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Die Leute von Millers Landing

von

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Schwarz und Weiß

In seinem Büro saß der Sheriff, ein zufriedenes Grinsen auf dem Gesicht, die Hände über dem kugelförmigen Bauch verschränkt und die bestiefelten Füße bequem auf der Schreibtischkante abgelegt.
 

Jimmy hatte sich heute frei genommen. Diese Sache im Gericht schien ihm irgenwie zugesetzt zu haben. Der Bengel war einfach zu weich, zu gutgläubig und hatte offenbar jedes Wort der schwarzen Hure für bare Münze genommen.
 

Als die Jury Carmichael schuldig gesprochen hatte, glaubte Snyder zunächst, seinen Ohren nicht trauen zu können. Doch sein alter Freund Keppler hatte sich nicht weichkochen lassen.

Als die verdammten Huren gehört hatten, dass Carmichael lediglich eine Geldstrafe erhalten würde, war ihnen Allen die Kinnlade heruntergefallen.

Also wirklich! Was bildeten die sich eigentlich ein? Wer ein solches Leben führte, konnte doch auf der anderen Seite nicht allen Ernstes ach-so-unschuldig tun und erwarten, dass man auch noch Mitgefühl mit ihm hatte!
 

Snyder hatte gehört, dass das Bordell nun bereits seit zwei Wochen geschlossen sei. Hätte er geahnt, dass es lediglich so etwas, wie diese Sache mit der Negerin erforderte, damit das verdammte Pack endlich aufgab, dann hätte man etwas Ähnliches sicherlich auch schon früher arrangieren können.
 

Also, was es Snyder betraf, war heute wirklich ein großartiger Tag!
 

Es klopfte an der Tür des roten Hauses. Davor stand ein Doktor Miller, welcher bleich war vor Zorn. Bei ihm waren zwei der Geschworenen und drei Männer, die bei dem Prozess im Zuschauerraum gewesen waren. Sie fanden die Hausbewohner dicht in der Küche beieinander sitzend vor einander Trost spendend, an diesem trostlosen Tag:
 

„Entschuldigen sie bitte die Störung.“ sagte der Doktor: „Sie alle müssen ja außer sich sein, wie ich vermute. Die Entscheidung, die Richter Keppler heute getroffen hat ist einfach unfassbar, empörend und verletzend!“
 

Doktor Miller blickte prüfend in die Runde der Anwesenden, doch anstatt Ärger und Entrüstung, las er in den Gesichtern der Anwesenden lediglich Trauer, Erschöpfung, Verzweiflung und Fassungslosigkeit. Diese Stimmung war so überwältigend, dass es sogar auch ihn selbst zunächst verstummen ließ. Er brauchte einen Moment der Besinnung, ehe er fortfuhr:
 

„Sie alle müssen das nicht einfach so hinnehmen. Sie können sich an eine höhere Instanz wenden und das Urteil anfechten. Die Herren und ich sind gekommen, um sie unserer Unterstützung zu versichern.“

Die anderen Männer nickten zustimmend bei seinen Worten, doch nun meldete sich Margarete zu Wort:
 

„Lieber Doktor, ich weiß es wirklich zu schätzen, was sie für mich getan haben. Sie haben mir mein Leben gerettet, auch wenn ich im Augenblick nicht mehr sicher bin, ob ich es noch haben möchte. Und vor Gericht haben sie sich bei weitem mehr für mich eingesetzt, als ich jemals erwartet hätte. Sie haben ja sogar riskiert, dass der Richter ihnen eine Ordnungsstrafe auferlegt. Ich bin ihnen wirklich dankbar, dass sie mir helfen wollen, ein gerechtes Urteil zu erwirken, doch ich denke, wir wissen beide, dass eine schwarze Frau in meinem Beruf kaum etwas Besseres erwarten kann, als das, was heute geschehen ist. Bitte entschuldigen sie mich nunm aber ich bin erschöpft und muss mich hinlegen.“

An Tiny gewandt bat Margarete elend:

„Würdest du mich hinauf bringen?“

Tiny nickte und hob Margarete sanft aus ihrem Rollstuhl.
 

Der Doktor blickte den beiden hilflos hinterher und sagte mehr zu sich selbst:

„Aber das ist doch nicht richtig?“
 

Kathryn erhob sich und erklärte mit einem matten Lächeln:

„Doktor Miller, meine Herren, wir danken ihnen wirklich für ihre Anteilnahme und die angebotene Hilfe, doch ich denke, wir müssen diese Angelegenheit auf unsere eigene Weise und unter uns als Familie klären. Aber bitte bleiben sie noch, trinken sie einen Kaffee mit uns.“
 

Der Arzt schüttelte traurig den Kopf:

„Vielen Dank, aber ich denke, wir werden sie jetzt allein lassen, damit sie die Ereignisse verarbeiten können. Wenn sie ihre Meinung ändern, wissen sie, wo sie mich finden.“

Kathryn nickte und drückte herzlich die Hand des Doktors zum Abschied. Und damit verließen die Herren das Rote Haus wieder.
 

Tiny legte Margarete vorsichtig in ihr Bett und deckte sie zu:

„Kann ich dich überhaupt allein lassen?“ erkundigte er sich besorgt und dachte dabei an die Bemerkung, welche sie zuvor dem Doktor gegenüber getan hatte.
 

„Keine Sorge, ich tue mir schon nichts an.“ entgegnete sie harmloser, als es der Wahrheit entsprach.
 

„Vergiss nicht, wie sehr wir dich alle lieben!“ antwortete Tiny und es klang beinahe flehend: „Wir sind glücklich, dass wir dich nicht verloren haben. Lass` nicht zu, dass Carmichael am Ende doch noch über dich siegt! Kämpf´ weiter!“
 

An Margaretes Blick konnte Tiny sehen, dass diese letzten Worte ihr Ziel nicht verfehlt hatten. Es

trat ein trotziger Zug um ihre Mundwinkel. Sie nickte.

Tiny küsste Margarete auf die Wange, ehe er zu den anderen zurückkehrte.
 

Kurz darauf später kam James zur Tür des roten Hauses hinein und wirkte ebenso erschöpft und frustriert wie all seine Freunde. Er küsste Kathryn sacht auf die Stirn und ließ sich dann auf einen Stuhl am Küchentisch neben Joe sinken.
 

Melody hatte die ganze Zeit verdächtig still dagesessen, doch nun erhob sie sich. Die Hände zu Fäusten geballt, begann sie in der Küche auf und ab zu wandern. Sie glich einem Behälter unter großem Druck, welcher kurz davor war, zu zerbersten. Schließlich begann sie zu sprechen:

„Hätte eine weiße Frau im Zeugenstand gesessen, wäre der Richterspruch unter Garantie anders ausgefallen!“ stieß sie wütend und verzweifelt hervor.

Die Anderen blickten sie unsicher und hilflos an. Keiner wusste etwas zu sagen und so fuhr Melody einfach fort:

„Und nun liegt meine Schwester da oben und hat jeden Lebensmut und den Glauben an ihren eigenen Wert verloren, verdammt nochmal!“
 

Kathryn meldete sich vorsichtig zu Wort:

„Was Margarete passiert ist, ist schrecklich für uns Alle. Aber es hätte vor Gericht keinen Unterschied gemacht, ob es ihr oder irgendeiner anderen, beispielsweise mir passiert wäre, denn…“
 

An dieser Stelle wurde sie von einer zornigen Melody unterbrochen:

„Ach wirklich, weißes Mädchen? Anders als wir Anderen kannst du doch diesem ganzen Mist hier den Rücken kehren! Früher oder später nimmst du deinen unschuldigen und ehrenwerten Gesetzeshüter hier…“ sie deutete mit dem Kinn auf James „…und lässt uns alle hinter dir, wie einen bösen Traum! Ich frage mich nur, worauf du eigentlich noch wartest?“
 

„W-was? Nein!“ gab Kathryn kläglich zurück: „Dies ist mein Leben, genau wie für jede andere von euch. Ihr seid meine Familie, alles was ich habe!“
 

Doch Melody war so wahnsinnig wütend und ihr Zorn brauchte ein Ziel und so war es ihr war in diesem Moment gleichgültig, wen es traf und wie viel Schaden ihre Worte anrichteten:

„Familie? Da vergisst du ja wohl einiges!“ brüllte sie: „Meine Vorfahren waren Sklaven und deine waren die Sklavenhalter, diejenigen, die unseresgleichen ge- und verkauft, ausgebeutet, geprügelt, vergewaltigt oder gar getötet haben. Wie könnten WIR da Familie sein?“
 

Kathryn wurde vor Schreck und Ärger bleich und ihre Gesichtszüge verhärteten sich, als sie zurückschrie:

„Was DU wohl vergisst ist, dass ich dieses Leben vor Jahren hinter mir gelassen habe, als Tiny und ich das Haus meines Vaters verlassen haben; dass ich beim Einkaufen beschimpft und bespuckt werde. Denkst du, irgendwen in Millers Landing interessieren meine Herkunft oder meine weiße Haut. Für die bin ich Abschaum, wie wir alle hier und wenn ich sterbe, werde ich irgendwo im Niemandsland verscharrt, genauso wie meine Elizabeth!“

Heiße Tränen begannen Kathryn über das Gesicht zu laufen.
 

Hier schaltete sich nun Tiny ein und brüllte:

„Melody sei still! Wir wissen alle, was du durchmachst, aber wie kannst du so furchtbare Dinge sagen?“
 

Melody blickte ihn verächtlich an, als sie zurückschrie:

„Natürlich stehst du ihr bei. Sie ist ja deine „S c h w e s t er“!“ Dieses letzte Wort sprach sie gedehnt und mit einem abfälligen Unterton aus: „Mit ihr und deinem Liebhaber, der weißer ist als Milch glaubst du wohl langsam, dass du einer von ihnen wärst, doch das bist du nicht! Das wirst du niemals sein!“
 

Tiny war zu perplex, um darauf etwas zu erwidern.

Dafür mischte sich nun Shy in den Streit ein. Sie stand ärgerlich auf, packte Melody unsanft an den Armen und schaute sie mit ihrem durchdringenden Blick fest an:

„Halt` endlich die Klappe, ehe du am Ende keine Freunde mehr hier im Raum hast. Der Feind ist nicht hier, sondern da draußen! Geh` an die frische Luft oder `rauf zu deiner Schwester, aber beruhige dich gefälligst endlich, verstanden?“
 

Melody öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch Shy blickte sie weiterhin streng an, also machte sie sich lediglich los und verschwand ohne ein weiteres Wort die Treppe hinauf.
 

Die anderen blieben zurück und es herrschte betretenes Schweigen.
 

Nach und nach zog sich einer nach dem anderen zurück.

Als Kathryn sich auf den Weg in ihr Zimmer machte, schickte sich James an, ihr zu folgen, doch sie schüttelte den Kopf:
 

James war verunsichert:

„Sehen wir uns morgen?“ wollte er wissen.
 

Kathryn zuckte mit den Schultern.
 

James war verletzt und verwirrt, denn ihm hatte der Streit ebenso zugesetzt und er sehnte sich danach, bei Kathryn ein wenig Trost zu finden.
 

Ohne einen Abschied drehte er sich um und bewegte sich in Richtung Haustür. Bevor er diese erreichte, hatte Kathryn ihn jedoch bereits eingeholt, griff ihn an der Schulter und drehte ihn zu sich herum:
 

„Tut mir leid!“ sagte sie: „Sicher möchte ich die morgen sehen.“

Sie küsste James noch einmal, ehe sie ihn tatsächlich gehen ließ.
 

Auf dem Heimweg fühlte James sich noch immer recht beklommen. Melodys Worte hatten etwas in Kathryn ausgelöst und er ahnte, dass dies noch nicht ausgestanden war.
 

Später im Bett legte Joe einen Arm um Tiny und betrachtete den schönen Kontrast seiner eigenen hellen Haut mit der braunen Haut seines Geliebten:

„Denkst du, es ist naiv von uns, zu denken, dass unsere unterschiedliche Hautfarbe keine Bedeutung hat?“ fragte er ernst.
 

Tiny dachte einen Moment langüber die Frage nach:

„Nein, ich denke, es macht in unserem Fall tatsächlich kaum einen Unterschied. Schon weil wir zwei Männer sind, werden wir niemals normal zusammen leben können. Das mit uns kann es nur an einem Ort wie diesem geben, wo die Regeln der Welt da draußen nicht gelten.“ gab er mit einer Spur Resignation in der Stimme zurück.
 

„Ich erlebe ja nun jeden Tag, wie Rebecca und Felicity es machen.“ gab Joe nachdenklich zurück: „Sie leben miteinander und innerhalb ihres eigenen Hauses sind sie ein Paar. Kaum verlassen sie den Schutz ihrer vier Wände, sind sie sehr vorsichtig und verhalten sich fast wie Fremde zueinander.“ Traurig fügte Joe hinzu: „Aber ich fürchte, wir beide könnten nicht einmal das haben. Also denke ich doch, dass es einen Unterschied macht.“
 

Tiny schluckte die eigene Traurigkeit hinunter, atmete tief durch und erklärte:

„Es hilft uns aber nichts, uns über das zu beklagen, was wir nicht haben. Wir sollten uns lieber über das freuen, was wir haben können! Du bist hier bei mir, wir können uns sehen, wann immer wir wollen. Das ist mehr, als viele andere haben!“
 

Joe hob den Kopf und betrachtete zärtlich Tinys Gesicht im Lampenschein, als er sagte:

„Ich liebe dich Thomas! Weißt du das?“
 

Es war in all den Monaten das erste Mal, dass die Worte tatsächlich ausgesprochen worden waren.

Joe hatte bis heute gebraucht, um sie zu sagen, denn nach allem was er in der Vergangenheit erlebt hatte, insbesondere dem Verrat durch seinen Freund Lucas, fehlte ihm bislang das Vertrauen dazu.
 

Tiny indes hätte sie schon längst sagen wollen, doch all´ die Unsicherheiten und die Eifersucht, welche er, der zum ersten Mal in seinem Leben liebte in der letzten Zeit gespürt hatte, hatten ihn fürchten lassen, Joe könnte sie möglicherweise nicht erwidern:

„Ich liebe dich auch!“ antwortete er nun erleichtert, zog Joe auf sich und sie küssten einander.
 

Kathryn lag wach und dachte über die Dinge nach, die Melody zu ihr gesagt hatte, als es sacht an ihrer Tür klopfte:

„Herein!“ rief sie und vermutete, dass es Tiny sein würde, doch es war Melody, die den Kopf zur Tür hereinsteckte und sich vorsichtig erkundigte, ob sie eintreten dürfte:
 

„Wieso?“ fragte Kathryn verstimmt: „Sind dir noch mehr unheimlich verletzende Dinge eingefallen, die du dringend loswerden möchtest?“
 

Melody schüttelte den Kopf:

„Nein! Ich bin hier, weil ich mich entschuldigen möchte.“ erklärte sie kleinlaut.
 

Mit einem zackigen, unwilligen Nicken bedeutete Kathryn ihr, dass sie hereinkommen solle. Ihr Gesichtsausdruck blieb indes finster und steinern.
 

Melody stellte sich schüchtern an das Fußende von Kathryns Bett und murmelte:

„Es tut mir wirklich sehr leid. Ich hätte all´ diese Sachen wirklich nicht sagen dürfen!“
 

Katryn nickte und entgegnete:

„Stimmt! Das war ziemlich gemein!“ doch nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Aber ich habe nachgedacht und ich kann verstehen, warum du es getan hast. Das was Margarete passiert ist, ist so furchtbar und es hat jeden von uns irgendwie aus der Bahn geworfen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es da erst für dich als ihre Schwester gewesen sein muss.“ Kathryn zögerte ein wenig, ehe sie fortfuhr: „Außerdem kann ich irgendwie nachvollziehen, was du über die Unterschiede zwischen dir und mir gesagt hast. Ich KÖNNTE einfach so von hier verschwinden und ein völlig anderes Leben beginnen. Für dich wäre es ungleich schwerer oder gar unmöglich.“
 

Melody setzte sich auf die Fensterbank, blickte nachdenklich hinaus in die Dunkelheit und Kathryn fuhr fort:
 

„Aber es gibt noch zwei Dinge, die ich dazu sagen möchte. Zum einen sollst du wissen, dass ich nicht einmal im Traum daran denken würde, euch zu verlassen. Ich liebe euch doch! Weißt du das denn nicht? Zum anderen muss ich sagen, dass es mich sehr verletzt hat, dass du mir die Unterschiede, die es zwischen uns gibt vorwirfst. Ich habe die Welt nicht so gemacht, wie sie ist. Ich muss nur darin leben, genau wie du.“
 

Kathryn erhob sich vom Bett, schlang von hinten die Arme um Melody und fügte sehr leise hinzu:

„Manchmal denke ich, dass du und ich die Zwillinge sind. Wenn wir wütend sind, kennen wir kein Maß mehr.“
 

Melody nickte. Die beiden Frauen standen eine Weile lang einfach nur so da, aneinander geschmiegt und ihren Blick aus dem Fenster in die Nacht hinaus gerichtet.
 

Plötzlich entdeckten sie zur gleichen Zeit jenen Schatten, der sich vorsichtig an ihrem Wohnhaus entlang bewegte. Als die Person an einem Fenster vorbei kam, aus dem schwaches Licht schien, erkannten sie schließlich auch, um wen es sich handelte.
 

Melody machte sich in Windeseile von Kathryn los und stürmte aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Kathryn konnte nicht schnell genug reagieren, um sie aufzuhalten. Sie eilte zu ihrem Kleiderschrank, wo sie ihre Schrotflinte aufbewahrte, vergewisserte sich, dass diese geladen wäre, steckte sich Munition ein und rannte hinter Melody her.
 

Als sie vor dem Haus angekommen war, erblickte sie Melody und Carmichael zu einem kämpfenden Menschenknäuel ineinander verstrickt.
 

Melody schrie:

„Ich bringe dich um, du Abschaum.“

Und tatsächlich verlieh der Hass ihr enorme Kräfte und sie setzte dem größeren und stärkeren Mann heftig zu. Am Ende gelang es diesem aber dennoch, Melody am Hals zu packen und ihr die Kehle zuzudrücken. Kathryn wusste nicht, was sie tun sollte und in ihrer Hilflosigkeit gab sie schließlich einen Warnschuss in die Luft ab. Dieser verfehlte seine Wirkung zum Glück nicht und Carmichael ließ für´s Erste von Melody ab. Dann besann er sich jedoch wieder und nahm seine Angreiferin in den Schwitzkasten.

Nun stürmte Kathryn auf die beiden los und begann mit dem Griff ihres Gewehrs auf den Mann einzudreschen.
 

Inzwischen waren die Anderen, durch den Schuss alarmiert hinzugekommen. Als Tiny Carmichael mit Kathryn und Melody kämpfen sah, war er sofort zur Stelle. Carmichael war nicht gerade ein Fliegengewicht, doch Tiny zog den Mann von Melody herunter und stemmte ihn über seinen Kopf, als wäre er nichts weiter als eine Lumpenpuppe, ehe er ihn mit Wucht gegen die Hauswand schleuderte. Carmichael versuchte, sich wieder aufzurappeln und Tiny wollte erneut auf ihn losgehen, doch Kathryn hielt den Freund zurück. Sie hatte inzwischen die Schrotflinte erneut geladen und richtete sie direkt auf Carmichaels Stirn:
 

„Gib mir eine gute Erklärung, warum du hier bist, oder ich drücke ab, du Drecksschwein!“ forderte sie mit ruhiger und dennoch schneidender Stimme.
 

Carmichael hob die Hände und Kathryn stellte mit Hochgenuss fest, dass er endlich einmal Angst zu haben schien:

„Ich…ich wollte ihnen bloß den ersten Teil des Geldes bringen.“ erklärte Carmichael stammelnd.
 

Melody trat auf ihn zu und zischte mit hasserfüllter Stimme:

„Wir wollen nichts von dir. Komm` nie wieder, sonst schneide ich dich in Streifen und verfüttere dich an die Hunde.“

Dann spuckte sie ihm ins Gesicht.
 

Tiny fügte noch grollend hinzu:

„Ich schlage vor, du läufst jetzt, bevor die Frau mit der Flinte hier es sich anders überlegt.“ Er deutete dabei auf Kathryn.
 

Und das tat Carmichael; er rannte! Und nur so zum Spaß zielte Kathryn noch einmal neben seine Füße. Dies war Ansporn für den Mann, noch ein wenig schneller zu laufen und schon bald war er in der Dunkelheit verschwunden.
 

Die Bewohner kehrten wieder ins Haus zurück, wo sie beschlossen, dass Melody hinauf zu ihrer Schwester gehen sollte, um sie zu beruhigen, denn sie hatte die Schüsse sicherlich auch gehört.

Joe, Shy, Molly, Regine und die Kinder gingen wieder zu Bett und Tiny und Kathryn postierten sich in der Küche, um Nachtwache zu halten.
 

Als Melody Margarete berichtete, was vorgefallen war, begann diese sogleich heftig zu zittern. Melody legte sich zu ihrer Schwester ins Bett und hielt sie fest, wie man ein ängstliches Kind halten würde:

„Es wird alles gut werden, meine Liebes!“ versicherte sie flüsternd. Und dann begann in schillernden Farben den Kampf zu beschreiben und wie der gleiche Mann, der Margarete so furchtbar verletzt hatte, in Angst um sein eigenes wertloses Leben davongerannt war. Ihre Schilderung war ein Märchen zur Guten Nacht; es handelte von einem bösen Monster und davon, wie das Gute über das Böse triumphierte. Es dauerte dennoch eine Weile bis sich Margarete wieder ein wenig beruhigt hatte. Es half ihr zu wissen, dass ihre Freunde nun da unten Wache hielten.

Und dann begann Melody mit ihrer schönen, rauchigen Altstimme ein Kinderlied für sie zu singen, welches sie beide von ihrer Mutter gelernt hatten.

Und da endlich gelang es Margarete an der Seite ihrer Schwester einzuschlafen.
 

Melody wich nicht von ihrer Seite, denn der Überfall hatte sie einiger grundlegender Gewissheiten beraubt, wie zum Beispiel jener, dass ihre Schwester, ihr Ebenbild für immer an ihrer Seite sein würde.

Neben Margarete zu liegen beruhigte sie ein ganz kleines bisschen.
 

****

Im Gerichtssaal war Bob etwas klar geworden: Diese Frau war nicht Beute! Sie war so viel mehr als das!

Sie war Sein!

Er hatte sie sehr genau betrachtet und dabei hatte er erkannt, dass ihr Zusammentreffen in jener Nacht nicht nur ihn, sondern auch sie verwandelt hatte: Sie war nun rein und geläutert!

Und bald würde sie es auch wissen!

Er war heute zu ihr gekommen, weil er sie holen wollte, aber nun war ihm klar geworden, dass er sich noch gedulden musste. Er durfte nicht wieder alles überstürzen, wie beim letzten Mal. Er musste sich mental vorbereiten.
 

Und er musste warten, bis sie ihm das Zeichen gab!
 

****
 

Schläfrig saßen Tiny und Kathryn gemeinsam in der Küche am Feuer. Nach einem beinahe ewig langem Schweigen sagte Kathryn plötzlich in die Stille hinein:

„Mir kommen Zweifel an dieser Sache zwischen James und mir!“
 

Tiny schreckte von diesem unerwarteten Gesprächsbeginn ein wenig zusammen. Dann blickte er seine Freundin prüfend an:

„Ist es wegen dem, was Melody gesagt hat?“ wollte er wissen.
 

„Nein!“ antwortete Kathryn zunächst selbstbewusst und wiederholte dann noch einmal ein wenig verunsichert: „Nein, ich denke nicht. Aber es war doch von Anfang an schwierig zwischen uns! Wir sind so unterschiedlich. James ist ein lieber Kerl und er liegt mir ja auch irgendwie am Herzen, aber er ist so unschuldig und lammfromm, lieb, beherrscht und in allem ganz anders als. Und irgendwie nervt mich das immer mehr!“
 

Tiny schenkte ihr einen zweifelnden Blick:

„Ach komm´ schon, Schwesterchen. Ich kenne dich. Selbst wenn James mit seiner Sanftheit ein wenig deine raue Fassade umspült und damit glättet; ist es nicht genau das, was du dir von ihm wünschst?“
 

Kathryn zog eine Augenbraue hoch und ätzte mit einer Mischung aus Ärger und Belustigung:

„Das hast du aber schön gesagt. Du solltest Gedichte schreiben, oder so. Aber jetzt mal im Ernst;wenn es wirklich das wäre, was ich mir wünsche, warum habe ich dann so große Zweifel?“
 

Tiny wusste, dass das, was er als nächstes sagen würde, Kathryn gar nicht gefallen sollte, dennoch nahm er kein Blatt:

„Die Zweifel kommen daher, dass du eine Scheißangst hast, meine Liebe!“ Kathryn holte natürlich bereits tief Luft, um zu widersprechen, doch Tiny hob die Hand, um sie zu stoppen:

„Ich bin noch nicht fertig!“ herrschte er streng und fuhr fort: „Denkst du, ich habe nicht bemerkt, wie eigenartig du dich James gegenüber verhältst, wenn Rebecca und Felicity in der Nähe sind. So als wolltest du den beiden beweisen, dass das mit euch beiden doch bloß ganz harmlos ist. Glaubst du wirklich, die beiden würden dich verurteilen, wenn sie wüssten, dass du nun einen Mann liebst. Ich glaube eher, hier geht es einmal mehr allein um Elizabeth. Du glaubst, SIE würde es dir nicht verzeihen. Aber Liz kann jetzt nicht hier bei dir sein! Aber sie hat dich geliebt und sie würde wollen, dass du glücklich bist!“
 

Mit verdächtig belegter und wackliger Stimme antwortete Kathryn trotzig:

„Du weißt ja gar nicht, wovon du sprichst!“
 

Tiny schüttelte genervt den Kopf und antwortete bissig:

„Richtig! Denn du und ich kennen uns ja auch erst so kurze Zeit, nicht wahr? Und ich glaube, da ist sogar noch mehr! Elizabeths Tod hat dich derart aus der Bahn geworfen, dass du so etwas nie wieder erleben möchtest. Und ein Teil von dir weiß, dass du James genug lieben könntest, dass es dich ebenso schmerzen würde, ihn zu verlieren, also lässt du es gar nicht erst so weit kommen, richtig?“
 

Kathryn sprang von ihrem Stuhl auf, funkelte Tiny ärgerlich an und stampfte mit einem Fuß auf den Boden, wie ein zorniges Kind, als sie antwortete:

„Ach, halt die Klappe! Das ist doch alles totaler Blödsinn! James ist ein dummer Junge, dessen Anhimmelei mir allmählich auf die Nerven geht, mehr nicht! Und jetzt will ich davon nichts mehr hören! Lass´ uns einfach noch eine Runde um`s Haus machen um sicherzustellen, dass dieser Carmichael nicht wieder hier herumschleicht!“

Damit war das Thema für Kathryn erledigt.

Sie griff sich ihre Schrotflinte und stürmte hinaus.
 

Und Tiny kannte seine alte Freundin gut genug, um zu wissen, dass es in diesem Moment zwecklos wäre zu versuchen, sie zu überzeugen.
 

Am folgenden Tag stand Joe allein hinter dem Tresen des Gemischtwarenladens, denn der alte Pete lag mit einer Erkältung im Bett. Das Geschäft war leer und bislang war es ein ruhiger Arbeitstag gewesen.
 

Plötzlich öffnete sich die Ladentür und herein kam der Sohn von Gretchen Schultz und dem Reverend und bei ihm war ein Mädchen in seinem Alter.
 

Der Junge streifte durch die Gänge und tat so, als betrachte er die Auslage. Das Mädchen hingegen blieb in der Nähe der Tür stehen und fixierte mit ihrem Blick den Holzfußboden, als gäbe es dort irgendetwas wahnsinnig Interessantes zu sehen.
 

Joe beobachtete sie interessiert. Sie war groß für ein Mädchen, mindestens einen Kopf größer als ihr Begleiter und sehr schlank. Die Ärmel ihres Kleides waren zu kurz und auch ansonsten wirkte es so, als sei es einfach nicht für sie gemacht: Es spannte an den Schultern, dafür hatte es viel Luft dort, wo eigentlich der Busen hätte sein sollen. Alles an dem Mädchen strahlte Unbehagen, Nervosität und Unsicherheit aus.

Joe fühlte Sympathie für sie und musste bei ihrem Anblick unwillkürlich lächeln.
 

Nun begann Joe auch den Jungen ins Visier zu nehmen. Es war nicht zu übersehen, dass dieser in Wirklichkeit überhaupt nicht an den Waren interessiert war. Vielmehr linste er die ganze Zeit mit einem Auge zu Joe hinüber.
 

Schließlich siegte bei Joe die Neugier und er sprach den Jungen ganz einfach an:

„Sag´ mal, kann ich dir irgendwie helfen? Suchst du vielleicht etwas?“
 

Der Knabe zuckte zusammen, starrte ihn mit großen Augen an und schüttelte den Kopf.

Dann trat an den Tresen heran und holte er tief Luft:

„Im Grunde will ich gar nichts kaufen.“ gab er zu: „Eigentlich wollte ich mit ihnen sprechen, Sir.“
 

Joe gefielen die samtige Stimme und die sanfte Sprechweise des Burschen. Dennoch hatte er Mühe, sich ein Lachen zu verkneifen. Wie eigenartig, von ihm „Sir“ genannt zu werden, dachte er:

„Du kannst mich Joe nennen. So alt bin ich nämlich noch nicht.“ gab er zurück. „Und wie heißt du, wenn ich fragen darf?“

„Ich heiße Noah, Sir…ähm… also ich meine… ich bin Noah Schultz!“

Der Junge wurde knallrot im Gesicht und begann ein wenig zu schwitzen.
 

Joe lächelte ihn aufmunternd an, als er antwortete:

„Freut mich, dich kennenzulernen Noah. Wer ist deine Freundin?“ er deutete auf das Mädchen, welches sich nicht vom Fleck gerührt hatte.
 

„Das ist Alice“ gab Noah zurück und er winkte sie herbei.
 

Sie kam widerstrebend herüber geschlendert, wobei es den Anschein machte, als habe sie ihre zu langen Extremitäten kaum unter Kontrolle.
 

Nun konnte Joe sie von Nahem in Augenschein nehmen. Sie hätte mit ihrer Größe, Statur und dem markanten Gesicht einen sehr hübschen Jungen abgegeben, stellte er im Stillen fest. Er hielt Alice eine Hand hin und stellte sich vor.
 

Das Mädchen ergriff die Hand mit erstaunlich festem Griff und es gelang ihr ganze zwei Sekunden, lang Joe anzuschauen. Sie hatte sehr schöne, katzenhafte, lebhaft hellgrüne Augen.
 

Joe wandte sich wieder Noah zu:

„Du hast gesagt, du möchtest etwas mit mir besprechen? Was kann ich denn für dich tun?“
 

Der Junge schien angestrengt darüber nachzudenken, wie er anfangen sollte und fragte schließlich:

„Du kennst doch die Leute, die da drüben im roten Haus wohnen, oder?“ Joe nickte und so fuhr Noah fort: „Das neulich in der Kirche war wirklich schlimm. Die Leute waren so gemein. Du hättest hören sollen, was noch alles gesagt wurde, als ihr weg wart.“
 

„Lieber nicht!“ stöhnte Joe kopfschüttelnd.
 

Noah nickte verständnisvoll und

„Ich habe auch von dem Prozess gehört und dem Urteil des Richters. Stimmt es, dass dieser Mann die Frau beinahe umgebracht hätte?“
 

Joe nickte ernst.
 

Noah suchte erneut nach den passenden Worten:

„Würdest du den Leuten im roten Haus etwas von mir sagen? Sie sollen wissen, dass nicht alle Leute schlecht von ihnen denken. Ich habe sie in der Kirche gesehen und gedacht, ich würde lieber bei ihnen sitzen, als bei den Leuten, die so üble Sachen über Menschen sagen, die sie gar nicht wirklich kennen. Und sag´ ihnen auch, dass es mir leid tut, wie meine Mutter sich verhalten hat.“
 

„Das werde ich gern tun und es wird sie freuen, dass zu hören.“ versicherte Joe: „Aber warum gehst du denn nicht selbst rüber und sagst es ihnen?“
 

Noah blickte Joe ungläubig an:

„Meine Eltern würden mich umbringen, wenn ich mich dort blicken ließe!“
 

Joe lächelte und antwortete:

„An deiner Stelle würde ich es meinen Eltern auch nicht unbedingt auf die Nase binden. Aber vielleicht willst du es ja trotzdem irgendwann tun? Heimlich?“
 

Noah zuckte mit den Schultern und lächelte verlegen:

„Mal sehen!“ erwiderte er unverbindlich.
 

Und damit verabschiedeten sich Alice und Noah.
 

Joe konnte sehen, wie die beiden Jugendlichen draußen vor dem Geschäft aufgeregt die Köpfe zusammensteckten und kicherten.
 

Er blickte ihnen grinsend hinterher und kam sich aus irgendeinem Grund gerade sehr alt vor.



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