahrtickets selbst zahlst“.

„Und von welchem Geld du Schlaumeier“ Anna schien unser Gespräch still und gespannt zu verfolgen.

„Na ja, solltest du eine Schule besuchen würde ich dich natürlich finanziell unterstützen und dich morgen sogar an dem Radio absetzten. Doch anderweitig musst du dir wohl ziemlich schnell einen Job suchen“.

Es wurde still in der Küche. Ich spürte wie sich mein Kiefer anspannte und mir eine schreckliche Tatsache bewusst wurde. Dieses Gespräch existierte nur teilweise um mich auf den Arm zu nehmen. Unter anderem war es auch ein versteckter Wink mit dem Zaunpfahl. Oder wohl eher mit dem gesamten Zaun.

„Das ist Erpressung“ zischte ich Marko entgegen, welcher nur leise lachend den Kopf schief legte „Nein lieber Noah. Ich bin Geschäftsmann. Wir erpressen nicht, wir verhandeln“.

„Bekomme ich dann mehr wenn ihr Noah kein Taschengeld mehr zahlt?“ ertönte die leise Stimme aus dem Hintergrund und meine Schwester erntete einen giftigen Blick meinerseits „Nein, aber ich kann dich gerne in den Keller sperren, wenn du mir weiterhin dermaßen in den Rücken fällst. Wie gefällt dir das?“.
 

„Wenn du jemanden versuchst zu bedrohen, dann bist du wirklich zuckersüß Noah“ manchmal würde ich meine kleine Schwester gerne erwürgen. Denn es lag nicht an mir. Es lag an ihr. Seitdem ich wieder hier wohnte, spürte ich erst die Auswirkungen der weiblichen Pubertät. Es war ein Grauen.

„Auseinander ihr beiden Oberzicken“ Marko stand auf, griff nach den Tellern und begann mit dem Abräumen, seinen strengen Blick auf mein kaum angerührtes Essen entging mir nicht. Er machte sich einfach zu viele Sorgen. Hätte ich mit den Händen nicht meine Krücken führen müssen, dann hätte ich meine Arme bestimmt bockig vor meiner Brust verschränkt „Ich bin keine Zicke. Ich bin ein Mann“. Anna grinste „Dann bist du halt ein Ziegenbock“ – „Anna. Stelle dir jetzt einfach vor, dass ich dir meinen Mittelfinger ins Gesicht halte“. Von Marko kam ein schwaches Räuspern. „Was soll’s“ ich schnalzte verärgert mit der Zunge und machte mich daran die Küche zu verlassen „Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen…“.
 

~
 

Neugierig machte ich mich daran meinen neuen Laptop auszuprobieren. Offenbar sollte es doch Vorteile haben, ein ehemaliger Komapatient zu sein. Marko und meine Mutter schienen äußerst spendabel. Ein neuer Laptop, ein hübsches Handy mit verflucht großem Display und sogar richtige Chucks standen in meinem Zimmer herum. Nebenbei tat sich die Frage auf wo zur Hölle mein altes Handy abgeblieben war.
 

Was würde ich darum geben es mir endlich wieder irgendwo im Schneidersitz bequem zu machen, doch stattdessen saß ich in einer ziemlich unbequemen Pose an das Kopfende meines Bettes gelehnt und malträtierte die Suchmaschine. Die Ergebnisse auf meine Suchanfrage überschlugen sich nahezu. Die Suchmaschine zeigte mir endlos viele Seiten zu dem Namen Felix Rosenthal an – gefolgt von dem Bild eines breit grinsenden Sonnyboys. Es schüttelte mich. Schon vor meinem Unfall stand ich nicht auf solche Dauergrinser. Jan besaß zwar eine ordentliche Portion grandiosen Humor, doch genauso liebte ich seine stets grimmige Art.
 

„Hör bloß auf mich so anzugrinsen. Du Spast…“ die gesamte Situation machte mich unfassbar wütend. Im Internet standen nur Dinge geschrieben, welche ich bereits von meiner Schwester wusste. Fünfundzwanzig Jahre alt, Frauenschwarm, arbeitet fürs Gute Laune Radio und ist schwul. Ich meine so richtig schwul. Er mochte lange Spaziergänge, Shoppingtouren, hätte gerne mindestens ein Kind, einem Essen in Kerzenschein schien er auch nicht abgeneigt und außerdem mochte er Hundewelpen. Okay, jeder mochte Hundewelpen, doch die restlichen Vorlieben fand man dann doch eher bei dem anderen Geschlecht. Außerdem fuhr er einen quietschgelben Opel Adam. Was lief nur falsch bei dem Typen. Was machte seine Mutter in seiner Erziehung für einen entscheidenden Fehler? Woher bekam ich die Zeitkapsel um diesen Fehler zu beheben und meine Zukunft zu retten?
 

Schnaufend öffnete ich sein Facebook Profil und klickte wahllos durch seine Bildergalerie. Auf jedem gottverdammten Bild grinste er wie ein Honigkuchenpferd in die Kamera – egal ob selbst geschossen oder von einem Zweiten. Mir kam es ganz labbrig die Galle hoch. Doch vielleicht lag es nicht unbedingt an seinem sonnigen Gemüt – vielleicht viel mehr daran, dass ich mich darin wiedererkannte. Zumindest in der Zeit vor meinem Unfall. Es fiel mir um einiges leichter auf alles und jeden wütend zu sein, anstatt einfach mal zu lächeln. Die Ärzte meinten es wäre normal, doch es belastete mich furchtbar. Ich wollte lachen und glücklich sein, dankbar dafür überlebt zu haben. Aber es gelang mir nicht, dafür drängten sich des Öfteren unangenehme Gedanken auf welche mich scheinbar mit größter Mühe vom Gegenteil überzeugten wollten.
 

Seufzend wollte ich den Laptop zu klappen als ein leiser Ping ertönte. Irritiert schob ich den Laptop wieder auf – eine Nachricht.
 

»Es tut mir schrecklich leid. Das war absolut dumm von mir. Irgendwie sind heute Nachmittag die Pferde mit mir durchgegangen. Deine Mutter rief im Radiosender an und hat meinen Vorgesetzten geradezu durchs Telefon gezogen. Mit Klage gedroht und mein Chef ist daraufhin explodiert – ich glaube das war es erstmal mit meiner Gehaltserhöhung. Falls es dich beruhigt, ich wurde dafür beurlaubt. Na ja, vermutlich sollte ich glücklich sein meinen Job im Radiosender irgendwann noch einmal ausüben zu dürfen. Viele Grüße Felix Rosenthal. P.S. hoffentlich liest du das hier überhaupt…«
 

„Jetzt muss ich dich wenigstens nicht mehr im Radio ertragen“ damit loggte ich mich aus uns fuhr den Laptop herunter. Ein sachtes Klopfen an meiner Zimmertür ließ mich aufschauen. Marko steckte seinen Kopf hinein „Und beruhigt?“.
 

„Mama hat im Radiosender angerufen und die Sache geregelt. Zumindest was Rosenthals gerechte Strafe betrifft. Es ändert nur immer noch nichts an der Tatsache, dass alle die heute den Sender gehört haben nun meinen Namen kennen. Glaubst du es gibt die Möglichkeit eine Namensänderung zu beantragen? Oder vielleicht auch ins Zeugenschutzprogramm eingegliedert zu werden“ Markos lachen drang durch den Raum als er die Tür aufstieß und sich meinem Bett näherte um am Rand einen Platz einzunehmen. „Mh. Ich denke wohl eher nicht. Zumindest nicht wegen solch einem Vorfall“. Fürsorglich tätschelte Marko mir mein Schienbein „Aber die Menschen neigen dazu Dinge rasch zu vergessen. Vielleicht nimmt es auch niemand wirklich für voll und noch unwahrscheinlicher ist der Fall, dass sich wirklich alle den genannten Namen merken“.

„Deine Worte in Gottes Ohren Marko“ ich schien dahingehend um einiges pessimistischer als Annas Vater. Er zuckte mit den Schultern „Aber lass es für heute einfach ruhen. Es ist spät und ein wenig Schlaf tut dir gut. Außerdem wartete Anna nur darauf dich zu fragen ob sie bei dir schlafen kann. Aber pscht“ er legte sich den Zeigefinger auf die Lippen „Die Information hast du nicht von mir“.
 

Ein Schmunzeln meinerseits keimte auf „Schon okay. Kannst du mir etwas zum Schlafen aus dem Schrank holen?“. Eigentlich würde ich es selbst tun, doch in meinen Beinen spürte ich deutlich die Anstrengung des Tages. „Selbstverständlich“ ein weiteres Mal klopfte mir Marko liebevoll auf mein Bein und stand auf um nur wenige Sekunden später in meinem Kleiderschrank herumzukramen. Mit einem weiten grauen Shirt und einer dünnen Jogginghose kam er zurück „Soll ich dir helfen?“. Rasch schüttelte ich meinen Kopf „Ne, das schaffe ich schon alleine…“. Ich wollte nicht mehr von anderen wie eine Puppe an und ausgezogen werden.
 

„Schlaf schön Noah“ Marko begab sich zur Tür, wendete sich noch einmal zu mir herum und lächelte schon fast traurig in meine Richtung „Ich bin unglaublich glücklich, dass du wieder zuhause bist mein Großer“. Mein Herz zog sich zusammen und dennoch verspürte ich tiefe Erleichterung „Ich bin auch froh noch hier sein zu können“. Er drehte sich um, wollte gerade die Tür hinter sich zuziehen als ich noch einmal meinen Mut zusammen nahm „Marko?“ irritiert trafen mich seine Brauen Augen „Ich hab dich lieb“. Und nun wurde das traurige Lächeln zu einem weichen „Ich dich auch Noah“.
 

~
 

Doch der Albtraum brach nicht ab. Kaum schaffte ich es am nächsten Morgen mein neues Handy einzurichten traf mich der nächste Schock. Kaum hatte ich mich auf der Social Media Plattform angemeldet wurde mein Messenger mit abstrusen Nachrichten überfüllt. Als allererstes fragten einige freundlich ob ich denn der junge Mann aus dem Radio wäre, einige anderen beschimpften mich als eklige Schwuchtel, wiederum gänzlich andere drückten mir und Rosenthal die Daumen. Um Gottes willen, drehten die alle am Rad?
 

„Ist doch halb so wild“ äußerte sich meine Schwester zu der momentanen Situation „Ist doch cool, jetzt bist du so etwas wie eine Berühmtheit“
 

„Ja, aber ich möchte vielleicht keine ‚Berühmtheit‘ für irgendwelchen unnötigen Mist sein“ es reichte schon, dass Anna mir heute Morgen erzählte wie häufig man über den Jungen berichtete der vor ein Auto lief – zumindest damals. Erstens, nein danke. Zweitens, ich bin nicht vor dieses Auto gelaufen, man hat mich knallhart überfahren. Ich flog mehrere Meter durch die Luft, bis ich auf der Straße aufkam und ins Koma fiel – zumindest wenn man der Presse Glauben schenken konnte. Mir gefiel solch ein unnötiger Presserummel überhaupt nicht. Besonders da es allgemein kein schönes Gefühl auslöste von seinem eigenen Unfall in irgendeinem Schmierblatt zu lesen.
 

Anna zuckte mit den Schultern und erklärte das laufende Thema damit für beendet. Allerdings nur um sogleich ein neues an die Oberfläche zu drücken „Ach und übrigens, Leon hat mir geschrieben. Er fragte wie es dir geht und ob ich nicht herausfinden könnte wie interessiert du an einem möglichen Treffen wärst“
 

„Leon?“ ich zog die Stirn kraus „Als ich im Krankenhaus lag, wann hörten seine Besuche bei mir auf?“
 

Meine Schwester schien mit ihrer Antwort zu zögern „Nach dem Schulabschluss. Also so ungefähr nach einem Jahr? Warum?“
 

„Dann kannst du ihm ausrichten: Kein Interesse“ entschied ich strickt und wühlte mich weiter durch die Nachrichten – eine penetranter als die andere. Fragte da einer wirklich nach dem Hochzeitstermin? „Och Noah“ protestierte meine jüngere Schwester „Leon und du, ihr wart vor dem Unfall doch beste Freunde“, ich blockte ihren Versuch mich umzustimmen mit einem grimmigen Blick ab „Ist jetzt vor dem Unfall? Nein, jetzt gerade ist ‚musst du nicht langsam zur Schule‘“. Meine Schwester schien weniger begeistert als sie vom Frühstückstisch aufstand und missmutig die Küche verließ „Du solltest ihm echt eine Chance geben!“ – „Und du solltest echt in die Schule gehen Anna“. Ich wollte mit meiner jüngeren Schwester nicht über richtig oder falsch debattieren. Nur sah ich keinen Grund darin mich mit Menschen zu treffen die in schweren Stunden für mich ebenfalls keine Zeit besaßen. Wo wir wieder beim Thema waren: Wer sollte hier wohl der wahre Egoist sein.
 

Fluchend ließ ich mein Handy unsanft auf den Tisch fallen und lehnte mich zurück. Ich wollte niemanden sehen. Nicht Leon und auch nicht Jan. Genauso wenig Linda, Pelle oder Max. Niemanden. Mein alter Freundeskreis existierte nicht mehr und für mich erst Recht nicht. Als ich im Krankenhaus lag – wach - schaffte es niemand zu mir. Jetzt wo ich zuhause war meldeten sie sich? Mit frustrierter Miene blickte ich von meinen geschwächten Beinen hin zu meiner zitternden Hand. Vermutlich würden meine alten Freunde so oder so die Flucht ergreifen, wenn Sie begriffen das Party machen für mich keine Option war. Zumindest nicht in den nächsten Monaten. Doch auch ihr Mitleid wollte ich nicht. Es gab bereits zu viele Menschen die mich stets mit diesem ganz bestimmten Blick bedachten. Ich benötigte nicht noch mehr von dieser Sorte.
 

Die Übungen in der Rehaklinik verliefen wie üblich nur mit mäßigem Erfolg. Eine folgende Frustration schien unausweichlich. Natürlich wollte auch ich irgendwann an einem Punkt ankommen mich ohne die Krücken fortbewegen zu können, doch momentan schien dieses Ergebnis in ungreifbarer Nähe. Man versicherte mir regelmäßig, dass meine Beine nur wieder eine anständige Muskulatur aufbauen müssten, doch wie lange sollte es denn noch dauern. Die Tatsache dass ich ohne Krücken bereits stehen konnte munterte mich auch nicht wirklich auf – dieser Fortschritt erschien mir einfach zu winzig.

„Aber es läuft gut und wenn du weitermachst wirst du sicher bereits in den nächsten Monaten die Krücken in den Keller räumen können“ startete Kelly einen Aufmunterungsversuch als sie mich vermutlich wie ein Häufchen Elend auf dem Gang sitzen sah.
 

Kelly war eine hübsche rothaarige Frau Ende dreißig. Sie hatte zwei bezaubernde Kinder und wir lernten uns vor einigen Monaten in der Rehaklinik kennen. Sie war im Gegensatz zu mir an den Rollstuhl gefesselt und wenn man den Ärzten Glauben schenkte sollte sich dieser Umstand auch niemals ändern. Doch Kelly gab nicht auf und das bewunderte ich an ihr.

„Das sagst du so einfach“ antwortete ich seufzend und hob den Kopf. Kellys Gesicht zierte ein breites Grinsen, selbstsicher und voller Zuversicht. Diese Frau war ein richtiges Energiebündel „Willst du mir ein wenig von deiner positiven Einstellung abgeben?“
 

Kelly zuckte mit den Schultern „Ach weißt du, es ist nicht immer zum Vorteil in allem etwas Gutes zu sehen“. Das stimmt wohl. Erst vor einigen Wochen hatte mir Kelly von ihrem Unfall erzählt – obwohl Unfall hier wohl das falsche Wort war. In einem Streit zwischen ihr und ihrem Mann ging es scheinbar heftig zur Sache. Nicht nur das er sie vor den Augen ihrer Kinder halbtot prügelte, am Ende stieß er sie aus dem Fenster im vierten Stock. Sie erzählte ihm wäre bereits hin und wieder die Hand ausgerutscht, doch es traf nie die Kinder und sie tat es als aus Versehen ab. In meinen Augen war er ein Mistkerl. Man schlug keine Frauen, besonders nicht die eigene. Schon körperlich wirkte so was auf mich absolut unfair. Doch in der besagten Nacht drehte ihr Mann komplett durch, eigentlich wegen einer Kleinigkeit meinte Kelly. Ihre große Tochter allerdings rettete ihr vermutlich das Leben. Als ihr Vater anfing Kelly durch die Wohnung zu treten packte sie ihren kleinen Bruder und das Handy ihrer Mutter. Sie schloss sich und ihren Bruder im Badezimmer ein und rief die Polizei. Ein Grauen wenn man sich vorstellte, dass die Kleine erst zehn war. Kelly überlebte diese Nacht nur, da der Rettungswagen bereits da war als ihr Mann sie aus dem Fenster stieß. Sie wurde sofort ins Krankenhaus gefahren und über Stunden operiert, während die Polizei ihren Mann wegen versuchten Mordes festnahm. Es glich einem Wunder, dass Kelly den Sturz überlebte.
 

„Schau nicht so. Mir geht es gut und für dich kommt auch irgendwann der Moment an dem es dir besser gehen wird Noah“ meine Antwort bestand aus einem schwachen Nicken. Vermutlich würde Kelly Recht behalten.

„Frau Petrowski?“ einige Meter von uns entfernt öffnete sich die Tür zu einem Behandlungszimmer „Kommen Sie?“. Kelly winkte dem Arzt zu „Ja. Einen Moment noch“. „Also Noah. Lass den Kopf nicht hängen. Aufgeben sollte niemals eine Option sein! So, jetzt muss ich aber los. Mach dir noch einen schönen Tag Kleiner“ ich beugte mich vor um ihren ausgestreckten Armen entgegenzukommen „Du Dir auch Kelly“. Die rothaarige Frau setzte ihren Rollstuhl in Bewegung und machte sich auf den Weg ins Ärztezimmer, als sie noch einmal stoppte. Sie drehte den Rollstuhl ein Stück in meine Richtung und strahlte mich verschmitzt an „Ach ja und dir viel Glück“.
 

„Wobei?“ ich war leicht irritiert.

„Dir und Herrn Rosenthal, Dornröschen“
 

Meine Mimik überschlug sich um kurz darauf fassungslos in Kellys Richtung zu starren. Diese empfand die Situation ganz eindeutig als amüsant und verzog sich leise kichernd in das Behandlungszimmer. Ihr Ernst? „Ich bin kein Dornröschen!“ versuchte ich ihr noch hinterherzurufen, doch die Tür fiel bereits ins Schloss „Verflucht!“.
 

~
 

Aber nun gut, vielleicht glaubte ich kein Dornröschen zu sein, doch die Presse sah es anders. Zittrig starrte ich auf die Zeitung in meinen Händen und blickte mit grimmiger Miene auf das billige Klatschblatt. Mein Vater lehnte an seinem geparkten Auto und blieb still. Es gelang mir nicht einzuschätzen ob er Mitleid für mich empfand oder sich am liebsten kringelig gelacht hätte. Nachdem ich mit meinen Untersuchungen und Übungen fertig war rief ich Marko an um abgeholt zu werden. Ich weigerte mich mit den Krücken die öffentlichen Verkehrsmittel zu gebrauchen. Marko brauchte Zigaretten und ich frische Luft, also hielten wir vor einem Zeitungsstand und wollten - nichts Schlimmes ahnend - Markos Sucht befriedigen. Doch leider bemerkte ich die unsicheren Blicke des Verkäufers und stellte die Fragen aller Fragen: „Hab ich was im Gesicht“. Gut, vielleicht nicht unbedingt sonderlich freundlich, doch für sein perfides Gaffen würde er sicherlich auch keine Ehrenmedaille erhalten
 

„Bist du Noah Bram. Der aus dem Gute Laune Radio?“ seine Worte kamen zögernd, doch änderten nichts an meiner rapide sinkenden Laune „Was?“.

„Der junge Mann hier?“ und bereits im nächsten Moment hielt er mir eine Zeitung unter die Nase. Wer hätte geglaubt, dass ein fast drei Jahre altes Bild meiner selbst irgendwann auf der Titelseite eines Klatschmagazins prangern würde. Ich sicherlich nicht.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit bis ich schnaubend die Zeitung auf die Verkaufstheke warf und zum Auto meines Vaters ging „Willst du sie nicht kaufen?“ fragte Marko neugierig, doch mein warnender Blick schien Bände zu sprechen. Noch ein falsches Wort und ich würde ihn mit meinen Krücken steinigen.
 

Der Motor startete und eine Sintflut brach über mich hinein „Wie können die mein Bild einfach in der Zeitung veröffentlichen. Brauchen die dafür nicht irgendeine Genehmigung. Was fällt den überhaupt ein über solch einen Schwachsinn zu schreiben. Die spinnen doch allesamt. Über mich und die angebliche Liebesgeschichte zwischen Felix Rosenthal wurde in ganzen sieben Zeitungen berichtet. Bitte, es gibt doch wesentlich wichtigere Themen in unserem Land als die Liebesfantasien eines Verrückten!“.
 

Marko blickte mit konzentrierter Miene auf die Fahrbahn „Weißt du, ich glaube damit hat niemand gerechnet. Sicherlich auch nicht Rosenthal. Wobei diese Situation bestimmt auch nicht beabsichtigt war“
 

„Ja klar, nehme den Irren auch noch in Schutz“ ich verschränkte schmollend die Arme vor der Brust. Ja, auch junge Männer durften schmollen, diese Eigenschaft war sicherlich nicht von dem weiblichen Geschlecht reserviert.
 

„Nein, ich will ja nur sagen. Es fängt sich bestimmt alles wieder ein. Es wird jetzt ein oder zwei Tage vermutlich eher chaotisch, aber es vergeht auch wieder. Und sobald ich auf Arbeit bin sehe ich zu was sich mit diesen Pressespinnern machen lässt“.
 

„Marko, denkst du wirklich es interessiert die? Das Thema Pressefreiheit hatte ich bereits in der Schule“
 

„Mit dem Unterschied, dass du keine Person der Öffentlichkeit bist. Das ist ja nahezu Verleumdung was die dort schreiben?“
 

Verwirrt schaute ich zu Marko „Du hast die Zeitungen bereits gelesen?“, zögerlich nickte mein Stiefvater und zuckte kurz darauf mit den Schultern „Meine Sekretärin hat sie mir alle gekauft und ins Büro gelegt. Sie glaubte wohl es könnte mich interessieren….“
 

Erst an dieser Stelle schien mein Gehirn zu schalten und ich fühlte mich als würde ich jeden Moment explodieren „Deshalb wolltest du noch Zigaretten kaufen!“. Ich fühlte mich auf eine gewisse Weise vielleicht sogar etwas hintergangen „Es war beabsichtigt von dir! DU wolltest mich quasi mit der Nase auf die Zeitungen stoßen!“ Hastig schüttelte Marko den Kopf, drückte den Blinker und fuhr in unsere Straße ein „Nein. Nein. Nein. So was das sicherlich nicht geplant. Ich habe eine Zeitschrift in der Tasche und wollte sie dir erst zuhause zeigen. Du wolltest immerhin unbedingt das Auto verlassen“.
 

„Ja aber natürlich“ spüre meinen Sarkasmus!
 

Marko wirkte nicht unbedingt glücklich als er das Auto einparkte und den Motor ausstellte „Noah. Hör auf mir irgendwelche Dinge zu unterstellen. Ich arbeite weder mit Rosenthal zusammen, noch habe ich deine Bilder der Presse gegeben. Ganz im Gegenteil. Die beschissene Social-Media-Sucht von euch Jugendlichen brockt euch diese Suppe ganz alleine ein. Hättest du damals nicht ständig irgendwelche Bilder von dir überall hochgeladen, dann hätte die Presse überhaupt kein Fotomaterial von dir. Aber nein, ihr müsst euer Leben ja der gesamten Weltbevölkerung offenbaren. Also hör verdammt nochmal auf mich so an zu zicken!“.
 

Und schon war ich still. Kein Versuch der Widerworte. Nicht einer. Vielleicht weil Marko recht hatte, vielleicht aber auch nur da ich solche Gefühlsausbrüche von ihm nicht gewohnt war.
 

„Ich habe das doch gar nicht so gemeint…“ erwiderte ich kleinlaut und starrte auf meine Hände, welche auf meinem Schoß ruhten.
 

„Ich weiß, deshalb habe ich dich ja auch nicht aus dem fahrenden Auto geworfen…“ kam es komplett tonlos und Marko stieg aus, lief um das Auto herum um meine Krücken aus dem Kofferraum zu holen. Ich stieß meine Tür auf und bereits eine Sekunde später reichte man mir die Krücken „Da. Sei aber vorsichtig“. In meiner Bewegung stoppend begann mein Gehirn zu rattern, meine Augen wanderten hinauf und erblickten einen Fremden. Nicht Marko. Nicht Anna. Einen völlig fremden jungen Mann. Er stand an der offenen Autotür und hielt mir seine Hand hin. Hochgewachsen – verflucht hoch -, breites Kreuz, schlanke Beine, Jeans, Shirt und darüber die Jacke unseres heimischen Rugbyvereins.
 

„Und du bist wer?“ versuchte ich meine Unsicherheit hinter einer Frage zu verbergen und suchte Marko. Sichtlich nervös zog sich der Fremde zurück und wischte sich die Hände hektisch an seiner Jeans ab „Tut mir leid. Ich dachte du würdest mich erkennen. Ich weiß durch Leon und Anna dass du eigentlich niemanden sehen willst, aber ich konnte nicht anders und dachte…“ er brach ab und ich nutzte die Gelegenheit um mich aus dem Auto zu hieven. Jetzt entdeckte ich auch Marko, welcher lässig am geschlossenen Kofferraum lehnte und eine rauchte. „Ja keine Ahnung was ist dachte. Sorry Noah. Das ist so unheimlich dumm von mir“. Der Typ sprach so vertraut mit mir, dass ich ihn erneut einer Musterung durchzog. Groß, gutgebaut, kurzgeschorene Straßenköter-blonde Haare. Wirklich, kein Schimmer wer das sein sollte.

„Ähm du erkennst mich wirklich nicht?“ hakte er noch einmal nach „Ich bin’s der kleine Pelle“. Hiermit dankte ich meinem Körper dafür, dass Augen nicht wirklich ihre Augenhöhlen verlassen konnten. Konnten sie doch nicht oder?
 

Der kleine Pelle welchen ich nämlich in Erinnerung hatte war zwei Köpfe kleiner als ich, kugelrund, absolut verschüchtert und wollte unbedingt ein Goth sein. Von dem jungen Mann der nun vor mir stand konnte ich das nicht unbedingt behaupten.
 

„Pelle…echt jetzt“ ich starrte ihn immer noch verzweifelt an. Das war doch ein schlechter Scherz.
 

„Also eigentlich nennt man mich jetzt Patrick – nicht mehr Pelle. Aber ja. Ich freue mich wirklich unglaublich das du wieder da bist Noah“.
 

Ein Rollentausch der mir nicht gefiel, denn der kleine Pelle war jetzt gut zwanzig Zentimeter größer als ich.

Special Chapter - Patrick Pellschardt
 

…und die heldenhafte Tat.
 

Patrick Pellschardt oder auch liebevoll Pelle genannt war der typische Einzelgänger. Mit seiner weniger imposanten Körperhöhe und den üblen Rettungsringen zählte er von Anbeginn der Schulzeit nicht unbedingt zu den beliebtesten Schülern. Ganz im Gegenteil. Von den anderen Schüler in das Leben eines Einzelgängers gedrängt verbrachte er die meiste Zeit allein und ohne wirkliche soziale Kontakte. Man könnte meinen er wurde von der Außenwelt isoliert. Das Schulleben war hart und Kinder, sowie auch Jugendliche, wurden nicht umsonst oft genug als Monster betitelt.
 

Doch es änderte sich an einem warmen und vielleicht auch schicksalshaften Sommertag. Die Luft ließ sich schwer atmen und der Schweiß sammelte sich in kleinen Perlen auf meiner Stirn. Stöhnend hielt ich mir das momentan noch verpackte Eis auf die Wange und genoss die angenehme Kälte. „Das Wetter ist grauenhaft“ stieß Linda mit schwacher Stimme aus, während sie bewegungslos im Gras ruhte. Max wirkte auch nicht begeistert, zum wiederholten Male wischte er sich mit dem Saum seines ausgeblichenen Bandshirt den Schweiß aus dem Gesicht. „Ich werde mich nie wieder über den Winter beschweren“ beteuerte Max und ließ sich neben seiner blonden Zwillingsschwester ins trockene Grün fallen.
 

„Du bist doch der Erste der jämmerlich über die Kälte meckert. Also hör auf zu heulen wie ein Mädchen“ ich nahm mein Eis aus seiner Verpackung und fluchte leise vor mich her als ich sah wie es bereits munter vor sich hin schmolz. „Wir sollten Baden gehen…ernsthaft. Bei der Hitze geht man doch vor die Hunde“ warf Max ein und versuchte sich an Linde zu kuscheln die angewidert wegrutschte „Du stinkst nach Schweiß Max“ – „Es sind vierzig Grad, natürlich stinke ich nach Schweiß. Das Deo was bei den Temperaturen nicht versagt muss erst noch erfunden werden“.

„Dann benutzte nicht ständig das billigste Zeug was du in der Drogerie bekommst. Alter geh weg man!“ während ich mein Eis genüsslich verspeiste – oder eher was die Hitze davon übrig ließ – beobachte ich das ungleiche Geschwisterpärchen bei ihrer unfairen Rangelei. Max war Linda bei weitem überlegen. Denn auch wenn beide erst fünfzehn waren, so schien Max mit seinen antrainierten Muskeln einfach im Vorteil gegenüber seiner gedrungenen Schwester. Max ging seit seinem sechsten Lebensjahr einigen sportlichen Aktivitäten wie Kickboxen und Fußball nach, was man ihm auch mehr als nur deutlich ansah. Linda dagegen war zwar nicht sonderlich dick, doch durch ihre Körpergröße und der nahezu nicht existierenden Körperkraft konnte sie ihren Bruder nur versuchen von sich weg zu treten. Dabei war auch sie nicht unbedingt unsportlich, ganz im Gegenteil. Nur brachte ihr Leichtathletik wenig gegen ihren Bruder.
 

„Max zu stinkst!“ rief Linda hysterisch und kämpfte um die Freiheit ihrer Arme die ihr Bruder zu Boden drückte um die Gegenwehr zu minimieren. Ein Blick über den Schulhof verriet mir, dass die Beiden gerade zur Belustigung der anderen Schüler dienten, doch ich kannte es kaum anders. Das Beckenbauer Zwillingspärchen galt an unserer Schule schon beinahe als Maskottchenduo.

„Gib mir einen dicken Schmatzer, Schwesterchen“ – „Ich trete dir gleich deine Geschlechtsorgane ab, dann kannst du für immer Jungfrau bleiben Max!“.
 

„Oh ich würde die Warnung ernst nehmen“ mischte ich mich ein, immerhin kam ich vor fast einem Jahr selbst in diesen Genuss. Ein Wiederholungsbedarf bis an mein Lebensende ausgeschlossen. Max, Linda und ich besuchten ein Horrorhaus auf dem städtischen Volksfest. Im Haus kam ich auf die dumme Idee Linda zu erschrecken. In binnen von Sekunden trat sie mir schreiend zwischen die Beine. Ihre weinerliche Entschuldigung danach half allerdings auch nicht gegen die Schmerzen. Also konnte ich Max nur raten von Linda abzulassen. Das konnte nur ins Auge gehen, oder eher zwischen die Beine. Obwohl sich mir bei allem dem eine wichtige Frage stellte: War Max denn wirklich noch Jungfrau. Gab seine Zwillingsschwester gerade ein pikantes Geheimnis preis? Sollte ich etwas gefunden haben um Max bis an sein Lebensende zu erpressen? Ich schmunzelte vor mich hin. Der große Weiberheld Max hat da wohl etwas gelogen was seine Geschichten mit älteren Mädchen anging.
 

Ich blickte auf als sich uns eine Gestalt näherte „Leute. Inzest ist immer noch verboten. Also bitte versucht euch weniger der Erregung öffentlichen Ärgernisses hinzugeben“. Ich hob die Hand zum Grüß „Auch wieder da Kapitän Leon“. Leon schüttelte lachend seine grau blonden Haare „Ja, die Meerhexe hat mich verschont und doch nicht in einem Meer aus Hausaufgaben ertrinken lassen“. Erleichterung schlich sich um mein Herz. Also musste Leon doch nicht bis zum Ende aller Tage Nachsitzen. Die Filmabende waren gerettet. Max rollte sich währenddessen von seiner grimmig dreinblickenden Schwester herunter und deutete ein Peace-Zeichen in Leons Richtung an „Sie hat dir also verziehen, dass du sie alte Wachtel genannt hast?“.
 

„Als wäre alte Wachtel wirklich eine Beleidigung“ rümpfte Linde die Nase „Die ist schon etwas sensibel die gute Frau Türke. Aber hat man etwas anderes von einer hysterischen Frau in den Wechseljahren erwartet“.
 

„Hört, hört. Was für befremdliche Worte von dir“ spottete Leon, ließ sich neben mir auf die Bank fallen „Aber nein. Keine Nachhilfe. Keine unnötigen Hausaufgaben und kein Gespräch mit meinen Eltern. Ich habe ihr erzählt, dass die neue Veränderung in meinem Leben mich einfach so aus der Bahn wirft und ich meine Unsicherheit an ihr ausließ. Was natürlich furchtbar falsch ist und ich mich auf ewig dafür schämen werde“. Seine Stimme klang als würde Leon etwas ganz beiläufiges und unwichtiges erzählen. „Veränderung?“ ich warf den Eisstiel in den Mülleimer zu meiner Rechten und blickte nicht weniger irritiert als Max und Linda.

Leon zuckte grinsend mit der Schulter „Na ja. Ich bin ein Junge mitten in der Pubertät und es könnte wirklich schwer zu verkraften sein, wenn sich der Kindheitsfreund urplötzlich als Schwul outet“.

Max lachte. Linde schien verwirrt und ich hätte meinem besten Freund am liebsten die Hände um den Hals gelegt „Wie bitte…“.

„Weist du Noah“ Leon legte mir den Arm um die Schulter „Irgendwo muss ich doch einen Vorteil aus deinen Vorlieben ziehen können. Ich sage also nichts, wenn du die Jungs in der Umkleide beobachtest und du bist dafür hin und wieder mein kleines Trauma“.
 

Mit angewidertem Gesichtsausdruck drückte ich Leons Arm weg „Als wenn ich unsere Jungs beim Sport in der Umkleide wirklich beobachten würde“. Schon allein der Gedanke schien unrealistisch und irgendwie auch ein wenig eklig. Hat er sich unsere Klassenkameraden schon einmal genauer angeschaut? Es schüttelte mich. Erneut zuckte Leon mit der Schulter „Aber du könntest“.
 

Eine Diskussion mit Leon war in den meisten Fällen ausweglos. Er war furchtbar eigensinnig und setzte seine Ideen und Vorhaben meist mit schmeichelhafter Stimme und zuckersüßem Lächeln durch. Beinahe gruselig wie gut mein bester Freund darin war Leute zu manipulieren und ihnen das Blaue vom Himmel zu erzählen. Doch leider musste ich zugeben daraus selbst meine eigenen Vorteile zu ziehen.
 

Gelangweilt lag mein Blick auf der Tafel. Frauke, unsere Politiklehrerin, stand nur noch in kurzem Stiftrock und ärmelloser dünner Bluse vor uns, die Haare ohne viel Sorgfalt hochgebunden. Man sah ihr mehr als deutlich an wie gut sie unsere Unlust verstand. Die Hitze brutzelte unsere Gehirne. Erst das aufdringliche Stupsen von Leon ließ mich das Ende des Unterrichts wirklich wahrnehmen „Linda und Max warten schon“. Leon steckte sein Handy in die Hosentasche zurück, scheinbar terrorisierte ihn Max bereits mit unsinnigen Nachrichten über den Weltuntergang sollten wir nicht in wenigen Minuten auf der Bildfläche erscheinen. Linda und ihr Zwillingsbruder gingen gemeinsam in unsere Nachbarklasse. Mühsam rappelte ich mich auf, streckte mich ausgiebig und begann Stifte, Block und Wasserflasche in meinen Rucksack zu werfen „Hetzt mich nicht Leon. Ich bin alt…“.
 

„Du bist in unserem Freundeskreis das Küken, falls du mir gestattest dich daran zu erinnern. Wenn du alt bist, was bin dann ich bitteschön“
 

Ich wendete mich zu Leon herum und grinste über beide Ohren „Scheintot?“.
 

„Ja. Ja. Ich mache dich gleich scheintot du frecher Arsch!“ gespielt beleidigt griff Leon nach meinem Rucksack und deutete mit der freien Hand auf die Tür „Madame?“. Wie es sich gehörte vollzog ich einen eher unschönen Knicks „Sehr freundlich von ihnen“ und verließ mit hocherhobenen Hauptes das Klassenzimmer. Draußen schallten bereits die Stimmen der Zwillinge über den Flur. Scheinbar wollten sich die Beiden versichern ob wir es doch noch irgendwann zu ihnen schaffen „Was hat bei euch so lange gedauert. Ey, Leon. Musstest du Noah schon wieder anbaggern. Wie oft soll er dir noch einen Korb geben. Er ist nicht so wie deine Mädels. Er hat Prinzipien und so!“.
 

„Ja wie lustig“ kam ich Leon zuvor, denn dieser wäre auf Max seine Scherze nur wieder angesprungen und sie hätten sich die wildesten Geschichten zusammen gesponnen. Wüsste ich nicht, dass die Beiden mich wegen meiner Sexualität gerne veralberten hätte ich ihnen schon längst die Leviten gelesen. Immerhin sprang ich nur weil ich mich momentan in einer schwierigen Selbstfindungsphase befand, weder alles Jungs sofort an, noch musste man mich wie ein Mädchen beschützen. Ich wusste durchaus was ich zwischen meinen Beinen hatte und eine Tucke war ich sicherlich nicht. Ich war schließlich immer noch ein Junge. Nur das ich Mädchen zwar durchaus ästhetisch, doch weniger erotisch fand. Wobei ich mir um Sex und den ganzen Kram nun noch keinen Kopf machte. Auch wenn mich dadurch vielleicht einige als Spätzünder sahen. Doch hallo. Ich war vierzehn! Meiner Ansicht nach musste man in diesem Alter noch nicht seinen Körper benutzen um seinem Gegenüber zu gefallen – obwohl mich die ganzen schwangeren Mädchen auf meiner Schule daran zweifeln ließen. Vielleicht nahm meine Mutter genau aus diesem Grund meine neuentdeckte Vorliebe mit Humor, sie brauchte sich keine Sorgen machen jetzt schon mit einem Enkelkind beglückt zu werden. Gut, vermutlich würde Sie niemals Enkelkinder von mir bekommen – alles hatte halt Vor- und Nachteile.
 

„Also“ begann Max und verschränkte beim Laufen die Arme hinter seinem Kopf „Gehen wir nun zur Mühle oder schwitzen wir lieber getrennt voneinander in unseren Zimmern herum?“. Gute Frage. Zu dieser Uhrzeit würde es bei der alten Mühle sicherlich brechend voll sein, doch gegen ein wenig Schwimmen hätte ich kaum etwas einzusetzen. Meine Augen wanderten Fragen zu Leon, welcher scheinbar noch nachdenklich die Möglichkeiten durchging „Na ja die Alternative wäre ein gemütlicher Abend mit Jenny…“ begeistert klang mein bester Freund ja nicht.

„Okay bin dabei“ also Leon sollte mal einer verstehen. Schaffte sich eine Freundin an, doch Zeit wollte er nicht unbedingt mit ihr verbringen.
 

„Wenn ich alleine daheim bleibe muss ich mich um die Hausarbeiten kümmern, mir bleibt also keine andere Wahl als mit euch Idioten den restlichen Tag zu verbringen“ Linda war also ebenfalls dabei, sehr schön. „Wir lieben dich auch Linda“.
 

Mit dem Fahrrad in Richtung Heimat. Die Badesachen waren rasch zusammengepackt und Mum legte mir sogar noch etwas Geld für ein Eis auf die Kommode im Flur. Ein Traum.

„Mum. Darf ich heute bei Leon schlafen?“ brüllte ich durch das Haus, als ich gerade mit meinem Rucksack in den Flur hechtete und in meine Schuhe schlüpfte.

Schritte ertönten und nur wenige Augenblicke später stand meine Mutter mit zartrosa Kochschürze im Türrahmen „Denke schon. Marko ist zwar noch nicht da, doch er wird wohl kaum Einwände haben“. Sie musterte mich „Ist er dein Freund?“

„Mum!“ stieß ich langgezogen aus. Ich wusste nicht ob ich entsetze oder einfach nur genervt sein sollte. „Leon ist mein bester Freund, aber sicher nicht mein fester Freund. Wie kommst du auf so eine absurde Idee!“.
 

„Na ja, ihr verbringt viel Zeit miteinander…“ sollte das ihr verdammter Ernst sein?
 

„Wir haben auch schon vor meinem Outing viel Zeit verbracht? Mama, pass mal auf“ ich seufzte „Nur weil ich Jungs mag, heißt es sicherlich nicht, dass ich jetzt plötzlich auf jeden Jungen im meiner näheren Umgebung stehe. Besonders nicht auf Leon. Ich kenne ihn bereits seit der Grundschule. Das hat schon was leicht Ekliges meinst du nicht“.

„Ich dachte ja nur“ verteidigte sich meine Mutter und verschränkte die Arme vor der Brust „Ich wollte dich ja nur an gewisse Sachen erinnern. Ihr solltet nur nicht vergessen, dass auch Männer verhüten müssen“.
 

„Mum!“ ich spürte wie sich meine Wangen vor Scharm erhitzten „Nein, ich werde kein Sex haben. Nein, besonders nicht mit Leon und nein, ich möchte über so etwas nicht mit meiner Mutter reden. Wenn es soweit ist kann ich immer noch Marko fragen“ vielleicht war es unangenehm für den neuen Mann meiner Mutter. Doch Marko würde das ganze nur halb so peinlich durchziehen wie meine Mutter.
 

Marianne kam auf mich zu und hielt mir ihre ausgestreckte Hand hin „Nehme die hier einfach mit, dann fühle ich mich besser“. Entsetzt starrte ich auf die Hand meiner Mutter, oder eher auf das was auf ihr lag. Zwei kunterbunte Plastiktütchen, welche unschwer zu erkennen gaben, dass sie in ihrem inneren Kondome beherbergten.

„Nein. Nein. Nein. Nein“ abwehrend riss ich meine Hände in die Höhe und ging einen Schritt zurück, meine Wangen brannten „Nehm die Dinger da weg“ – nicht das ich auf irgendeine Weise prüde war „Ich brauche die wirklich nicht. Steck sie wieder Weg“. Bitte!
 

„Aber Noah. Ich will doch nur, dass du dir der Gefahren bewusst wirst und dich auf die richtige Art schützt“
 

„Okay Mum“ meine Stimme klang entsetzlich hoch während ich fluchtartig nach meinem Rucksack griff „Ich bin weg. Bis morgen. Hab dich lieb“. Oder momentan auch nicht, die Entscheidung musste ich noch fällen. Die Haustür fiel hinter mir ins Schloss, ich lief zu meinem Fahrrad, schwang mich hinauf und radelte los. Wie peinlich war denn das bitteschön. Ich schüttelte den Kopf, bloß zu den anderen und diese grausige Situation vergessen. Für immer.
 

Die alte Mühle war, wie der Name vermuten ließ, wirklich eine Mühle aus irgendeinem vergangenen Jahrhundert. Torben, der Besitzer, renovierte sie vor einigen Jahren und nun war sie eines der bestbesuchten Jugendcafés der Stadt. Und das obwohl es gut eine fünfzehnminütige Fahrradtour durch die Wildnis verlangte um an dem Fluss anzukommen. Kaum näherte ich mich der Mühle wurde das Stimmengewirr lauter. Die Terrasse der Mühle war zum Zerbersten voll und auch die Badestelle schien, wie bereits erwartet, gut besucht. Ich stieg von meinem Fahrrad ab und ließ meinen Blick schweifen. Es dauerte ein Weilchen bis ich Max entdeckte, welcher unter einer hochgewachsenen Weide faulenzte. Von Linda oder Leon nichts zu sehen.
 

„Yo Noah. Wo hast du Leon gelassen“ Max saß in Badehose bekleidet auf einem Badelaken und hob zum Gruß die Hand. Wir schlugen ein und ich ließ mich neben ihm auf sein Handtuch fallen. Mein Fahrrad ging scheppernd zu Boden „Bin ich sein Babysitter? Wo ist Linda?“. Max grinste „Sind wir aneinander genäht?“. Touché.

„Warst du schon im Wasser?“ ich zog mir das Shirt über den Kopf. Max schüttelte seinen Kopf „Ne, aber Linda tollt da irgendwo in der Menge herum – schon seit einer gefühlten Ewigkeit. Aber jetzt bist ja du hier und kannst mich etwas ablenken“. Max wackelte anzüglich mit den Augenbrauen, als Antwort warf ich ihm mein verschwitztes T-Shirt ins Gesicht „Spinner“.

„Außerdem teile ich mein Eigentum nicht gerne, weist du doch Max“ Leon näherte sich unserem Lager mit einem frechen Grinsen auf den Lippen „Schaut nicht so. Ihr kennt doch den Spruch. Das Beste kommt immer zum Schluss. Oder in meinem Fall: zu spät“.
 

„Wird euch das wirklich nie langweilig“

Leon lachte als er sein Fahrrad abstellte und sich zu uns gesellte „Nicht wirklich. Aber das liegt weniger an dem Tatbestand, sondern mehr an dem Gesicht was du immer ziehst“. Schön für die Beiden. „Du kannst jetzt gerne anfangen zu schmollen“ – „Nein danke. Ich bin kein Mädchen, auch wenn ihr Beide schwul scheinbar mit dem weiblichen Geschlecht gleichsetzt“.

Leon hob abwehrend die Hände „Hey, wir sind in der Pubertät. Sprich absolut unreif. Wir dürfen das“. Man konnte sich also doch alles schönreden.
 

„Da seid ihr beiden Turteltauben ja endlich. Ich dachte schon ihr wurdet aufgehalten“ mussten Linda und Max unbedingt denselben Humor besitzen. War das wirklich nötig. Eine völlig durchnässte Linda kaum auf uns zugelaufen. „Hat dich ja scheinbar nicht gestört. Wie es aussiehst hast du bereits deinen Spaß im Wasser gehabt“ meinte ich, stand auf und schüttelte mir die Jeans von den Beinen – die Badehose bereits darunter angezogen „Aber du kommst nicht drumherum noch einmal mit mir schwimmen zugehen. Kommst du mit Max?“ Max stand nickend auf und mein Blick wanderte zu Leon „Und du?“. Der Blonde schüttelte seinen Kopf „Ne, ich bleib noch ein wenige hier. Im Schatten ist es wirklich angenehm. Wir gehen nachher rein, wenn es nicht mehr so voll ist“. Nickend nahm ich seine Antwort zur Kenntnis und zog mit Linda sowie Max von dannen. Im Gegensatz zu uns Dreien war Leon Nichtschwimmer. Meist ging er dennoch mit uns ins Wasser, doch nur wenn nicht mehr so viele Menschen anwesend waren. Vermutlich eine der wenigen Dinge die ihm unangenehm waren.
 

Die Stunden rannen wie im Flug an uns vorbei und ehe wir uns versahen wurde es leerer. Nur wenige Gruppen saßen am Wasser zusammen, tranken Bier, lachten und begrüßten das Wochenende gemeinsam mit ihren Freunden. Wir taten es ihnen gleich. Leon saß neben mir und schüttelte sein nasses Haar hin und her. „Bist du ein Hund?“ fragte ich fluchend und versuchte den kalten Wassertropfen zu entkommen, was Leon nur ein Lachen entlockte „Wer weiß was bei meiner Genetik alles schiefgelaufen ist“.
 

„Psscht“ ich blickte auf und entdeckte Linda, welche sich mit mahnendem Gesichtsausdruck den Finger vor die Lippen hielt. Ein Blick auf Max erläuterte ihr Handeln. Der Junge mit dem Augenbrauenpiercing schlief den Schlaf der Gerechten, das Gesicht von uns abgewandt. Max konnte wirklich niedlich sein, wenn er mal die Klappe hielt.
 

„Was machen wir morgen?“ fragte Linda mit gedämpfter Stimme und streckte sich ausgiebig, der nasse Badeanzug bildete sich mehr als deutlich unter ihrem hellblauen Shirt ab. Leon zuckte mit den Achseln „Weiß nicht. Wir könnten zum Schloss hochfahren“. Ehrlich, seine Idee klang selbst in meinen Ohren schrecklich „Ich werde bei sechsunddreißig Grad im Schatten bestimmt keine Fahrradtour machen, können wir uns nicht einmal mit jemanden anfreunden der einen Pool besitzt?“
 

„Hey, meine Eltern haben eine Sauna“ erwiderte Leon grinsend und ich schüttelte nur den Kopf „Ja ich liebe eure Sauna auch, doch bei weiten nicht im Hochsommer“.
 

„Ich denke du bist einfach zu verwöhnt Noah…“ scherzte Leon, während ich hilfesuchend zu Linda blickte. Sie schien von beiden Ideen nicht unbedingt überzeugt „Vielleicht können wir auch einfach wieder schwimmen fahren…“.
 

Ein lauter Aufschrei ließ selbst Max zusammenfahren, welcher uns mit irritiertem Gesichtsausdruck ansah. Achselzuckend hievte ich mich auf die Knie und hielt Ausschau. Nicht unweit von uns stand eine Gruppe aus Jugendlichen und schienen jemanden zum Piesacken auserkoren zu haben.

„Das sind Mo und seine Speichellecker“ deutete Leon mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Mo war ein Typ aus den Abiturklassen, groß, laut und bekannt für seine Aggressivität. Selbst Max, welcher einem gelegentlichen Konflikt nicht aus dem Weg ging, legte sich nicht mit Moritz an.
 

„Und wer ist der Abgebrochene?“ wollte Max neugierig wissen, doch die Sorge um den Jungen bei Mo war ihm ins Gesicht geschrieben. Ich selbst ließ es noch nie auf eine Konfrontation mit dem Abiturienten ankommen, doch man hörte immer wieder Geschichten und diese besaßen niemals ein Happy End.
 

„Ich glaube das ist der dicke Pellschardt aus unserer Nachbarklasse“ unser Jahrgang bestand aus insgesamt vier Klassen. Ich schnaufte auf „Sei nicht so fies Leon“. „Was denn, stimmt doch“ mein bester Freund stand auf um die Situation besser zu überblicken, nur wenige Sekunden sah man wie Mo ausholte und Pellschardt zurücktaumelte.
 

„Was machen wir jetzt“ fragte ich leise. Meine Freunde wussten, dass ich nicht unbedingt zu den Mutigsten gehörte. Die Atmosphäre schien angespannt. Natürlich wollte jeder von uns helfen, doch welchen Preis würden wir dafür zahlen müssen. Es schien nicht nur uns so zu ergehen, denn auch die anderen Jugendlichen schienen das Spektakel genauestens zu beobachten. Hektisch sprang Linda auf, noch bevor Max nach ihr greifen konnte atmete unsere Freundin zittrig ein und entfernte sich einen Schritt von uns „Das geht so nicht. Ich geh zur Mühle und hole Torben“. Max wirkte nicht begeistert „Bist du bescheuert Linda, wenn Moritz das mitbekommt, dann verbringst du die nächsten Nächte auf der Intensivstation“.
 

„Ach und zusehen ist besser?“ forderte Linda eine Antwort. Sie hatte Recht, sollten wir hier zuschauen wie der Junge von Mo nach Herzenslust verprügelt wurde oder sollten wir so etwas wie einen Arsch in der Hose beweisen. Mein Magen tendierte tatsächlich für die erstere Option, doch mein Kopf gab andere Anweisungen und schon schwang ich mich ebenfalls unsicher auf die Beine. „Okay Linda“ ich würde das hier noch so was von bereuen „Ich lenke Mo ab und du rennst bitte so schnell wie nur möglich zu Torben“. Nun mischte sich auch Leon ein „Einen Scheiß wirst du tun. Der bricht dich in der Mitte durch“. Leon stand ebenfalls auf, die Mimik angespannt. Max erhob sich schnaubend „Das könnt ihr nie wieder gutmachen. Hoffentlich hat der Typ einen Pool“.
 

Ja und so endete unser schöner ruhiger Sommerabend mit einem mehrstündigen Krankenhausaufenthalt. Max verlor einen Zahn, ich bekam ein ziemliches Veilchen und Leon brach sich zwei Finger. Linda erreichte an diesem Tag vermutlich ihre Bestleistung im Sprinten und Torben war nach dem Geschrei für Tage heiser. Doch Pellschardt kam mit einer Gehirnerschütterung und einigen Prellungen davon. Heute erinnerte ich mich noch gerne an diesen Tag zurück. Nicht nur das ich einen Freund gewann, nein, ich bewies das erste Mal in meinem Leben echten Mut. Ein besseres Gefühl gab es wohl kaum. Ach ja, Pellschardts Eltern besaßen als Gegenleistung tatsächlich einen Pool. Ihr könnt euch also vermutlich gut vorstellen wie wir den restlichen Sommer zusammen verbrachten. Einen heldenhaften Sommer mit einem neuen Freund und einem netten Pool an dem wir unsere Wunden lecken konnten.

Kapitel VIER
 

...Vergiss mein nicht
 

Mein Versuch des Lippenlesens an Marko und Pelle schlug fehl, wenn ich diesen jämmerlichen Versuch nicht sogar als absoluten Misserfolg abtat. Den Traumberuf als Superspion konnte ich hiermit ganz offiziell an den Nagel hängen. Während die Beiden mich, bewaffnet mit einer Kanne Tee und zwei Tassen, auf den Balkon verbannten, brach zwischen ihnen eine hitzige Diskussion aus. Zu meinem Leid verstand ich durch die geschlossene Balkontür so überhaupt nichts. Meine Neugier galt somit als nicht gestillt und meine Laune kratzte erneut am Kellerboden.

Sollte sich mein Stiefvater nicht eigentlich über den überraschenden Besuch eines alten Freundes von mir freuen – zumindest da sich meine eigene Freude durch die penetrante Mischung aus Neugier und Skepsis in Grenzen hielt?

Oder begann gar Pelle die Diskussion? Nur warum zum Teufel, konnte mir nicht einfach jemand sagen was der Grund dafür sein sollte? Ganz im Gegenteil, sie sperrten mich aus wie einen grenzdebilen Jungen ohne Meinungsfreiheit – Juhu, alle meine Träume gehen in Erfüllung, nicht.
 

Irgendwann, oder besser eine gefühlte Ewigkeit später, öffnete Pelle die Balkontür und lächelte mir breit entgegen. So euphorisch, dass sich links und rechts zwei tiefe Furchen bildeten, auch Lachfalten genannt. Unerwartet süßen Lachfalten. Hatte Pelle schon damals Lachfalten? Misstrauisch zog ich meine rechte Augenbraue leicht empor.

„Tut mir leid. Marko wollte mir scheinbar erst einmal den Kopf waschen. Du weißt schon, weil ich mich nicht bei dir gemeldet habe und alles“ seine Erklärung klang plausibel und dennoch minderte sie mein unaufhörliches Misstrauen nur bedingt.

„Aha. Und jetzt habt ihr eure Differenzen geklärt und einen Pakt des Friedens ausgehandelt?“ erkundigte ich mich, zwang meine Augen sich von seinen putzigen Lachfältchen zu lösen und Marko im Hintergrund auszumachen. Der hochgewachsene Mann stand mit verschränkten Armen und grimmiger Miene im Wohnzimmer, sein Blick auf Pelles breiten Rücken geheftet.

„Ich denke schon“ antwortete mein alter Freund zögerlich, erhaschte einen kurzen Seitenblick auf Marko und trat dann mit seinem gesamten Körper auf den Balkon um die Tür hinter sich zu schließen „Ich soll dir von Marko sagen, dass er noch einmal kurz ins Büro fährt und später wiederkommt“.

Schon erstaunlich wie aktiv Marko begann seinen Arbeitsalltag erneut aufzunehmen seitdem ich auf dem Weg der Heilung war. Von Anna kannte ich da ganz andere Geschichten.

Sichtlich nervös stand Patrick vor mir und ich konnte das genervte verdrehen meiner Augen nicht verhindern „Jetzt setzt dich schon irgendwo hin oder willst du die gesamte Zeit über herumstehen?“.

„Öhm. Nein, sitzen klingt super. Ja, sitzen“ er ließ sich in die Kissen auf der Holzbank fallen und begann, anstatt unschlüssig herumzustehen, nun seine Hände zu kneten. Vielleicht war seine charakterliche Veränderung nicht halb so gravierend wie die Optische.
 

„Pelle, ich werde dich nicht fressen“
 

„Tut mir leid“ doch meine Worte und seine Entschuldigung halfen nur dahingehend, dass Pelle aufhörte seine Hände wie Kautschukmasse durchzukneten und sie stattdessen verkrampft um seine Knie klammerte.

„Willst du ein Schluck Tee?“

Ein heftiges Nicken untermalte Pelles Antwort „Ja gerne…“.

Schnaubend griff ich nach den beiden Tassen und der Kanne, füllte Tee in das blaue Keramik „Warum bist du hergekommen, wenn du doch ganz offensichtlich nicht hier sein magst“. Oder interpretierte ich sein Verhalten einfach falsch?

Abwehrend riss der blonde junge Mann seine Hände hoch „Nein. Nein. Nein. Ich will wirklich hier sein. Ich freue mich dich wiederzusehen, doch…“ Pelle geriet ins Stocken, ließ seine Arme sinken und blickte betrübt auf seine Knie „…ich weiß ehrlich gesagt nicht worüber ich mit dir reden soll Noah. Klar, mir fallen hunderte von Themen ein, doch ich weiß nicht ob du es hören möchtest…“.

Erneut drang ein verächtliches Schnauben ans Tageslicht „Ach du meinst weil ihr alle euer Leben lebtet und mir die Möglichkeit verwehrt blieb?“

Man konnte Pelle deutlich ansehen, dass ich mit meiner Behauptung einen wunden Punkt erwischte, doch er sollte aufhören sich über solch dumme Dinge den Kopf zu zerbrechen „Pelle man“ ich schob ihm die Tasse rüber „Weder du noch einer der Anderen ist für den Unfall damals verantwortlich. Also packe mich nicht in Watte und lass mich wenigstens durch dich an der gestohlenen Zeit teilhaben. Es reicht bereits, dass meine eigene Familie glaubt es wäre wohl besser mich zu entmündigen“.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Pelle mich an und ich hätte mir am liebsten die flache Hand auf die Stirn geschlagen „Das war ein Scherz, Pelle. Niemand hat die Absicht mich zu entmündigen“ – zumindest soweit ich wusste.

Ein erleichtertes Aufatmen war zu vernehmen, dann wurde Pelles Gesicht ernst und er beugte sich zu mir herüber, soweit bis er mit seiner Schulter gegen meiner lehnte „Ich bin erleichtert Noah“.

„Weshalb?“ der Körperkontakt fühlte sich ungewohnt an und ich versuchte mein Gewicht in die entgegengesetzte Richtung zu verlagern.

„Als wir hörten, dass du wieder zu dir gekommen bist hatten wir Angst, du wärst – wie soll ich es sagen – anders…“

„Ihr habt befürchtet ich wäre ein sabberndes Monster?“ unterbrach ich den Monolog mit belegter Stimme „Wie kommt ihr auf so eine an den Haaren herbeigezogene Idee?“.

Pelle schien mit seiner Antwort zu zögern „Da die Ärzte es nach deinem Unfall, als du im Koma lagst, angedeutet haben“.

Schnaubend stieß ich meinen alten Jugendfreund mit der Schulter weg, an welcher er sich noch bis eben lehnte „Aha. Und das wäre ein Grund mich nicht zu besuchen? Mir vielleicht sogar aus dem Weg zu gehen?“ ich sprang von der Bank auf und taumelte ein wenig, bis es mir gelang nach der Tischkante zu greifen – ich durfte nicht vergessen, dass meine Krücken drinnen standen „Der behinderte Clown bekommt ja eh nichts mehr mit. Haben Leon und die anderen Spasten dich vorgeschickt und um nachzuschauen ob Noah noch in der Lage ist seine Körperflüssigkeiten bei sich zu behalten?“. Die eben noch abgeklungene Wut baute sich erneut in meiner Brust zu einem bedrohlichen Haufen auf.

„Nein Noah!“ versuchte Pelle mich zu beschwichtigen und stand nun ebenfalls auf, der Tee schien vergessen „So bin ich nicht, das weißt du doch. Ich bin auch nicht hier um mit dir zu streiten“.

„Einen Scheiß weiß ich. Ich kenne dich doch überhaupt nicht“ warf ich Pelle vor und spürte wie ich mich in diesen unnötigen und eindeutig von mir provozierten Streit hineinsteigerte „Ich habe euch drei Jahre nicht gesehen. Zwei Jahre weil ich verdammt noch mal keine Wahl hatte und ein Jahr in dem ich täglich hoffte, dass irgendeiner von euch zu mir kommt, jedes Gott verdammte Mal, wenn die Tür zu meinem Zimmer aufging. Doch niemand von euch kam, nicht einer. Das mit der Freundschaft war wohl doch ziemlich weit hergeholt!“.
 

„Was soll das Noah“ forderte Pelle zu wissen und ging einen Schritt auf mich zu, er wirkte verdammt bedrohlich und schien verflucht wütend „Warum machst du mich jetzt so idiotisch an? Glaubst du mir fiel es leicht, dass mein Kumpel einen schweren Unfall hatte und im Koma lag. Meinst du es ging an mir ohne Probleme vorbei, dass du aufgewacht bist und man meinte ich soll warten bis es dir besser geht, obwohl ich gleich zu dir wollte?“. Pelle atmete tief durch, ich wollte mich am liebsten peinlich berührt abwenden – ich schämte mich selbst für mein Verhalten – doch das Fehlen meiner Krücken setzte meiner Bewegungsfreiheit arg definierte Grenzen.

„Es tut mir leid…“ erwiderte ich kleinlaut und senkte meinen Blick. Meine Wut verpuffte, ich musste meine derzeitigen Stimmungsschwankungen unbedingt in den Griff bekommen.

„Das hoffe ich auch“ Pelle schnaufte und reichte mir die Hand „Jetzt setze dich wieder hin, sonst kippst du mir noch um und Marko reißt mir den Kopf ab“. Da war es wieder, dass freundliche Pelle-Lächeln. Trotz allem – doch gewiss nicht aus einer bösartigen Laune heraus – schlug ich seine angebotene Hand aus „Ich schaffe es schon allein, keine Sorge…“. Tatsächlich gelang es mir, mich zurück auf die Bank zu hangeln. Stöhnend ließ ich mich fallen, lehnte mich zurück und schloss die Augen „Sorry, ich bin derzeitig ein echter Idiot“.

„Ich merk schon, aber komm. Du hattest einen Unfall, warst Ewigkeiten nicht bei Bewusstsein. Wie übel kann man dir dieses unausstehliche Verhalten schon nehmen?“

„Deine neugewonnene Ehrlichkeit, gefällt mir nicht Pelle“ ich öffnete meine Augen und zog gespielt mürrisch eine Augenbraue in die Höhe.

Lachend verschränkte Pelle seine Arme vor der Brust „Kein Problem, du bist nicht der Einzige“.
 

Die Stimmung kühlte ab und am Ende wurde es ein angenehmes Beisammensein. Wir tranken Tee, Pelle erzählte Unmengen an Geschichten aus den vergangenen Jahren, klärte mich über den Verbleib unserer Chaoszwillinge auf und plauderte über Leons derzeitigen Lebensstil. So wie er davon sprach, bekam ich beinahe das Gefühl selbst bei all diesen Erinnerungen anwesend zu sein.
 

„Warum ist eure Freundschaft auseinander gebrochen?“ fragte ich irgendwann ruhig und lehnte meinen Kopf in den Nacken. Damals verbrachten wir so viel Zeit miteinander, teilte unglaublich viele Momente und schmiedeten Pläne. Wir wollten bis zu unserer Rente zusammenbleiben – später dann im Altersheim Kartenspielen und Bierchen trinken. Vielleicht bestanden unsere Pläne einfach aus kindischer Naivität.
 

„Mh“ Pelle zuckte mit den Schultern „Anfang klappte es, wir konnten uns gegenseitig aufbauen und verbrachten viel Zeit miteinander“. Pelle strich sich durchs Haar, ein Seufzen schlich sich über seine Lippen und er blickte betrübt lächelnd in meine Richtung „Aber am Ende bemerkten wir, dass du wohl irgendwo der Dreh- und Angelpunkt unserer Freundschaft warst. Unsere Treffen fühlten sich nicht mehr richtig an ohne deine Anwesenheit. Es kam der Moment an dem wir uns eingestanden, dass du uns scheinbar erst zu Freunden gemacht hast“. Für kurze Zeit glaubte ich es mir nur einzubilden, doch als Pelle die Hand hob und sich hastig durchs Gesicht wischte, wusste ich, dass er weinte „Ich habe dich vermisst Noah. So furchtbar vermisst“.
 

Zögerlich lehnte ich mich gegen Pelles Schulter „Du warst schon immer eine Heulsuse“. Ein leises zittriges Lachen erklang von dem hochgewachsenen jungen Mann „Das kann ich nicht einmal abstreiten Noah“.
 

~
 

„Du scheinst glücklich“ überrascht löste ich meine Augen von meinem neuen Smartphone und schmunzelte meiner Schwester entgegen, welche schnaufend ihre Tasche abstellte „Wie war die Schule?“.
 

„Scheiße. Wie immer. Aber dein Tag scheint entgegen meinem eigenen ziemlich gut verlaufen zu sein“ Anna warf ein paar Briefe auf die Kommode im Flur, hing ihre Strickjacke auf und ließ sich neben mir auf das Sofa fallen „Wie lief die Therapie?“.
 

„Die Therapie lief gut und ich hatte heute Besuch“.
 

Irritiert wendete Anna ihren Kopf in meine Richtung „Wie du hattest Besuch?“.
 

„Pelle war hier“
 

„Nicht dein Ernst“ begeistert wechselte meine jüngere Schwester ihre Sitzposition und schaute mich erwartungsvoll an „Erzähl!“. „Ach“ ich winkte lächelnd ab „Was soll ich schon groß erzählen. War eigentlich ganz nett“. Ein empörtes Schnaufen erklang „Ach komm, jetzt lass dir nicht alles aus der Nase ziehen Noah“.
 

Ich gluckste vergnügt „Du bist viel zu neugierig. Aber ehrlich. Wir haben nur ein wenig gequatscht und beim nächsten Mal bringt Pelle sogar Leon mit“. Anna klatschte freudig in die Hände „Ich habe ja beinahe vermutet, dass man dich zu deinem Glück zwingen muss“. Ich konnte nicht anders als das Lächeln meiner kleinen Schwester zu erwidern. Seit einer gefühlten Ewigkeit hatte ich wieder wirklich gute Laune und das verdankte ich Großteils dem Besuch meines alten Freundes.
 

Mit einem weniger eleganten Hüpfer sprang meine Schwester auf „Ich freue mich für dich, was mich weniger freut sind meine Hausaufgaben“ - es folgte ein gekünstelter Freudenschrei.

„Tja, das Vergnügen werde ich auch bald wieder haben“ nun erntete ich einen deutlich verwirrten Blick „Was? Du hast dich entschieden – also so komplett aus freien Stücken – deinen Abschluss nachzuholen?“. Ich nickte „Jap. Es bringt mir nichts, wenn ich mich verzweifelt an die Vergangenheit klammere. Außerdem wird mir eine positive Grundeinstellung bestimmt auch bei meinem körperlichen Training weiterhelfen“.

Ein anerkennender Pfiff erklang als sich meine Schwester von der Couch entfernte um ihre Schultasche aus dem Flur zu holen „Meine Güte. Einen Tag mit Pelle und du bist wie ausgewechselt. Du solltest dich öfters mit Menschen treffen“. So falsch lag Anna vermutlich gar nicht „Vielleicht“.
 

„Na ja. Ich schlag mich jetzt mit Chemie rum, während du weiter faulenzen darfst. Die Welt kann so grausam sein!“ als Anna den Flur hinab und in ihr Zimmer verschwand musste ich feststellen, dass ich so etwas wie Vorfreude in Bezug meiner neuen Schule erwartete. Verrückt, wenn man überlegt, dass ich mich gestern noch mit Händen und Füßen dagegen sträubte. Doch Pelle meinte auch ich müsse nach vorne schauen und ich fand, er lag damit richtig. Was brachte es mir, wenn ich mich bissig an all den Dingen vor meinem Unfall festklammerte. Ich sollte lieber neu anfangen und aus meinem so viel machen wie nur möglich.
 

„Anna. Ich bin noch mal eben draußen. Brauchst du irgendwas von der Kaufhalle?“ rief ich laut, griff nach meinen Krücken und erhob mich „Salzstangen“ erfolgte die Antwort prompt. „Wird gemacht. Bis gleich“. Im Flur angekommen stellte ich meine Gehhilfe beiseite, zog mir meine Jacke über und suchte im Schubfach nach etwas Geld – zumindest schrieb mir Marko, dort Geld hinterlegt zu haben. Als ich fündig wurde griff ich bereits nach meinen Krücken, doch geriet ins Stocken als mein Blick auf die Oberfläche der Kommode fiel. Das Logo kannte ich, es gehörte meiner Klinik. Verwundert zog ich den dicken Umschlag aus dem Haufen Post, musterte den Empfänger skeptisch. Der Brief war an Marko adressiert, doch warum sollte meine Klinik ihm und nicht mir schreiben? Ich atmete einmal tief ein, hielt die Luft an und lauschte. Anna schien weiterhin mit ihren Hausaufgaben beschäftigt und im Hausflur blieb es still. Natürlich protestierte mein Gewissen laut als ich begann den Brief zögerlich aufzureißen. Es tobte und beschimpfte mich, dennoch versuchte ich es zu verdrängen. So leise wie nur möglich zog ich den Inhalt heraus. Ein Krankenbericht – beziehungsweise mein Krankenbericht – doch nicht von meinem Physiotherapeuten, ganz im Gegenteil.
 

Meine Augen überflogen das Dokument, was sollte das alles heißen? Hunderttausend Fremdwörter fielen auf mich ein, nur eines bereitete mir Kopfzerbrechen, denn ich verstand es: retrograde Amnesie. Meine Augen wanderten wieder hinauf, ich litt an keiner Amnesie, mein Gedächtnis war vollkommen in Takt, doch warum nannten sie dann meinen Namen als Patienten?

Kapitel FÜNF
 

...wird voll der krasse Bff!
 


 

Ich lag auf meinem Bett, den Blick starr gegen die Decke geheftet. An der Spinne, welche ohne Pause an ihrem Netz arbeitete. Der Versuch an nichts zu denken schien zu scheitern, denn trotz meiner Bemühungen, dachte ich daran an nichts zu denken. Eine Endlosschleife. Es fiel mir nicht leicht mich von dem Brief, welcher von mir in einem Anflug von Panik im Keller versteckt wurde, abzulenken. Unerlässlich spukte er in meinem Kopf herum. Ich zerbrach mir den Kopf, dachte angestrengt nach, dennoch erreichte ich nicht mehr als Kopfschmerzen.
 

Stöhnend drehte ich mich auf die Seite, egal wie oft ich meine Erinnerungen durchforstete, das Ergebnis blieb gleich – keine Ungereimtheiten, alles ergab Sinn, machte bis ins letzte Detail einen schlüssigen Eindruck. Warum sollte man glauben ich litt an Amnesie?

Natürlich könnte ich jetzt aufstehen und meinen Stiefvater fragen, doch etwas hielt mich zurück. Nachdem ich das Schreiben des Krankenhauses in den Händen änderte sich etwas in mir. Wie sollte ich es beschreiben, vielleicht wie ein unangenehmer Druck der sich auf meinen Brustkorb legte? Mich befiel das Gefühl etwas Wichtiges vergessen zu haben. Vorher bemerkte ich es nicht, doch nun schien es an mir zu zerren. Es rüttelte mich hin und her, bis mir schwindelig wurde. Spielte mein Kopf mir einen Streich?
 

Doch sollte ich wirklich, so unmöglich wie es mir erschien, an Amnesie leiden, warum klärte mich niemand auf? Im Bericht stand, die Ärzte würden das momentane Augenmerk auf meine physische Heilung legen, doch warum fragte mich niemand wie ich darüber dachte? Warum glaubten sie scheinbar über meinen Kopf hinweg solch wichtige Entscheidungen treffen zu dürfen? Besonders da ich laut unserem Gesetz als volljährig galt.

Wer wusste alles davon? Hatte man Pelle darüber informiert? Deckte er meine Eltern und die Ärzte auf Wunsch hin? Oder wusste er womöglich nichts davon.

Ein Schrei der Verzweiflung drang aus meiner Kehle, ich griff nach meinem Kissen und drückte es mir ins Gesicht. Das war doch alles zum Kühe melken. Ich litt an keiner Amnesie. Humbug.

Das vibrieren meines Handys unterbrach diesen mehr als billigen Selbstmordversuch. Missmutig streckte ich meinen Arm aus und angelte nach dem guten Stück. Nach Kommunikation strebte es mir momentan überhaupt nicht, weder mit Marko oder Anna, noch mit meiner Mutter. Selbst Pelle konnte mich in Ruhe lassen.

Mühsam richtete ich mich auf, musterte die Telefonnummer auf meinem Display argwöhnisch – unbekannt. Neugierig entsperrte ich mein Handy und öffnete die Nachricht.
 

&amp;gt;Hey ho<
 

Nichts. Kein Name und kein vernünftiger Text. Nur dieses knappe ‚hey ho‘ strahle mir entgegen. Mein Handy erntete den besten skeptischen Blick den meine Mimik zu bieten hatte und ohne lange darüber nachzudenken antwortete ich auf die Nachricht.
 

»Wer bist du?<
 

Auf die Antwort musste ich nicht lange warten, keine zwei Sekunden später kündigte ein sanftes vibrieren eine neue Nachricht an.

»Nenn mich Happy – ich bin ein Zauberer, eingesperrt in den Weiten des Telefonnetzes und nach langer Suche habe ich meinen Weg in dein Handy gefunden. Beschäftige mich.<

Und ‚Zack‘ flog mein Handy auf das Bett. Ich besaß heute nicht mehr die Nerven mich mit einem unbekannten Verrückten per Sms herumzuschlagen. Besonders mit niemanden der sich selbst den Namen Happy gab. Wie kam der Spinner überhaupt an meine Nummer? Stöhnend legte ich meinen Kopf in den Nacken – konnte die Welt noch mehr durchdrehen? Alte Freunde die du nicht wiedererkennst, Fremde die sich für Zauberer hielten, eine Schwester die Miniröcke trug und Ärzte jene einem Krankheiten andichteten – bitte, konnte nicht irgendwer in mein Zimmer platzen und mich erschießen.
 

~
 

Als das Abendbrot für beendet erklärt wurde half ich so gut wie es ging dabei den Geschirrspüler einzuräumen. Innerlich haderte ich mir ob ich Marko denn nun auf den Brief ansprechen sollte. Theoretisch verletzte ich durch mein Tun zusätzlich noch das Briefgeheimnis.

„Marko?“ begann ich zögerlich.
 

„Ja, Noah“ mein Stiefvater blätterte halb abwesend durch die Zeitung.
 

„Wollte Mum nicht kommen um mit mir über meine neue Schule zu reden?“ so viel zum Thema Brief. Marko gab ein genervtes Stöhnen von sich, legte die Zeitung beiseite und begann sich den Nasenrücken zu massieren. Meine Mutter zählte offensichtlich nicht mehr zu seinen Lieblingsthemen „Ja, eigentlich schon. Doch der äußerst vielbeschäftigten Dame kam etwas dazwischen. Sie wird nicht herkommen“ warum überraschte mich diese Antwort nicht. Sorgenvoll wanderten meine Augen zu Anna, sie liebte unsere Mutter und es traf sie mehr als mich, dass Mutter uns einfach zurückließ.

„Dann reicht es also wenn ich meine Zustimmung gebe und dann darf ich demnächst meinen Abschluss nachholen?“ erkundigte ich mich, dieses Gespräch wirkte so furchtbar nichtig. Doch eine leise Stimme in meinem Kopf überzeugte mich davon den Brief fürs Erste totzuschweigen. Mit einer geringen Wahrscheinlichkeit kam mein werter Herr Stiefvater demnächst selbst auf die Idee es mir zu sagen, die Chance wollte ich ihm zumindest nicht verbauen.
 

„So habe ich vorhin auch geschaut“ erklärte Anna sie Markos fassungslosen Blick sah.

„Wie jetzt“ begann mein Vater irritiert „Keine endlosen Diskussionen, gefolgt vom lauten Herumbrüllen und pubertären Verhalten?“. Danke. Die Beiden besaßen scheinbar eine sehr hohe Meinung von mir „Ich habe darüber nachgedacht und entschieden, dass es vermutlich nicht unklug ist einen Schulabschluss mein eigen nennen zu dürfen“.

„Auf Deutsch, Pelle hat Noah ins Gewissen geredet und – wie weiß nur Gott – zur Vernunft gebracht“ teilte Anna ungefragt ihre Meinung mit uns, erntete meinerseits einen grimmigen Blick für ihre Bemerkung.

„Nein, es war ganz allein meine Entscheidung“

„Na wer’s glaubt“

„Anna, du kleine mie-“

„Aus. Alle Beide“ Marko stoppte unseren herannahenden Streit „Es ist mir egal was deine Beweggründe sind Noah, ich freue mich einfach nur. Es ist vernünftig und zeugt von einer gewissen Reife“. Ja Marko, es zeugt auch von Reife, wenn man seinem Stiefsohn über sein komplettes Krankheitsbild aufklärt, dachte ich mir insgeheim. Die aufkeimende Wut heruntergeschluckt, zwang ich mir ein Lächeln auf die Lippen „Ich bin halt erwachsen geworden“.

Der misstrauische Gesichtsausdruck meines Vaters, inklusive hochgezogener Augenbraue entging mich nicht, doch griff ich lieber nach meiner Krücke und seufzte „So. Ich verziehe mich dann mal in mein Zimmer. Ihr wisst schon, mich innerlich darauf vorbereiten demnächst wieder die Schulbank zu drücken“.

„Nur eine?“ ich stoppte in meiner Bewegung, es dauerte seine Zeit bis ich begriff was Marko meinte „Oh. Ja, in der Wohnung reicht mir eine Krücke. Na ja, zumindest so lange ich Wände und Möbel zum entlang schlängeln habe“. Ein Lächeln umschmeichelte die Lippen des Braunhaarigen „es ist schön, wenn du Fortschritte machst“. Selbst Anna nickte zustimmend, diese Einigkeit wirkte nahezu gruselig.

„Wie sagte mein Arzt: Kleine Fortschritte sind auch Fortschritte“ wenn ich doch nur halbwegs so motiviert war wie ich tat.

Kaum hatte ich die Küchentür erreicht, wendete ich mich ein letztes Mal meiner Familie zu „Ach ja, sagt mal, wem habt ihr eigentlich alles die Telefonnummer für mein neues Handy gegeben?“ Für einen Moment kehrte Ruhe ein, dieselbe wie bereits am Vorabend, als ich eine Frage stellte über dessen Antwort sie scheinbar genauer nachdenken mussten – nur fiel es mir gestern noch nicht so speziell auf. Irgendwas verheimlichten die Beiden mir und das gefiel mir überhaupt nicht.

„Anna, deiner Mum, dem Krankenhaus. Das müssten alle sein, warum?“
 

„Nur so. Reine Interessenfrage. Ich habe meine Telefonnummer vorhin Pelle gegeben und darüber nachgedacht sie ebenfalls Leon zu geben“ denn Leon würde ich durchaus zutrauen mir solch dumme Nachrichten zu schicken. Doch offensichtlich besaß Leon meine Telefonnummer nicht, also wer konnte dieser Kauz nur sein? So langsam fühlte ich mich wie Sherlock Holmes – nur leider ohne gute Spur, welcher ich folgen konnte.

„Aber auch egal“ ich winkte ab „Pelle gibt mir bestimmt Leons Telefonnummer, wenn ich ihn nett darum bitte“.

„Bestimmt“ Marko schien nicht überzeugt. Hatte er die Finte durchschaut? Rasch setzte ich ein süßes Lächeln auf „Wisst ihr, ich freue mich irgendwie bereits auf die Schule“.
 

~

Abgesehen von der Physiotherapie vergingen die nächsten Wochen relativ ereignislos. Pelle kam noch einige Male zu Besuch, meine Schwester versuchte mir zu verdeutlichen wie sich Mädchen in der Pubertät verhielten und Marko stürzte voller Leidenschaft in seine Arbeit. Ach ja, dann gab es zusätzlich noch den Mister anonym, gerne auch Happy geschimpft. Seine Nachrichten beinhalten in den meisten Fällen völlig banale Dinge – er schrieb mir meist nur völlig wirres Zeug oder Monologe über sein derzeitiges Mittagessen. Ganz ehrlich, ich konnte mir nicht einmal erklären warum ich diesem Spinner überhaupt zurückschrieb. Wobei ich bis heute auch keine Antwort auf die Frage bekam woher er denn nun meine Nummer hatte.
 

„Noah“ rief mich mein Stiefvater, am liebsten hätte ich meine Krücken von mir geworfen und mich einfach zurück ins traute Bett fallen lassen.

„Was“ kam es vielleicht etwas zu giftig zurück.

„Wir müssen gleich los, hör auf so herum zu trödeln“ am liebsten hätte ich Marko die Hände um den Hals gelegt und einmal kräftig zugedrückt. Wer kam eigentlich auf diese dumme Idee mich in dieser Schule anzumelden? Ah stimmt, ich.

Stöhnend ergab ich mich meinem Schicksal, sattelte meinen Rucksack, griff nach meinen Gehhilfen und humpelte aus meinem Zimmer. Ach und glaubt nicht Marko wäre in der Zwischenzeit auf die Idee gekommen mich über fehlende Details meines Krankenbildes aufzuklären – nein, scheinbar erhoffte ich mir dahingehend einfach zu viel.

„Können wir nicht noch warten bis ich die Krücken los bin“ brummend betrat ich die Küche, ließ mich auf den Küchenstuhl fallen und zog die Schüssel mit dem durchweichten Müsli näher heran.

„Und wie lange sollen wir warten? Es kann noch ewig dauern bis du ohne deine Gehhilfe läufst, zumindest wenn du dich weiterhin verweigerst es überhaupt zu probieren“.

Marko stand in einem schwarzen Anzug und einer Kaffeetasse in der Hand an der Küchenzeile gelehnt „Dein Arzt meinte, dass deine Muskeln soweit sind. Es ist Großteiles nur noch eine Kopfsache“.

Die morgendliche Müdigkeit, welche meine Glieder noch umklammerte verhinderte das entnervte Verdrehen meiner Augen – oh wie ich dieses Gespräch doch Leid war.

Seitdem mein behandelnder Arzt andeutete, dass meine Krücken für einige Stunden problemlos weggestellt werden könnten, sprach Marko kaum noch von einem anderen Thema. Einfach ätzend – hey, ich mochte meine Krücken, irgendwie zumindest. Meine Gehhilfe gab mir ein Gefühl von Sicherheit, egal wie sperrig sie manchmal waren. Ich lief bereits so lange mit ihnen herum, die Vorstellung ohne sie umherwandern zu sollen wirkte auf mich irrsinnig, beinahe katastrophal.
 

„Uh-hu“ mein Stiefvater konnte mir mit seinen dummen Einfällen den Buckel herunterrutschen. Seinem Blick zu Folge besaß er die Gabe der Telepathie, sein Gesicht nahm weiche Züge an – ich ahnte was jetzt kam „Noah, komm schon. Ich, deine Mutter, deine Schwester, wir alle wünschen uns nur ein normales Leben für dich. Deine Krücken beiseite zu tun könnte der erste Schritt dahingehend sein. Außerdem benutzt du in der Wohnung doch zeitweise auch nur noch eine Krücke“. Er versuchte es auf die ‚Wir wollen doch nur das Beste für dich‘-Tour. Bekam ich bitte einen Eimer um mich nicht in meiner Müslischüssel übergeben zu müssen?

„Dieses Weichbrotgerede funktioniert seit der fünften Klasse nicht mehr bei mir Marko“ gab ich unmissverständlich zu verstehen und nahm einen Löffel meines Müslis. Seitdem ich mich in unserem Hausflur hin gemault habe klammerte ich an meinen Krücken wie ein drogenabhängiger an seiner Tüte Koks.

Unerwarteterweise zuckte Marko lediglich mit den Schultern „Ok“. Wie ‚ok‘? Das sollte alles sein? Ich protestierte kurz auf und Marko nahm es so hin – ganz ohne Widerworte? Misstrauisch wanderte der nächste Löffel zwischen meine Kauleisten.

„Schau nicht so Noah. Auch ich bin es irgendwann leid mich ständig unnötigen Diskussionen hinzugeben“ und das sollte ich ihm abkaufen? Ich entschied mich meinen Stiefvater lieber im Auge zu behalten, diese handzahme Art war Neuland für mich – zumindest seit meiner Rückkehr ins Reich der Lebenden.
 

„Freust du dich schon auf die Schule“ zwei Arme legten sich von hinten um meinen Hals – Anna.

„Total, ich muss mich wirklich beherrschen um keinen Salto vor Freude zu machen…“ warum habe ich diesem Mist noch einmal zugestimmt? Ah stimmt. Ich habe meinen Verstand verloren.

„Sei nicht so ein Griesgram Bruderherz. Du bist so süß, vermutlich werden dich gleich alle liebgewinnen“

„Oder mich meucheln, damals hat man es mit schwulen Krüppeln nicht anders gemacht“

„Ja, aber Noah, die Zeiten ändern sich. Hexen hat man damals auch verbrannt und siehe da, Mama lebt noch“

„Anna. Noah“ Marko schnappte nach Luft – ja, jetzt musste er wieder den Helden spielen und Mama verteidigen „Sie ist immer noch eure Mutter“.

„Hey, Anna macht die bösen Mutterwitze, nicht ich“ versuchte ich es mit einer Verteidigung. Anna ließ mich los, gab mir einen Kuss und der Anflug eines schelmischen grinsen in ihrem hübschen Gesicht war kaum zu übersehen „Außerdem, wer sagt, ich Scherze?“. Noch bevor unser Vater etwas erwidern konnte hüpfte mein jüngeres Selbst aus der Küche „Gut, ich muss zur Schule. Habt einen schönen Tag ihr zwei“.
 

~
 

„Lass los“ ein Knurren erklang und ich umfasste mich meiner freien Hand fest die Krücke, welche am anderen Ende von meinem Stiefvater umklammert wurde „Nein“.

„Marko, lass los“ erneut schüttelte der Ältere seinen Kopf „Nein. Du brauchst nur eine“. Während ich an meiner Gehhilfe zerrte, schien es Marko nicht einmal zu stören, so entspannt sah er dabei aus und das machte mich furchtbar wütend.
 

„Marko verdammt“
 

„Wenn du einen noch größeren Zweigenaufstand planst, dann bekommt es noch jemand mit. Vermutlich musst du dir über die Begriffe ‚schwul‘ und ‚Krüppel‘ dann keine Sorgen mehr machen“.
 

„Ich bitte dich darum meine Krücke loszulassen“ versuchte ich es auf die nette Tour.
 

„Nein“ mit einem Ruck zog Marko mit die Gehhilfe aus der Hand, lehnte sich vor, zog die Beifahrertür zu und verriegelte das Auto von innen. Sein Ernst? Sein verdammter Ernst?
 

„Marko!“ auf dem Gesicht meines Stiefvaters bildete sich ein zuckersüßes Lächeln, er hob die Hand zum Abschied, startete den Motor und ließ mich stehen, einfach so. Fassungslos blickte ich der Staubwolke hinterher. Nun stand ich hier mit einem Rucksack und nur einer verfluchten Krücke. Vor mir erstreckte sich das rote Backsteingebäude und davor viele mir unbekannter Menschen. Ich hasste mein Leben so sehr.
 

Nach ewigen herumirren fand ich sogar meine Klasse, zirka sechzehn junge Menschen die mich irritiert anstarrten, saßen bereits auf ihren Plätzen oder standen am Fenster herum. Sollte ich mich einfach mit einem plumpen ‚Hallo, ich bin Noah‘ vorstellen oder lieber die Flucht ergreifen. Meine Entscheidung wurde mir abgenommen als sich eine Hand auf meine Schulter legte. „Ah. Sie müssen Noah Bram sein“ erklang eine scharrende Stimme hinter mir. Eine kleine Frau, vielleicht Ende fünfzig, schulterlanges blondes Haar und einer kugelrunden Brille schob mich in den Raum „Meine Lieben, darf ich euch vorstellen – Noah Bram. Er ist ab heute ein Mitglied unserer kleinen Truppe. Bitte seid nett zu ihm“. Es fiel mir schwer mich auf meiner Gehhilfe zu halten als die Frau mich weiter in die Klasse zerrte, die Blicke der anderen brannten sich unangenehm durch meine Klamotten und ich verspürte das Bedürfnis davonzurennen mehr denn je.

„Jo, Willkommen Noah“ erhob ein junge in der letzten Reihe seine Stimme, fummelte sich grinsend an seiner Kappe herum. Er wirkte wie einer dieser prolligen Spasten und wirkte trotzdem sympathisch. Mein Kopf schien wohl doch mehr abbekommen zu haben als anfangs vermutet – prollige Idioten zählten niemals zu den sympathischen Menschen. Eher zu denen die Mitglieder der Randgruppen das Leben zur Hölle machten.

„Setzt dich zu mir Nono!“ ein Mädchen mit braunen Locken wackelte auf ihrem Stuhl herum „Ey Frau Mäser, sagen sie ihm er soll sich zu mir setzen, alles andere wäre voll unfair“. Oh Gott, eine Türkin, bitte nicht, die verarbeitete mich doch zu Kleinholz sobald sie etwas von meiner Sexualität mitbekam. Außerdem verunstaltete sie meinen Namen. Das ging gar nicht.

„Gut. Noah du kannst dich zu Shirin setzten“ half es mich bettelnd auf die Knie zu werfen.

„Danke. Voll cool von ihnen Frau Mäser“ jubelte Shirin triumphierend. Wenigstens eine Person die sich freute.
 

Niedergeschlagen gab ich mich meinem Schicksal hin. Mein Leben würde heute enden – vermutlich. Shirin schien sich auf mich zu freuen, hektisch leerte sie die andere Hälfte der Bank die bis eben noch mit ihrer Handtasche blockiert war.

Ich spürte Shirins Blick auf mir als ich begann meinen Block und einen Kugelschreiber hervorzukramen.

„Noah Bram“ misstrauisch hob ich meinen Kopf „Du kannst mich auch einfach nur Noah nennen, Shirin“.

Die gebräunte Türkin entblößte ihre unnatürlich weiße Zahnfront „Dann bist du echt Noah Bram. Voll krass Nono“.

Aus meinem Misstrauen wuchs blanke Panik, was meinte die junge Frau mit ‚Dann bist du echt Noah Bram‘. In der Klasse brach Getuschel aus und selbst unsere Lehrerin starrte fassungslos zu meiner neuen Tischnachbarin und mir. „Ey, das ist so mega krass man. Ich stehe so hinter dir und den Radiomann. Ihr seid voll das hammermäßige Pärchen Nono. Wir müssen auf jeden die dicksten Bffs werden Nono“ strahlend legte mir Shirin einen Arm um die Schulter und gab mir einen Kuss auf die Schläfe, während meine Hautfarbe zu kreidebleich wechselte.
 

„…ach du scheiße…“

Kapitel SECHS:
 

"...bekommt Hilfe von der Detektei Martin & Shirin "

~
 

»Wie ist dein erster Schultag?< ging die Nachricht, des unbekannten Irren, bei mir ein. Schnaubend steckte ich mein Handy zurück in die Hosentasche und stocherte weiter in meinem Pudding herum. Ihm könnte ich auch noch später antworten. Momentan musste ich erst einmal mein ungeplantes Outing verarbeiten.

„Und du kennst den wirklich nicht?“ wiederholte Shirin zum gefühlt hundertsten Mal kopfschüttelnd und schob sich eine Gabel von ihrem selbstgemachten Salat in den Mund. Wenigstens eine Person die meine Wut auf Felix Rosenthal nachvollziehen konnte. „Nope“ stöhnend lehnte ich mich in den Stuhl zurück „Ich habe das im Radio gehört, am liebsten wäre ich an die Decke gegangen. Keine Ahnung woher er meinen Namen kennt und warum er sich einbildet so einen Mist im Radio abziehen zu dürfen“.

„Vielleicht ist er hier nicht ganz richtig“ Shirin tippte sich mit ihren fein säuberlich maniküren Fingernägeln an die Schläfe „Weiß man‘s?“.
 

Der Essensraum unserer Schule wirkte eher wie ein Café als eine Cafeteria, nett eingerichtet und mit eigentlich wirklich gutem Essen, zumindest wenn man nicht wählerisch war. Als es nach den ersten Unterrichtsstunden zur großen Pause klingelte hatte mich Shirin gepackt, mir meinen Rucksack zugeworfen und quasi aus dem Klassenraum entführt. Widerworte kannte die junge Frau scheinbar nicht. Als Shirin im Klassenraum aufstand musste ich mit entsetzten feststellen, dass sie ein gutes Stück größer war als ich. Unter ihrem bequemen weinroten Pullover konnte man eine schlanke Figur erahnen, doch sie gehörte definitiv nicht zu den Frauen die einen ihre körperlichen Vorzüge geradezu ins Gesicht pressten. Ihre schwarze Jeans, gefolgt von abgetragenen Chucks brachten mich allerdings dazu meine eigenen Beine als kleine Stummel anzusehen, denn bei Shirin bekam man eher das Gefühl ihre Beine wollten gar nicht mehr aufhören – was zumindest ihre Körpergröße erklärte. Doch im Allgemeinen konnte man Shirin als hübsch bezeichnen, volle dunkle locken, braune Haut, fast schwarze Augen und endlos lange Wimpern. Damals vermutlich absolut Leons Typ.
 

„Du gaffst“ Shirins Stimme riss mich aus meinen Gedanken, peinlich berührt senkte ich meinen Blick, was bei der Dunkelhaarigen nur ein Schnauben auslöste „Ich glotz dir auch nicht auf die Krücke, Nono“ Für einen Moment befürchtete ich eine unangenehme Stimmung zwischen uns, doch Shirins Kreis der tausend Fragen begann erneut „Brauchst du das Ding jetzt immer?“.
 

„Ähm, nein. Wenn alles gut läuft, dann kann ich irgendwann wieder ohne sie laufen“ theoretisch konnte ich sie laut meines Arztes sogar für kurze Strecken komplett wegstellen, doch dafür fehlte mir einfach er Mut. Ja, nachdem wir über Felix gesprochen hatten, stellte mir Shirin eine mächtige Anzahl von Fragen und ohne lange darüber nachzudenken beantwortete ich ihr jede Einzelne. Kennt ihr auch solche Menschen, sobald sie einen anstarren hat man das Bedürfnis ihnen das Herz auszuschütten, inklusive jedes noch so schmutzigen Details? Darf ich vorstellen: Shirin. Ich weiß nicht woran es lag, doch ich habe ihr in zwanzig Minuten von allen nur erdenklichen Dingen berichtet.
 

Gerade als Shirin ihren Mund öffnete um mich mit der nächsten Frage zu löchern wurde ein Stuhl neben uns zurückgeschoben und einer unserer Klassenkameraden ließ sich darauf nieder. Er stank unangenehm nach kaltem Rauch.

„Boah, Martin. Du stinkst“ bemerkte meine Klassenkameradin mit angewiderten Gesichtsausdruck, welcher mehr als deutlich machte was sie von unserem Klassenkameraden, oder eher von seiner schlechten Angewohnheit hielt „Geh weg, wir Essen. Du verpestest Nono und meine Luft“. Bitte, konnte man diesen Kosenamen nicht irgendwo verbrennen? Er klang so zuckersüß, ich bekam fast Karies davon.

„Jetzt hab dich nicht so man, als würde es so schlimm riechen. Mädchen, echt ey“ doch tat es Fremder. Der junge Mann hielt mir seine Hand hin „Ich bin Martin. Wollte mich mal vorstellen, aber noch bevor ich zu dir kam, hatte Shirin schon ihre Krallen des Verderbens in dich gebohrt und fortgeschleift“. Der Gesichtsausdruck meiner Klassenkameradin verfinsterte sich, scheinbar fuhren Martin und Shirin nicht unbedingt auf derselben Wellenlänge.

„…Noah“ eifrig schüttelte Martin meine Hand „Freut mich Noah. Du bist ja sowas wie eine kleine Berühmtheit auf unserer Schule. Hat sich echt schnell herumgesprochen, dass du der Lover dieses Radiotypen bist“.

Was? Ich war mit hoher Wahrscheinlichkeit der Lover von so überhaupt niemandem und mit absoluter Sicherheit nicht von Felix Rosenthal.
 

„Ich und Felix Rosenthal sind kein Paar“ versuchte ich klarzustellen, es konnte doch nicht angehen, dass jeder so naiv war und glaubte was er im Radio hörte.

„Wie jetzt?“ fuhr Martin verwirrt fort, wollte oder konnte sein Gehirn meine Worte nicht verarbeiten?

„Deine Mutter hat dich als Kind auch zu heiß gebadet oder“ warf Shirin ein, verdrehte genervt die Augen „Die beiden haben nichts miteinander, hatten nie etwas miteinander und werden vermutlich auch niemals etwas miteinander haben. Der Radiotyp hat sich auf Nono’s Kosten einen assigen Scherz erlaubt“.

„Echt jetzt“ Martin strich sich durchs Haar, blickte entsetzt von Shirin zu mir „Das ist echt nicht korrekt“. Shirin stimmte ihm nickend zu „Voll der Arsch, dieser Rosenthal“.
 

Und somit drifteten beide in eine verwirrende Diskussion über Felix Rosenthal ab. Obwohl sie sich so offensichtlich überhaupt nicht riechen konnten schienen Shirin und Martin gerade wie ein Herz und eine Seele – ich wurde aus ihnen nicht schlau, doch kannte ich sie ja erst seit heute.
 

„Du bist manchmal überraschend scharfsinnig Sherlock“ Martins Lippen kräuselten sich zufrieden während Shirin begeistert in die Hände klatschte „Ich weiß Holmes, ich weiß“.

Erde an Anwesende, was hatte ich verpasst. Shirin sowohl auch Martin wendeten sich erneut meiner Wenigkeit zu, meine Klassenkameradin räusperte sich „Also Nono. Wir haben uns so Gedanken gemacht. Wie man es halt so tut, wenn man so gut befreundet ist wie wir. Nicht war Martin“. Also kannten wir uns zwar erst seit – ich warf einen flüchtigen Blick auf meine Armbanduhr – zirka vier Stunden, aber waren schon Freunde, interessant.

„Ja genau“ stimmte Martin der Dunkelhaarigen zu und legte mir einen Arm um die Schulter „Du hast Shirin von diesem ominösen Arztbericht erzählt und wir haben uns ein paar Gedanken darüber gemacht“. War es gemein von mir, mich zu wundern, dass Martin das Wort ‚ominös‘ überhaupt kannte?

„Also“ Shirin lehnte sich mit einem verschwörerischen Funkeln in den Augen vor „Du sollst angeblich unter Amnesie leiden und vielleicht stimmt das ja auch“. Aha, ich glaube kaum liebste Shirin.

„Denn was ist, wenn Felix Rosenthal und du euch doch kannten, du hast ihn nur vergessen“ fuhr sie fort „Er hat all die Jahre auf dich gewartet um dann festzustellen, dass du ihn einfach aus deinen Erinnerungen gelöscht hast. Da würde doch sicher jeder durchdrehen“.

Oh Gott, warum mussten ihre Worte nur so plausibel klingen und noch viel schlimmer, warum hörte ich den Beiden überhaupt zu während sie sich irgendwelche Theorien aus den Fingern saugten.

Mit verstimmter Miene löste ich Martins Arm von meiner Schulter, griff nach meiner Krücke und erhob mich fluchend „Hört auf mit diesem Mist. Wir sind hier nicht in irgendeiner Telenovela und ich hatte vor meinem Unfall einen Freund – einen wirklich tollen Freund, wenn ich anmerken darf – und dieser Freund war sicherlich nicht irgendein Typ aus dem Radio“.
 

„Aber Nono“
 

„Shirin, hör auf. Ihr Beide, lasst es einfach. Ich habe keine Amnesie und ich kenne diesen Rosenthal nicht. Verflucht nochmal“ hektisch und unkoordiniert riss ich meinen Rucksack empor, versuchte ihn mir hektisch umzuhängen als Shirin an meine Seite trat „Hey Nono, alles ok. Wir wollten dir keine Angst machen – wirklich nicht man“.

Da war es, dieses Gefühl in meiner Brust, keine Wut trieb mich dazu die Flucht zu ergreifen, sondern pure Angst. Shirin hatte Recht, ich fürchtete mich, doch tappte ich ihm unklaren worüber. Meine Hand zitterte als meine Klassenkameradin sie ergriff „Wir lassen das Thema, versprochen. Nur lauf nicht weg, ich dachte wir wollen Freunde werden Nono“.
 

~
 

»Es verletzt mich schon ein wenig, dass du mir nicht antwortest<
 

Mit zerknirschtem Gesicht lag ich auf meinem Bett, eigentlich damit beschäftigt meinen ersten Schultag zu verdauen, als sich Mr. Unbekannt wie so oft in meine Realität schlich.
 

»Sei ruhig. War nicht mein Tag< antwortete ich, drückte mein Gesicht daraufhin ins Kissen und verspürte das Verlangen einfach loszuschreien. Meine Beine schmerzten aufgrund der heutigen Belastung, mein Kopf tat weh und meine Gedanken tanzten einen flotten Salsa. Ich war im Begriff einfach durchzudrehen.
 

»Oh armes kleines Ding. War der erste Schultag so schlimm?<
 

»Meine Klassenkameraden sind Großteiles in Ordnung, doch scheinen sie im weiteren Verlauf ihres Lebens unbedingt eine Detektei Eröffnung zu wollen – ich scheine ihr ersten offizieller Auftrag zu sein<

»Hingehend zu welchem Thema?<
 

»Meine angebliche Amnesie und Felix Rosenthal – Martin und Shirin kommen auf die unglaubwürdigsten Ideen…<
 

»Rosenthal? Ach so, du meinst diesen gutaussehenden Idioten der beim Radio arbeitet?<

»Gutaussehend ist wohl ein wenig übertrieben< antwortete ich schnaubend, obwohl ich zugeben musste, dass der Typ nicht schlecht aussah. „Noah…höre einfach auf zu denken“ ermahnte ich mich selbst, ich musste in meiner derzeitigen Situation sicherlich nicht noch analysieren ob mein Libido Rosenthal durchaus in die Kategorie – ja, würde ich anspringen – einsortieren würde. Um Himmelswillen.
 

»Ich finde er sieht nicht schlecht aus, zumal er äußerst charmant sein soll und von seinen guten Manieren will ich gar nicht erst anfangen. Er ist schon eine Klasse für sich und wenn ich es vermuten darf, sicher auch ein guter Liebhaber<

Fassungslos glitten meine Augen mehrmals über das Geschriebene bevor ich kopfschüttelnd zurückschrieb »An dir ist wohl auch ein Fan Boy verloren gegangen<.
 

»Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht<
 

„uh-hu“ missmutig schob ich das Handy von mir weg. Ich wollte nicht mit Rosenthals persönlichen Fan Boy schreiben, wenn ich gerade dabei war ihn zu verfluchen. Auf der einen Seite sollte ich Erleichterung verspüren, da ich gleich am ersten Schultag nette Leute kennenlernte, doch auf der anderen Seite stellten mir Martin und Shirin zu viele Fragen. Fragen auf die ich die Antwort nicht kannte und vielleicht wollte ich sie auch überhaupt nicht kennen.
 

Leon wüsste was zu tun ist, das wusste er immer – doch auch wenn ich seine Nummer bereits besaß, traute ich mich nicht mit ihm Kontakt aufzunehmen. Ich war ein Feigling. Es könnte die Angst sein, dass er sich verändert hatte, oder einfach die Furcht vor einer Abweisung die mich zurückhielt. Ich schloss meine Augen, atmete zittrig ein „Nur nicht die Nerven verlieren Noah“.
 

~
 

„Anna. Wo ist Marko?“ ich saß auf der Couch, starrte auf den Fernseher und genoss den angenehmen Duft, welcher aus der Küche langsam ins Wohnzimmer wanderte. Meine Schwester hatte in den letzten zwei Jahren definitiv das Kochen perfektioniert.

Meine Schwester erschien mit Dutt und Schürze am Türrahmen, den Kochlöffel noch in der Hand „Papa meinte er hätte irgendein Meeting in Berlin. Er wird heute nicht nachhause kommen. Aber wenn du mich fragst, dann schläft er hinter unserem Rücken mit Mama“. Ruckartig schnellte mein Kopf herum „Wie bitte?“.
 

„Du hast mich schon richtig verstanden. Er schläft mit Mama“
 

„Quatsch…du verarschst mich doch“
 

Anna verdrehte ihre Augen „Nein, wirklich. Ich traf ihn heute Mittag als ich nachhause kam. Er trug eine Jeans, ein Hemd und roch nach dem Aftershave was ihm Mama damals zu Weihnachten geschenkt hatte – weil sie fand es riecht so unglaublich gut an ihm. Außerdem hat er gegrinst wie so ein Honigkuchenpferd“ Noahs Schwester schüttelte es bei dem Gedanken.
 

„Das heißt doch gar nichts!“
 

„Ach nein? Also auch nicht, dass sie letzten zehn Nummern in unserer Anrufliste die von Mama sind und er mit einer Box Kondome in seiner Arbeitstasche abgehauen ist?“
 

„Du meinst wirklich…“ ich war fassungslos.
 

„Aha“ Anna drehte sich spielerisch einmal um die eigene Achse „Unser alter Herr wird Mama heute ziemlich glücklich machen, wenn du verstehst was ich meine“.
 

Angewidert verzog ich das Gesicht „Wie kannst du so locker über den Geschlechtsverkehr unserer Eltern reden. So was von eklig“. Meine Schwester zog eine Augenbraue in die Höhe „Dein Ernst Noah? Wie um alles in der Welt meinst du haben die Beiden mich gezeugt?“ ich kannte die Antwort und sie gefiel mir nicht. Über Annas Gesicht huschte ein Lächeln, welches langsam aber stetig zu einem unheimlichen grinsen mutierte „Sie hatten leidenschaftlichen und hemmungslosen Sex – stundenlang“. Fluchend presste ich mir die Hände auf die Ohren „Nein Anna. Aus!“. Meine angeblich so erwachsene Volljährigkeit ging mir gerade geordnet am Arsch vorbei, auch in meinem jetzigen Alter wollte ich nicht darüber nachdenken was meine Eltern in ihrer Freizeit trieben. Niemals.
 

Lachend verschwand meine Schwester in der Küche und ließ mich leicht verstört zurück. Sollte es stimmen? Fingen Marko und meine Mutter wieder etwas miteinander an? Aber wie und vor allem wann? Noch vor zwei Wochen verdrehte Marko permanent die Augen, wenn wir nur Mamas Namen in den Mund nahmen.
 

Das penetrante Klingeln meines Handys riss mich zurück in die Wirklichkeit, just in diesem Moment schlich mir Martins Stimme durch den Kopf ‚Boah ey, Shirin‘. Und tatsächlich, meine Klassenkameradin versuchte mich zu erreichen. Für einen Moment überlegte der kleine Teufel in mir einfach nicht ans Telefon zu gehen, doch im Grunde fand ich Shirin zu nett um sie einfach zu ignorieren „Bei Noah Bram“.
 

„Nono! Nono! Nono!“ Shirin schien völlig von Sinnen „Wir haben es gefunden!“. Irritiert hielt ich mir das Handy dichter ans Ohr „Wie bitte?“.

„Wir haben eine Unstimmigkeit in dem Zeitraum vor deinem Unfall gefunden!“ ertönte nun auch Martins Stimme im Hintergrund. Was zum Teufel trieben die Beiden da? Hatte ich ihnen nicht gesagt, sie sollten sich aus meiner Vergangenheit raus halten.

„Martin. Shirin. Ist das euer Ernst…“

„Nein. Nein. Nein. Hör uns erst einmal zu bevor zu ausflippst“ oh Martin kannte mich nach nur einem Tag bereits verdammt gut, denn ich brodelte.

„Hast du einen Laptop Nono?“

„Ja, warum?“

„Beweg dich und mach ihn an. Du musst auf dein Facebook-Profil!“

Nur widerwillig erhob ich mich von der Couch, ich wollte eigentlich gar nicht wissen was die Beiden dachten gefunden zu haben. Ich schnaufte „Ihr spinnt doch…“.
 

Martin räusperte sich nervös „Vielleicht, aber schau es dir erst einmal an“. In meinem Zimmer angekommen angelte ich mir meinen Laptop vom Nachttisch und fuhr ihn hoch.

„Und was glaubt ihr gefunden zu haben?“

„Bist du schon online?“

„Nein noch nicht…“ ich öffnete den Explorer, wählte die Seite und gab meine Zugangsdaten ein. Meine Klassenkameraden trieben mich in den Abgrund. Sie sollten aufhören mit dieser kindischen Geheimniskrämerei.
 

„So Nono. Jetzt schau dir deine Seite an“ forderte mich die Deutsch-Türkin auf.

„Ich tue gerade nichts anderes liebe Shirin. Nur weiß ich ehrlich gesagt nicht was mir Unglaubliches ins Auge springen soll“.

Ein genervtes Stöhnen erklang, gefolgt von einem Gezanke am Telefon – Martin schien als Gewinner hervorzugehen „Dein letzter Post du Trottel. Schau ihn dir genauer an und sag uns wann du ihn gepostet hast!“
 

Ich scrollte die Seite wieder rauf, der letzte Post bestand aus einem Gruppenfoto von Leon, Pelle, Jan, den Chaos-Zwillingen und mir „Das Foto wurde an Leons Geburtstag aufgenommen, kurz vor meinem Unfall“.

„Falsch!“ Shirin hatte sich das Telefon zurück ergattert „Dein letzter Post von dem Geburtstag deines Freundes war ein halbes Jahr vor deinem Unfall“.

Kapitel Sieben
 

…Lügen über Lügen.
 


 

„Oh mein Gott. Oh mein Gott. Oh mein Gott“ die Hände in meinen mittlerweile viel zu langen Haaren verkrallt, lief ich wie ein wildgewordener Tiger auf und ab. Shirin saß im Schneidersitz auf meinem Bett, Martin nachdenklich an meinem Schreibtisch. Vielleicht bräuchte ich mal einen Friseurtermin – verdammt Noah, scheiß auf den Friseurtermin, du verarbeitest gerade gänzlich andere Sorgen.

„Ein halbes Jahr – einfach weg, verschwunden, ausgelöscht. Ein halbes Jahr meines Lebens und ich erinnere mich an gar nichts“ wäre die Situation nicht so unfassbar grauenhaft, könnte ich mich vielleicht darüber freuen, dass ich das hin und her tigern komplett ohne Krücken absolvierte.

„Ganz ruhig Nono“ versuchte mich Shirin zu beruhigen, mein Handy fest von ihren Händen umschlossen. Martin hatte es mir sicherheitshalber entrissen als ich Wut entbrannt erst Marko, dann meine Mutter und schlussendlich Pelle anrufen wollte.

„Ruhig? Ruhig? Ruhig? Wie soll ich in so einer Situation ruhig bleiben“ meine Stimmte nahm hysterische Tonlagen an „Ein ganzes halbes Jahr wurde einfach aus meinen Erinnerungen entfernt! Ich war mir so sicher, dass der Unfall kurz nach Leons Geburtstag geschah, dass mir nicht einmal auffiel, wie groß die Zeitspanne dazwischen ist. Wie kann mir so etwas Wichtiges entgehen“.
 

Wo Anna ist fragt ihr euch? Tja, Anna hat auf Empfehlung der ihr komplett unbekannter Menschen – Shirin und Martin – mir ihr gekochtes Essen in den Kühlschrank getan, ihre Sachen gepackt und schläft somit bei einer ihrer unzähligen Freundinnen. Besser so, für ihre Gesundheit zumindest.
 

„Oh was habt ihr nur angerichtet“
 

Nun meldete sich auch Martin zu Wort „Moment. Angerichtet? Nichts haben wir angerichtet, außer du meinst damit, dass wir uns für dich auf die Suche nach deinen fehlenden Erinnerungen machen wollten“.
 

„Aber ich habe euch doch gesagt, ich habe keine Amnesie“
 

„Na ganz offensichtlich hast du die schon“ würde man es mir übel nehmen, falls ich meine Beherrschung verlor und Martin den Kopf einschlug? Ich schnaufte und warf mich zu Shirin aufs Bett „Ich will sterben“ – „Rede keinen Scheiß Nono, wir bekommen es schon wieder hin“.
 

Missmutig blickte ich zu Shirin auf „Warum seid ihr eigentlich so besessen davon mir zu helfen. Wir kennen uns doch quasi gar nicht…“ Diese Frage hatte mich bereits seit der Mittagspause beschäftigt. Warum wollten die Beiden mir unbedingt beistehen? Die Dunkelhaarige zuckte lächelnd mit den Schultern „Du bist nett, brauchst Unterstützung, wie sollten wir dir da nicht helfen wollen Nono?“. Sollte die Antwort wirklich so simple ausfallen?
 

Ich schloss meine Augen und dachte nach. Ein komplettes halbes Jahr an jenes ich mich nicht erinnern konnte. Sechs Monate – eine verdammt lange Zeit. Ich erinnerte mich an Leons Geburtstagsfeier als wäre sie gestern gewesen, an meinen Unfall und sogar an das beschissene Eis, welches ich mir davor noch gekauft hatte. Doch dazwischen – nichts. Mein eigenes Erinnerungsvermögen schien sich zu meinem Erzfeind erklären zu wollen.
 

„Mist“ Shirin sprang von meinem Bett „Wir überlegen uns morgen einen Schlachtplan, wenn ich heute zu spät komme, dann bekomme ich bis an mein Lebensende Hausarrest“.
 

„Ich bring dich noch, es ist schon spät“ mein Klassenkamerad erhob sich ebenfalls, allerdings nicht ohne mir noch einen aufmunternden Blick zu schenken „Kopf hoch, Noah. Shirins Mutter hat mir mal gesagt, dein Leben ist nur so schlecht wie du es selber zulässt. Wahre Worte, wenn du nach meiner Meinung fragst“.
 

„Du erinnerst dich daran noch?“ Shirin klang irritiert. Also kannten die Beiden sich wie vermutet doch länger als nur ihre Schulzeit über.
 

„Ja, ich glaube der Pantoffel, welchen sie davor nach mir geworfen hat, hinterließ einen gewissen Eindruck“ er kratzte sich verlegen am Hinterkopf. Mühsam richtete ich mich auf „Danke…“. Ich wusste ich war in solchen Dingen nicht der Beste, doch auch wenn mich die Entdeckung der Beiden mir Bauchschmerzen bereitete, so musste ich ihnen Danken.
 

Shirin beugte sich zu mir herunter, zog mich in eine feste Umarmung „Das ist doch klar, immerhin sind wir jetzt Freunde Nono“.
 

~
 

Die Beiden gingen und ich blieb in der leeren Wohnung zurück. Einerseits wünschte ich mir Anna her, doch wenn ich ehrlich war wollte ich sie nicht sehen. Sie steckte genauso dort mit drin, hatte mir kein Wort gesagt und mir die heile Welt vorgespielt.
 

Unmengen an Fragen spukten in meinem Kopf herum. Was geschah in diesem besagten halben Jahr und könnte ich mich je wieder daran erinnern? Sollte ich meinen Arzt sagen, dass ich von allem wusste und mich therapieren lassen? Egal wie sehr ich versuchte darüber nachzudenken, mich anstrengte, ich kam zu keinem zufriedenstellenden Entschluss. Was konnte ich den Menschen die ich kannte noch glauben und wie sollte ich Wahrheit von Lüge unterscheiden. Obwohl ich kein sonderlich sentimentaler Mensch war lehnte ich mich den Tränen nahe zurück. In Momenten wie diesen wünschte ich mir nie aufgewacht zu sein.
 

Mein Handy, welchen nicht weit entfernt von mir auf dem Bett lag, zog ich näher an mich heran. Ich zögerte bevor ich die Nachricht an Mr. Unbekannt verfasste. Ich sehnte mich nach jemanden der mich aufmunterte und wenn es nur durch flache Witze inklusive dummer Scherze geschah.

>Mir geht es nicht gut. Munter mich auf<
 

Erst geschah gar nichts, die Minuten zogen dahin ohne eine Antwort. Für einen Moment glaubte ich schon nicht mehr daran, doch mein Handy gab ein Lebenszeichen von sich.
 

>Zieh dich an und fahre in die Holzenbacher Allee 45-50. Pack dir Geld ein< *
 

Ich bekam nicht mehr als eine Aufforderung zurück. Normalerweise kam jetzt der Moment in dem ich mein Handy von mir weg warf und über diesen Spinner schimpfen würde, doch ich tat nichts von alle dem. Ohne weiter darüber nachzudenken stand ich auf, stopfte mir mein Handy in die Hosentasche und verließ mein Zimmer. Aus dem Rucksack im Flur packte ich alles bis auf meine Brieftasche heraus, griff nach meiner Krücke und machte mich auf den Weg.
 

War die Aktion verrückt? Vielleicht. Doch wie viel Verrückter konnte ein Amnesie Patient schon noch werden. Die Fahrt verging wie im Flug, als die Haltestelle in der Nähe der Holzenbacher Allee angesagt wurde stieg ich aus. Nun stand ich hier, mitten in der City und fragte mich ob ich komplett bescheuert war. Was wenn dieser Happy ein Irrer war, ein Psychopath? Er könnte mich in eine Wohnung locken und niemand wusste Bescheid. Mittlerweile stand die Sonne tief und es wurde Nacht in unserer Stadt, die Menschen erledigten ihre letzten Einkäufe oder saßen in den Cafés und sprachen über den neusten Tratsch. Ich mied unsere City bereits so lange, dass ich ganz vergaß wie schön sie war und wie gern ich selbst abends durch ihre Straßen geschlendert bin.
 

Nur nach wenigen Gehminuten erkannte ich, dass in der Holzbacher Allee kein Wohnhaus stand. Trotz der Menschenmassen um mich herum, entkam mir ein Wimmern. Hastig strich ich mir die aufkommenden Tränen weg. Woher wusste er es? Wie konnte er ahnen womit er mich aufmuntern konnte ohne lange darüber nachzudenken? Meine Augen glitten über den Eingang des Geschäfts und der Hauch eines Lächelns strich über meine Lippen. Marko ging mit mir oft hierher als ich jünger war. Ich hatte als Kind Schwierigkeiten einen neuen Mann im Haushalt zu akzeptieren und wenn ich nicht weinte, dann wütete ich. Irgendwann packte mich Marko und zerrte mich in sein Auto, wir fuhren eine gefühlte Ewigkeit durch den Stau der City bis wir an diesem Laden landeten. Oh wie oft wir hier unsere Nachmittage verbrachten und ich Marko die Möglichkeit gab einander besser kennenzulernen. Ich war ein Kind und wie hätte man ein Kind besser auf seine Seite ziehen können als durch Süßigkeiten. Wobei diese Angewohnheit im Alter blieb, wenn ich mich nicht gut fühlte oder traurig war fuhr ich an diesen Ort. Eigentlich kindisch und dumm, doch es machte mich glücklich, da ich diesen Ort mit wunderschönen Erinnerungen verknüpfte.
 

Noch einmal wischte ich mir entschlossen die Tränen beiseite und betrat den M&M-Store. Riesige Säulen voll mit den verschiedensten Sorten und Farben türmten sich an den Wänden und mitten im Raum, doch dominiert wurde er von riesigen Statuen der M&M-Maskottchen. Genau das brauchte ich jetzt, eine riesige Ladung feinsten Zuckers. Im Idealfall bis mir schlecht wurde.
 

Es dauerte nicht lang bis ich mir eine Tüte mit allerlei Sorten befüllt hatte und stolzierte zur Kasse. Auch wenn das Unterfangen mit nur einem freien Arm wirklich nicht leicht war. Das Anstehen kannte man in diesem Laden und dennoch erfreute mich die eingehende Nachricht, welche durch das penetrante vibrieren meines Handys angekündigt worden war. Hastig versuchte ich mich weiterhin auf meiner Krücke zu stützen und nebenbei die Tüte in der Hand unterzubekommen um mein Handy aus der Hosentasche zu ziehen. Vermutlich konnte ich meine Verwunderung kaum verbergen, besonders nicht da mir die Tüte und ebenfalls das Handy beinah aus der Hand gerutscht wären. Ich riss meinen Kopf empor und suchte die Menschenmasse ab. Ein bekanntes Gesicht, nur ein bekanntes Gesicht, wiederholte ich wie ein Gebet während meine Hand sich fest um mein Mobiltelefon schloss: >Du siehst doch gleich viel süßer aus, wenn du so zufrieden lächelst<. Er war hier, irgendwo in meiner Nähe und beobachtete mich. Sich unwohl zu fühlen wäre in solch einem Moment normal, doch es war Aufregung die in meiner Brust pochte. Ein warmes Gefühl machte sich in mir breit, doch wurde es getrübt als ich keines der Gesichter um mich herum wiedererkannte.
 

Eines stand fest, ich schien für Mr. Unbekannt keinen Platz in meinen Erinnerungen zu haben, doch er kannte mich. Er musste mich kennen. Leon? Jan? Pelle oder vielleicht Max?

„Sie sind als nächstes dran junger Mann“ die Stimme der Kassiererin störte meinen Gedankenfluss und ich ließ von meiner Suche ab. Rasch bezahlte ich meinen Einkauf und verließ schweren Herzens das Geschäft. Die Süßigkeiten wurden in meinem Rucksack verstaut und mein Handy fand seinen Platz in meiner Hand >Darf ich dir persönlich danken?<. Dieser Typ konnte mir erzählen was er wollte, ich war fest davon überzeugt, dass er sich in der Nähe aufhielt.
 

Doch ich wartete vergebens auf eine Antwort. Mr. Unbekannt schickte keine Nachricht, keine Erwiderung und ich entschied mich nicht länger zu warten. Die kühle Nachtluft zog durch meine Kleidung und ließ mich frösteln. Auf dem Heimweg blieb mir genügend Zeit um Nachzudenken, einen klaren Gedanken zu erfassen um ihm am Ende dabei zu beobachten wie er im Nichts verschwand. Das halbe Jahr blieb in der Dunkelheit zurück, unklar und ohne den geringsten Anhaltspunkt – ich hatte Kopfschmerzen.
 

~
 

„Guten Morgen Deutschland. Wir haben es kurz nach neun, der Morgen beginnt sonnig und verspricht uns einen angenehmen Sommeranfang mit zirka Achtzehn Grad zum Mittag hin. Wir spielen heute alle aktuellen Hits und wie jeden Dienstag ihre Wunschsongs auf Abruf. Immerhin fröhlich, immer aktuell mit Felix Rosenthal – ihr Mann für den wirklich guten Start in den Tag“
 

Stöhnend schob ich mir meine Hände auf die Ohren, seit wann arbeitete Rosenthal wieder im Radiosender – hatte seine Auszeit ein wirklich so baldiges Ende gefunden. Würde er mich jetzt jeden Morgen mit seiner viel zu positiven Laune quälen und foltern? Als sie Tür unserer Wohnung aufgeschlossen wurde spitzte ich die Ohren, der Geräuschkulisse zu urteilen, eindeutig meine jüngere Schwester.
 

„Guten Morgen Anna“ rief ich laut, die Antwort bestand aus einem Poltern – da hat wohl jemand nicht damit gerechnet, dass ich mich noch nicht zur Schule aufgemacht hatte.

„Morgen…“ meine Schwester tauchte am Türrahmen zur Küche auf, ihr Blick huschte nervös hin und her, während sie an dem Saum ihres Shirts spielte „Deine Freunde sind gestern Abend noch gegangen?“.

„Ja“ antwortete ich knapp, ließ Anna nicht eine Sekunde aus den Augen.

„Uh-hu“ die Situation schien ihr nicht zu gefallen, dabei wusste sie doch noch nicht einmal was ich nun alles wusste. Oder eher, dass ich wusste von was ich alles nicht wusste – das klang seltsam.

„Was war gestern los, du wirktest aufgebracht“ tastete sich Anna vor. Ich schnaubte verärgert auf „Ach nichts Wichtiges. Shirin fand nur heraus, dass ihr Bruder sie eine ziemlich lange Zeit hinweg angelogen hat. Sie brauchte etwas beistand, aber beim besten Willen, die enge Bindung der Beiden ist jetzt wohl Geschichte“. Da war es, das Rattern hinter ihrer Stirn, das verräterische Funkeln in ihren Augen – sie ahnte es, doch blieb stumm.

„Das ist ja nicht gut“ ihre Lippen pressten sich fest aufeinander, bis nur ein schmaler Strich übrig blieb.

Überraschend entspannt gab ich meine Zustimmung „Sowas kann schon mal die besten Familienbande zerstören, ich bin wirklich glücklich, dass wir untereinander stets ehrlich sind“. Es bestand die Möglichkeit, dass mein Handeln nicht in Ordnung war, doch auf einer ganz bestimmten Weise wollte ich meiner Schwester wehtun. Ich wollte sie verletzten, aus Wut. Zorn der auf eine faire Art gesehen nicht nur ihr gebührte. Unter meine Wut regte sich mein Gewissen, denn mein Handeln war falsch – eindeutig.
 

„Nein niemals“ ich glaubten für einen Moment meinen Ohren nicht zu trauen, doch Anna sprach mit leidendem Gesichtsausdruck weiter „Wir lügen einander niemals an“. Langsam ließ sie ihren Kopf sinken „Ich zieh mich schnell um und fahr zu Schule“. Ich blickte ihr nach und dieser unangenehme Knoten in meinem Magen rührte sich. Warum konnte sie nicht einfach ehrlich zu mir sein?
 

~

Die Woche verging ruhig. Ich sprach weder mit Marko, noch mit meiner Schwester über meine Amnesie – vielleicht da mich ihre Fassade aus Lügen verletzte oder einfach nur aus kindischer Wut. Ich wusste es nicht. Shirin und Martin gaben sich jede nur erdenkliche Mühe mir bei meinen Nachforschungen zu helfen, Pelle schien beschäftigt und Mr. Unbekannt ließ nichts mehr von sich hören. Allerdings glaubte ich was Pelle betraf ganz richtig mit meiner Vermutung zu liegen, dass er mir nach meiner Nachricht aus dem Weg ging. Ich schrieb ihm, bat Pelle um Hilfe, doch seitdem schien er für mich keine Zeit mehr zu finden.
 

Martin stand im Kontakt mit dem Support der Socialmedia-Seite, hoffte die gelöschten Post und Bilder aus dem fehlenden halben Jahr wiederherstellen zu können, doch bisher ohne Erfolg. So langsam glaubte ich nicht mehr daran ohne eine Aussprache mit Marko und meiner Mutter vorranzukommen.
 

„Ich hab was!“ Shirin warf ihre Arme jubelnd in die Luft „Da deine Familie und dein Kumpel ein Problem damit haben dir die Wahrheit zu sagen habe ich jeden deiner restlichen alten Klassenkameraden angeschrieben und es hat sich doch tatsächlich jemand gemeldet!“. Sie schien explodieren zu können vor Freude. Martin und ich tauschten unsicher Blicke, vermutlich wurden wir bei jedem vergehenden Tag pessimistischer.
 

Ich rutschte von dem Fußende meines Betten hinauf zu Shirin „Und wer?“.
 

„Ein Mädchen“ Shirin schien die Nachricht zu überfliegen „Sie schreibt nicht viel, relativ kurz angebunden. Doch sie meint sich mit dir Treffen zu wollen. Eine gewisse Linda?“

Linda? Mein Herz begann nervös zu rasen, etwa meine Linda? Die Zwillingsschwester von Max und das einzige Mädchen mit dem ich beinahe meine gesamte Schulzeit verbrachte?

Shirin drehte mir den Laptop hin „Linda Beckenbauer. Sagt sie dir etwas?“.
 

„...Linda ist eine alte Freundin von mir“

Special Chapter - Linda Beckenbauer
 

...Freunde vergessen niemals die wichtigen Dinge im Leben!
 


 

Ein Ellenbogen stieß mir brüderlich in die Rippen, erschrocken zuckte ich zusammen und warf meiner Begleitung einen empörten Blick zu.

Linda lachte und schlang mir ihren Arm um die Schulter „Du hast schon wieder gestarrt Noah“. Erwischt, ging es mir durch den Kopf und ich senkte beschämt die Augenlider Sollte ich bei meinen Beobachtungen wirklich so offensichtlich vorgehen?

„Wenn du Jan weiterhin so angaffst, dann bekommt er von ganz alleine mit wie du zu ihm stehst“ meine blonde Freundin schien sich über mein Verhalten köstlich zu amüsieren. Na danke auch.

„Er ist halt hübsch“ erwiderte ich kleinlaut und versuchte erneut einen Blick auf meinen heimlichen Schwarm zu erhaschen.

„Jemanden hübsch finden und jemanden mit den Augen die Kleidung vom Leib reißen sind leider zwei völlig unterschiedliche Dinge lieber Noah“ ihre Tonlage klang spottend, dennoch wusste ich wie sie ihre Worte meinte – keinesfalls böse.
 

„Hast du nicht irgendwas zu tun, deinen Bruder erziehen oder so?“ die Arme vor der Brust verschränkt lehnte ich mich zurück. Wir saßen wie zu jeder Pause auf unserer Bank unter dem derzeitig blühenden Apfelbaum. Unser Treffpunkt sozusagen. Der Ort an dem Leon, Max, Linda und ich jede unserer Pausen gemeinsam verbrachten. Die Zeit bevor wir Jan und Pelle mit in unseren Freundeskreis holten.

„Wo sind die Beiden eigentlich?“ setzte ich hinten dran, suchte den Schulhof nach unseren Kameraden ab. Leon meinte nach der Unterrichtsstunde er würde nachkommen und verschwand, doch Max hätte eigentlich bei Linda sein müssen – wir gingen in unterschiedliche Klassen. Linda zuckte desinteressiert mit den Schultern, zog ihre Beine heran und setzte sich in den Schneidersitz „Frag mich was Besseres, er meinte nach der Stunde zu mir er würde nachkommen, doch wie wir sehen, sehen wir nichts“. Sie klang ziemlich unbekümmert, dabei kannte man Linda und Max stets nur im Doppelpack – äußerst ungewohnt sie getrennt voneinander zu sehen.

Linda lachte leise auf, warf mir einen verschwörerischen Blick zu „Vielleicht führen Leon und Max ja eine geheime Beziehung hinter unserem Rücken“.

„Dann würden sie sich allerdings nicht unbedingt unauffällig aufführen“ erwiderte ich und knuffte ihr in die Seite. Leon und Max ein Paar? Es graute mir bei dem Gedanken, selbst eine Gänsehaut bahnte sich an.

„Ja, der Gedanke ist schaurig“ schien Linda meine Körpersprache zu lesen.
 

„Außerdem müsste ich Leon dann einen Fünfziger zahlen und beim besten Willen, das Geld bekomme ich nicht einmal mit zwei Monate sparen zusammen“ ich armer geldloser Schüler. Gut, ich könnte mit einen Schülerjob suchen, doch waren wir mal ehrlich, wollten wir unsere kostbare Freizeit wirklich mit irgendwelchen Jobs verschwenden? Ich sicherlich nicht, dann lebte ich lieber mit den mickrigen fünfzehn Euro im Monat.

Die Blondine zog irritiert eine Augenbraue hoch, die perfekte Kopie ihres Zwillingsbruders, obwohl, wenn Linda die Ältere war, dann müsste eigentlich Max die Imitation sein oder?
 

„Wie meinst du das?“ wollte meine Freundin neugierig wissen. Ein Schmunzeln wanderte über meine Lippen und ich räusperte mich leise. Ja, Leon und ich wetteten gerne um die sinnlosesten Dinge „Leon und ich haben gewettet dass Max irgendwann nicht nur den Frauen die Herzen bricht. Ich habe auf seine unumstößliche Heterosexualität gesetzt“. Innerlich hoffte ich von Tag zu Tag, dass Max meine großen Erwartungen an seine Sexualität niemals enttäuschte.

Ein Stöhnen ertönte „Ihr wettet doch wirklich auf jeden Mist oder? Musstest du deine Verluste bei Leon schon anschreiben lassen?“
 

„Jap. Ich schulde ihm bis heute zweiundfünfzig Euro, einen Blow-Job, einen Striptease, noch zweimal Hausaufgaben abschreiben und irgendwann sein schwuler Wingman auf einer Party voller nackter Mädel sein – obwohl er vermutlich weder den Blow-Job noch meine Stripteasevorlage jemals einfordern wird“
 

„Eigentlich schade. Bekomme ich dafür den Striptease?“
 

„hähähä“ ich zog eine Grimasse „Veralbere mich ruhig weiter Linda, irgendwann bekommst du es zurück“.
 

„Oh nein, jetzt habe ich Angst. So furchtbare Angst. Ich werde nie wieder auch nur ein Auge zubekommen“ scherzte meine Freundin weiter, was dazu führte, dass ich gespielt bockig die Wangen aufplusterte „Gemeinheit. Ich kann wirklich grausam sein“.
 

„Natürlich. Dein Welpenblick lässt Herzen höher schlagen, bis man einen Herzstillstand erleidet“
 

„Linda, verspottest du schon wieder unseren Noah“ Leon, gefolgt von Max, liefen strammen Schrittes auf uns zu.
 

„Wo wart ihr Spasten. Wir haben gewartet“ Leon beugte sich zu mir herunter und gab mir einen Kuss auf die Schläfe – rein freundschaftlich „Sei nicht böse Noah, wir hatten dringende Dinge zu erledigen“. Max und ich schlugen ein, dann versuchte er seine Schwester zu umarmen, die ihn allerdings fluchend eine Abfuhr erteilte „Bah. Hör auf mich ständig anzutatschen!“. Ein Herz und eine Seele die beiden Beckenbauer.
 

~
 

Der Unterricht verging wie im Flug, zumindest bis zur großen Pause.
 

„Noah. Ich muss kurz weg!“ verwundert wendete ich mich um „Was? Schon wieder?“. Was trieb Leon nur die ganze Zeit und besonders warum verschwand er heute am laufenden Band – gerade heute? Hatte er vergessen was wir für ein Datum schrieben? Wobei wohl wirklich niemand daran dachte. Ich presste meine Lippen fest zusammen „Bloß keine Szene machen Noah“, sprach ich mir selber zu und machte mich auf den Weg den Flur hinunter – zum Klassenraum von Max und Linda. Was für ein mieser Tag, wenn ich doch wenigstens genug Zeit hätte um Jan weiter anzuschmachten.
 

Ich drängte mich durch die Massen an Schülern, bis zur Klassentür der B, doch auch hier fand ich niemanden meiner Freunde „Wo zum Teufel--"
 

„Eins, zwei, drei, Meins“ Hände legten sich von hinten auf meine Augen, doch die Stimme fiel mir leicht zuzuordnen „Linda?“.
 

„Ja und ich habe dich jetzt offiziell entführt!“
 

„Interessant…aber du weißt schon, dass sich ein Entführungsopfer wehrt?“
 

„Und du erinnerst dich noch an meinen Tritt in deine Kronjuwelen?“
 

„Überzeugt“ antwortete ich japsend – alles nur nicht das. Es gab nichts Schlimmeres, wirklich nicht und ich empfand Mitleid für jeden Mann dem das im Laufe seines Lebens einmal passierte. Damals ging ich zu Boden wie ein Stein und weinte wie ein kleines Mädchen. Wäre ich nicht schwul, dann hätte ich mir vermutlich verdammte Sorgen um meine Zeugungsfähigkeit gemacht.
 

„Nicht schummeln“ mahnte Linda mich als sie mich versuchte eher schlecht als recht durch die Schüler zu manövrieren.
 

„Wo gehen wir hin?“ ich bekam von irgendwem den Ellenbogen ab.
 

„Gleich, gleich! Augen zu!“ sie nahm ihre Hände weg und ich hielt die Lider wie gewünscht geschlossen, ein schweres Klacken ertönte – die Feuerschutztür?
 

„Immer geradeaus? Warte, warte – nicht so weit geradeaus!“ Linda kam mir zur Hilfe und leitete mich die Treppen herunter. Nach einer gefühlten Ewigkeit blieben wir stehen „So, wir sind da!“.
 

„Im Clubraum?“
 

„Woher?“ entkam es meiner Freundin empört.
 

„Tja, ich habe doch gesagt ich finde den Weg zu Leon selbst mit verbundenen Augen“ Leon spielte in der Schulband und diese besaß im Keller einen Clubraum. Ein Knurren erklang „Er ist so ein Klugscheißer“.
 

„Hallo Max“ erwiderte ich mit weiterhin geschlossenen Augen „Darf ich die Augen jetzt öffnen?“.
 

„Ja“ Leon schien ganz dicht an mich herangetreten zu sein. Ich tat wie erlaubt, es dauerte einige Sekunden bis sich meine Augen an das Licht gewöhnten und begriff ich rasch was hier los war – mein Herz machte einen glücklichen Hüpfer. Im Raum lagen Luftballons und Partyhüte, auch dem kleinen Tisch fand ich einige eingepackte Geschenke ruhen. Sie hatten mich doch nicht vergessen. Ich schüttelte lächelnd den Kopf, wie konnte ich auch nur eine Sekunde an meinen Freunden zweifeln?
 

„Happy Birthday!“

Kapitel ACHT
 

...es werde Licht - oder so ähnlich.
 

____________
 

>Ich treffe mich mit einer alten Freundin, wünsch mir Glück< langsam glaubte ich mit Mr. Unbekannt die Rollen getauscht zu haben. Jeden Tag schrieb ich ihm dutzende Nachrichten, doch nicht einmal kam etwas zurück. Er antwortete einfach nicht und ich verstand nicht wieso. Hatte ich ihn verschreckt, als ich ihm persönlich danken wollte? War diese eine simple Frage zu viel des Guten? Seufzend nippte ich an meinem Glas Orangensaft. Linda kam zu spät – bereits zwanzig Minuten – und ich begann mich zu fragen, ob sie mich wohl versetzte. Eigentlich nicht ihre Art, doch was erzählte ich, wer wusste schon, wie Linda sich in den Jahren veränderte?
 

„Es tut mir wahnsinnig leid. Melanie hat so einen Aufriss gemacht und ich kam einfach nicht weg“ ich brauchte zwei Anläufe um sie zu erkennen. Eine junge blonde Frau nahm vor mir einen Stuhl ein, warf die Tasche wirsch neben sich auf den Boden. Ihr Gesicht war schmal, ungeschminkt und ihre kinnlangen Haare gaben ihr einen frechen Touch. Sie trug ein fliederfarbenes bodenlanges Kleid, darüber eine Jeansjacke, in der sie beinahe verschwand.
 

„Linda“ entkam es mir irritiert – sie sah so anders aus. Die Frau zwinkerte mir zu „Also ich habe dich sofort erkannt, schäme dich Noah“.

Die Kellnerin trat an unseren Tisch heran, Linda bestellte sich einen Pfefferminztee und schenkte ihre Aufmerksamkeit wieder mir „Du siehst ganz schön heruntergekommen aus, hast dich seit deiner Wiederauferstehung wohl ziemlich gehen lassen“. Hart, so wie ich Linda in Erinnerung hatte. Ich konnte es ihr nicht einmal übel nehmen, denn sie hatte recht. Mittlerweile musste ich mich darum sorgen, dass meine Haare nicht in geraumer Zeit meine Schultern erreichten und ehrlich gesagt machte der Bartwuchs auch vor mir nicht halt – obwohl er bisher kaum auffiel.

„Kann ja nicht jeder so eine Modequeen sein“, scherzte ich und strich mir peinlich berührt durch die Haare. Natürlich wusste ich bereits im zarten Alter, welcher Sexualität ich angehörte, doch Linda symbolisierte für mich schon immer diese Person, bei der man gerne sagte: „Sollte ich jemals Hetero werden, dann…“ Sie sah einfach umwerfend aus.
 

„Du bist frech geworden“ konterte Linda, nahm ihren Tee entgegen, welcher ihr von der Kellnerin gebracht wurde „Dankeschön“.

„Aber ich freue mich, dass du dem Treffen zugesagt hast. Ich habe ein wenig daran gezweifelt nachdem Pelle uns sagte, du wärst – na ja – etwas schwierig geworden“ aha, hatte Pelle das? Mein innerlicher Kampfhund begann sich zu regen, mit Pelle musste ich wohl dringend ein Wörtchen reden.

„Du hast mir nach deiner Nachricht kaum eine andere Chance gelassen“ entgegnete ich ehrlich, immerhin meinte sie, etwas über das vergessene halbe Jahr erzählen zu wollen.

Die Blonde zog scharf die Luft ein „Stimmt ja. Oh verflucht, deine Mutter wird mich töten“. Irritiert stoppte ich in meiner Bewegung, ließ mein Glas demnach Glas sein und badete in traumatisierenden Vorahnungen „Was hat meine Mutter damit zu tun?“. Wollte ich es wirklich wissen? Die ehrlichste Antwort lautete wohl nein. Nein, eigentlich wollte ich nichts von diesem scheinbar abgekarteten Spiel erfahren – ich musste.
 

„Wollten wir nicht erst einmal über die schönen Dinge im Leben quatschen?“ Linda füllte sich eine ungesunde Masse an Zucker in den Tee „Du lebst, gehst wie ich gehört habe wieder zur Schule, entwickelst dich gelegentlich zur ‚grumpy cat‘. So viele Themen, die so viel bessere Laune verbreiten“. Grumpy cat? Wie bitte? Vielleicht waren meine momentanen Launen mit einer Berg- und Talfahrt zu vergleichen, aber sicherlich nicht mit diesen schrecklichen Memes einer angekotzt dreinschauenden Katze!

„Linda“ zischte ich über den Tisch.

„Noah, ich dürfte eigentlich gar nicht hier sein“ unsicher schaute sich meine ehemalige Klassenkameradin um „Pelle hat schon gegen die Anweisungen deiner Mutter verstoßen und eigentlich haben wir ihr alle versprochen dir vorläufig fernzubleiben. Doch das ist doch Wahnsinn. Sie ist wahnsinnig!“ Linda besaß noch nie eine hohe Meinung von meiner Frau Mama. Nur konnte ich ihren Worten auch nicht wirklich folgen, warum sollte meine Mutter nicht wollen, dass mich meine alten Freunde besuchen kamen? Sollte das heißen, auch Leon und Max warteten nur daran sich mir nähern zu dürfen? Besonders Leon? Meine Brust schmerzte bei dem Gedanken an ihn, denn auch wenn ich alle meine Freunde mochte, er war mir immer am liebsten gewesen.
 

Linde seufzte, faltete für einen kurzen Moment die Hände als wolle sie beten, doch ich kannte diese Geste bereits von damals – sie versuchte ihre Gedanken zu sortieren.
 

„Weißt du Noah. Machen wir es am besten schnell und schmerzlos. Deine Mutter gibt deinem Freund die Schuld an dem Unfall. Sie meint er wäre nicht gut für dich und am besten solltest du ihn vergessen. Na ja, Glück im Unglück für sie, denn du hast ihn ja wirklich vergessen und ein Haufen anderer Sachen offensichtlich ebenso. Und wir wissen nicht, was daran wahr ist und was ist, wenn er wirklich Schuld daran ist und – ach verdammt, es ist so furchtbar kompliziert. Marko hat sich oft mir deiner Mutter gestritten in der Zeit – zumindest laut Anna – ihm gefiel es nicht, was sie tat“.

Ich starrte, ja ich starrte definitiv. Wie bitte? Weil meine Mutter meinen Freund nicht ausstehen konnte, trieb sie alle dazu so zu tun als wäre mit meinen Erinnerungen alles in Ordnung.

„Dieses selbstsüchtige Miststück“ entfloh es mir bissig. Aber Moment, Freund?

„Aber sie mochte Jan“, begann ich zögerlich, es war mehr eine Frage als eine Aussage.

„Ach komm, als würdest du glauben ich würde von Jan reden“ sie nahm einen großzügigen Schluck von ihrem Tee „Heiß, verflucht“.
 

Meine letzten Erinnerungen basierten allerdings auf Jan. Er und ich glücklich in der Schule, küssend, während wir eigentlich Hausaufgaben machen wollten, Händchen haltend auf der Einkaufspromenade. Für mich gab es niemand anderen als Jan – zumindest nicht, soweit ich wusste.

„Noah weinst du?“ Lindas Stimme ließ mich aufschrecken, fahrig wischte ich mir über die Augen und wendete mein Gesicht ab „Schwachsinn“.
 

Ihre Stimme nahm einen zärtlichen Ton an, als sie sich zu mir beugte und nach meiner Hand griff „Oh nein, mein Süßer. Du weißt davon nichts – von eurer Trennung?“

Ich schüttelte den Kopf „Doch, nur hat man mir erzählt, dass er die Beziehung beendete, als ich noch im Koma lag“. Auch da hatte man mich angelogen, wie erwartet.
 

„Nein. Nein. Nein“ sie drückte liebevoll meine Hand „Ihr habt euch bereits vor so langer Zeit getrennt, oder eher, du hast dich von ihm getrennt. Es kam aus heiterem Himmel, wir hatten es damals alle nicht erwartet, doch so war es halt. Du lerntest jemanden kennen und er schien dir besser zu gefallen, Noah“. Vermutlich sollten ihre Worte mich aufmuntern, Jan hatte mir scheinbar nicht das Herz gebrochen – so wie angenommen. Die Gedanken ihm im Gegenzug sehr wohl wehgetan zu haben machte mein Gefühlschaos nur leider nicht besser. Wie konnte ich ihm das antun? Wie grausam muss ich in meinem vergessenen halben Jahr gewesen sein? Ich liebte Jan, für nichts in der Welt hätte ich mich von ihm getrennt.
 

„Wer?“, fragte ich vorsichtig, „Für wen habe ich mich von Jan getrennt?“. Ich wollte es wissen, wer sollte in meinen Augen besser sein als die Liebe meiner Jugend.
 

Nur schüttelte Linda bloß ihr blondes Haupt „Es tut mir leid, ich weiß es nicht. Anfangs vermuteten wir, dass du dir einen Freund als Ausrede für die Trennung ausgedacht hast. Du stelltest ihn nie vor. Irgendwann erfuhren wir, dass du ihn uns nicht vorgestellt hast, da er scheinbar bereits volljährig war und du nicht. Du hattest Angst vor den Konsequenzen, falls jemanden eure Beziehung missfiel“. Und dieser jemand war meine Mutter. Als ich jünger war, hat sie mir immer erzählt was sie von Beziehungen zwischen minderjährigen und Volljährigen hielt – gar nichts.

Ich löste meine Hand aus ihrer und lehnte mich in dem Stuhl zurück „Mein Leben ist der Horror“.

„So würde ich es nicht sagen, aber es ist zumindest fast wie eine schlechte Telenovela“ ich stimmte in ihr leises Lachen ein. Definitiv eine Low-Budget-Produktion.
 

„Und du hast so überhaupt keine Vermutung Linda?“
 

„Na ja, abgesehen von der Liebeserklärung eines gewissen Radiolieblings“ ein Grinsen umspielte ihre Lippen und ja, ich stöhnte genervt auf „Oh nein, du hast sie also auch gehört“.
 

„Oh ja, im Büro und ich habe mich köstlich auf deine Kosten amüsiert“ das sah Linda ähnlich, schadenfrohes Ding.
 

„Und meinst du er, könnte es sein?“ Linda funkelte mir verschwörerisch entgegen.
 

„Glaub mir. Definitiv nein. Felix Rosenthal ist der letzte Mensch, für den ich Jan je verlassen hätte“ der Typ ging mir schon auf die Nerven, wenn ich nur über ihn nachdachte, geschweige denn seine Stimme im Radio hörte.
 

Meine alte Schulkameradin wechselte das Thema „Und? Wirst du deine Mutter darauf ansprechen?“ Vermutlich bettete sie zu Gott, dass ich bloß nicht ihren Namen in dem Gespräch fallen ließ. Zögerlich schüttelte ich den Kopf „Ich denke vorerst nicht. Ich möchte ihr nicht die Möglichkeit lassen irgendwelche Informationen vor mir zu verstecken“.
 

„Denk nur daran, sie macht es nicht, weil sie ein schlechter Mensch ist. Sie liebt dich“.
 

Ich schnaubte: „Ach, liebe ist wohl die Ausrede für jedes Fehlverhalten“. Ich verstand meine Mutter nicht, wie konnte sie einen Typen so hassen, das sie versuchte ihn vor mir zu verheimlichen „Meinst du er hat wirklich Schuld an meinem Unfall oder spinnt meine Mutter sich nur etwas zusammen?“
 

„Du stellst Fragen Noah. Aber nein, keine Ahnung. Klingt vielleicht bitter, aber du bist der Einzige, der uns eine Antwort auf diese Frage geben kann. Offiziell bist du auf die Straße gerannt und wurdest von einer telefonierenden Frau angefahren. Wahr oder falsch?“.
 

„Wenn ich das wüsste. Nur verstehe ich nicht, warum ihr so willenlos mitspielt. Du, Leon, Max, Pelle, meine Schwester und Marko. Warum?" Natürlich konnte meine Mutter Furcht einflößend sein, doch ein Monster war sie gewiss nicht. Am Ende blieb auch sie nur eine normale Frau.
 

Linda senkte beschämt ihre Augenlider „Weißt du Noah, was ist, wenn er wirklich daran die Schuld trägt und du es hinter deiner rosaroten Brille nicht einsehen würde. Was wenn er dir wieder wehtut. Deine Mutter brauchte nicht allzu viele Worte um uns davon zu überzeugen das Richtige zu tun“. Das Richtige für wen, ging es mir durch den Kopf. Linda meine es ernst, selbst ein Blinder würde das erkennen. Nur wartet irgendwo dort draußen ein junger Mann, den ich allem Anschein nach wirklich geliebt habe. Man beschuldigt ihn vermutlich unberechtigterweise. Sollte er nicht auch das Recht bekommen mich wiederzusehen und sollte es nicht im Interesse meiner Eltern liegen mir davon zu erzählen, wenn er mich doch so glücklich machte?
 

„Aber wenn es dafür keine Beweise gibt, wie könnt ihr eine solche Entscheidung für mich treffen? Habt ihr euch auch nur eine Sekunde dafür schlecht gefühlt, nur einen Moment lang? Man hat mir gesagt, ihr hättet euch von mir abgewendet, mein Freund hätte sich von mir getrennt, man belügt mich von morgens bis abends ohne Gewissensbisse. Und all das nur, weil man entscheidet was für mich das Beste ist?“
 

„Noah, glaub mir, mein Gewissen quält mich jeden Tag auf neue“ Linda hatte die Ambition erneut meine Hand zu ergreifen, doch ich verwehrte sie ihr „Es tut mir leid Linda, aber es fällt mir schwer irgendjemanden noch etwas zu glauben“. Ich rief die Kellnerin heran, bezahlte meinen Orangensaft und ließ Linda wortlos zurück. Natürlich traf sie sich heute mit mir um mich zu unterstützen, wahrscheinlich war mein Verhalten unangebracht, doch ich konnte das einfach nicht – dieses gute Miene zum bösen Spiel. Alte Freundschaft hin oder her.
 

~
 

>Wie lief das Treffen?< irritiert nahm ich die Nachricht zur Kenntnis, zwei Tage kein Wort und nun schrieb er mir? Sollte ich mich wie ein bockiges Kind verhalten und nun damit beginnen ihn zu ignorieren?
 

>Der werte Herr lebt also noch< hoffentlich klang es so unfreundlich wie ich es meinte. Als ein Schatten an meiner Zimmertür vorbeihuschte, räusperte ich mich laut „Hallo Marko, hat es dich auch mal wieder nach Hause verschlagen?“. Immerhin verschwand Marko nicht nur für eine Nacht spurlos, sondern für ganze zwei. Als Stiefsohn hatte ich wohl das Recht zu erfahren, wo mein Vater sich rumtrieb.

„Ähm“ Marko kam zurück, stellte sich in meinen Türrahmen „Ich hatte einige Meetings zurzeit. Der Fahrweg und so. Es hätte sich einfach nicht gelohnt zurückzufahren“.
 

„Interessant“ ich glaubte ihm nicht. Entweder hatte er eine Freundin oder er schlief – wie Anna behauptete – mir unserer Mutter und das heimlich, solch ein Schwachsinn. So ein Verhalten konnten vielleicht Teenager an den Tag legen, doch sicherlich kein erwachsener Mann. Ich rümpfte verärgert die Nase „Aha“.
 

Mein Vater seufzte schwer „Noah, haben wir irgendwelche Differenzen die geklärt werden sollten?“ Was für Unstimmigkeiten könnte mein werter Stiefvater wohl meinen? Die ganzen Lügen? Die Amnesie? Das Leben welches er mir vorspielte? Ach, ich wusste nicht genau wo ich beginnen sollte. Ich schnaufte „Nein, mir fällt nichts ein“. Mein Handy, das immer noch in meiner Hand lag, vibrierte und ich umschloss es fester mit meinen Fingern.
 

„Wer schreibt dir?“ fragte Marko, doch ich schüttelte nur den Kopf „Geht dich nichts an“. Beziehungsweise wusste ich selbst nicht so genau, mit wem ich diesen teilweise regen Austausch von Nachrichten betrieb.
 

„Noah, komm schon. Was ist los mit dir?“ Marko betrat nun endgültig mein Zimmer, überwand die Distanz zwischen dem Türrahmen und meinem Bett „Irgendwas bedrückt dich und vermiest dir offensichtlich deine Laune – also?“ Väterlich legte Marko mir seine Hand auf die Schulter, doch ich schüttelte sie ab. In meinem Blick lag keine Wut, kein Trotz, vermutlich konnte man nicht einmal daraus erkennen wie verletzt ich war. Mit meiner Hand fuhr ich mir über die müden Augen „Lass es gut sein Marko. Bitte, geh einfach“. Er zögerte und vermutlich hatte ich ihm mit meinen Worten wehgetan, doch überraschenderweise war es mir egal.
 

„Falls du Reden möchtest Noah. Ich bin für dich da“ natürlich Marko, deshalb treibt ihr auch ein falsches Spiel mit mir – du und Mama.

„Geh“ wiederholte ich mich tonlos. Wie lange es wohl noch dauerte, bis sieh ahnten was ich alles wusste? Ob sie mir dann wenigstens die Wahrheit erzählten oder ihr Netz aus sinnlosen Lügen nur weiter aufbauten? Meine Zimmertür schloss sich mit einem leisen Klacken und Ruhe kehrte ein. Ihr löste die Hand, welche noch verkrampft um mein Handy lag und öffnete die eingegangene Nachricht: >Sei mir nicht böse, aber hätte ich dir in den letzten Tagen geschrieben, dann wäre ich vermutlich durchgedreht<
 

Einige Male las ich mir die Nachricht durch, irgendwie ergab am Ende wohl doch alles einen Sinn. Das Gespräch mit Lena, der nervende Mr. Unbekannt. Mein Lächeln besaß fast etwas Bitteres.
 

>Du bist mein Ex-Freund oder?<
 

Für einen Moment wünschte ich mir die Nachricht nicht abgesendet zu haben. Wie dumm war ich überhaupt. Einfach so, ohne Beweise, solch eine Behauptung aufzustellen und ihn auch noch direkt zu fragen – doch war es am Ende nicht naheliegend?
 

Eine neue Nachricht ging ein und ich haderte mit mir. Wollte ich die Antwort lesen? Die Möglichkeit mich blamiert zu haben lag bei fünfzig Prozent. Die weiteren fünfzig Prozent würden mir dafür vermutlich einen baldigen Tod versprechen.
 

>Nein, ich bin dein Freund – wir haben uns nie getrennt<
 

Kanntet ihr dieses seltsame Gefühl? Man wusste nicht ob es sich positiv oder negativ anfühlte, doch es löste eine unangenehme Übelkeit aus. Eine Mischung aus wild gewordenen Schmetterlingen und dem Anflug einer Magen-Darm-Grippe. So erging es mir. Hatte ich mit der Antwort nicht gerechnet? Habe ich es nicht spätestens seit dem Gespräch mit Linda nicht irgendwo geahnt. Ein Fremder der mir schrieb, wusste wie er mich aufbaute und ärgerte mit weniger als einer Nachricht. Er kannte meinen Lieblingsort, wusste so viele Kleinigkeiten über mich, die nicht einmal Leon kannte.
 

>Dann sag mir wer du bist< ich wollte es endlich wissen.
 

>Noch nicht< ich stöhnte wütend auf, sein Ernst?
 

>Warum nicht, verdammt!<
 

>Weil du dich immerhin nicht einmal an mich erinnern kannst!<
 

>Dein Ernst? Ich habe Amnesie du Arschloch!<
 

>Das ändert nichts an der Tatsache, dass du mir mal versprochen hast mich für immer zu lieben und jetzt hast du mich einfach vergessen! Von wegen auf immer und ewig – für’n Arsch!<
 

>Du hättest ja auch einfach da sein können als ich aufgewacht bin< am liebsten hätte ich vor Wut das Telefon angebrüllt. Fing er jetzt wirklich an mit mir über meine Amnesie zu diskutieren?
 

>Ja natürlich. Bevor oder nachdem deine Mutter mir mit einer Anzeige wegen Verführung Minderjähriger gedroht hat?<
 

Oh. Ich schluckte. Hatte sie das? Zumindest würde seine Aussage zu meiner Mutter passen und zu dem was mir Linda im Café erzählte. Ich ließ das Handy sinken. Traute er sich deshalb nicht in meine Nähe? Doch warum, ich war mittlerweile volljährig. Auch wenn meine Mutter ihm damit drohte, so hätte es doch jetzt keine Auswirkungen mehr.
 

>Ich bin jetzt aber volljährig< schrieb ich ein wenig patzig zurück.
 

>Ja ein Traum. Mein mittlerweile volljähriger Freund erinnert sich nicht mehr daran, dass er mein Freund ist. Also wenn dich demnächst ein völlig Fremder auf der Straße anspringt. Halte still! Es könnte dein in Vergessenheit geratener Freund sein, der kommt um deine endlich erlangte Volljährigkeit auszunutzen<
 

>Dein Verhalten ist kindisch! Wir treffen uns jetzt. Sofort!<
 

>Vergiss es. Wir haben uns damals per sms kennengelernt und wir machen es jetzt wieder so!<
 

>Nicht dein Ernst! Warum denn das Bitteschön!< wenn er mein Freund war, dann müsste er mir doch so weit gefallen, dass wir uns problemlos treffen konnten oder nicht? Er könnte mir alles über das vergessene halbe Jahr erzählen und ich würde endlich Mr. Unbekannt kennenlernen – der ja nach eigener Aussage mein fester Freund war. Doch mein Handy blieb stumm. Hastig schickte ich ein weiteres ‚Warum‘ hinterher, doch nichts. Ein kurzer Aufschrei ertönte und ich warf mich in die Kissen „Dieser Spast!“ Das war es dann wohl, adieu Hoffnung. Adieu vergessene Erinnerungen. Die einzige Person die mir vermutlich sogar alles sagen würde ist bockig, da ich sie vergessen hatte. Wie alt war der Typ? Niemals älter als ich. Das hielt ich für eine Lüge.
 

~
 

„Du schaust, als hast du so ziemlich mies geschlafen“ Shirin strich mir eine meiner Haarsträhnen zurück, doch schien ihre Aussage weniger eine Feststellung als mehr eine Frage zu sein.

„Ich habe mit meinem Freund geschrieben“, antwortete ich trocken und ließ meinen Kopf auf die Tischbank sinken „Und er will sich nicht mit mir treffen, warum auch immer…“

„Was?“ leise und überrascht klang die junge Frau, als sie näherkam „Dein Freund? Du hast einen Freund? Scheiße – also so richtig? Wie? Hat er sich bei dir gemeldet? Warum will er sich nicht mit dir Treffen?“ Fragen über Fragen, so wie ich es von Shirin gewohnt war. Müde schob ich ihr mein Handy rüber, entsperrte es vorab „Lese selbst den Verlauf zwischen Mr. Unbekannt und meiner Wenigkeit …“.

Irgendwann zog die Dunkelhaarige scharf die Luft ein „Krass. Meinst du es könnte Rosenthal sein?“. Hektisch richtete ich mich auf „Was haben du und Martin nur mit diesem Felix. Nein, es ist bestimmt nicht Rosenthal und nein, ich habe auch keine weiteren Ideen. Vielleicht ist er auch überhaupt nicht der Typ aus dem vergessenen halben Jahr und er erlaubt sich einen Scherz auf meine Kosten“.

Oh, ich wusste es doch wirklich nicht. Wer sagte mir, dass ich Mr. Unbekannt vertrauen konnte?

Wenn man vom Teufel sprach, oder eher an ihn dachte. Martin hetzte als Letztes in unsere Klasse, vermutlich äußerst knapp vor unserer Klassenlehrerin. Seinen eigenen Sitzplatz eiskalt ignoriert kam er auf uns zu, kramte währenddessen in der Innenseite seiner Jacke herum.
 

„Morgen Leute“.
 

„Morgen Martin, hast du die Karten“ ich blickte irritiert von Shirin zu Martin „Welche Karten?“ Ein unheilvolles Lächeln umspielte Shirins Lippen, als Martin drei unscheinbare Papierstreifen hervorzog „Es hat mich eine verdammte Stange Geld gekostet die Dinger aufzutreiben, du bist mir was schuldig Shirin“. Meine Klassenkameradin wollte nach den Karten greifen, als Martin sie wegzog und sich wiederholte „Du bist mir etwas schuldig“.

„Ja, schon verstanden. Ich bin dir hiermit ganz offiziell etwas schuldig Martin“ nickend überreichte der junge Mann Shirin die Karten.
 

Hatte irgendein wichtiges Detail in den letzten Tagen nicht mitbekommen „Geht es auf ein Konzert?“.

„So in der Art“ Shirin lehnte sich zurück und wedelte mit den Karten vor ihrem Gesicht herum „Das hier sind Karten für eine große Musikveranstaltung in der Ältenhaver Halle, am Samstagabend. Wir drei werden dort hingehen“. Martin lachte leise. Irgendwas lief schief.

„Und warum sollte ich dorthin wollen?“, erkundigte ich mich vorsichtig, bereit zur Not davonzurennen und nie wieder zukommen“.

„Ganz einfach, einer der Gäste dort ist Felix Rosenthal und wir wollen uns den jungen Herren mal genauer anschauen“.

Also zusammengefasst oder auch Fazit: Weder Martin noch Shirin glaubten, dass sie Felix als meinen potenziellen Freund ausschließen konnten. Damit besaßen sie eine komplett gegenteilige Meinung zu meiner eigenen.
 

Schnaufend wendete ich mich ab „Das könnt ihr so was von vergessen“.

Kapitel NEUN
 

„…& vier Stunden zuvor.“
 


 

Schlecht beleuchtet und dunkel war der schmale Gang zu den Toiletten. Stetig kamen mir unbekannte Gesichter entgegen, schlängelten sich vorbei oder rempelten mich an. Hier galt Rauchen als verboten – egal ob Tabak oder Marihuana – dennoch stieg mir der penetrante Geruch des Grases in diese Nase, legte sich pelzig und schwer auf meiner Zunge ab. Shirin verlor ich bereits vor einigen Metern in der Menschenmenge, von Martin fehlte bereits seit einiger Zeit jede Spur. Fest klammerte ich mich an mein Handy, ließ die kurze Nachricht immer und immer wieder durch meine Gedanken tanzen – er wollte mich sehen. Vielleicht bekam ich jetzt endlich die Antworten auf meine Fragen. Der Alkohol ummantelte meine Gedanken, hing mir Gewichte an die Beine. Ich fühlte mich schwerfällig, müde und vollkommen ausgelaugt. Im schwachen Licht sah ich den blonden Haarschopf, erkannte das Lachen aus dem Radio und erzitterte kaum merklich durch die ausgelöste Gänsehaut. Nun stand ich hier, fühlte mich wie ein perverser Spanner und schaffte es dennoch nicht meinen Blick abzuwenden. Meine Finger umklammerten fest das Mobiltelefon, während mein Herz mir in die Hose rutschte. ‚Komm zu den Toiletten‘, schrieb er mir, doch ich verstand nicht wieso. Die Musik dröhnte in meinen Ohren und der Bass ließ mein Atem vibrieren – ich sollte in Zukunft eindeutig weniger Trinken.
 

~ Vier Stunden zuvor ~
 

„Nein. Nein. Das auch nicht. Oh Gott, viel zu lächerlich. Zeig mir noch einmal diesen grässlichen Pullover und du gehst nackt, Nono“, meine Klassenkameradin schien von meiner Auswahl an Klamotten nicht sehr begeistert. Weshalb in mir mittlerweile ziemliche Verzweiflung aufkam – sie würde mich doch nicht wirklich unbekleidet dorthin schleifen oder? Na ja, zutrauen würde ich es ihr schon. Seufzend legte ich den blauen Pullover zurück in den Schrank „Wenn dir überhaupt nichts zusagt, dann muss ich wohl wirklich als Streichholz gehen.“
 

„Noah."Shirin erhob sich von meinem Bett und trat an meinen Kleiderschrank heran „Du musst doch irgendwelche Sachen haben, die nicht sagen: Hey, ich bin Noah – der Spießer oder Hey, ich bin Noah, das Flittchen von nebenan." Sie zog mit angewidertem Gesichtsausdruck eines meiner übergroßen Schlafshirts aus dem Schrank „Oh wir haben noch Noah den verloderten jungen Mann im Angebot."
 

Mittlerweile leicht genervt rollte ich die Augen, entfernte mich von Shirin und nahm ihren Sitzplatz auf dem Bett ein „Okay, dann sage mir doch was ich laut deiner Meinung – oh du große Modegöttin – heute Abend tragen soll“. Immerhin schien mein Modegeschmack unterirdisch – danke Shirin.

Kaum zwei Sekunden später warf mir Shirin eine Hose auf das Bett „Da. Anziehen. Nein, schau nicht so Nono. Mein Ernst.“

Vermutlich hätte bei der Kleiderauswahl meiner Klassenkameradin auch meine kleine Schwester die Klamotten aussuchen können „Wenn ich die Hose anziehe, dann kann ich meinen Kinderwunsch einäschern“
 

„Schatz, du bist schwul. Deinen Kinderwunsch kannst du in unserer Gesellschaft so oder so vergessen. Heul also leiser. Ist ja nicht zu ertragen. Ich will nur, dass du diese Hose trägst und dich nicht Zwangsverheiraten“, oh ja Shirin, das wäre ja noch schöner. Missmutig beäugte ich die Röhrenjeans. Definitiv eines der Kleidungsstücke, die meine Familie für mich besorgt hatten und vermutlich Annas ganz persönliche Gräueltat.

„Ich will aber nicht“, protestierte ich beinahe bockig „Was ist an meinen Klamotten so falsch“. Ich hörte Shirin tief einatmen, bevor sie sich umdrehte „Magst du nun bei Rosenthal Eindruck hinterlassen oder nicht Nono?“

„Natürlich nicht“, schnappte ich empört nach Luft.

„Ja man, darum hast du mir auch so die Ohren vollgeheult, dass du nichts zum Anziehen findest?“ Shirins Blick sagte scheinbar etwas wie: echt jetzt?

„Weißt du Nono“, die Dunkelhaarige griff nach einem weißen Oberteil und reichte es mir „Ich sollte jetzt eigentlich bei meiner Nageltante sitzen, aber nein, ich spiele dein Held in größter Not. Also?“

Ich schnaufte: „Ich heule leiser?“

„Jackpot!“ freudig klatschte die Deutsch-Türkin in die Hände „Und jetzt, anprobieren. Ich warte draußen.“ Juhu.
 

Unter lautem Stöhnen, Schnaufen und Fluchen presste ich meine Beine – und vor allem meine heiligen Juwelen – in die viel zu eng geschnittene Hose. Wusstet ihr wie schwer es war sein bestes Stück darin unterzubringen, ohne es abzuschnüren? Bitte, ich wollte mein Geschlechtsorgan nicht meucheln. Wer wusste schon, ob ich es wohlmöglich noch einmal gebrauchen könnte.
 

Okay, so grauenhaft sah es nun wirklich nicht aus, doch gehörte es definitiv nicht zu meinen Lieblingslooks. Niemals. Stirnrunzelnd trat ich näher an den Spiegel heran. Seitdem ich aus dem Koma erwachte, erschrak ich immer noch bei dem Anblick meines Spiegelbildes. In den Jahren tauschte ich mein jugendliches Gesicht gegen das eines Heranwachsenden, manchmal vergaß ich es ganz. Ein blonder Bartansatz, stoppelig und erst vor ein paar Tagen rasiert. Die Haare mittlerweile so lang, dass ich sie zu einem kurzen Zopf in den Nacken binden konnte. Hohe Wangenknochen dominierten meine Gesichtsstruktur, doch ließen die restlichen Züge mich keinesfalls weiblich wirken – trotz des schlanken Körperbaus. Nein, im Gegenteil. Das Unheimlichste an der Sache, ich erkannte mein eigenes Gesicht nicht wieder, es schien als würde ich jeden verfluchten Morgen einen Fremden begrüßen.
 

Ein Klopfen ließ mich aufhorchen „Nono, angezogen?“ Zuerst gab ich ein Nicken von mir, bis mir einfiel, dass Shirin es unmöglich durch die geschlossene Tür sehen konnte. Ich strich mir seufzend durch das Haar „Ja“, ich räusperte mich „Ja, komm rein“.

„Alles Okay?“ sie stand da und betrachtete mich mit ihren tiefschwarzen Augen, ich kannte sie kaum und andersrum war es dasselbe. Dennoch gab es eine Vertrautheit, die sich ungewöhnlich schnell festigte. Als kannte sie mich nicht erst seit Kurzem, sondern mein gesamtes Leben über.

„Shirin…“

Ein Schmunzeln schlich sich auf ihre Lippen „Vorbestimmt.“ Verwirrt zog ich die Augenbrauen in die Höhe „Wie bitte?“

„Manche Freundschaften sind vorbestimmt, meint meine Mutter. Hör auf dir Gedanken darüber zu machen, ich sehe es dir doch an. Du schaffst es einfach nie dir keinen Kopf über irgendwelche Dinge zu machen oder?“

Schnaubend erwiderte ich ihr Lächeln „Und du scheinst wohl ständig in meinen Kopf zu schauen.“

Shirin lachte leise, kam auf mich zu und legte mir ihre Hand behutsam auf die Schulter „Irgendjemand muss deine Gedanken doch sortieren, wenn du dafür keine Zeit hast. Ach ja, gut siehst du aus. Echt ey, wärst du doch nur Hetero.“

Nun lachte auch ich „Keine Sorge, ich würde dich auf der Stelle heiraten, Shirin.“
 

~
 

„Und wo geht es hin, wenn ich fragen darf? Immerhin seht ihr ziemlich herausgeputzt aus“, Marko bekam keine Antwort von mir, sodass Shirin mich mit einem strengen Blick bedachte „Wir gehen auf eine Musikveranstaltung in die Ältenhaver Halle, Herr Bram.“

„Marko reicht vollkommen“, er schob die letzte der drei Pizzen in den Ofen und schenkte Shirin, sowie mir seine volle Aufmerksamkeit „Anna wollte auch dorthin. Warum hast du nichts gesagt Noah, dann hätte sie mitkommen können“.

„Ja, warum habe ich wohl nichts gesagt…“

„Wir haben Noah vor zwei Tagen erst völlig überrumpelt mit unserem Einfall, Herr Bram – Marko“ Shirins Wimpernaufschlag konnte vermutlich selbst das Herz der Eiskönigin zum Schmelzen bringen – sprich meine Mutter.

„Wir?“

„Shirin“, ich deutete auf meine dunkelhaarige Klassenkameradin „Und Martin, ich habe dir von beiden erzählt.“ Und täglich grüßt das Murmeltier.

„Ach so, also gehst du in Begleitung deiner Klassenkameraden dorthin“, Himmel schick Hirn „ich dachte, du gehst vielleicht auch mit Pelle dorthin oder anderen Freunden von damals…“

Hielt Marko mich wirklich für so dumm. Glaubte er, mir fiel nicht auf wie er sie bemühte mich möglichst unauffällig auszuhorchen.

„Nein. Nur Shirin, Martin und ich“, zur Betonung deutete ich erneut auf Shirin, dann auf mich und Martin war momentan halt noch nicht anwesend. Vermutlich gespielt desinteressiert zuckte Marko mit den Schultern „Bleibt ihr noch zum Pizzaessen?“

Ah, ein rascher Themawechsel? Kluger Mann. Ich schüttelte den Kopf „Nein, Martins Schwester kocht für uns. Wir werden uns also gleich auf den Weg machen“.

Ein kaum merkliches Nicken seitens Shirin stimmte mir zu, Erleichterung stieg in mir auf. Beim besten Willen, ich wollte mich nicht mit Anna und Marko an einen Tisch setzten und so tun als wäre alles super. Nichts war super, geschweige denn überhaupt annähernd gut.

„Schade. Ich hätte deine Freundin gerne noch etwas näher kennengelernt. Du kommst doch bestimmt ein anderes Mal zum Essen oder Shirin?“ „Aber natürlich Herr Bram, sorry, Marko. Wenn ich Zeit finde, dann bestimmt“ oder eher, wenn Noah nichts dagegen hat und ich sie, inklusiver dieser schlechten Scharade, ertrage, beendete ich vermutlich ziemlich exakt die Gedanken meiner Klassenkameradin.

Die Entscheidung aufzustehen nahm mir die Dunkelhaarige ab „So, wir müssen los, Nono. Martin wird sonst ungeduldig. Danke für die Limo Marko.“

„Immer wieder gerne. Passt auf euch auf, wenn es spät wird und Noah…“

Ich blieb im Türrahmen stehen, den Blick auf Shirins Rücken gerichtet, welche bereits die Küche verließ und sich auf in mein Zimmer machte „Was.“

„Willst du wirklich ohne deine Krücke gehen?“

„Ich pack das schon. Notfalls bringt mich Martin bestimmt Heim.“

Für eine Erwiderung, ließ ich Marko keine Zeit, sondern verließ die Küche und folgte Shirin. Ich wollte mit ihm nicht ausdiskutieren, ob es von mir intelligent war oder nicht meine Krücken daheim zulassen. Es ging ihn einfach nichts an, immerhin war er es doch der wollte, dass ich sie mir abgewöhne. Die Wahrscheinlichkeit, gerade heute ohne meine Gehhilfe aufgeschmissen zu sein schien mir gering.
 

~
 

„Ich wusste noch gar nichts von Martins ominöser Schwester“ Shirin hakte sich bei mir unter „Aber wenn sie kochen kann, dann stelle sie mir auch mal vor. Ich habe immer Hunger.“

„Ha ha…“

„Ach, schau doch nicht so Nono. Heute Abend vergisst du einfach deine Eltern. Wir haben Spaß und schauen uns den hübschen Rosenthal mal aus der Nähe an“, erläuterte mir die Brünette ihr Vorhaben und wir wechselten die Straßenseite, um bald den Treffpunkt am Videonest zu erreichen, eine der letzten Videotheken der Stadt. „Leichter gesagt als getan, besonders da ich mir Rosenthal überhaupt nicht aus der Nähe anschauen mag…“, doch was lernte man in einer Freundschaft mit Shirin, den eigenen Willen aufzugeben war gar nicht so schwer wie vermutet.

„Aber vielleicht hilft sein Anblick deinen Erinnerungen auf die Sprünge“, warf die Deutsch-Türkin ein, während sich eine weitere Stimme einmischte „Oder du reißt dich von Shirin los und rennst um dein Leben.“

Vor dem Videonest stand Martin und zog an seinem Glimmstängel. Martins Augen glitten von meinem Gesicht hinunter und ich konnte den Anflug eines breiten Grinsens erahnen „Halt einfach deinen Mund, Martin.“ „Was, ich wollte nichts sagen. Gut siehst du aus Noah. Besonders hübsch finde ich deine unglaublich langen Beine. Sie kommen in der Jeans gut zur Geltung“, er zwinkerte mir zu und für einen Moment dachte ich darüber nach, ob Wegrennen wirklich eine Option war. Mir hätte bereits vorhin bewusst sein müssen, dass Martin sich über mich köstlich amüsieren würde.

„Danke du mich auch…“, Spasti.
 

„Na. Na. Na!“ Shirin hob die Arme „Frieden, Jungs. Frieden. Es ist ja unglaublich schön, dass du endlich deine homosexuelle Neigung entdeckt hast. Martin. Doch nicht heute Abend und vor allen Dingen nicht bei Nono. Du verwirrst mir den armen Nono noch.“

Natürlich erheitert euch auf meine Kosten. Tolle Freunde hatte ich mir da ausgesucht. Grimmig verschränkte ich die Arme vor der Brust „Können wir dann los? Ich möchte Rosenthal hinter mich bringen.“

Meine Freude hielt sich wie unschwer zu erkennen in Grenzen. Natürlich würde der Abend mit Shirin und Martin sicherlich lustig werden, doch die Möglichkeit auf den Radiosprecher zu treffen gefiel mir wenig bis gar nicht. Wir schrieben seit seinem Geständnis kaum noch miteinander – wenn denn nun wirklich Rosenthal hinter meinen anonymen Chatpartner steckte. Zumindest wurde er ziemlich wortkarg die letzten Tage. Beziehungsweise bekam ich nach den meisten Nachrichten nur ein knappes ‚Keine Zeit‘, wenn überhaupt. Ich verstand den Typen einfach nicht und noch weniger gefiel mir die Vorstellung, es könnte Rosenthal sein. Wir besaßen keine Gemeinsamkeiten und allgemein konnte ich nicht glauben wegen ihm die Beziehung zu Jan zerstört zu haben. Unmöglich – zumindest für mein jetziges Ich.
 

~
 

Wir liefen eine gefühlte Unendlichkeit, da Martin – dieser Troll – seinen Fahrausweis in der Videothek vergaß. Doch zumindest wusste ich jetzt, dass seiner Tante die Videothek gehörte und er in der Wohnung darüber lebte. Die Halle lag im Hafengebiet, angeblich nur einen kurzen Fußmarsch entfernt doch die gerade Strecke schien kein Ende zu nehmen. Die laute Musik ließ vermuten, dass wir unseren Zielort bald erreichten und dennoch, meine Füße schmerzten bereits höllisch.
 

Wir quetschten uns durch die Menschenmassen, es stellte sich als schwieriges Unterfangen heraus, zusammenzubleiben. Vor uns standen gut fünfzig Leute in der Schlange und der Einlass ging nur schleppend voran. Versucht unauffällig suchte ich die Umgebung ab, von Rosenthal fehlte jede Spur. Vielleicht existierte für diesen Abend ein separater Eingang für Journalisten, VIPs und Rosenthals? Irgendwann waren wir an der Reihe.

„Karten“, brummte die breitgebaute Security, ließ von einem weiteren Mitarbeiter Shirins Tasche kontrollieren.

„Weiter“ und schon wurden wir durchgescheucht. Dem machte seine Arbeit auch unheimlich Spaß. Es war voller als erwartet, aber nun gut, bisher hatte ich solch große Events auch stets gemieden.

„So“, ertönte die Stimme meiner Klassenkameradin „Dann auf ins Getümmel meine Lieben“. Ich atmete tief ein und aus – irgendwie hatte ich bei dem heutigen Abend ein ganz ungutes Gefühl.

Kapitel ZEHN
 


 

„…und verflossene Dinge“
 


 

Das Musikfest in der Ältenhaver Halle war eine sich jährlich wiederholende Veranstaltung auf der einheimischen Band – egal wie bekannt – ihr Können auf der Bühne bewiesen. Der Alkohol floss in Strömen, die Musik ließ einem das Trommelfell platzen und die Menschen drängten sich dicht an dicht. Von den übel gelaunten Sicherheitsleuten musste man vermutlich gar nicht erst anfangen. Vor meinem Unfall hielten mich meine Eltern für dieses pompöse Fest zu jung, nach meinem Unfall fragte ich mich, was ich hier in Gottes Namen machte. Ich gehörte hier nicht her. Die Musik war mir zu laut, die Halle zu voll und Alkohol trank ich nicht – beziehungsweise nicht mehr als Bier. Mein erster Cocktail besaß dank Martin die Farbe Pink – erinnert mich daran ihn bei Gelegenheit zu erwürgen – und der Tequila versuchte mich an die Grenzen meiner Geschmacksnerven zu bringen. Shirin und Martin trafen einige bekannte Gesichter, ich sah auch den einen oder anderen Klassenkameraden, doch niemanden aus meiner Vergangenheit. Dabei hätte ich zumindest mit Laura gerechnet, obwohl es in dieser Menschenmasse wohl schwer sein würde sie ausfindig zu machen.
 

„Und wie gefällt es dir?“ Shirin stand neben mir und wippte zur Musik einer Möchtegern-Hipster-Rock-Band hin und her.

Unschlüssig wog ich meine Antwort ab „Ganz okay. Wo ist Martin?“

„Er hat seine Schwester gesehen und wollte sie kurz begrüßen“, irritiert zog ich die Augenbrauen hoch „Martin hat wirklich eine Schwester?“

„Martin hat sogar vier Schwestern. Doch sie sind alle seine Halbschwestern. Sein Vater wusste sich in seiner Jugend nicht zu benehmen, wenn du verstehst, was ich meine“, oh ja, und wie ich verstand. Kopfschüttelnd nahm ich einen Schluck von meinem Bier „Und was ist mit Martins Mutter?“
 

Unter der lauten Musik fiel es uns schwer eine anständige Konversation zu betreiben, doch zu meiner Erleichterung besaß Shirin ein ziemlich lautes Organ. Es schien sie nicht einmal anzustrengen in dieser übertriebenen Lautstärke zu sprechen.

Die Dunkelhaarige zuckte mit den Schultern „Die hat irgendwo im Norden eine neue Familie gegründet, daher wohnt Martin auch bei seiner Tante. Aber die ist ganz cool drauf.“
 

So, jetzt kannte ich scheinbar Martins Lebensgeschichte, fehlte nur noch Shirin ihre.

„Können wir nach Sitzplätzen suchen? Meine Beine bringen mich um“, ich wollte ja nicht andeuten, Markos sollte Recht behalten, doch meine Muskeln schienen zum Zerreißen gespannt – der Fußmarsch und das dauerhafte Stehen zeigten ihre Wirkung. Nickend griff Shirin nach meinem Arm und zog mich mit durch die Menge.

„Dort hinten gab es Sitzmöglichkeiten“, Gott sei Dank. Nur stellte ich mir die Frage, hatten wir hier Empfang um Martin zu benachrichtigen?
 

Wie nicht anders erwartet waren die meisten Tische belegt, nur ein Platz mit drei Stühlen wurde lediglich von einem jungen Mann beansprucht. Hatte ich schon einmal erwähnt, dass ich keine fremden Menschen mochte? So überhaupt nicht? Mit Ausnahme von Shirin und Martin, doch hatten sich die beiden mir wohl eher aufgedrängt.
 

„Sorry, ist hier noch frei?“ Shirin ließ meinen Arm los, sprach den jungen Mann an und deutete auf die zwei freien Stühle. Ich wollte mich einfach nur noch hinsetzen.

„Ja, setzt euch“, der Fremde stolperte über seine eigenen Worte. Seine Augen wanderten von Shirin zu mir, seine gesamte Körperhaltung schien von jetzt auf gleich angespannt.

Braune Augen trafen meine und hielten sie fest. Der junge Mann mit der angenehmen Stimme schien auf dem ersten Moment hübsch, doch durchschnittlich. Markantes Gesicht, kurzes Haar und schöne haselnussbraune Augen. Was ich allerdings weniger zuordnen konnte, war der entsetzte Gesichtsausdruck seinerseits. Weshalb starrte er mich so unglaubwürdig an? Kannten wir uns?

„Noah“, wäre es in der Halle noch ein wenig Lauter, wohlmöglich hätte ich nicht einmal bemerkt, dass mein Name über seine Lippen drang.

„Kennen wir uns?“ verwundert blinzelte ich ihm entgegen. Ja, vielleicht kam er mir bekannt vor, wenn ich genauer darüber nachdachte, doch mir fiel nicht ein woher.

„Nein“ abrupt richtete sich der Fremde auf, griff nach seinem Rucksack „Viel Spaß mit dem Tisch, ich wollte eh gerade gehen.“

„Hey, warte doch mal“ versuchte ich den jungen Mann aufzuhalten, doch dieser winkte nur ab und zog von dannen.
 

„Was war denn das?“, ja die gleiche Frage stellte ich mir auch. Wenigstens schien Shirin ebenso verwirrt wie ich. Unschlüssig zuckte ich mit meinen Schultern „Keine Ahnung. Habe ich mir das nur eingebildet oder kannte er mich?“

Shirin setzte sich auf einen der Stühle und ich tat es ihr gleich, bemühte mich noch einen letzten Blick auf den jungen Mann zu erhaschen, welcher wie von der Tarantel gestochen die Flucht ergriff.

„Zumindest kannte er deinen Namen und so wie er dich angestarrt hat, musst du ihm irgendwas Furchtbares angetan haben“, meinte Shirin wahrscheinlich eher im Scherz, doch was wenn sie damit gar nicht so falsch lag. Das Verhalten gerade konnte unmöglich normal sein.

„Vielleicht habe ich das ja und weiß es nur nicht mehr.“

„Nono, hör auf dir darüber einen Kopf zu machen. Er ist weg. Keine Ahnung, wer das war und wir lassen uns mit Sicherheit von einem Fremden nicht den Abend versauen. Der Typ ist ein komischer Kauz, mehr nicht.“

Leichter gesagt als getan – verflucht, warum kam er mir so bekannt vor?

~
 

„Okay, wenn ihr noch einmal verschwindet, ohne einen Ton zu sagen, dann fühle ich mich von euch minimal ausgesetzt“ Martin ließ sich auf den freien Stuhl fallen, nachdem er uns noch zwei Gläser mit feinstem Schwarzbier vor die Nase stellte.

Shirin schüttelte kichern den Kopf „Ja, so sah der Plan aus. Aber du hast uns gefunden“.

„Zutrauen würde ich es dir, Shirin. Doch nicht unserem Nono – oder?“

„Wenn du wüsstest, Martin“ warf ich ein und zog das Glas näher an mich heran „Für ein Bier würde ich dich vermutlich sogar verkaufen.“ Traurig aber durchaus wahrheitsgemäß.

„Böse Nono. Böse“ sein Lachen wurde von der Stimme eines Moderators geschluckt, welcher die Bühne betrat und versuchte die Menge etwas anzuheizen.
 

„Hat schon irgendwer von euch Rosenthal gesehen?“ oh nein Martin! Brummend wendete ich mich von der Bühne ab „Vergiss es. Der Abend ist schön und der Abend soll schön bleiben!“ Bis auf meine Beine, die vermutlich kurz vor einem Wadenkrampf standen.

Abwehrend hob Martin die Hände, grinsend „Verzeih mir meine Impertinenz, Nono.“ Martin musste überhaupt nicht so unschuldig tun – ein Schnaufen erklang – bereits der pinke Cocktail war eine Frechheit.

Shirin nippte an ihrem Bier, warf unserem Klassenkameraden einen schiefen Blick zu und schmunzelte „Impertinenz? Solch ein Wort existiert in deinem Vokabular?“

„Ach“ Martin winkte ab „Weißt du, Shirin, wenn man seinen Nebenjob in einer Videothek hat, dann lernt man die ulkigsten Dinge.“

Die Beiden waren solche Idioten – doch auf ihre ganz eigene Weise sehr süße Idioten.
 

Während die Beiden begann sich über irgendeinen Film zu unterhalten, wurde meine volle Aufmerksamkeit durch mein vibrierendes Handy gefordert. Noch bevor ich den Bildschirm entsperrte, wusste ich wer mir schrieb, Mr. Ich-gebe-mich-mysteriös: ‚Du bist auf dem Musikfestival?‘

Misstrauisch nahm ich meine Augen von der Textnachricht, ließ meinen Blick durch die Gegend wandern. Aha, scheinbar ging Happy seinem liebsten Hobby nach: Noah stalken. Ob ihm bewusst war, dass diese Tagesbeschäftigung irgendwie als Straftat galt?
 

‚Ja. Beobachtest du mich schon wieder?‘ schnaubend sendete ich die Nachricht ab. So ein Trottel, warum kam er nicht einfach her und sprach mit mir?
 

‚Beobachten hört sich doch ein wenig Psycho an, meinst du nicht? Sagen wir, ich bewunderte dein hübsches Antlitz‘
 

‚Ah und das klingt weniger wie ein Psychopath?‘
 

‚Ach, wäre ich wirklich ein dich verfolgender Psychopath, dann würde ich dir erzählen, dass du sehr reizend mit dem pinken Cocktail aussahst ;)‘
 

‚Mh. Gab mir einen richtig schön femininen tatsch oder wie? Verflucht. Wie lange schleichst du schon um mich herum?‘ Das konnte doch alles nicht wahr sein? Dieser Typ war in meinen Augen der reinste Spinner. Wollte mir nicht sagen, wie er hieß, meinte allerdings mein Freund zu sein und anstatt herzukommen stand er vermutlich in einer dunklen Ecke und verfolgte mich. Musste ich mir Sorgen um mein Wohlergehen machen? Höchstwahrscheinlich.
 

‚Keine Sorge, nicht dauerhaft. Nur leider bist du kaum zu übersehen, du siehst heute Abend wirklich hübsch aus‘ Seine Komplimente konnte er sich sonst wo hinstecken.

‚Dann komm her!‘

Und nun, Totenstille. Keine Nachricht, kein Typ, der hier ankam und meinte: Ach hey, ich bin übrigens dein Freund, den du vergessen hast. Nichts. Männer. Ernsthaft, was lief falsch mit dem Kerl? Es fiel mir unmöglich ihn auch nur ansatzweise Ernst zunehmen.
 

Die Zeit verging, Martin und Shirin vergnügten sich zwischen der tanzenden Meute und schienen sich ausgiebig zu amüsieren. Sie fragten mich zwar ebenfalls, doch eine flotte Tanzeinlage würden meine Beine wohl wirklich nicht mehr mitmachen. Ich fühlte mich wie ein alter Opa der kurz vor seiner Einäscherung stand. Mürrisch schob ich das Bier von mir weg, noch ein Schluck und mein Inneres kehrte sich nach außen. Der Drang den heutigen Abend für beendet zu erklären saß tief, doch ich empfand es als unfair gegenüber meinen Klassenkameraden „Alles Mist…“

Hätte ich gesunde Beine, dann könnte ich mit ihnen dort stehen und spaß haben.
 

Das bereits nicht mehr erwartete Vibrieren meines Handys ließ mich zusammenzucken. Doch noch eine Antwort von Mr. Mysteriös oder Marko, der von seinem Kontrollzwang besiegt wurde?

‚‚Komm zu den Toiletten‘
 

Mit zusammengekniffenen Augen laß ich die Nachricht abermals. Zu den Toiletten? Mein Herz machte einen aufgeregten Hüpfer. Hatte Happy es sich anders überlegt? Wollte er sich am Ende doch mit mir treffen? Mein Blick wanderte zu Shirin und Martin, als ich Augenkontakt hatte, machte ich ihnen mit einem Handzeichen bewusst, dass ich auf die Toilette verschwinden würde. Mit wem ich mich dort eventuell treffen wollte, ließ ich unter den Tisch fallen – die Wahrscheinlichkeit die Beiden verfolgten mich schien einfach zu groß. Sie waren zu neugierig, wer wusste schon ob Mr. Unbekannt sonst nicht doch die Flucht ergriff.
 

‚Ok. Bis gleich‘
 

Aufgeregt hievte ich mich auf die Beine und kämpfte mich an einigen wenigen Leuten vorbei. Man merkte bereits an der schwindenden Anzahl der Besucher, dass die Veranstaltung sich dem Ende neigte. Der Alkohol tat der Stabilität meiner Beine nicht unbedingt etwas Gutes. Verflucht.
 

Schlecht beleuchtet und dunkel war der schmale Gang zu den Toiletten. Stetig kamen mir unbekannte Gesichter entgegen, schlängelten sich vorbei oder rempelten mich an. Hier galt Rauchen als verboten – egal ob Tabak oder Marihuana – dennoch stieg mir der penetrante Geruch des Grases in diese Nase, legte sich pelzig und schwer auf meiner Zunge ab. Shirin verlor ich bereits vor einigen Metern in der Menschenmenge, von Martin fehlte bereits seit einiger Zeit jede Spur. Fest klammerte ich mich an mein Handy, ließ die kurze Nachricht immer und immer wieder durch meine Gedanken tanzen – er wollte mich sehen. Vielleicht bekam ich jetzt endlich die Antworten auf meine Fragen. Der Alkohol ummantelte meine Gedanken, hing mir Gewichte an die Beine. Ich fühlte mich schwerfällig, müde und vollkommen ausgelaugt. Im schwachen Licht sah ich den blonden Haarschopf, erkannte das Lachen aus dem Radio und erzitterte kaum merklich durch die ausgelöste Gänsehaut. Nun stand ich hier, fühlte mich wie ein perverser Spanner und schaffte es dennoch nicht meinen Blick abzuwenden. Meine Finger umklammerten fest das Mobiltelefon, während mein Herz in die Hose rutschte. ‚Komm zu den Toiletten‘ schrieb er mir, doch ich verstand nicht wieso. Die Musik dröhnte in meinen Ohren und der Bass ließ mein Atem vibrieren – Übelkeit stieg in mir auf. Auch wenn ich Rosenthal nicht kannte, ich wollte nicht sehen wie er diesen jungen Mann dort küsste.
 

Der Mann, nur wenige Meter vor mir war eindeutig Rosenthal. Er lehnte an der Wand und küsste den Mann, welcher vorhin noch auf der Bühne die Menschen unterhalten hat. Beide hatten die Augen geschlossen und schienen den Austausch der Zärtlichkeiten zu genießen. Hieß das, Rosenthal war der anonyme Schreiber? Oder doch der Typ, mit dem er sich beinahe auffraß? Zähneknirschend wendete ich meinen Blick ab. Vielleicht war es auch nur Zufall auf die Beiden zu treffen?
 

„Noah?“ erschrocken hob ich meinen Kopf. Rosenthal hatte den jungen Mann von sich gedrückt und blickte nicht minder schockiert in meine Richtung.

„Scheiße“ er wischte sich hastig über den Mund, kam einige Schritte auf mich zu und zwang mich damit zur Flucht. Kindisch? Wahrscheinlich. Doch etwas in mir trieb mich dazu mich kopfschüttelnd abzuwenden. Irgendwas stimmte hier nicht. Irgendetwas lief gerade gewaltig falsch.
 

Überraschenderweise waren meine Beine ganz offensichtlich auf meiner Seite. Ich fand nicht einmal Zeit mich bei den Menschen zu entschuldigen die ich auf meiner Flucht anrempelte, geschweige Shirin oder Martin Bescheid zugeben. Ich wollte nur raus aus dieser verdammt muffigen Halle.

Erst auf dem Parkplatz kam ich schwer atmend zum Stehen. Meine Muskeln zogen unangenehm, meine Knie schienen mir wegknicken zu wollen und die Lunge brannte. Was war dort eben passiert? Warum bin ich weggelaufen?

„Scheiße verdammt…“
 

„Das kannst du laut sagen“ irgendjemand packte mich an meiner Jacke, sodass ich nur wenige Sekunden später auf dem harten Asphalt aufkam.

Vor mir stand der rothaarige Mann, welcher zuvor noch an Rosenthals Lippen klebte. In seinem Gesicht zeichneten sich Hohn und Spott ab und er galt eindeutig mir.

„Was willst du Spinner von mir“ spie ich ihm entgegen und rief mir meinen Arm.

„Ich will, dass du dich endlich in Luft auflöst!“ als er auf mich zukam, versuchte ich mich aufzurichten, doch meine Beine gehorchten mir nicht. „Verpiss dich“

„Nein Noah. Du verpisst dich endlich aus unserem Leben. Ich hatte ihn fast so weit – endlich. Aber nein, Prinzeschen muss ja aus ihrem Koma aufwachen und alle Aufmerksamkeit wieder auf sich ziehen.“

„Scheiße. Ich weiß nicht wovon du redest“, brüllte ich los.
 

„Ach nein!“ schützend riss ich die Arme empor, als er mir etwas entgegen warf. Erst als ich es scheppern hörte, sah ich auf. Nur wenige Zentimeter neben mir ruhte mein altes Handy, inklusive zersplitterten „Er hat mir versprochen, dass er dich endlich vergisst, nachdem du den Unfall hattest und deine Mutter ihn bedroht hat. Aber kaum tauchst du wieder auf finde ich dein Handy bei ihm. Dein verfluchtes Handy und du Wichser merkst nicht mal, dass du die gesamte Zeit von deiner alten Handynummer angeschrieben wirst.“

„Ich will ihn doch überhaupt nicht“ versuchte ich mich zu verteidigen. Rosenthal schrieb mich an, nicht umgekehrt.
 

„Ja klar, du wolltest ihn ja nie oder. Genau, du musstest nie irgendwas tun um das er dir gehört, während ich ihm jahrelang hinterhergerannt bin. Ich habe die Schnauze voll von dir Noah Bram“ der Fremde, dessen Name ich nicht einmal kannte, kam mir bedrohlich nahe „Du wirst dich endlich von Felix fernhalten. Er braucht dich nicht, er braucht nur mich.“

„Du kannst ihn auch gerne behalten, du verrückter Freak!“ der hatte sie doch nicht mehr alle beisammen!

„Wie hast du“ für einen Moment dachte ich, das war es jetzt, doch noch bevor der Rothaarige mich erreichte wurde er am Arm zurückgerissen.
 

„Lass die Finger von ihm“ der junge Mann, welcher vorhin an dem Tisch saß und ihn uns fluchtartig überließ „Es ist mir egal was du für ein Problem mit dem da hast, aber du verschwindest jetzt besser bevor ich die Sicherheitsleute rufe.“
 

Erstaunlicherweise schienen die Worte zu reichen um den Rothaarigen zu verscheuchen, auch wenn er nicht ohne ein „Wir sehen uns noch, Noah“ ging.
 

Der junge Mann mit den kurzen Haaren atmete erleichtert aus „Immer nur Probleme mit dir. Kannst du aufstehen Noah?“ Er bemerkte meinen verwirrten erleichterten Blick und schüttelte den Kopf „Gibt es überhaupt noch jemanden den du wiedererkennst? Idiot…“
 

„Wer?“
 

„Wer wohl. So sehr habe ich mich nun auch nicht verändert. Nur die Haare sind kürzer…“ er hockte sich vor mich, fuhr sich über das kurzgeschorene Haar. Ich konnte nicht verhindern, dass mir die Tränen in die Augen stiegen als ich in endlich erkannte. Was war ich nur für ein Trottel.
 

„…Jan…“

Kapitel 11

Kapitel ELF - ...wollte nur einen Kuss
 


 

„So, ich habe bei Marko angerufen und auch deinen Freunden geschrieben. Die beiden scheinen beruhigt, aber nicht unbedingt begeistert über dein plötzliches verschwinden“ Jan reichte mir eine Tasse mit heißem Wasser und Zitrone, ließ sich neben mir auf die Couch fallen.

Nervös knetete ich meine Hände, löste sie nur widerwillig voneinander um die Tasse entgegen zunehmen.

„Danke“ es fühlte sich seltsam an neben Jan zu sitzen. Der Dunkelhaarige schnaubte und schüttelte den Kopf „So habe ich mir meinen Abend sicherlich nicht vorgestellt. Hätte ich gewusst, dass du auf der Veranstaltung bist wäre ich vermutlich gar nicht hingegangen.“

Was sollte ich wohl dazu sagen. Der Abend sollte lustig werden, doch stattdessen wurde ich von einem rothaarigen Fremden angegriffen – sicherlich sollte der heutige Abend nicht auf Jan seinem Sofa enden.

„Was hast du angestellt um diesen Zwerg so wütend zu machen?“ wollte der hochgewachsene Mann von mir wissen, doch musste ich schulterzuckend gestehen die Antwort nicht zu kennen. Immerhin kannte ich den Fremden nicht einmal, zumindest erinnerte ich mich nicht mehr an ihn.

Erschrocken zuckte ich zusammen, als ich eine warme Hand in meinem Nacken spürte. Hastig wendete ich meinen Kopf zur Seite und blickte Jan überrascht an.

„Verzeihung“ nuschelte mein Ex-Freund beschämt „Deine Haare sind so lang geworden.“ Ich wusste warum ich damals von Jan hin und weg war, seine wunderschönen braunen Augen, die warmen großen Hände und dieser leicht beschämte Blick sobald ihm etwas unangenehm war eroberten mein Herz im Sturm. Und zu meiner Enttäuschung brachten all diese Dinge mein Herz weiterhin aus dem Rhythmus.

Fest umschlossen meine Finger die warme Tasse „Seit wann bist du zurück? Man hat mir gesagt du bist für dein Abitur weggezogen.“ Ich brauchte ein Thema, sonst würde ich jede Sekunde anfangen zu heulen. Warum hat mein Vergangenheits-Ich nur mit Jan Schluss gemacht? Ich verstand es einfach nicht, es wollte nicht in meinen Kopf rein.

„Ich habe beschlossen für mein Studium zurückzukehren. Man vermisst seine Heimatstadt irgendwann ganz automatisch – zumindest war es bei mir so.“

Diese komplette Situation wirkte so unrealistisch.
 

„Ich war erleichtert als ich gehört habe, dass du aufgewacht bist“ ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen, immerhin mussten seine Worte bedeuten, dass er mich nach unserer Trennung nicht hasste oder?

Zögerlich fuhr Jan fort „Ich wollte dich sogar besuchen. Um ehrlich zu sein bin ich sogar ins Krankenhaus gefahren, doch ich habe mich einfach nicht in dein Zimmer getraut. Oh Gott, ich kann einfach nicht vergessen wie wütend du auf mich warst als wir uns getrennt haben. Ich habe mich damals wie ein Idiot verhalten Noah und ich konnte deinen Gefühlsausbruch damals schon nachvollziehen, doch mein falscher Stolz stand mir einfach im Weg. Ich wollte mich schon viel früher bei dir entschuldigen und auch, wenn ein ziemlich wilder Abend an unserem Zusammentreffen die Schuld trägt bin ich erleichtert es dir endlich gesagt zu haben. Ich hätte dieses Mädchen damals nicht küssen dürfen und ich hatte niemals die Absicht dir wehzutun.“
 

Mein Lächeln gefror „Wie bitte?“ Er hatte ein Mädchen geküsst? Etwa während wir zusammen waren? „Was hast du da gerade gesagt? Was war der Grund für unsere Trennung?“ etwa doch nicht Rosenthal? Ich brach Jan niemals das Herz, sondern er mir? Ehrlich? Und ich kämpfte über Wochen mit einem schlechten Gewissen nachdem ich erfuhr, dass ich Jan für einen anderen habe sitzenlassen? Euer fucking Ernst?

Mein Ex-Freund wurde kreidebleich „Du hattest den Grund unserer Trennung vergessen?“ Oh ja, mein Freund. „‘hattest‘ ist durchaus die korrekte Wortwahl“ ich empfand diesen Abend bereits vorher als beschissen, doch jetzt erreichte meine Laune Tiefstwerte.

Ich erinnerte mich zwar weiterhin nicht an die Trennung, doch konnte ich mir vorstellen wie sie mich damals in Rage gebracht haben muss.

„Du hast ein Mädchen geküsst und das obwohl wir in einer Beziehung waren?“ am liebsten wäre ich aufgesprungen, doch meine Beine waren ganz offensichtlich dagegen.

„Und ich dachte ich habe dir das Herz gebrochen, ich habe mich so schlecht deinetwegen gefühlt. Ich glaubte ich habe mit dir wegen Rosenthal Schluss gemacht!“

Oh wie gerne würde ich meine Hände um Jan seinen Hals legen, doch er schaute so schuldbewusst und sein schlechtes Gewissen konnte man kaum übersehen.

„Och bitte, als hättest du mich jemals für Rosenthal verlassen“ änderte sich auf einem Schlag Jan seine Stimmung „Er war lediglich zur richtigen Zeit am richtigen Ort – mehr nicht.“

„Ach hätte ich nicht?“ fauchte ich zurück.

„Nein, bestimmt nicht. Hätte ich mich damals einfach entschuldigt und mich nicht wie ein Idiot benommen, dann wären wir noch zusammen und du hättest diesen dummen Unfall nicht gehabt!“

„Und das weißt du verdammter Klugscheißer bitte woher?“ wir diskutierten uns in Rage.

„Weil ich dich immer noch Liebe, du Arschloch.“
 

Stille. Er blickte entsetzt zu mir und ich mehr als nur überfordert zu ihm, bis er seinen Kopf langsam sinken ließ „Und das hätte ich dir bei unserer Trennung schon sagen müssen und nicht erst über drei Jahre später. Ich bin ein hoffnungsloser Fall.“
 

„Du liebst mich?“ waren die einzigen irritierten Worte, welche mir stotternd über die Lippen kamen. Jan liebte mich noch? Also so richtig? Innerlich schüttelte ich den Kopf, wie konnte er sich nach all den Jahren da so sicher sein? Und vor allem, was empfand ich selbst? Immerhin wusste ich jetzt den wahren Grund für unsere Trennung. Worüber dachte ich hier überhaupt nach? Ich sollte derzeitig andere Probleme haben als über eine aufblühende Liebesbeziehung mit meinem Ex-Freund Jan nachzudenken. Dem Mädchen küssenden Jan, wenn ich es verdeutlichen durfte.
 

„Noah, darf ich dich küssen?“ ertönte Jan seine Frage und er rutschte bereits einige Zentimeter an mich heran. Durfte er? Wollte ich es denn auch? Warum funktionierte mein eigenes Gehirn gerade nur mit halber Leistung?

„Ok“ die Zustimmung schlich sich hastiger über meine Lippen als geplant. Das lag vielleicht an meinem Herz was sich hinter meinen Rippen beinahe überschlug.

Ich sah wie Jan nervös schluckte als er mir eine Hand auf die Wange legte. Er wirkte unruhig, befeuchtete sich nervös die eigenen Lippen mir der Zunge. Warum war ich nicht nervös? Abgesehen von dem lauten Hämmern in meiner Brust verspürte ich keine Unruhe.
 

Als sich seine Lippen erst ausgesprochen vorsichtig auf meine legten erwartete ich aufkeimende romantische Gefühle, doch bis auf ein kaum merkliches Kribbeln in meiner Magengegend konnte ich nichts Derartiges verspüren. Eine seiner Hände legte sich in meinen Nacken, zog mich dichter an seinen Mund. Der Kuss wurde fester und die Hand an meiner Wirbelsäule zog mich mit zärtlichem Nachdruck auf seinen Schoß. Eines musste man Jan hoch anrechnen, das Küssen hatte er nicht verlernt. Definitiv nicht. Ich erschauderte als seine Hand sich ihren Weg unter mein Oberteil bahnte und fest über meine Haut strich. Seine Hand stoppte irritiert als sie auf eine der Naben stieß, die der Unfall hinterließ, doch Jan schien sich rasch eines besseren zu besinnen und schickte seine Finger weiter auf Wanderschaft.
 

Nervös versuchte ich mein Gewicht zu verlagern als ich durch meine Sitzposition bemerkte, dass die gesamte Situation meinen Ex-Freund nicht unbedingt kalt ließ. Allerdings schien Jan mein Tun etwas anders zu deuten und ehe ich mich versah, lag ich unter ihm. Ok, wie kam ich bitte von ‚einem Kuss‘ zu dieser doch recht heiklen Position? Es war gewiss nicht so, dass mir Jan sein Handeln nicht irgendwo ein klitzekleines bisschen gefiel, doch flüsterte die kleine Stimme in meinem Kopf „Ähm, nein danke.“
 

Als Jan sich von meinen Lippen hinunter zu meinem Hals küsste und seine Hände mehr als eindeutigen an dem Knopf meiner viel zu engen Jeans herumnestelten ergriff ich die initiative, packte Jan seine Schultern und drückte ihn weg „Halt mal, Jan.“

Ich hatte einen echt beschissenen Abend, ich sehe gerade seit Ewigkeiten meinen Ex-Freund wieder und habe sicherlich nicht vor von ihm auf seiner Couch flachgelegt zu werden.

Enttäuscht stöhnend lehnte Jan seine Stirn gegen meine Brust „Noah.“

„Beim besten Willen und trotz deiner wirklich vorbildlichen Einsatzbereitschaft, ich kann das nicht. Echt nicht Jan und wenn du mich nur dafür mitgenommen hast, dann muss ich dich leider enttäuschen.“

„Nein. Nein. Nein“ hastig rappelte sich der Dunkelhaarige auf „Ich bin doch kein Arschloch, natürlich habe ich dich nicht nur dafür mitgenommen. Auch wenn es ein wirklich schöner Nebeneffekt gewesen wäre.“ Er wirkte zerknirscht, als er mir die Hand reichte um das auch ich aus der liegenden erlöst wurde.
 

„Ich dachte nur …“ begann Jan zögerlich „Na ja, ich wollte dir nur zeigen, dass ich wirklich noch etwas für dich empfinde.“
 

„Und das kannst du nur in dem du versuchst mich auf deiner Couch flachzulegen?“ ich räusperte mich, doch weniger da ich etwas im Hals hatte, viel mehr um meine aufflammende Wut zu unterdrücken. Wie kam er bitte auf so eine dumme Idee? Er schlief mit mir und ich wäre von seiner ewigen Liebe überzeugt?
 

„Hat dich der Kuss denn kein bisschen …?“ er beendete den Satz nicht. Für einen Augenblick haderte ich mit meiner Antwort, bis ich zögerlich den Kopf schüttelte „Es war nett, doch ich glaube nicht mehr. Es tut mir leid Jan.“ Oh, wie grausam ehrlich ich heute war.
 

„Scheiße“ fluchend erhob sich Jan von der Couch und fuhr sich über sein kurzgeschorenes Haar „Ich bin ein Idiot.“ Vielleicht, aber ein süßer Idiot falls es ihn beruhigen sollte. „Vielleicht sollten wir eine Nacht drüber schlafen?“ schlug ich unsicher vor. Es tat mir schon beinahe Leid wie verzweifelt er da stand, immer noch mit der Beule in seiner Hose.
 

Seufzend ließ Jan seine Arme sinken „Du hast Recht und ist sollte duschen gehen. Dringend. Nimm du mein Bett, ich schlafe auf der Couch.“ Ich verdrehte die Augen „Jan, ich verjage dich sicherlich nicht aus deinem eigenen Bett. Außerdem wirst du kaum über mich herfallen, wenn ich schlafe.“ Haderte er gerade wirklich mit sich? Wie bitte? „Nein, du hast da Recht. Warte ich helfe dir“ Jan half mir hoch von der Couch und brachte mich in sein Schlafzimmer. Es war klein, so geschnitten das kaum mehr als das Bett hineinpasste. Müde ließ ich mich aufs Bett fallen, endlich schlafen. Ich fühlte mich so fertig. Jan ging zu seinem kleinen Regal, in welchem er fein säuberlich seine Kleidung stapelte und warf mit etwas für die Nacht hin – beziehungsweise ein einfaches Shirt von unserem heimischen Fußballteam. „Ich habe leider keine Zahnbürste oder so, habe nicht so oft Besuch der über Nacht bleibt.“ Hieß das jetzt er hatte oft One-Night-Stands oder eigentlich nie jemanden bei sich?
 

Als Jan den Raum verließ, wartete ich bis die Dusche erklang bevor ich mich umzog. Was für eine Nacht, Noah. Super, von einem Mist in den nächsten Unfug, obwohl sich zumindest einige Dinge aufgeklärt hatten.

Nur zögerlich krabbelte ich unter die Bettdecke, sie roch nach meinem Ex-Freund und ich war mir nicht sicher ob mir das wirklich gefiel. Doch die Müdigkeit holte mein Bewusstsein schneller ein als erwartet und somit schaffte ich es nicht einmal mehr wie geplant auf Jan seine Rückkehr zu warten.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Liebe Leser, nachdem ich darauf aufmerksam gemacht wurde, dass sich einige Menschen mit dem Charakter Shirin vielleicht etwas Beleidigt fühlen - das wollte ich damit gewiss nicht erreichen.

Ich weiß, dass es jetzt in Rechtfertigungen endet, aber ich habe das Bedürfnis danach. Shirin stellt nicht die typische Türkin da! Der Charakter ist überspitzt dargestellt und sollte gewiss nicht ernstgenommen werden. Genauso hätte ich nämlich auch eine deutsche Shantall dargestellt.

Also lange Rede, kurzer Sinn: Es tut mir Leid, falls ich mit ihr irgendwem zu nahe getreten bin. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
*Absolut ausgedacht :D ähnliche Straßen sind von unserem Staat, Ämter und sonstiger Institutionen frei erfunden. Sie sind vermutlich mit einer Zeitmaschine in die Zukunft gereist, haben meine Geschichte gelesen und nach ihrer Rückreise in die Vergangenheit die jeweilige Straße so benannt. Alles andere wäre bei einer ähnlichen Straßenbezeichnung in der Realität absolut unwahrscheinlich! :D Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (30)
[1] [2] [3]
/ 3

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  _A-chan_
2017-11-13T15:45:23+00:00 13.11.2017 16:45
Hallo,
hab gestern deine ff gelesen und muss sagen, sie ist gut. Ich frag mich wie sie weiter geht.
Schreibst du hier noch weiter?
LG _A-Chan_
Von:  chaos-kao
2016-09-29T19:59:34+00:00 29.09.2016 21:59
Hi, ich bin was Rechtschreibung und Grammatik betrifft ziemlich pingelig. Aber das hält mich nicht davon ab die Story und ihre vielschichtigen Charaktere zu genießen, auch wenn sich immer mal wieder der Fehlerteufel einschleicht. Nimm es dir nicht so zu Herzen. Du hast eine gute Storyline bisher und eine angenehme Art zu schreiben, man kann mitfühlen. Das ist mir lieber als eine grammatikalisch perfekte Story, bei der aber das Gefühl auf der Strecke bleibt. Die Story muss in erster Linie dir gefallen und keinen Grammar-Nazis ;)
Von: haki-pata
2016-09-25T21:12:42+00:00 25.09.2016 23:12
Oh Mann!
Aus dem Gefühlschaos kommt er nicht raus.
Von:  summercat88
2016-09-23T17:02:18+00:00 23.09.2016 19:02
Bin gespannt wie es weiter gehen 😊
Gut geschrieben
Von:  summercat88
2016-08-31T20:27:47+00:00 31.08.2016 22:27
Spannend,spannend. 🖒 hoffen es so weiter.
Von:  chaos-kao
2016-08-31T16:04:32+00:00 31.08.2016 18:04
Uiiii, Draaaama! *___* Da bin ich ja mal gespannt wie es weiter geht. Ein etwas fieser Cliffhanger :)
Von: haki-pata
2016-08-31T15:17:22+00:00 31.08.2016 17:17
Wuhi!

Nur weiter, nur weiter.
Und: Was nicht passt, wird passend gemacht.
Von: haki-pata
2016-08-30T14:40:23+00:00 30.08.2016 16:40
Shirin ist anbetungswürdig.
*Shirin huldige*
Antwort von:  EmmaAngen
30.08.2016 16:42
Lass uns ihr einen Tempel bauen... :D
Antwort von: haki-pata
30.08.2016 16:44
*Baumaterialien bereit stell*
Denn man los!
*in die Hände spuck*
*Hände beguck*
Ich hätte auf die Schokolade verzichten sollen...
Von:  badluck1
2016-08-24T21:37:43+00:00 24.08.2016 23:37
Hey dud!
Hast du ne schreibblockade? Bin echt gespannt wies weitergeht
Antwort von:  EmmaAngen
30.08.2016 16:39
Ja, unter anderem - meine eigene nicht vorhandene Organisation beim Schreiben fällt mir momentan auf die Füße - dicht gefolgt von lol.
Zudem habe ich noch so viele Ideen für 'Dornröschen' und muss aufpassen es nicht zu übertreiben. Aber ich glaube ich komme langsam wieder ins Schreiben rein! :)
Von:  -Ray-
2016-08-14T19:26:48+00:00 14.08.2016 21:26
Dieses Kapitel hat mir sehr gut gefallen mach weiter so ich werde auf jeden Fall dran bleiben. :) Daumen hoch!
Antwort von:  EmmaAngen
30.08.2016 16:39
Danke :3


Zurück