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Seelenkrank

von

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Julietta und meine Metamorphose

Ich eilte zu Tim und außerdem brauchte ich dringend neuen Stoff. Tim schleppte mich mit zu einem Kumpel. Flo war auch schon dort, jedoch wusste ich nicht, woher sich Flo und Andy kannten. Andy war einer der extremsten Junkies, die ich kannte. Seine Wohnung war ein einziges Dreckloch und darin lag nur eine einzige Matratze, auf der er pennte. Alles andere hatte er verkauft, um am Heroin ranzukommen, doch jetzt ging er meist Anschaffen. So weit wollte ich es nie kommen lassen.

Andy begrüßte uns mit einem breiten Grinsen.

„Hey, was’n mit dir los?“, fragte Tim.

„Ich hab gerade richtig geiles Zeug am Start Mann…kannst auch ne Kostprobe bekommen und es is genug für alle da. Wir leben im Paradies!“

Nun grinste auch Tim. Wir hockten uns auf den verkeimten Fußboden in dem Wohnzimmer, zumindest war es das ursprünglich einmal gewesen und ich schaute weg, als Andy sich einen Schuss setzte. Ich konnte und wollte das nicht sehen. Ich verzog mich in den Nebenraum. Irgendwann kam Tim und setzte sich zu mir. Er hatte aus der Apotheke seines Onkels noch ein paar Pillen mitgehen lassen und ich spülte mehr als gesund waren mit billigem Fusel runter. Irgendwie fühlte ich mich gerade nicht besser. Meine Probleme zu Hause wurden schlimmer und ich versuchte es auszuschalten, doch es funktionierte nicht mehr. Mir ging es nur noch mies.

„Alles klar bei dir?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Nichts is okay…was mach ich hier eigentlich? Mann…ich hab das Gefühl, ich bin kurz davor mein Leben zu ruinieren.“

„Ach so weit darfst du nich denken…genieß den Moment.“

Doch da gab es nichts zu genießen. Ich bekam Panik und musste dringend an die frische Luft. Ich war echt am Ende mit allem und bekam große Lust mich umzubringen. Schließlich setzte ich meine Gedanken dann auch in die Tat um. Hier in einer solchen dunklen Gasse würde mich sicher niemand finden. Ich schmiss mir die restlichen Pillen ein und alles um mich herum verschwamm. Es war, als würde ich in einem Aquarium sitzen und die Welt um mich herum aus der Fischperspektive  wahrnehmen. Doch dann zog jemand den Stöpsel und ich bildete mir ein, dass mir irgendwer mit einem überdimensional großen Hammer auf den Kopf schlug. Wieder verschwamm alles um mich herum. Schwarz. Nur Dunkelheit umfing mich. Ich kippte um.

 Als ich meine Augen öffnete, befand ich mich definitiv nicht mehr in der einsamen Gasse, sondern in einem dämmrigen Zimmer. Und tot schien ich auch nicht zu sein, es sei denn ich war aus unerklärlichen Gründen im Himmel gelandet. Ich fühlte mich schwach und alle Glieder schmerzten. Ich schaute mich vorsichtig um, doch ich war alleine und hatte mich nie verlassener gefühlt. Mein Körper war in einen weißen Schlafanzug gesteckt und meine Hände ans Bett gebunden. Vielleicht hatten mich meine Eltern ja in Psychiatrie einweisen lassen?

Ich musste heulen, weil ich mich so alleine fühlte. Wie sehr wünschte ich mir jetzt Basti, Tim oder sogar meine Mum herbei? Wie lange ich mich wohl schon hier befand? Als die Tür aufging, erschrak ich. Es war eine junge Frau im weißen Kleid. Sie trat näher zu mir heran und auf einmal erkannte ich sie. Es war Julietta. Ihre langen schwarzen Haare waren zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden. Mir war das furchtbar peinlich, sie lächelte jedoch zu mir herab.

„Wie geht es dir?“

„Hier arbeitest du also? Ich weiß nich, ich glaube gut. Wie lange bin ich schon hier?“

„Seit zwei Tagen. Scheint echt übel gewesen zu sein.“

Ihre Mundwinkel zuckten und sie lächelte.

„Wie bin ich hier her gekommen?“

„Basti hat dich mit Mike hergebracht. Deine Mutter hat dich heut Morgen auch schon besucht. Möchtest du etwas essen oder trinken?“

Meine Mum war also hier gewesen. Scheiße, sie war bestimmt nicht gut auf mich zu sprechen oder verdammt enttäuscht. Ich wollte nicht daran denken.

„Ein Glas Wasser wäre toll. Nach Essen ist mir gerade weniger zu Mute.“

Julietta brachte mir eine kleine Flasche Wasser und ein Glas dazu.

„Wollte meine Mutter noch mal kommen?“

„Keine Ahnung, aber bestimmt.“

„Wie lang muss ich noch hier bleiben?“

„Ich denke mal ungefähr zwei Tage.“

Gut, dass ich nicht richtig bei Besinnung gewesen bin, als die Entzugserscheinungen eingesetzt haben. Doch war es jetzt auch vorbei? Mir war wieder zum Heulen zu Mute und deshalb rieb ich mir mit den Händen die Augen, damit Julietta nichts merkte.

„Kann ich sonst noch was für dich tun?“

Ich schüttelte mit dem Kopf, doch dann fiel mir noch etwas ein.

„Doch. Bringst du mir morgen das Frühstück? Dich kenne ich wenigstens.“

Julietta lächelte und strich mir über die Wange.

„Das mach ich.“

Als sie verschwunden war setzte ich mich vorsichtig auf und stieg aus dem Bett. Der Boden war kalt unter meinen nackten Füßen. Ich schaute aus dem Fenster und beobachtete die vielen Autos, die an dem Krankenhaus verbeifuhren. Dann bekam ich wieder einen Heulanfall, denn jetzt prasselten meine Probleme wie eine Lawine auf mich ein. Mein unsichtbarer Schutzschild war verschwunden und alles war doppelt so schlimm wie zuvor. Es war, als hätte ich meine Gefühle ignoriert und jetzt schienen sie mich zu erdrücken. Ich sank zu Boden und war angewidert von mir selbst. Dann ging die Tür erneut auf und diesmal trat meine Mum ein. Sie begrüßte mich nicht mal und in ihrem Gesicht sah ich Trauer und bittere Enttäuschung. Wahrscheinlich hasste sie mich. Ich steckte meine Füße wieder unter die warme Bettdecke. Sie nahm auf dem Stuhl neben dem Bett platz, auf dem die schöne Julietta zuvor gesessen hatte.

„Bitte sieh mich nich so an, ich weiß, dass ich dich enttäuscht habe und es tut mir furchtbar leid.“

Ich hielt meine Tränen diesmal nicht zurück.

„Alles hätte ich von dir erwartet Lukas, nur das nicht. Das sitzt echt tief. Du bist zu dem geworden, wovor dein Vater und ich dich immer bewahren wollten.“

„Wie meinst du das?“, fragte ich verunsichert.

„Du kommst aus einer angesehenen Familie Lukas und ich und dein Vater wollten nie, dass du an solche Leute gerätst. Du hättest alles haben können, doch du entscheidest dich für Drogen und diese armseligen Junkies?“

Ihre Worte schnürten mir die Kehle zu und ich wünschte mir, sie hätte mich geschlagen oder angeschrien, aber das was sie sagte, war weitaus schlimmer.

„Nein. Das heißt ja....es sind meine Freunde Mutti. Ich verspreche dir, dass ich mich in Zukunft von Drogen fernhalte, aber die Leute hatten damit nichts zu tun. Es sind nich alle so. Basti und Flo kennst du doch.“

„Erzähl mir doch keine Märchen. Ja die beiden kenne ich, aber scheinbar ziehen sie das Unglück ebenso an wie du. Natürlich kannst du dich weiter mit diesem Abschaum treffen, doch dann erwarte nicht, dass dich deine Familie weiter duldet. Lukas, ich liebe dich, doch bitte bleib weg von diesen Menschen. Es bricht mir das Herz dich dort zu sehen.“

Die Tränen flossen wie kleine Bäche über meine Wangen und dann schloss mich meine Mum in die Arme. Ich drückte sie fest an mich, doch ich wusste im selben Augenblick auch, dass ich ihr dieses Versprechen niemals geben konnte.

 Als ich endlich entlassen wurde, traf ich mich gleich mit Basti. Dieser teilte mir freudestrahlend mit, dass er eine Freundin hatte. Das freute mich. Auch ich erzählte ihm von meiner Begegnung mit Julietta.

„Ich weiß, Mike und ich haben sie an dem Abend schon gesehen, als wir dich ins Krankenhaus gebracht haben.“

„Übrigens danke. Wie habt ihr mich gefunden?“

„Ich hab Flo angerufen und trotz seines Rausches war er so halbwegs ansprechbar und konnte mir den Weg erklären und da war ich voll geschockt, als du da auf einmal lagst. Ich hab gedacht, du bist tot. Die haben dir den ganzen Magen ausgepumpt.“

„Ich weiß, hat mir Julietta erzählt. Ich fand das voll peinlich.“

Wir trafen uns mit Flo und Bastis Freundin vor dem Jugendclub. Sie sah relativ normal aus, in Jeans und einem roten Pulli. Basti gab ihr einen Kuss.

„Nadja, das ist Lukas.“

„Hey, schön dich kennenzulernen“, sagte ich. Wir lächelten uns an. Ich blieb jedoch nicht lange, weil ich lieber alleine sein wollte.

 Zu Hause war es jetzt endgültig vorbei. Mein Vater war wie immer, wo auch immer und meine Mum behandelte mich wie Luft. Zwar bereitete sie Frühstück vor, aber wechselte kein Wort mit mir. Das hielt ich nicht aus und wollte so schnell wie möglich wieder zur  Schule gehen und den versäumten Stoff nachholen. Meinem Klassenlehrer hatte sie erzählt, dass ich einen Unfall hatte. Ich traf Basti und Flo vor der Schule. Auch Flo war wieder clean und so waren wir als Dreierbande wieder vereint. Ich fühlte mich trotzallem noch echt angeschlagen.

„Wo hast du Nadja eigentlich kennengelernt?“

„Ach, durch Chris, weil er viel mit ihr zu tun hat und da du ja nicht da warst, habe ich eben viel mit ihm unternommen.“

Ich lächelte. Im Sportunterricht spielten wir gerade Volleyball und darin war ich ziemlich gut. Die Mädels stritten sich meist um mich, was ich recht amüsant fand. Schließlich spielte ich mit Basti und Jessica in einer Mannschaft. Wir schlugen uns zwar ziemlich gut, jedoch gewannen wir nicht jeden Satz.

Zu Hause erledigte ich meine Hausaufgaben und hörte, wie jemand unter zur Haustür herein kam. Vermutlich war mein Vater von der Geschäftsreise zurück, da meine Mum um diese Uhrzeit noch in ihrem Büro zu tun hatte. Nachdem ich meine Arbeiten beendet hatte, wollte ich raus gehen. Doch mein Vater fing mich ab. Auch das noch. Ich hielt Abstand, weil ich eine böse Vorahnung hatte, worauf das hier hinaus lief.

„Oh mein Lieblingssohn…“, heuchelte er.

„Willst du was? Weil wenn nicht, würde ich gern gehen.“

„Ach und wohin? Zu deinen Assifreunden.“

Ich schluckte den Ärger runter und nickte nur.

„Weiß du Lukas, der Sohn meines Kollegen hat uns auf der Geschäftsreise begleitet, weil er später die Agentur seines Vaters leiten wird. Da hab ich mich wieder voller Enttäuschung gefragt, warum du nicht auch so bist? Ich meine, ich könnte dir alles bieten!“

Ein tiefes Seufzen entfuhr mir.

„Ich bin nicht sicher, ob ich das möchte.“

„Und was möchtest du dann? Das Leben ist kein Wunschkonzert und wenn du etwas auf dich hältst, trittst du meine Nachfolge an“, drohte er mir schon beinahe und kam schon wieder viel zu Nahe.

„Papa, versteh mich nicht falsch. Ich könnte mir irgendwas mit Musik eher vorstellen…“, antwortete ich und hob schon beinahe automatisch schützend die Hände vors Gesicht.

„Du undankbarerer Bengel! Fehlt nur noch, dass du schwul wirst!“

Schon wollte ich mich an ihm vorbeimogeln, da traf mich sein unerwarteter Schlag und ich flog unsanft gegen die Stufen, die zu meinem Zimmer führten. Noch bevor ich mich erheben konnte folgte der zweite Schlag ins Gesicht. Mit etwas Mühe raffte ich mich auf und flüchtete in mein Zimmer zurück. Die Tür schloss ich hinter mir ab. Mit schmerzendem Schädel sank ich an der Tür zu Boden. Heiße Tränen benetzten meine Wangen und nicht zum ersten Mal spürte ich dieses Gefühl in mir. Bedrückend und angenehm zugleich. Langsam erhob ich mich, schmiss meine Jacke aufs Bett und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Naja, immerhin weniger schlimm als beim letzten Mal. Vermutlich würde sich ein kleiner Bluterguss unter dem linken Auge bilden, doch den konnte ich leicht überschminken. Was sollte ich jetzt tun? Mich an meine Mum wenden oder die Polizei? Irgendwie traute ich mich das nicht. Vielleicht durfte ich ihn auch nicht dauernd so verärgern oder eben seine Nähe meiden.

 

Ich war wieder oft mit Tim zusammen, um eben so wenig wie möglich zu Hause sein zu müssen und ab und zu rauchten wir auch einen Joint oder zogen Pepp. Von den Vorfällen mit meinem Vater erzählte ich keinem etwas, denn ich war ohnehin nicht der Typ, der gern über sein Gefühlsleben plauderte. Und bei Tim fand ich die perfekte Ablenkung. Was sollte schon dabei sein? Basti betrachtete das eher mit Argwohn, äußerte sich jedoch niemals dazu.

In der Schule wurden meine Leistungen wieder mittelmäßig, weil ich keine Lust hatte zu lernen und meine Hausaufgaben erledigte ich grundsätzlich nicht. Das wiederstrebte meinen Eltern jedoch wieder. Schließlich bekamen sie ja mit, dass ich mehr mit meinen Freunden unterwegs war, als zu Hause. Es war wie ein Teufelskreis.

„Musst du denn nichts für die Schule machen Lukas?“

„Hab ich schon.“

„Das kann ich dir fast nicht glauben. Und lernen musst du auch nicht.“

Ich verdrehte die Augen.

„Das mach ich, wenn ich wiederkomme.“

Meine Mutter seufzte und sah mich nur noch mit diesem vorwurfsvollem Blick an. Ich wollte mich unbedingt wieder piercen lassen und telefonierte ich mit Steff, dem Piercer meines Vertrauens. Wir trafen uns bei Tim und Steff sah mittlerweile echt verboten aus. Nahezu sein ganzer Körper, zumindest das, was man sehen konnte, schien tätowiert zu sein und im Gesicht hatte er alleine schon fünf Piercings. Ich ließ mir eins in der Nase und in der Zunge stechen. Das schmerzte höllisch, aber mit dem Resultat war ich sehr zufrieden. Ich beschloss Julietta an diesem Nachmittag noch besuchen zu gehen. Da ich keine Nummer von ihr hatte, suchte ich sie erst im Krankenhaus auf und dort traf ich sie auch an.

„Hey, das ist ja eine Überraschung.“

„Hast du kurz Zeit oder hast du viel zu tun?“

„Ich habe in einer halbe Stunde Feierabend, wenn du warten willst?“

„Ja klar. Ich warte unten an der Rezeption.“

Wir lächelten uns an und mein Herz begann wieder zu hämmern. Ich konnte selbst nicht ganz einordnen, was das für ein Verhältnis zwischen uns war. Ich fühlte mich ihr immer irgendwie unterlegen und doch fand ich sie sehr anziehend. Und sie war das Mädchen, mit dem ich meine ersten sexuellen Erfahrungen gesammelt hatte. Sie kam schon ein bisschen eher.

„Du, ich muss noch zu nem Fototshooting. Willst du vielleicht mitkommen?“

„Ja klar.“

Wir fuhren mit der S-Bahn zu ihr nach Hause, dort duschte sie noch und stylte sich. Sie schien es auch wenig zu stören, dass ich sie die ganze Zeit beobachten konnte. Schließlich war sie fertig und wir fuhren ins Studio.

Ich erfuhr, dass der Fotograf ein Kalender von ihr machen wollte. Es sah einfach wundervoll aus, wie sie die ganze Zeit Posen machen musste und dabei immer sexy und elegant wirkte. Das ganze dauerte knapp zwei Stunden, dann lud ich sie noch auf einen Kaffee ein.

„Das war echt toll.“

Julietta lachte.

„Und ich dachte schon, du langweilst dich.“

„Nicht bei einem so tollen Fotomodel.“

Darauf sagte sie lange nichts.

„Du Lukas, die Sache damals… hat es dir gefallen?“

„Ich…ähm..ja, natürlich. Es kam zwar sehr überraschend, aber es war schön.“

Sie lächelte mich geheimnisvoll an.

„Könntest du dir vorstellen es noch mal zu tun?“

„Schon, aber was ist das dann zwischen uns? Weißt du, ich finde dich echt wahnsinnig toll, aber ich würde gern von dir wissen, was du über uns denkst?“

Sie schwieg wieder einen Moment.

„Ich finde dich auch toll, vor allem jetzt, wo du so heiß geworden bist. Meinst du wir soll‘n es probieren?“

Wow. Ich hätte wahrscheinlich mit allem gerechnet, nur nicht damit.

„Ich hätte auch nichts dagegen.“

Ich wusste nicht, ob das jetzt gut oder schlecht war, aber es war einfach ein wahnsinnig tolles Gefühl mit einem solchen Mädel wie Julietta zusammen zu sein.

Wie verbrachten den Nachmittag und den Abend noch miteinander. Um zehn ging ich nach Hause. Meine Eltern waren noch wach und ich durfte mir ihr Genöle anhören.

„Ich denke, du wolltest noch lernen?“, fuhr mich meine Mum an.

„Mach ich doch auch, frag mich echt, weshalb du jetzt so einen Stress machst.“

„Was ist das überhaupt für ein Ding in deine Nase?“

„Ein Piercing“, lispelte ich ein bisschen und musste mir das Lachen verkneifen.

„Und das soll schön sein oder was?“

Mein Vater stieß nun auch zu uns und begutachtete mein Piercing. Er schüttelte nur mit dem Kopf. Das in der Zunge sah er glücklicherweise nicht, doch fiel mir gerade jetzt das Sprechen nicht mehr so leicht, vielleicht weil ich mich bemühte nicht zu lispeln.

„Normalerweise müsste ich es dir wieder herausreißen.“

„Als ob es nichts schlimmeres gäbe! Ihr seit echt komisch.“

Ich lernte natürlich nicht mehr und zeigte ihm verdeckt meinen Mittelfinger.

Am nächsten Tag ging ich mit Flo einkaufen, weil ich unbedingt eine neue schwarze Hose mit Bändern haben wollte. Dann gönnte ich mir noch ein transparentes, schwarzes Oberteil und New Rocks. Meine Eltern würden wahrscheinlich ausflippen, aber das war mir egal.

Nachmittags war ich mit Basti und Flo meist bei Tim und dann holte ich Julietta von der Arbeit ab.

„Mein Fotograf hat mich gefragt, ob wir nicht mal was zusammen machen wollen? Oder du alleine?“

„Was? Ich als Model? Meinst du echt?“

Ich zündete mir eine Zigarette an.

„Ja klar, gleich morgen, wenn du willst.“

Zu Hause ließ ich mir das noch mal durch den Kopf gehen und beschloss am nächsten Tag zu dem Fotostudio zu gehen. Julietta wollte nachkommen, weil sie noch arbeiten musste. Ich zog meine neuen Klamotten an und nahm noch eine ganze Menge an Sachen und Accessoires mit. Der Fotograf erkannte mich gleich und war hocherfreut.

„Julietta kommt später soll ich ausrichten.“

„Dein Outfit ist perfekt. Dann mal los. Stell dich bitte mal dort an die Säule und schau zu mir in die Kamera…. Ja, so.. ein bisschen mehr von unten hochgucken….ja, ja… bleib so.“

Ich musste dann meine schwarze Cordhose und mein schwarzes Hemd anziehen. Das Hemd blieb aufgeknöpft. Jetzt fing es richtig an Spaß zu machen. Als Julietta kam, machten wir noch einige Fotos von uns zusammen und dann durften wir gehen. Ich musste erst mal eine Zigarette rauchen.

„Das ist echt ganz schön anstrengend.“

„Das sag ich dir. Kommst du noch mit zu mir?“

„Heut nicht, will noch mal bei nem Kumpel vorbei.“

„Okay, dann bis morgen?“

„Ja, ich ruf dich an.“

Bei Tim gönnte ich mir erst mal einen Joint und danach war ich völlig weg. Ich schleppte mich dann irgendwann früh um vier nach Hause.

Meine Mum regte sich täglich mehr über mein Aussehen auf und an meiner Freundin Julietta verlor ich immer mehr das Interesse. Wir sahen uns immer seltener und wenn wir zusammen waren, lief das immer gleich ab. Wir redeten kaum ein Wort, hatten Sex miteinander und dann fuhr ich nach Hause. Irgendwie hatten wir zu viele gemeinsame Interessen. Beispielsweise liebten wir beide Lacrimosa und die 69 Eyes. Wir mochten beide Gummibärchen mehr als Schokolade und würden beide alles für unsere jüngere Schwester tun. Wir tranken unseren Kaffee am liebsten schwarz, ohne alles und aßen zum Frühstück lieber Marmelade als Nutella.

Das mag jetzt vielleicht komisch klingen, denn es heißt ja oft, dass man sich gut versteht, wenn man viele Gemeinsamkeiten hat, doch ich fand die Beziehung nur noch langweilig. Und um den Stress mit meinen Eltern und auch Julietta aus dem Weg zu gehen, zog ich mich nun öfter bei Tim zurück und flüchtete in eine scheinbar frohe, problemlose Scheinwelt. Basti bekam das mit und stellte wiedermal mich zur Rede.

„Sag mal, findest du nicht auch, dass du dich nich ständig zudröhnen solltest?“

„Was ist denn daran so schlimm. Schließlich mach ich das nicht jeden Tag.“

Basti zog die Augenbrauen hoch und warf mir einen skeptischen Blick zu.

„Na klar. Ich dachte, du bist mein bester Freund und ich will dich nicht noch einmal kurz vorm Tod sehen.“

„Hey, mach dir mal nicht so viele Sorgen um mich. Ich hab das echt im Griff, ich schwöre! Außerdem verschaffe ich mir so nur etwas Ablenkung.“

„Ich bin nicht sicher, ob ich dir das glauben kann Lukas. Wieso Ablenkung? Du hast doch außerdem ne Freundin, denk ich?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Ja, schon, aber ich hab irgendwie keinen Bock mehr auf Julietta.“

Basti sah mich mit großen Augen an.

„Du bist wahrscheinlich mit dem bekanntesten, tollsten Gothicmädel der Stadt zusammen, nach der sich viele andere Jungen die Finger lecken und du hast keinen Bock mehr auf sie? Wie bist du denn drauf?“

„Ich weiß, das klingt für dich verrückt, aber weißt du, sie war irgendwie keine Eroberung für mich. Ich musste nicht viel machen, um mit ihr zusammenzukommen. Ich hab sie nur mal nett angeschaut und gesagt, dass ich sie toll finde. Da sind keine Gefühle mehr da, verstehst du?“

„Mhh, vielleicht hast du Recht. Obwohl ihr eigentlich das perfekte Paar seid.“

Ich seufzte.

„Genau das meine ich ja. Es ist nahezu alles perfekt. Wir haben den komplett gleichen Musikgeschmack, wir mögen das gleiche Essen und wir sehen aus wie das perfekte Paar. Weißt du, wir hatten noch nie eine Meinungsverschiedenheit. Das finde ich schon fast unheimlich. Ich kann so keine Beziehung führen.“

Basti fing an zu lachen.

„Das ist ja echt krank. Naja, du machst das schon. Hast du eigentlich schon die Bilder von dem Fotoshooting?“

Ich zog die Mappe von meinem Schreibtisch und zeigte sie Basti.

„Wow, die sind ja richtig klasse. Mensch, Mensch, bei deinem Aussehen wird man ja sogar als Junge schwach.“

„Spinn nicht rum.“

Wir lachten.

Letztendlich trennte ich mich von Julietta, weil sie mir nicht das gab, was ich gern wollte, doch was ich wollte, wusste ich auch nicht recht. Doch in einem war ich mir sicher, ich wollte immer extrem sein und mein Aussehen veränderte sich mehr und mehr. Ich wollte ein lebendiger Vampir sein, wie Lestat. Ein Rockstar unter den Untoten, der von allen angehimmelt wurde. Marilyn Manson war der Schrecken Amerikas und ich wollte der Schrecken Deutschlands werden. Und an diesem Abend passierte es zum ersten Mal, dass ich mich weiter in meine Welt der Dunkelheit wagte. Vielleicht zu weit. Ich überschritt eine Grenze. In mir sammelten sich immer mehr unausgesprochene Gefühle, mit denen ich nicht umgehen konnte. Einerseits die Gewalt, die mein Vater gegen mich schürte, die Beschimpfungen und schließlich Ausgrenzung. Mit wem sollte ich darüber schon reden? Basti? Flo oder Tim? Klar wussten meine Freunde, dass ich nicht mit meinen Eltern klar kam, doch die Ausraster meines alten Herren verschwieg ich. Belastete mich das deshalb so? Ich verstand nicht, was in mir vor sich ging und was war so verkehrt an meinem Verhalten? Und dann schwirrte da noch diese Dunkelheit um mich herum. Und genau diese lenkte meinen Blick auf einen ganz bestimmten Gegenstand. Meinen Rasierer, den ich vorhin mit nach oben genommen hatte, weil ich die Klingen austauschen wollte. Ich nahm ihn vom Nachttisch, entfernte den Klingenkopf  und auf einmal begann mein Herz zu wummern. Mit ein wenig Feingefühl trennte ich das Metall vom Plastik. Scharfkantig ruhte dieses kühl in meiner Handfläche und ich starrte es an. Ich nahm es zwischen meine Finger, betrachtete die helle Haut meines Unterarms, wie die leicht bläulichen Adern darunter schimmerten. Ich setzte die Klinge an. Nur ganz leicht, sodass die Haut an der Stelle noch etwas heller wurde. Die gereizte Haut schwoll ein bisschen an und es zeichnete sich eine minimale Rötung ab. Trau dich! Flüsterte die Dunkelheit in mir und ich versuchte es erneut, mit mehr Druck. Genau zwei Sekunden dauerte es, bis sich das Blut seinen Weg an die Oberfläche bahnte. Ich schnitt mich ein weiteres Mal. Dasselbe passierte. Der nächste Schnitt ging noch ein wenig tiefer und erstaunt stellte ich fest, wie sich mein Körper entspannte. Meine Hände zitterten nicht mehr. Ich verstümmelte meinen Unterarm und hörte erst auf, als mich der Schmerz erreichte. Doch dieser Schmerz hatte etwas Linderndes.  Ich sank rücklings auf den Boden und starrte die Decke an. Da spürte ich die Leere zum ersten Mal. Trotzdem zog ich mein Handy aus der Hosentasche und tat etwas, was ich sonst nie tat.

„Hey…was geht?“, kam es von Flo am anderen Ende und am Klang seiner Stimme hörte ich, dass er auch alles andere als nüchtern war.

„Flo…auf ner Skala von 1 bis 10…wie schlimm isses, wenn man sich selbst verletzt?“

Stille. Dann ein Rascheln.

„Süßer, is alles okay bei dir?“

„Irgendwie schon…wenn man bedenkt, dass ich mir gerade den halben Arm blutig geritzt hab…“, antwortete ich schon fast monoton. Mein bester Freund fluchte vor sich hin.

„Scheiße Lukas! Das is nich cool…in 15 Minuten im Park!“

Und damit legte er auf. Vermutlich war es draußen noch dunkel, da es mitten in der Nacht war. Über mein Tanktop zog ich die Lederjacke und stahl mich aus der Wohnung. Flo wartete bereits auf mich und sein Blick sprach Bände.

„Sag mir bitte, dass du mich verarscht hast!“

Ich schüttelte den Kopf und schob mir eine Kippe zwischen die Lippen.

„Is was passiert oder warum? Bitte rede mit mir…“

Das erste Mal sah ich Flo verzweifelt und das wiederum erreichte aus irgendeinem Grund mein emotionales Zentrum. Ich brach in seinen Armen zusammen und heulte.

„Wenn ich dir jetzt was erzähle, versprichst du mir, dass du es niemandem weiter sagst?“, schluchzte ich.

„Okay…ich versprech’s“

„Mein Vater…er hat mich schon ein paar Mal verprügelt…das macht irgendwas mit mir. Und heute…als ich mich geschnitten hab, da war‘s irgendwie besser.“

„Fuck, das klingt übel Schatz…ich versuch ein bisschen auf dich aufzupassen…“

Ich versuchte zu lächeln und ohne, dass ich ihn darum bitten musste, kam er mit zu mir. Ich war mir nicht sicher, ob er die Verletzungen ignorierte oder einfach nur nicht sehen konnte. Wir kuschelten uns in mein Bett und ich fand sogar recht schnell Schlaf.

 



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