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Die Leute von Millers Landing

von

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Wolfsjagd

Am frühen Morgen machte James sich auf zum Bergwerk, wobei er darauf achtete, von Carmichael nicht gesehen zu werden. Hinter einem Stein auf einer Anhöhe legte er sich auf die Lauer, beobachtete den Mineneingang und sah zu, wie sich die Arbeiter bereit machten, untertage zu gehen. Schließlich entdeckte James auch Bob Carmichael und stellte einmal mehr fest, dass er im Grunde ein gutaussehender Mann gewesen wäre, gäbe es da nicht diese unangenehmen, hellen und durchdringenden Augen. Unter einem solch attraktiven Äußeren würden die meisten wohl nicht den Dämonen vermuten, der fähig war, einem Menschen das anzutun, was er Margarete zugefügt hatte.

Carmichael legte seine Ausrüstung an und verschwand im Stollen.
 

Eben darauf hatte James gewartet. Er verließ sein Versteck und suchte den Vorarbeiter auf. Friedrich erinnerte sich an James noch von seinem letzten Besuch:

„Guten Morgen, Deputy! Wollen sie mit Carmichael sprechen? Hat er wieder etwas angestellt? Ich zeige ihnen rasch, wo sie ihn finden.“ erklärte er hilfsbereit.
 

James schüttelte den Kopf:

„Eigentlich möchte ich mit ihnen sprechen, Sir. Ich ermittle gegen Carmichael, da er nicht von seinem Opfer ablässt und es weiterhin belästigt und bedroht. Was können sie mir über ihn sagen? Mit wem ist er befreundet? Wo wohnt er? Ist er verheiratet?“
 

Friederich erweckte den Anschein, als sei er durchaus willens, dem Gesetzeshüter helfen. Das Problem war nur, dass er im Grunde nichts wusste:

„Carmichael lebt, allein in einer Hütte irgendwo im Osten der Stadt, soweit ich weiß. Unter den anderen Arbeitern hat er nach meiner Kenntnis keinen einzigen Freund. Wenn ich es mir recht überlege, dann mag ihn eigentlich niemand so richtig. Ehrlich gesagt ist er mir selbst auch nicht besonders angenehm. Er ist…“ Friederich suchte nach der richtigen Beschreibung: „…unheimlich! Ein einsamer Wolf, verstehen sie?“
 

James nickte. Er verstand absolut und erwiderte:

„Eine letzte Frage habe ich noch. Wann ist Carmichaels Schicht heute zu Ende?“
 

„Um fünf Uhr!“ gab Friederich zurück:
 

„Ich danke ihnen für ihre Unterstützung Mr. Friederich und bitte sie darum, Carmichael nichts von unserem Gespräch zu verraten.“ schloss James seine Befragung.
 

Der Vorarbeiter versicherte:

„Verstehe! Polizeiangelegenheiten! Keine Sorge, ich werden nichts sagen. Ich spreche mit dem Kerl ohnehin nur das Nötigste.“
 

James bedankte und verabschiedete sich.
 

Im Anschluss suchte er Joe im Gemischtwarenladen auf, berichtete ihm das Wenige, was er bislang erfahren konnte und was er nun zu tun gedachte, denn er wollte zu seiner Absicherung, dass Joe es heute Abend ihren Freunden erzählen konnte. James hatte sich einen Plan für sein weiteres Vorgehen zurechtgelegt und dieser war nicht ganz ungefährlich.
 

Joe blickte seinen Freund finster an und fragte ärgelich:

„Du willst es ganz allein mit Carmichael aufnehmen? Bist du denn verrückt geworden?“
 

James schüttelte den Kopf:

„Ich suche ja gar nicht die Konfrontation! Ich will ihm nur endlich einmal einen Schritt voraus sein.“ erklärte er: „Bislang warten wir doch immer nur ab, bis er seinen Zug macht.Damit muss jetzt Schluss sein!“
 

Joe schüttelte grimmig den Kopf, dennoch sagte er nichts weiter dazu.
 

James verabschiedete sich und verließ den Gemischtwarenladen, um nachhause zu gehen und sich noch für ein paar Stunden schlafen zu legen, damit er für das, was er vorhatte gewappnet wäre.
 

James war nicht der einzige Besuch, den Joe heute im Laden erhielt. Als er gerade dabei war, die Tür für die Mittagsruhe abzuschließen, stand plötzlich Noah vor ihm; das Gesicht noch ein wenig blasser als sonst und mit rot verweinten Augen:
 

„Sie ist weg!“ verkündete der Junge mit schriller Stimme.
 

Obwohl Joe natürlich genau wusste, von wem Noah sprach, stellte er sich erst einmal dumm:

„Wer ist weg?“
 

„Alice natürlich!“ entgegnete der Junge aufgebracht: „Seit gestern ist sie verschwunden! Ihre Familie sagt, sie wüssten auch nicht wo sie ist, aber ich weiß nicht, ob ich ihnen glauben kann!“
 

„Warum denkst du, dass Alices Familie dich anlügen würde?“ wollte Joe wissen.
 

Der Junge rang offenbar mit sich, als sei er nicht sicher, wie viel er erzählen dürfte. Schließlich sagte er vage:

„Bei ihr zuhause gehen Dinge vor sich; schlimme Dinge! Was, wenn sie ihr etwas angetan haben?“

Nun war Noah wieder kurz davor zu Weinen und Joe brachte es einfach nicht über das Herz, ihn weiterhin völlig im Unklaren zu lassen:
 

„Also gut, hör´ zu, ja? Deiner Freundin geht es gut.“ versicherte er: „Ich darf dir nicht sagen, wo sie ist, aber sie ist in Sicherheit.“
 

Noahs Blick in diesem Moment war verblüfft und auch ein wenig verletzt:

„Soll das heißen, sie hat mit dir gesprochen? Warum hat sie MIR denn nichts gesagt?“ fragte er ungläubig.
 

Joe zuckte mit den Schultern:

„Das weiß ich auch nicht. Komm` heute Nachmittag einfach wieder zu mir, in Ordnung. Ich versuche in der Zwischenzeit mit ihr zu sprechen. Vielleicht kann ich dir dann später schon mehr sagen.“
 

Der Junge wirkte nun zwar ein wenig ruhiger, doch es war ihm deutlich anzusehen, dass es ihm überhaupt nicht passte, aus Alices Entscheidungen ausgeschlossen worden zu sein. Schulterzuckend brachte er ein knappes „In Ordnung!“ hervor, ehe ärgerlich davonstapfte.
 

In seiner Pause ging Joe nun also hinüber ins rote Haus. Zunächst hatte er eine wichtige Sache mit Tiny zu besprechen. Als das erledigt war, suchte er Alice auf, um von ihr zu erfahren, warum sie ihrem besten Freund gegenüber ein Geheimnis aus ihren Fluchtplänen gemacht hatte.
 

Das Mädchen druckste ein wenig herum, ehe sie schließlich mit ihren Motiven herausrückte:

„Wenn Nikolas nach mir sucht, ist Noah doch der Erste, bei dem er nachfragen würde. Er weiß schließlich, dass wir zwei unzertrennlich sind. Und Noah ist ziemlich sensibel und nicht so stark, verstehst du? Er könnte meinem Bruder bestimmt nicht standhalten, wenn er ihn bedroht und würde aus Angst etwas verraten. Er darf mich nicht falsch verstehen, aber ich habe Angst! Ich bin so froh, dass ich hier in Sicherheit bin! Wenn du mit ihm sprichst, kannst du versuchen, ihm das zu erklären?“
 

Joe zuckte mit den Schultern und antwortete:

„Ich versuche es, aber Noah hat vorhin ziemlich enttäuscht ausgesehen.“
 

Alice blickte Joe schuldbewusst und traurig an:

„Sag ihm einfach, dass ich ihn lieb habe!“ bat sie.
 

Als Joe Noah am Nachmittag Alices Nachricht überbrachte, wirkte dieser nicht allzu glücklich darüber:

„Es stimmt, dass ich nicht so tapfer bin und Alices Bruder macht mir wirklich eine ziemliche Angst, aber ich würde sie doch nie verraten!“ erklärte er kläglich.
 

Joe lächelte und versuchte, den Jungen zu trösten:

„Sie meint es sicher nicht böse! Versuche einfach Alices Lage zu verstehen. Sie hat Angst!“
 

Noah nickte und bat:

„Kannst du ihr von mir sagen, dass ich sie auch liebhabe.“
 

Joe nickte:

„Das werde ich ganz gewiss tun!“
 

Um kurz vor fünf am Nachmittag bezog James wieder seinen Spähposten auf der Anhöhe. Als er Carmichael aus dem Stollen kommen sah, folgte er ihm unauffällig.

Den Verfolger, der sich wiederum an seine eigenen Fersen geheftet hatte, bemerkte James nicht.
 

Carmichael bewohnte eine Hütte im Osten, genauso, wie es der Vorarbeiter gesagt hatte. Das Gebäude war in erbärmlich heruntergekommenen Zustand, ebenso, wie die gesamte Gegend. James wunderte sich, dass jemand freiwillig hier lebte. Carmichaels Gehalt sollte eigentlich für etwas besseres mehr als ausreichend sein.
 

Der Deputy fand ein geeignetes Versteck mit Sicht auf Carmichaels schäbiges Heim und bezog seinen Posten.

Viele Stunden hockte er dort, ohne dass sich etwas tat. Inzwischen war die Dunkelheit hereingebrochen und obwohl er sich seine wärmste Jacke angezogen hatte, fror James erbärmlich in dieser eisigen Aprilnacht, doch auch als in Carmichaels Hütte das Licht ausging, hielt er tapfer weiterhin die Stellung.
 

Irgendwann zündete er ein Streichholz an, um auf seine Taschenuhr, Kathryns Weihnachtsgeschenk an ihn, zu schauen; da war es kurz vor drei. James klapperte vor Kälte mit den Zähnen, was ihn immerhin davon abhielt einzuschlafen. Jedoch war dies auch der Grund, warum er die Person nicht hörte, welche sich ihm von hinten näherte. Erst als er direkt hinter sich das Knacken eines Zweiges hörte, wurde er endlich aufmerksam. Wie ein Blitz drehte James sich um und zog seine Waffe:
 

„Nicht schießen! Ich bin es doch bloß!“

Das war die erschrockene Stimme von Joe und James steckte rasch seine Pistole zurück in ihr Holster:
 

„Was machst du hier und wieso schleichst du dich in so einer Situation von hinten an mich heran! Ich hätte dich beinahe erschossen, verdammt nochmal!“ schimpfte James, atemlos vor Schrecken.
 

„Denkst du, ich lasse meinen besten Freund einfach so in der Gefahr allein, damit er sich hier draußen erstechen lässt?“ erwiderte Joe, immer noch zu Tode erschrocken und auch ein wenig ärgerlich.

„Das hier ist mein Job!“ konterte James ernst: „Der ist nun einmal manchmal gefährlich!“
 

„Umso mehr, wenn du ihn allein machen musst, weil Snyder dich hängen lässt.“ gab Joe zurück: „Ich werde dir helfen, ob es dir nun passt, oder nicht! Und nun lass` mich an dich heranrücken, denn ich erfriere gleich.“
 

Joe hockte sich neben James und dieser legte einen Arm um seinen Freund. Dann fragte er, immer noch grummelnd:

„Wie willst du morgen munter genug sein, um zu arbeiten?“
 

„Hab` mir frei genommen hierfür.“ gab Joe zurück und obwohl James das Grinsen seines Freundes nicht sehen konnte, hörte er es in seiner Stimme:
 

„Ts!“ machte er tadelnd und schüttelte er den Kopf, doch in seinem Inneren verursachte Joes Sorge ein warmes Gefühl.
 

Um fünf Uhr am Morgen, Joe war soeben an James Schulter eingenickt, da ging in Carmichaels Haus das Licht an.

James stieß seinen Freund an, um ihn zu wecken. Sie warteten eine halbe Stunde bis schließlich die Tür aufging und Carmichael hinaustrat.
 

James und Joe reckten und streckten sich und machten sich bereit, dem Mann zu folgen. Da fiel James etwas ein:

„Ich möchte wissen, was in der Hütte ist. Wie wär`s, wenn du hineingehst und nachschaust, während ich unserem Freund Bob folge. Wir treffen uns dann nachher im roten Haus und erstatten uns gegenseitig Bericht.“
 

Joe zuckte mit den Schultern:

„Klingt nach einem Plan! Aber sei vorsichtig und lass` dich nicht von ihm erwischen! Und suche auf keinen Fall die Konfrontation mit ihm, sonst werde ich böse!“
 

Sie verabschiedeten sich und machten sich nun auf in unterschiedliche Richtungen.
 

Joe näherte sich unauffällig der Hütte von Bob Carmichael, um nicht von den Anwohnern entdeckt zu werden, obwohl er vermutete, dass diese heruntergekommene Gegend nicht unbedingt ein Teil von Millers Landing war, wo Nachbarn gute Kontakte miteinander pflegten und einer auf den anderen achtete. Vermutlich war genau dies der Grund, warum der Kerl diese lausige Wohngegend überhaupt gewählt hatte, dachte Joe.

Hier blieb sein Treiben unbemerkt, was immer er auch anstellte!
 

Joe ging zur Vordertür und stellte fest, dass diese unverschlossen war, also trat er ein. Im Haus bemerkte er sofort den Geruch, der hier herrschte. Joe fragte sich zum einen, woher um Himmels Willen dieser bestialische Gestank kommen mochte und zum anderen, wie jemand es aushielt, damit zu leben.

Die fürchterliche Antwort auf seine erste Frage erhielt Joe, als sich seine Augen an die Dunkelheit in der Behausung gewöhnt hatten. Mitten im Raum stand eine Art erhöhter Arbeitstisch, auf dem er die grausige Entdeckung machte: Dort lagen, fein säuberlich aufgereiht verschiedene Messer und daneben die verstümmelten Leichen von diversen kleinen Tieren, wie Katzen, Kaninchen, Eichhörnchen und Hunden. Einige zeigten bereits Spuren der Verwesung und Joe realisierte überdies mit Entsetzen, dass diese armen Kreaturen offenbar nicht schnell gestorben waren. Carmichael hatte ihnen Gliedmaßen abgetrennt, sie mit Schnitten lediglich verletzt, aber nicht getötet, um sie leiden zu sehen oder ihnen die Augen ausgestochen. Joe fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. Dann erkannte er, dass sich zwischen all` den Kadavern noch etwas regte. Es war ein Hundewelpen, welcher auf dem Rücken lag. Der Körper war von einem langen, dünnen Messer derart durchbohrt worden war, dass er dadurch am Tisch festgepinnt war und ein Entkommen unmöglich wurde. Joe erkannte, dass das Tier es auch nicht überleben konnte, wenn er es befreite, da es bereits mehr tot als lebendig war, also tat er, was ihm als das einzig Menschliche erschien; er legte seine Hand über Nase und Schnauze des kleinen Hundes und erstickte ihn.

Obwohl es ein Akt der Gnade war, trieb es ihm die Tränen in die Augen, dieses arme, unschuldige Leben zu beenden.
 

Trotz des üblen Gestanks atmete Joe einmal tief durch, um sich zu beruhigen und setzte dann die Untersuchung der Hütte fort. Er fand eine fleckige, unappetitliche Schlafstätte und daneben ein Nachttischchen, auf dem, wie auf einem Altar, die Karte und das mittlerweile stinkende und vertrocknete Ochsenherz lagen, welche Carmichael Margarete geschickt hatte. Daneben fand sich das Messer, welches sie verwendet hatte, um die Nachricht an ihren Schänder am roten Haus zu befestigen. Joe dachte kurz darüber nach, sich das Messer wieder zu holen, doch dann entschied er, dass es klüger wäre, Carmichael nicht unbedingt wissen zu lassen, dass jemand in seinem Heim gewesen war. Nachdem er das Gefühl hatte, er habe alles gesehen, verließ Joe die Hütte wieder und atmete dankbar die frische Morgenluft ein. Ihm war speiübel.
 

James folgte Carmichael unauffällig und erkannte schnell, dass dieser sich auf dem direkten Weg zum roten Haus befand. Er hoffte, dass er Joe gegenüber Wort halten konnte und es tatsächlich zu keiner Konfrontation kommen musste.
 

Es würde schwer werden, Deckung zu finden, denn nachdem man die Stadtgrenze passiert hatte und sich den beiden hellrot gestrichenen Gebäuden näherte, gab es beinahe keine Verstecke wie Bäume und Gebäude mehr. Dennoch musste James Carmichael unbedingt auf den Fersen bleiben. Wer wusste schon, was dieser als Nächstes vorhatte.
 

James nahm seine Waffe in die Hand, um sich ein wenig sicherer zu fühlen. Am Ziel angekommen verschanzte er sich hinter einer dicken alten Eiche unweit der Häuser, hatte seine Pistole im Anschlag und beobachtete, was Carmichael tat. Zu seiner Überraschung stellte James dann jedoch fest, dass dieser sich gar nicht rührte. Er lehnte lediglich an einem Zaunpfahl und starrte das Wohnhaus an, in welchem sich noch nichts rührte, weil seine Bewohnerinnen und Bewohner offenbar noch schliefen. Dieses
 

Carmichaels Verhalten ließ James absurder Weise an einen Verliebten denken, der vor dem Haus der Angebeteten steht, in der Hoffnung einen kurzen Blick auf das Objekt seiner Begierde zu erhaschen. Nur dass es hier nicht um Liebe ging, sondern um kranke, mörderische Besessenheit. Carmichael hatte offenbar keine Eile, Margarete in die Finger zu bekommen. Vielleicht genoss er ja sogar das Warten, bis er sein grausames Werk endlich beenden könnte.

„Bald, mein Liebling“ hatte auf der Karte gestanden.

James lief es kalt den Rücken hinunter.
 

Nach etwa zwanzig Minuten hatte Carmichael offenbar genug davon, Hauswände anzustarren und er machte sich wieder auf den Weg.

James folgte ihm bis zum Bergwerk, wo Carmichael sich anschickte, seinen Arbeitstag zu beginnen. Für James war nun der Zeitpunkt gekommen, den seinigen endlich zu beenden. Todmüde kehrte er zum roten Haus zurück.
 

Als er die Küche betrat, saß dort bereits Joe erschöpft am Tisch.

„Meinst du, ich darf mir etwas zum Frühstück nehmen? Ich bin wahnsinnig hungrig!“ erkundigte sich James unsicher.
 

Joe zuckte mit den Schultern und sagte:

„Sicher kannst du das. Du riskierst deinen Hals für uns, da ist es doch wohl selbstverständlich, dass du im Gegenzug etwas zu essen erhältst! Da sind etwas Schinken, Brot und ein paar Äpfel im Schrank. Bedien Dich!“
 

„Möchtest du auch etwas.“ wollte James wissen.
 

Joe schüttelte energisch den Kopf:

„Ich halte mich an Kaffee.“ Er hielt seine Tasse hoch: „Nach dem, was ich heute in Carmichaels Hütte gesehen habe, denke ich nicht, dass ich jemals wieder Appetit haben werde.“
 

James hatte das Essen vor sich hingestellt, nahm sich selbst auch einen Kaffee, blickte Joe erwartungsvoll an und dieser begann seinen Bericht. Als er bei dem Welpen anlangte, welchen er töten musste kamen ihm ein wenig die Tränen und am Ende von Joes Erzählungen, war James sich plötzlich auch nicht mehr so sicher, ob er wirklich etwas frühstücken wollte, aber schließlich siegte doch der Hunger über den Ekel.
 

Während er aß, berichtete James nun seinerseits, was er am Morgen bei der Verfolgung Carmichaels beobachtet hatte. Danach saßen die beiden jungen Männer eineWeile schweigend, müde und missmutig beieinander und Joe resümierte schließlich:

„Ich denke, eines ist nun klar: Dieser Carmichael ist noch verrückter, als wir gedacht haben und er wird nicht aufgeben, bis er entweder tot oder im Gefängnis ist!“
 

„Oder bis er das hat, was er will!“ murmelte James mutlos. Sein Kopf lag mittlerweile auf dem Tisch, weil er ihm vor lauter Müdigkeit zu schwer geworden war.
 

In diesem Moment kam Tiny in die Küche:
 

„Hey!“ rief Joe freundlich.
 

„Hey!“ gab Tiny kühl zurück.
 

James horchte auf. Er hatte Tiny Joe gegenüber noch nie derart frostig erlebt. Plötzlich meinte James, sich dringend zurückziehen zu müssen, um den beiden Männern Raum zu geben, den Konflikt, der offenbar gerade vorlag zu klären. Er erhob sich mühsam und obwohl er sich vor Erschöpfung ein wenig wacklig fühlte, erklärte er:

„Ich denke, ich werde jetzt zu mir nachhause gehen, um ein wenig zu schlafen.“
 

„So erschöpft, wie du gerade bist, schläfst du doch im Stehen ein. Warum bleibst du nicht hier?“ fragte Joe und an Tiny gerichtet fuhr er fort: „Stört es dich, wenn wir uns beide in deinem Zimmer ein wenig hinlegen?“
 

Das Gesicht des Älteren verfinsterte sich, dennoch gab er mit zusammengebissenen Zähnen ein: „In Ordnung!“ von sich.
 

Joe wirkte unbekümmert und schickte sich an, nach oben zu gehen, doch James war beklommen zumute und versicherte an Tiny gerichtet:

„Ich kann auch hier unten auf dem Feldbett schlafen, wenn es dir nicht recht ist.“
 

Tiny schüttelte den Kopf, den bösen Blick an Joe und nicht an James gerichtet, als er antwortete:

„Unsinn! Ihr zwei hattet eine anstrengende Nacht und hier unten wirst du keine Ruhe finden.“

Dann drehte er sich um und verschwand.
 

James folgte Joe in Tinys Schlafzimmer, doch am Fuß des Bettes blieb er unschlüssig stehen:

„Die Laken sind ganz frisch.“ erklärte Joe, der sich schon hingelegt hatte mit einem kleinen Grinsen.
 

James stieg die Schamesröte ins Gesicht. Er schluckte, ehe er antworten konnte:

„An so etwas habe ich doch gar nicht gedacht! Es ist nur wegen Tiny. Er schien so wütend zu sein und irgendwie kann ich ihn verstehen. Das hier ist SEIN Bett! Natürlich will er nicht, dass sein…ähm… Geliebter darin mit einem anderen Mann liegt.“

James Röte intensivierte sich noch ein wenig bei diesem letzten Satz und dem, was er implizierte.
 

Joes Grinsen wurde breiter, als er antwortete:

„Tinys Ärger hat gar nichts damit zu tun. Er ist wütend auf MICH, weil ich dir letzte Nacht gefolgt bin. Er hat ganz einfach Angst um mich!“
 

Erleichtert traute James sich nun endlich auch, sich auf dem Bett niederzulassen und erwiderte:

„Damit hat er ja auch nicht Unrecht. Es IST gefährlich!“
 

„Genau!“ antwortete Joe: „Darum will ich ja auch nicht, dass du diesem Carmichael allein gegenüberstehst. Du bist mein Freund und…“ Joe schluckte ein wenig, ehe er fortfuhr: „...ich hab dich lieb und ich will nicht, dass dir etwas Schlimmes passiert!“

James wurde warm ums Herz und Joe sprach einfach weiter:

„Thomas darf mich nicht daran hindern, meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Ich brauche weder einen Vater noch einen Beschützer. Ich möchte bloß einen Partner, verstehst du?“
 

James nickte:

„Ja, ich denke schon.“
 

Joe schüttelte sein Kissen auf, brachte sich in eine bequeme Schlafposition und schloss die Augen, doch James wollte noch etwas loswerden:

„Joe?“
 

„Hmm?“
 

„Ich hab´ dich auch lieb!“
 

„Schlaf ´ jetzt!“ antwortete Joe lächelnd.
 

Alice saß mit angewinkelten Knien auf dem Sofa im Gemeinschaftsraum und dachte über ihre neue Lebenssituation nach.
 

Kathryn betrat den Raum und trug ein Bündel Kleidung auf dem Arm, welches sie vor das Mädchen hinlegte:

„Ich habe meinen Kleiderschrank aufgeräumt und da du ja ohne irgendetwas hier angekommen bist, habe ich hier etwas für dich!“

Das Mädchen machte große Augen und begann, sich Kleidungsstücke genauestens zu inspizieren. Es handelte sich um zwei Hosen und zwei Oberhemden:

„Du bist größer und schlanker als ich, aber dennoch sollten die Sachen dir passen, denn die Hosen waren immer schon ein wenig zu lang für mich und ich habe die Beine umkrempeln müssen. Vielleicht brauchst du aber einen Gürtel. Probier´ sie doch einmal an!“
 

Das Mädchen strahlte sie begeistert an und kam der Aufforderung eilends nach. Zwar saßen die Hosen am Bund tatsächlich ein wenig locker, doch ansonsten waren die Kleidungsstücke wie für Alice gemacht, dachte Kathryn. Die Kleider, welche sie gewöhnlich trug, wirkten dagegen wie eine Verkleidung.
 

Kathryn lächelte zufrieden und erklärte:

„Ausgezeichnet! Du siehst großartig aus!“
 

Alice holte einen Spiegel herbei, um sich zu betrachten. Dabei wurde ihr Grinsen sogar noch ein wenig breiter. Sie fiel Kathryn um den Hals und bedankte sich ausgiebig.

Bald jedoch erschien Kathryn die Umarmung ein wenig länger als nötig anzudauern. Sanft griff sie das Mädchen schließlich bei den Schultern und löste sich von ihr.
 

Alice blickte schuldbewusst drein, doch Kathryn ging kommentarlos über die Situation hinweg, indem sie sagte:

„Ich wollte auch noch etwas mit dir besprechen. Wenn nächste Woche die Frauen aus Boston kommen, würden wir dir gern bei Ihnen drüben ein Zimmer geben. Meinst du, du kommst bis dahin mit der Übergangslösung hier im Gemeinschaftsraum klar?“
 

Alice nickte und fragte dann glücklich:

„Ich werde tatsächlich ein Zimmer für mich allein bekommen?“
 

„Ja sicher!“ erwiderte Kathryn: „Wieso nicht?“
 

„Na, weil ich so etwas noch nie hatte.“ entgegnete das Mädchen schlicht.
 

Als James erwachte, schlief Joe noch tief und fest, also erhob er sich leise, ging in den Waschraum, um sich ein wenig frisch zu machen und machte sich dann auf die Suche nach Tiny. Er fand ihn schließlich im Schuppen, damit beschäftigt, Holz zu hacken, obwohl die Bezeichnung „Kleinholz machen“ sicherlich treffender gewesen wäre. Der große Mann drosch mit aller Kraft wütend auf die Scheite ein.
 

James war von dem Anblick ziemlich eingeschüchtert, doch er nahm all seinen Mut zusammen und positionierte sich so, dass Tiny ihn sehen konnte.
 

Als er James erblickte, unterbrach Tiny

seine Arbeit und fragte mürrisch:

„Willst du irgendetwas Bestimmtes?“
 

James nickte:

„Ich will mit dir über Joe sprechen!“

Tiny funkelte ihn böse an, sagte jedoch nichts und so fuhr James fort:

„Er will, dass du ihn als erwachsenen Mann wahrnimmst. Wenn du versuchst, ihn einzusperren und vor allem zu beschützen, wirst du ihn irgendwann verlieren! Ist dir das klar?“

James hatte ein wenig Angst davor, mit dem, mit einer Axt bewaffneten, zornigen, großen Kerl so deutlich zu sprechen, doch er hatte das Gefühl, es tun zu müssen, sowohl für Joe als auch für Tiny und am Ende vielleicht sogar ein bisschen für sich selbst.
 

James wartete ab, wie Tiny reagieren würde. Er erwartete eigentlich, angebrüllt zu werden und wappnete sich, doch stattdessen legte Tiny seine Axt beiseite und setzte sich auf den Spaltblock:

„Ich verstehe einfach nicht, warum er so leichtsinnig ist.“ murmelte Tiny plötzlich kleinlaut.
 

James hockte sich ihm gegenüber auf eine herumstehende Kiste und antwortete:

„Er versucht, mich, Margarete und euch alle vor Unheil zu bewahren. Gerade dir müsste dieser Wunsch, zu beschützen doch bekannt vorkommen.“
 

Ertappt lächelnd antwortete Tiny:

„Aber Joe ist nicht so wie ich. Er ist so…“ er suchte nach den richtigen Worten:„…verletzlich!“
 

James schüttelte energisch den Kopf und erwiderte:

„Genau so möchte Joe mit Sicherheit nicht gesehen werden. Und es wird ihm auch nicht gerecht! Joe hat unglaubliche Misshandlungen erfahren und er hat überlebt! Er ist stark, verstehst du? Und vergiss nicht, dass auch ein großer, starker Kerl wie du ist nicht unverwundbar ist. Wir sind alle verletzlich, Tiny!“

James hielt kurz inne und fügte dann hinzu:

„Ich werde übrigens heute Nacht wieder vor Carmichaels Haus Wache halten. Joe sollte nicht noch einen weiteren Arbeitstag versäumen, aber allein ist die Sache zugegebenermaßen wirklich ziemlich gefährlich. Willst du mich heute Nacht dorthin begleiten?“
 

Tiny grinste zufrieden.



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