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Die Leute von Millers Landing

von

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Liebe und Freundschaft

Am Folgetag hatte Joe eine Entscheidung getroffen. Er verriet niemandem, auch nicht James und Tiny, die sich noch immer im roten Haus von ihren Verletzungen erholten, was er vorhatte, doch an diesem Morgen ging er nicht zur Arbeit, sondern hinüber zur Mine, um zu sehen, ob Carmichael dort war, denn ganz offensichtlich machte der Sheriff keinerlei Anstalten, ihn zu finden. Joe war jedoch fest entschlossen, ihn nicht ungeschoren mit dem davonkommen zu lassen, was er seinen Freunden angetan hatte.

Er beobachtete, wie die Arbeiter untertage gingen, doch Carmichael war nicht unter ihnen. Als Joe den Vorarbeiter nach ihm fragte, gab dieser an, ihn seit zwei Tagen nicht gesehen zu haben und nicht zu wissen, wo er sich aufhielte. Also machte sich Joe auf, um Carmichaels Hütte einen erneuten Besuch abzustatten. Ihm war dabei sehr wohl bewusst, dass sowohl Tiny, als auch James ihm den Hals umdrehen würden, wenn sie von seinem Alleingang wüssten.

Joe vergewisserte sich zunächst durch die Fenster, dass Carmichael nicht zuhause war und dann trat er ein. Drinnen stellte er schnell fest, dass Carmichael nicht nur lediglich nicht daheim, sondern die Hütte gänzlich verlassen war. Die Tierkadaver waren verschwunden und ebenso sämtliche persönliche Habe, einschließlich des unheimlichen Altars, der sich auf dem Nachttisch befunden hatte. Joe hatte alles gesehen, was er wissen musste und verschwand.
 

Alice war allein in der Küche des Wohnhauses. Sie hatte eine schwere und wichtige Entscheidung getroffen und nun öffnete sie die Besteckschublade, nahm ein scharfes großes Messer heraus, setzte es an und machte den Schnitt.
 

Kathryn hatte soeben einige Gartenarbeiten erledigt und betrat nun die Bar, um sich zu erkundigen, ob die Bostonerinnen etwas bräuchten. Die Damen hatten dort sämtliche Tische zusammengeschoben und waren gerade in das Studium einer Karte der Umgebung vertieft. Miss Klugman hatte einen Arm um Miss Macclaine gelegt. Als sie Kathryn eintreten sah, zog sie diesen rasch fort, wie Kathryn mit Bedauern feststellte. Gern hätte sie etwas gesagt, um die Frauen dazu zu ermutigen, ganz sie selbst zu sein, doch sie wusste nicht, wie sie das anstellen sollte, ohne plump zu sein oder ihnen zu nahe zu treten.
 

Anstatt dessen meldete sich nun Justine Carpenter zu Wort. An Kathryn gerichtet erklärte sie:

„Wir werden in den nächsten drei Wochen die Orte besichtigen, an denen wir geplant hatten, unsere Vorträge zu halten. Vorab wollen wir dort Pamphlete verteilen und Termine bekannt geben. Vielleicht wollen sie sich uns als Ortskundige ja hin und wieder anschließen?“
 

Kathryn nickte und erwiderte begeistert, dass es ihr ein Vergnügen wäre.

Sie warf einen Blick auf den Tisch, auf welchem sich neben der Karte auch die angesprochenen Flugblätter befanden. Kathryn setzte sich und vertiefte sich in die Lektüre.
 

Später waren Melody, Margarete und Kathryn verabredet, gemeinsam das Mittagessen zuzubereiten. Als die drei die Küche betraten, weiteten sich ihre Augen zunächst vor Schreck. Dann brachen Kathryn und Melody in schallendes Gelächter aus.

Am Tisch saß Alice mit mürrischer Miene. Vor ihr lagen ein großes Messer und ihr abgetrennter Pferdeschwanz. Die verbliebenen Haare auf ihrem Kopf waren unterschiedlich lang und standen in alle Richtungen ab:
 

„Was hast du getan? Du siehst ja aus wie ein gerupftes Huhn, Mädchen!“ entfuhr es Kathryn und sie und Melody setzten ihr schadenfrohes Kichern fort.
 

Alice blickte ärgerlich zu den beiden auf und erklärte trotzig und mit Nachdruck:

„Ist mir total egal wie ich aussehe! Hauptsache, die blöden Haare sind ab!“
 

„Seid still ihr albernen Gänse und lasst die Kleine in Ruh`!“ schimpfte Margarete. An Alice gerichtet fügte sie sanft hinzu: „Ach du armes Ding! Was hast du dir nur angetan?“ sie schüttelte den Kopf und fuhr fort: „Keine Sorge, meine Süße, ich werde das wieder in Ordnung bringen.“

Mit diesen Worten verschwand Margarete nach oben und war kurz darauf mit einer Schere in der Hand wieder da. Sie nahm die unglückliche Alice bei der Hand und führte sie nach draußen vor das Haus. Im Hinausgehen warf sie einen strengen Seitenblick auf Kathryn und ihre Schwester, die noch immer ein belustigtes Grinsen auf ihren Gesichtern hatten.
 

Margarete betrachtete das Mädchen stirnrunzelnd und überlegte, wie sie retten konnte, was eigentlich nicht mehr zu retten war, dann begann sie zu schneiden, Etwa zwanzig Minuten später hatte Alice einen sehr ansehnlichen Kurzhaarschnitt.
 

Alice blickte sie unsicher und fragend an. Margarete betrachtete zufrieden lächelnd das Ergebnis und erklärte:

„Du siehst hübsch aus! Zwar wie ein Junge, aber immerhin wie ein hübscher Junge!“
 

Alice grinste schüchtern und lief zum Spiegel. Dann kehrte sie strahlend zurück, fiel Margarete um den Hals und sagte:

„Das hast du toll gemacht! Vielen Dank!“
 

„Gern geschehen, mein Kind!“ erwiderte diese und fragte dann: „Aber warum hast du deine Haare denn überhaupt abgeschnitten? Sie waren doch so schön?“
 

„Meinem Bruder Niklas haben sie auch gefallen!“ erwiderte Alice finster.
 

„Ich verstehe!“ gab Margarete zurück und das tat sie wirklich.
 

Beide setzten sich auf die Bank auf der Veranda und schwiegen eine Weile, ehe Alice sich schließlich zu fragen traute:

„Dieser Kerl, der Tiny und James verletzt hat... was will er von dir?“
 

Margarete schluckte und zögerte einen Augenblick, ehe sie antwortete:

„Ich schätze, über kurz oder lang will er mich wohl umbringen. Was er bis dahin mit mir vorhat, weiß ich nicht.“ Tränen erstickten ihre Stimme, als sie fortfuhr: „Ich weiß nur, es wird etwas ganz Furchtbares sein.“
 

Alice blickte die Frau bestürzt an. Dann legte sie ihr unbeholfen einen Arm um die Schulter und sagte:

„Ich könnte versuchen, dich zu beschützen! Immerhin habe ich es ja auch geschafft, meinen Bruder von mir fern zu halten und der ist von der Arbeit in der Schmiede richtig stark!“

Stolz reckte sie das Kinn ein wenig vor.
 

Margarete legte dem Mädchen eine Hand auf die Wange, ehe sie entschlossen entgegnete:

„Wenn Carmichael hier auftaucht, möchte ich, dass du dich so weit wie möglich von ihm fernhältst! Er ist sehr, sehr gefährlich, hörst du? Das musst du mir versprechen!“ Nach einem kurzen, nachdenklichen Schweigen fuhr sie fort: „Ich hab´ es so satt. dass Andere wegen mir verletzt werden. Manchmal denke ich, ich sollte Carmichael einfach geben, was er will. Dann sind endlich wieder alle in Sicherheit!“
 

Alice blickte Margarete irritiert an und erwiderte dann fest:

„Das ist Unsinn! Deine Freunde beschützen dich, weil SIE es so wollen. Dafür sind Freunde doch da!“
 

Margarete hatte still zu weinen begonnen und sagte dann beinahe flüsternd:

„Aber ich überstrapaziere gerade ihre Hilfsbereitschaft. Wegen mir sind alle in Gefahr, haben Angst und können nicht mehr arbeiten. Damit muss endlich Schluss sein!“
 

„Ist doch nicht deine Schuld!“ erwiderte Alice nachdrücklich: „Dieser Kerl ist dafür ganz allein verantwortlich!“
 

Margarete schüttelte unwillig den Kopf:

„Aber ich bin in letzter Zeit unausstehlich und das ist sehr wohl meine Schuld! Nichts und niemand kann es mir recht machen! Einerseits kann ich nicht allein sein, weil ich sogar Angst vor meinem eigenen Schatten habe und andererseits weiß ich gar nicht mehr, wie ich mich anderen gegenüber verhalten soll. Manchmal will ich über das sprechen, was mir passiert ist, aber dann merke ich, dass keiner es wirklich ertragen kann. Sie versuchen, mich zu beruhigen und zu trösten und ich werde ungeduldig und ärgerlich. Meine Schwester ist voller Wut, sagt, dass sie Carmichael umbringen will und schaut mich erwartungsvoll an, damit ich ihr zustimme, doch ich fühle mich einfach nur schwach. Früher haben wir uns praktisch ohne Worte verstanden, doch jetzt ist sie sicher enttäuscht von mir, weil ich so schwach und nutzlos bin. Wie kann ich erwarten, dass die anderen mich beschützen, wenn ich unfähig bin, mich selbst zu verteidigen. Nachts liege ich im Bett und bin starr vor Furcht. Ich sehe wieder vor mir, was er mir angetan hat, fühle die Verletzungen, die noch immer nicht ganz verheilt sind und dann wünschte ich, er hätte mich wirklich umgebracht. Dann hätte ich es wenigstens hinter mir!“
 

Alice blickte sie traurig und sprachlos an und plötzlich wurde Margarete bewusst, dass ihre Gesprächspartnerin eigentlich noch ein Kind war. Bestürzt sagte sie:

„Ich sollte dir das alles eigentlich gar nicht erzählen. Es ist viel zu furchtbar!“
 

Alice schüttelte den Kopf und behauptete:

„Es ist in Ordnung!“

Dann zog sie den Kopf der Älteren an ihre Schulter und umarmte sie sanft und fürsorglich und obwohl Margarete dagegen ankämpfte, brach sie nun endgültig in Tränen aus.
 

Während Alice die weinende Frau in den Armen hielt, fühlte sie sich stark und beschützerisch und nicht mehr wie ein Mädchen, das sich ängstlich vor seinem Bruder versteckte.

Dieses Gefühl gefiel ihr!
 

Angestrengt vom Weinen ruhte sich Margarete später auf dem Sofa im Gemeinschaftsraum aus.

Alice saß derweil auf den Stufen der Veranda und kraulte mit der einen Hand ausgiebig den Kopf des Hundes, der dies augenscheinlich sehr genoss und mit der anderen einen großen, alten einäugigen Kater, der sein Kinn auf dem Knie des Mädchens abgelegt hatte und wohlig auf ihre Hose sabberte. In diesem Moment kam Helena Rothschild dazu.

Als sie Alice erblickte, stutzte sie kurz, dann grinste sie breit:

„Du bist dieses Mädchen? Alice, richtig? Ich hätte dich beinahe nicht erkannt! Was ist denn mit deinen Haaren passiert?“
 

„Die sind ab!“ verkündete Alice knapp.

Sie beäugte Helena misstrauisch und wappnete sich, in Erwartung irgendeiner Gemeinheit, denn so war sie es gewohnt. Seit jeher hatten diese hübschen, perfekten, eleganten; diese echten und richtigen Mädchen, wie diese Helena eine war Alice das Leben schwer gemacht. Und stets ging es dabei darum, wie sie aussah, zu groß, zu hässlich, zu stark, zu dürr, zu flachbrüstig!

Alice wusste, dass sie neben solchen Schönheiten nicht bestehen konnte und wollte es im Grunde auch nicht. Sie wollte nur in Ruhe gelassen werden. Nun wartete sie auf Helena Rothschilds Spitze, welche zweifelsohne jeden Moment kommen würde.
 

Und so traf es Alice völlig unvorbereitet, als die junge Frau strahlend verkündete:

„Es sieht großartig aus! Nein, besser als großartig, es ist perfekt! Viel besser, als vorher! Es steht dir richtig gut!“
 

Alice blickte sie skeptisch an und murmelte ein knappes „Danke!“, während sie eigentlich noch immer auf die Pointe des Scherzes auf ihre Kosten wartete.
 

Stattdessen hockte Helena sich neben sie auf die Stufen und lächelte sie immer noch strahlend an. Alice betrachtete die hübsche junge Frau neben sich mit einem Rest Misstrauen von der Seite, bis der Hund, den sie vor Überraschung zu streicheln aufgehört hatte sie mit seiner feuchten Nase vorwurfsvoll anstupste.
 

Im Laufe des Tages erhielt Alice noch viele Komplimente dieser Art für ihren neuen Haarschnitt und bis zum Abend gelang es ihr beinahe schon, den Anderen zu glauben.
 

Beim Abendessen wurde es wieder einmal sehr eng am Tisch. Neben all den Bewohnern und Bewohnerinnen des Hauses und den Besucherinnen aus Boston waren da nämlich noch Alice, James, Joe und auch Doktor Miller, der zuvor nach seinen Patienten geschaut hatte und dann zum Dinner eingeladen worden war. Und auch Rebecca und Felicity waren gekommen, weil Joe angekündigt hatte, dass es Neuigkeiten gäbe.
 

Als die Mahlzeit beendet war, erhob sich der junge Mann also und verkündete, was er heute bei seiner Aufklärungsmission herausgefunden hatte.

Wie erwartet, erhob sich zunächst einmal der empörte Tumult seiner Freunde darüber, dass er sich in Gefahr gebracht hatte, indem er sich allein auf die Suche nach Carmichael begeben hatte.
 

Joe wartete gelassen, bis die vorwurfsvollen Stimmen abebbten, ohne auch nur den Versuch einer Rechtfertigung zu unternehmen; denn im Grunde war ihm natürlich bewusst, dass seine Freunde recht hatten, aber es hatte nun einmal getan werden müssen, also hatte er es getan. Ihm entging natürlich auch der finstere Blick nicht, welchen ihm sein Geliebter quer über den Tisch hinweg zuwarf.

Joe versuchte, sich davon nicht allzu sehr verunsichern zu lassen. Tiny würde schon irgendwie damit zurechtkommen.
 

Als sich alle wieder einigermaßen beruhigt hatten, zog Joe sein Fazit:

„Carmichael hat es entweder aufgegeben und ist verschwunden oder er ist untergetaucht und plant seinen nächsten Zug.“
 

Nun meldete sich James zu Wort:

„So gern ich glauben würde, dass der Kerl einfach abgehauen ist; mein Instinkt sagt mir leider, dass er nicht aufgeben wird. Er ist wie besessen von…“ Er schluckte, denn ein Blick auf Margarete machte ihn unfähig, seinen Satz zu beenden.
 

Margarete hatte ihn auch so verstanden, blickte hinab auf ihren Schoß und nickte leicht. Alice neben ihr griff nach der Hand der Frau und ihre Finger verschränkten sich ineinander.
 

Kathryn erklärte:

„Wir müssen wohl auch in Zukunft jede Nacht Wache halten. Ich schlage vor, dass wir Zweiergruppen bilden und uns etwa alle drei Stunden abwechseln, damit jeder ein wenig Schlaf bekommt. Kinder und Verletzte sind davon ausgenommen sein. Also läuft es auf Joe, Shy, Melody, Regine, Molly und mich hinaus.“
 

Wieder erhob sich ein Stimmgewirr, denn Sam und Alice waren der Meinung, dass auch sie sehr wohl Wache halten könnten und die Verletzten, Tiny und James behaupteten dasselbe von sich. Während den beiden Ersteren Regine und Kathryn streng verboten, sich auf diese Weise in Gefahr zu begeben, erklärte der Doktor den Verwundeten eindringlich, dass sie momentan ebenfalls nicht in der Verfassung dazu seien.

Justine Carpenter versprach daraufhin, dass auch sie und ihre Mitstreiterinnen sich an der Nachtwache beteiligen würden. Kathryns Gegenrede, dass man für die Sicherheit der Gäste verantwortlich sei, wies diese streng, entschieden und mit dem Hinweis darauf zurück, dass einige der Damen über Schusswaffen verfügten und auch sehr gut in der Lage waren, diese zu benutzen.
 

Auch Felicity und Rebecca erklärten, dass auch sie nachts eine Schicht übernehmen würden, solange die Bedrohung akut sei, was Doktor Miller mit einem besorgten Blick kommentierte und stattdessen anbot, seinerseits zu patrouillieren. Da man sich jedoch einig war, dass der Doktor ein viel zu beschäftigter Mann war und man ja auch nicht wissen konnte, ob seine medizinischen Dienste nicht noch ein weiteres Mal notwendig werden würden, wurde dies dankend abgelehnt. Mit sorgenvollem Gesicht legte der Doktor einen Arm um seine tapfere Tochter, welche zuversichtlich lächelnd seine Hand ergriff und sie streichelte.

Schließlich wurde ein Zeitplan erstellt, damit jeder wusste, wann und mit wem er eingeteilt war und im Anschluss daran löste die Runde sich nach und nach auf.
 

Um sich seine Strafpredigt abzuholen ging Joe hinüber zu Tiny, welcher mit James am Tisch sitzen geblieben war. Tiny schwieg jedoch und blickte geflissentlich durch seinen Freund hindurh.
 

James machte Anstalten sich zu erheben und erklärte:

„Ich denke, ich lasse euch erst mal allein und heute Nacht werde ich wieder hier unten auf dem Feldbett schlafen, damit ihr zwei euch in aller Ruhe aussprechen könnt.“
 

Doch Tiny griff James mit seinen Schraubstockhänden am Arm, hielt ihn zurück und antwortete eisig:

„Du kannst bleiben und auch gern bei mir im Bett schlafen, aber Joe sollte sich heute Nacht lieber nach einer anderen Möglichkeit umsehen!“
 

Joe schluckte ein wenig. Er nickte, wandte sich um und verschwand.
 

Alice nahm nach dem Abendessen wieder auf die Veranda Platz und betrachtete die letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Plötzlich entdeckte sie eine Gestalt, die sich bemühte, ungesehen das Haus zu erreichen. Im ersten Moment wollte sie Alarm schlagen, doch dann erkannten sie den altvertrauten Gang und die Schemen ihres lieben Freundes. Sie lief ihm ein Stück entgegen und winkte ihm, hinüber zur Scheune zu kommen. Dort angekommen entzündete sie eine Öllampe.

Erst jetzt im Lampenschein erblickte sie Noahs aufgeschlagene Lippe und das tränenverschmierte Gesicht ihres Freundes:

„Ich habe nichts verraten und ich habe gut aufgepasst, dass er mir nicht folgt!“ brach es aus dem Jungen heraus und dann rollten die Tränen.
 

Alice umarmte ihn und hielt ihn fest, bis er sich wieder ein wenig gefangen hatte. Dann flüsterte sie:

„Verdammt! Es tut mir so leid!“
 

„Du kannst nichts dafür!“ versicherte Noah schniefend.

Dann blickte er zu seiner Freundin auf und erst jetzt registrierte er Alices Typveränderung. Mit einem kleinen Grinsen erklärte er:

„Du siehst toll aus! Irgendwie wie ein Junge.“ Mit einem schiefen Grinsen fügte er hinzu: „Wenn ich nicht wüsste, dass du es bist, würde ich mich vielleicht ein bisschen in dich verlieben!“
 

„Pfft!“ antwortete Alice mit burschikos überspielter Verlegenheit und boxte ihrem Freund leicht auf den Arm. Dieser stöhnte, denn die Lippe war nicht die einzige Region seines Körpers, welche Niklas mit seinen Fäusten bearbeitet hatte.
 

Entschuldigend streichelte Alice die Wange ihres Freundes und wollte wissen:

„Und nun?“
 

„Ich werde meine Mum darauf ansetzen. Warum soll es nicht einmal von nützlich sein, dass sie so ist, wie sie ist? Soll sie doch mit deinem großem Bruder fertig werden!“ gab Noah achselzuckend zurück.
 

Alice grinste bei der Vorstellung, wie Gretchen Schultz auf ihren Bruder niederging, wie die sieben biblischen Plagen, wies jedoch darauf hin, dass Naoh selbstverständlich seinen Eltern gegenüber Stillschweigen über ihren Aufenthaltsort bewahren und behaupten, er wüsste nicht, wo sie sei.
 

„Klar! Was denkst du denn? Das ich blöd bin?“ brummte Noah eingeschnappt.
 

Alice lächelte entschuldigend und drückte dem Verletzten vorsichtig einen Kuss auf die Stirn, ehe er sich wieder zur Rückkehr bereit machte, bevor sein Fehlen zuhause noch auffiel.
 

Als Alice wieder allein war, machte sich das Mädchen auf die Suche nach Margarete.
 

Als Margarete sich an diesem Abend zurückzog, bemerkte Kathryn irritiert, dass diese offensichtlich heute nicht vorhatte, allein zu schlafen. Stattdessen führte sie Alice an der Hand die Treppen hinauf.

Kathryn tippte Melody an, um diese auf die befremdliche Szene aufmerksam zu machen. Dann fragte sie:

„Was ist denn da los?“
 

Melody blickte ihrer Schwester stirnrunzelnd hinterher und antwortete:

„Woher soll ich das wissen! Ich hoffe nur, es ist nicht das, wonach es aussieht!“
 

Margarete war dankbar gewesen, als Alice ihr angeboten hatte, in der Nacht bei ihr zu bleiben, denn sobald es dunkel wurde, wuchsen ihre Ängste für gewöhnlich beinahe bis ins Unermessliche. Aber als nun dieses fremde Mädchen schüchtern auf ihrer Bettkante saß, fühlte es sich doch eigenartig an, sie hier zu haben.
 

Als habe Alice ihre Gedanken gelesen, versicherte sie:

„Ich kann für mich auch das Feldbett heraufholen, falls dir das angenehmer ist. Das macht mir nichts aus!“
 

Kopfschüttelnd schob Margarete ihre Zweifel beiseite und erwiderte:

„Nicht nötig! Mein Bett ist doch groß! Wir kommen uns schon nicht ins Gehege.“
 

Da er am Morgen wieder früh für die Arbeit aufstehen musste, hatte Joe gemeinsam mit Kathryn die erste Schicht übernommen. Sie hatten soeben eine Runde um die beiden Häuser und in die Scheune gemacht und waren nun zum Wohnhaus zurückgekehrt, wo sie sich auf die Veranda setzten. Schweigend blickten sie eine Weile Schulter an Schulter in die Dunkelheit.
 

Unvermittelt fragte Kathryn irgendwann in die Stille hinein:

„Ich habe den Eindruck, du gehst mir seit einer Weile aus dem Weg. Bist du etwa wütend auf mich, weil ich meine Beziehung zu James beendet habe?“
 

Joe war überrascht über diese offen gestellte Frage, doch er fand schon immer, dass eine ehrliche Frage auch eine ehrliche Antwort verdiente:

„Es stimmt, ich bin wütend über die Art und Weise, wie du es getan hast und ich verstehe immer noch nicht deine Gründe. Du hast James wirklich wehgetan und das hat er mit Sicherheit nicht verdient.“
 

„Das wollte ich nicht!“ gab Kathryn ungewohnt kleinlaut zurück und wollte wissen: „Wie geht es ihm mittlerweile?“
 

Joe zuckte mit den Schultern und erwiderte:

„Er war in letzter Zeit abgelenkt, durch all die Dinge die vorgefallen sind, aber ich denke du fehlst ihm.“

Er schwieg eine Weile und fragte dann: „Fehlt er Dir eigentlich auch?“
 

Kathryn schluckte ein wenig, dann nickte sie.

Sie sich für einen erneuten Rundgang und forderte:

„Sag es ihm nicht! Mach` ihm nicht unnötig Hoffnung!“
 

Trotz Tinys Ankündigung, ihn heute Nacht nicht sehen zu wollen, begab sich Joe nach seiner Schicht unverzüglich nach oben zu dessen Zimmer. Leise drückte er die Türklinke herunter und schlich an Tinys Bettseite, wo er unschlüssig abwartend stehenblieb. Als sich nichts tat, fragte Joe unsicher:

„Bist du wach?“
 

Keine Antwort.
 

Doch Joe war hartnäckig und so leicht würde er nicht aufgeben:

„Darf ich zu dir kommen, Thomas?“ erkundigte er sich also.
 

Tiny gab lediglich einen knurrenden Laut von sich, doch Joe konnte in der Dunkelheit erkennen, dass sein Freund als Einladung seine Bettdecke anhob. Rasch streifte der junge Mann Hemd und Hose herunter und kroch in seiner Unterwäsche neben ihn.

Als Joe sich in Tinys Armbeuge schmiegte, fragte er flüsternd:

„Verzeihst du mir?“
 

Statt einer Antwort erhielt der Jüngere einen Kuss.
 

Auf der anderen Seite des Bettes lag James, der sich schlafend gestellt hatte. Er schmunzelte über Joes Beharrlichkeit und war erleichtert darüber, dass seine Freunde sich wieder versöhnt hatten.

Dann betete er insgeheim, dass es bei diesem einen Kuss bleiben würde.
 

In dieser Nacht erwachte Margarete vom Klang ihrer eigenen Stimme. Sie hatte einen kleinen erstickten Schrei von sich gegeben. Offenbar hatte sie schlecht geträumt, auch wenn sie sich nicht mehr daran erinnern konnte. Ihr Herzschlag und Atem waren beschleunigt und sie schwitzte, obwohl ihr eiskalt war. Neben ihr regte sich Alice, gerade wach genug, um Margaretes ängstlichen und erregten Zustand zu realisieren:

„Shht! Alles in Ordnung!“ versicherte sie schläfrig, legte einen Arm um die Frau neben sich und zog sie eng zu sich heran.
 

Margarete schmiegte sich an das Mädchen und spürte, wie deren Nähe, Wärme und ihr regelmäßiger Herzschlag sie beruhigten. Rasch schlief sie wieder ein und erwachte erst am nächsten Morgen wieder.

Als sie die Augen aufschlug, war Alice bereits wach. Sie hatte die langen Beine angewinkelt, den Kopf aufs Knie gelegt und schaute aus dem Fenster. Als sie realisierte, dass Margarete erwacht war, wuschelte sie sich durch das wirre kurze Haar, in der Hoffnung, damit so etwas wie eine geordnete Frisur herzustellen, lächelte schüchtern zu ihr herunter und wünschte einen guten Morgen.
 

Margarete setzte sich auf, erwiderte den Gruß und fügte hinzu:

„Ich danke Dir, Kleines! Das hat geholfen!“
 

Alices Grinsen wurde breiter und leicht errötend antwortete sie:

„Ehrlich gesagt habe ich nachts auch oft Angst, wegen der Sache mit meinem Bruder und so, denn da kam er immer! Ich fand es auch gut, nicht allein zu sein.“
 

Die beiden standen auf, gingen nacheinander ins Bad und kamen schließlich Hand in Hand an den Frühstückstisch.
 

Melody warf den beiden über die lange Tafel hinweg einen skeptischen Blick zu, den Margarete jedoch entweder nicht wahrnahm oder bewusst ignorierte, wie Melody ärgerlich feststellte. Den ganzen Tag über versuchte sie daraufhin, ihre Schwester allein zu fassen zu bekommen, doch wie ein treuer Wachhund wich das Mädchen nicht von Margaretes Seite. Erst als am Nachmittag der Sohn des Reverends auftauchte, konnte sie endlich ungestört mit ihr sprechen.
 

Margarete war gerade vor dem Haus und hängte Wäsche auf, als Melody sich mit in die Seiten gestemmten Armen vor sie hinstellte und ohne große Vorrede fragte:

„Was bitte ist das mit dir und diesem Mädchen?“
 

Margarete unterbrach ihre Tätigkeit und blickte ihre Schwester verständnislos an, also fuhr Melody fort:

„Ihr seht aus wie ein Liebespaar!“
 

Margarete wurde zunächst ein wenig grau vor Schreck. Dann spürte sie, wie Ärger in ihr aufstieg. Sie warf ein nasses Handtuch nach ihrer Schwester und erwiderte aufgebracht:

„Bist du irre! Sie ist doch noch ein Kind!“
 

Melody hatte das Wäschestück aufgefangen und warf es ärgerlich zurück in den Korb, als sie erwiderte:

„Sie ist eine Jugendliche, beinahe schon erwachsen und sie merkt gerade, dass sie sich für Frauen interessiert. Was soll sie denken, wenn du sie mit in dein Bett nimmst?“
 

„Wenn ich sie mit in mein Bett nehme?“ schimpfte Margarete: „Was deutest du denn da an? Du spinnst wohl! Du siehst das vollkommen falsch! Es tut mir gut mit dem Mädchen zusammen zu sein und ich denke, ihr geht es umgekehrt genauso. Vertrau mir doch einfach! Ich habe die Situation im Griff!“

Sie kehrte ihrer Schwester den Rücken zu, setzte das Aufhängen der Laken fort und signalisierte so, dass das Gespräch für sie beendet war.
 

Melody starrte noch eine Weile zornig die Rückansicht ihrer Schwester an, ehe sie sich mit einem Ruck abwendete und verschwand.



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