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Far Across the Distance

Shiro x Keith
von

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Part V

Zuvor

 

„Hey, Keith, ist alles okay?“

Pidge musterte ihn besorgt, nachdem Keith die Tür ihres Zimmers hinter sich geschlossen und sich von innen dagegen gelehnt hatte.

„Ich habe dich heute nicht beim Abendessen gesehen...“

Keith schloss für einen Moment die Augen.

„Ich war bei Shiro“, erwiderte er leise. Shiro hatte etwas zum Essen mitgebracht, als sie sich am späten Nachmittag auf dem Deck getroffen hatten.

Er warf Pidge einen müden Blick zu. „Tut mir leid, Pidge. Ich wollte dich nicht hängen lassen...“

Doch der andere Junge schüttelte nur den Kopf.

„Schon okay, Keith. Du musst dich nicht rechtfertigen.“

Er grinste. „Ich habe deine Portion einfach mitgegessen.“

Jetzt musste auch Keith lächeln. Dann ging er zu seinem Bett hinüber und ließ sich erschöpft darauf nieder.

„Shiro, hm?“, fragte Pidge nach einem Moment der Stille. „Das ist doch der Asiate, den du letztens kennen gelernt hast, oder? Ihr scheint euch ziemlich gut zu verstehen, ich sehe dich tagsüber kaum noch.“

Keith rieb sich das Gesicht.

„Um ehrlich zu sein, bin ich mir nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, ihn wiederzusehen. Was bringt es, wenn sich unsere Wege in wenigen Tagen eh wieder trennen werden...“

Er schwieg für einen Moment.

„Außerdem ist es nicht so, wie du denkst“, sagte er. Das fehlte ihm noch, dass jemand zu viel in ihre Treffen hineininterpretierte. Allein Shiros Geste der Zuneigung an Deck war unnötig riskant gewesen, selbst wenn sie niemand dabei beobachtet hatte.

Pidge zuckte jedoch nur mit den Schultern.

„Es würde mich nicht stören, wenn es genau das wäre, was ich denke“, entgegnete er.

Keith starrte ihn an. Mit einer solchen Äußerung hatte er absolut nicht gerechnet.

„Denn wenn es das wäre, wäre ich nicht länger der einzige von uns beiden, der ein Geheimnis hat“, fuhr der andere Junge wie beiläufig fort und rückte seine Brille zurecht.

Keith runzelte die Stirn.

„Wovon sprichst du?“

Doch Pidge grinste nur und kletterte dann zu seinem Bett hinauf.

„Ich bin mir sicher, du wirst es noch herausfinden“, meinte er. Dann sagte er nichts mehr und Keith hörte für eine Weile nur das Rascheln von Stoff, und er nahm an, dass sein Zimmergenosse sich zur Ruhe gelegt hatte.

Doch nachdem Keith sich aus seiner Kleidung geschält und das Licht ausgemacht hatte, hörte er in der Dunkelheit abermals die Stimme von Pidge.

„Weißt du, Keith... so, wie ich das sehe, hat Shiro bereits einen bleibenden Eindruck bei dir hinterlassen“, sagte er leise. „Warum also nicht die restliche Zeit, die dir mit ihm bleibt, nutzen? Was hast du noch zu verlieren?“

Danach herrschte endgültig Stille.

Und während Pidge leise vor sich hinzuschnarchen begann, lag Keith noch lange wach und dachte über seine Worte nach.

 

„Ganz ehrlich, Pidge“, sagte Keith am nächsten Morgen, als sie Seite an Seite die Treppe zum Deck hinaufstiegen, und warf seinem Mitreisenden einen skeptischen Blick zu, „als du vorhin sagtest, wir sollten mal was anderes machen, dachte ich nicht unbedingt daran, dass du mich zu meinem Treffen mit Shiro begleiten würdest.“

„Hey“, entgegnete Pidge und zuckte unschuldig mit den Schultern. „Ich weiß so gut wie nichts über ihn und du hast mich neugierig gemacht. Außerdem muss ich mich doch davon überzeugen, dass er gut für dich ist, und kein Rüpel oder so.“

„Ich kann das auch für mich selbst entscheiden, weißt du“, gab Keith zerknirscht zurück.

„Bist du dir da wirklich so sicher?“, fragte Pidge und grinste. „Ich meine, stell dir vor, er wäre absolut fantastisch und du würdest ihn für den Rest der Reise meiden, das wäre doch wirklich eine Tragödie.“

Keith seufzte.

„Schon gut, schon gut, ich habe es ja verstanden...“

Sie benutzten einen der schmalen Eingänge, die vom Treppenhaus aus zu dem Netzwerk von Gängen führten, die das Schiffspersonal verwendete, um von einem Servicebereich zum nächsten zu gelangen und sich zwischen den Klassen zu bewegen.

Keith wusste mittlerweile genau, welche Flure und Abzweigungen er nehmen musste, und er hielt keinen Moment lang an, sondern durchschritt zügig die Gänge, um das Risiko zu vermeiden, dass sie jemand ansprach. Pidge folgte ihm, so schnell er konnte, und als sie schließlich das Außendeck der zweiten Klasse erreichten, war er völlig atemlos.

„Okay“, schnaufte er und stützte die Hände auf die Knie. „Wohin jetzt?“

„Dorthin“, entgegnete Keith und deutete quer über das Deck zu einer breiten Treppe hinüber. „Von dort aus gelangt man zum Speisesaal der zweiten Klasse. Shiro und ich haben uns gestern allerdings erst hier an Deck getroffen, weil es sicherer ist, wenn ich in seiner Begleitung dort erscheine.“

„Verstehe.“ Pidge nickte.

Sie standen für eine Weile nebeneinander an der Reling und sahen auf das endlose Meer hinaus. Ein kühler Wind wehte ihnen entgegen, und Keith vermutete, dass die Arktis nicht mehr fern war. Er schlug den Kragen seines Hemdes hoch und schlang die Arme um seinen Körper. Aus den Augenwinkeln sah er, dass auch Pidge in der Kälte fröstelte und er rückte etwas näher an ihn heran, um ihn vor dem Wind zu schützen. Der andere Junge schenkte ihm ein schwaches, aber dankbares Lächeln.

Wenige Minuten nach der vereinbarten Zeit hörten sie schließlich Schritte auf dem Deck hinter sich und Keith drehte sich mit klopfendem Herzen um.

Shiro kam mit geröteten Wangen auf sie zu. Er wirkte etwas außer Atem, als hätte er sich sehr beeilt, doch als sein Blick auf Keith fiel, trat ein Leuchten in seine Augen, das Keiths Knie weich machte.

„Wow“, hörte er Pidge an seiner Seite leise murmeln. „Ich wünschte, jemand würde mich auf diese Weise ansehen...“

„Verzeiht die Verspätung“, sagte Shiro, als er sie erreicht hatte. „Es gab ein kleines Missverständnis mit einem anderen Passagier, das ich erst klären musste.“

„Kein Problem“, erwiderte Keith. „Freut mich, dass du es trotzdem geschafft hast.“

Shiro lächelte ihm zu, dann wandte er sich an Pidge und nahm seine Hand.

„Ich glaube, wir sind uns noch nicht begegnet“, sagte er und presste zu Keiths großer Verwunderung einen Kuss auf den Handrücken des anderen Jungen. „Darf ich fragen, wie Ihr Name ist, Miss...?“

Miss?!“

Keith sah völlig verwirrt von einem zum anderen. Wovon zum Teufel sprach Shiro da...?

Pidge lachte hingegen nur auf.

„Oh, er ist gut“, meinte er, dann machte er – sie? – einen Knicks vor Shiro.

„Katharine Holt“, stellte er – nein, sie, definitiv sie! – sich vor. „Für den Zweck dieser Reise würde ich aber den Namen Pidge Gunderson bevorzugen.“

„Selbstverständlich, Miss“, erwiderte Shiro sanft. „Wie Sie wünschen.“

„Moment“, mischte Keith sich ein und wandte sich dann an Pidge. „Du bist ein Mädchen? Warum hast du nichts gesagt?“

„Weil du mich nicht gefragt hast“, entgegnete Pidge schnippisch. „Außerdem wollte ich nicht, dass du mich anders behandelst, als den Rest, oder es dir unangenehm ist, dass wir eine Kabine miteinander teilen.“

Für einen Moment war Keith aufrichtig verletzt. „Du hättest es mir sagen können, Pidge, wirklich. Ich hätte es verstanden.“

„Tut mir leid, Keith“, erwiderte Pidge und tätschelte seinen Arm. „Du bist ein guter Mensch, aber das konnte ich vor ein paar Tagen noch nicht wissen. Ich wollte es einfach nicht darauf ankommen lassen.“

„Es tut mir ebenfalls leid, Miss“, sagte Shiro, der betroffen wirkte. „Hätte ich geahnt, dass Sie der Pidge sind, den Keith schon so oft erwähnt hat, dann hätte ich nichts gesagt...“

„Schon gut“, winkte Pidge ab. „Es war nur eine Frage der Zeit, bis er es herausfindet. Und ich denke, ich vertraue Ihnen und Keith weit genug, dass ich mir keine Sorgen machen muss, dass mein Geheimnis öffentlich wird.“

Shiro nickte mit großem Ernst. „Sie haben mein Wort, Miss.“

„Daran zweifle ich nicht“, erwiderte Pidge und nickte ihm dankbar zu.

Dann klopfte sie Keith auf die Schulter. „Ich wünsche euch beiden jedenfalls noch einen schönen Tag.“

„Und wir Ihnen, Miss“, sagte Shiro und verbeugte sich kurz.

„So höflich.“ Pidge lachte, dann wandte sie sich ab und winkte ihnen zu. „Bis später, Keith!“

Keith starrte ihr noch immer nach, als sie schon längst wieder unter Deck verschwunden war.

„Ich wusste es wirklich nicht...“, murmelte er. Dann drehte er sich zu Shiro herum. „Warum hast du sofort gemerkt, dass sie ein Mädchen ist? Ich teile schon seit Tagen mit ihr ein Zimmer und ich hatte keine Ahnung.“

Shiro lächelte nur, dann streckte er seine Hand aus und legte sie an Keiths Wange.

„Vielleicht, weil ich weiß, wie es ist, vor der Welt verbergen zu müssen, wer ich wirklich bin“, sagte er leise und Keith sah Schmerz in seinen Augen, doch auch Entschlossenheit und etwas, das über bloße Zuneigung hinausging – etwas, das so tief ging, dass es ihm ein klein wenig den Atem raubte.

Er spürte, wie er mit dem Rücken gegen die Reling stieß, doch seine Augen lösten sich kein einziges Mal von Shiro, als der andere näher an ihn herantrat, bis sie sich berührten und sein Körper Keith vor dem Rest der Welt verbarg.

Keith schluckte kurz, dann öffnete er den Mund und leckte sich nervös über die Lippen. Shiros Augen folgten seiner Zunge, und plötzlich sah Keith eine stumme Frage in ihnen – eine Frage, auf die er unbewusst schon seit dem Moment gewartet hatte, in dem er den Blick der dunklen Augen zum ersten Mal auf sich gespürt hatte.

Und Keith gab sich einen Ruck und flüsterte:

„Ja.“

Doch das Gefühl von Shiros Lippen auf den seinen war all die Zweifel und Ängste der letzten Tage absolut wert gewesen.

 
 

Später in der Nacht

 

„Pidge!“

Keith stieß die Tür zu ihrer Kabine schwungvoll auf und sah sich suchend nach seiner Zimmerpartnerin um. Der Geruch von Feuer hing in der Luft und die panischen Rufe der Passagiere hallten durch die Gänge.

Pidge hockte neben dem Bett und schob gerade ihre Bücher und ein paar Kleidungsstücke in ihren Rucksack. Sie zitterte am ganzen Körper, und als sie den Kopf hob und Keith ansah, sah er die Angst in ihren Augen.

„Stimmt es, was sie sagen?“, fragte sie ihn und schlang die Arme um ihren Oberkörper. „Könnte es sein, dass wir untergehen? Ich habe ein paar Berechnungen gemacht, die Rettungsboote werden niemals für alle Passagiere reichen...!“

Sie war kurz davor, in Tränen auszubrechen, und Keith vergaß für einen Moment seine eigene Panik und zog sie in seine Arme.

„Ich will nicht sterben, Keith“, schluchzte sie an seiner Brust. „Ich will doch meine Familie wiedersehen...!“

Ihre Verzweiflung brach ihm das Herz, doch der Drang, sie zu beschützen, gab ihm zugleich Kraft und half ihm, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

„Und das wirst du“, versicherte er ihr mit mehr Überzeugung, als er in diesem Moment tatsächlich spürte.

Er schob sie auf Armlänge von sich und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.

„Sie evakuieren zuerst die Frauen und Kinder“, fuhr er dann fort und sah sie aufmerksam an. „Ich weiß, dies ist der denkbar schlechteste Moment, um danach zu fragen, aber hast du vielleicht irgendwelche Kleidungsstücke dabei, die dich, nun ja, du weißt schon...?“

„Meinst du einen Rock oder so?“ Pidge nickte kurz. „Ich habe einen von meiner Mutter dabei, ja, aus der Zeit, als sie noch ein junges Mädchen war...“

„Perfekt!“ Keith strahlte sie an. „Zieh ihn über und begib dich dann unverzüglich auf das Sonnendeck! Mach solange Lärm, bis sie dich auf ein Boot lassen, und lass dich nicht von ihnen abwimmeln!“

„Okay“, erwiderte Pidge und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. „Aber was ist mit dir?“

„Ich werde Shiro suchen“, entgegnete Keith, der schon wieder halb aus der Tür war. „Zusammen werden wir schon einen Weg finden, uns zu retten, mach dir um uns keine Gedanken.“

Und damit verließ er die Kabine und rannte wieder los.

 
 

Zuvor

 

Keith wusste später nicht mehr, wie sie es zu Shiros Kabine geschafft hatten.

Vergessen war das Frühstück, es zählte nur noch das Feuer, das Shiro mit seinem Kuss in ihm entfacht hatte, und das es Keith schwermachte, seine Finger bei sich zu behalten und den anderen Mann nicht bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu einem weiteren Kuss herabzuziehen, als sie gemeinsam das Schiff durchquerten.

Doch schließlich erreichten sie Shiros Kabine, die sie sorgsam von innen verriegelten, kaum dass sie über die Schwelle getreten waren.

„Keith“, raunte Shiro und lachte leise, als Keith – endlich, endlich – die Arme um seinen Nacken schlang und seine Lippen und Wangen mit Küssen bedeckte. „Nicht so ungeduldig, Keith, wir haben Zeit...!“

„Sei still“, gab Keith nur zurück, was Shiro erneut zum Lachen brachte. Doch dann verlangsamte er sein Tempo etwas und für ein paar Minuten küssten sie sich nur innig und ohne Eile, und mit jedem Kuss, den Shiro auf seine Lippen presste, schmolz Keith ein kleines bisschen mehr dahin.

Nach und nach begannen sie dann, sich gegenseitig auszuziehen, und obwohl die Nervosität in ihm mit jedem Kleidungsstück, das Keith zu Boden fallen ließ, immer größer wurde, überwogen doch das Gefühl von Richtigkeit, sowie Keiths Entschlossenheit, diese Sache durchzuziehen und Shiro auf die intimste aller Arten kennenzulernen.

Als sie schließlich beide nackt waren und auf dem schmalen Bett lagen, hielt Shiro mit seinen Küssen auf einmal inne.

„Keith“, sagte er leise. „Keith, sieh mich an.“

Keith öffnete langsam die Augen und fokussierte den Blick auf Shiro.

„Was ist los?“, murmelte er. „Warum machst du nicht weiter...?“

„Weil ich dir sagen möchte, dass du jederzeit aufhören kannst, wenn dir alles zu viel wird“, entgegnete Shiro und nahm sein Gesicht in die Hände. „Hörst du? Jederzeit.“

Als hätte Keith seine Entscheidung nicht schon längst getroffen.

„Ich vertraue dir, Shiro“, entgegnete er und lächelte schwach. „Und ich vertraue darauf, dass du mir nicht wehtust, jedenfalls nicht willentlich. Es ist okay, wirklich. Ich will das hier. Ich will dich.“

Er verstand nicht, wieso, aber plötzlich begannen Shiros Augen feucht zu schimmern und er stieß ein paar leise Worte auf Japanisch aus.

„Du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich...“

Er beendete den Satz nicht, sondern schloss die Augen und presste einen Kuss auf Keiths Lippen.

„Danke, Keith“, sagte er dann, als er sich wieder von ihm gelöst hatte.

Und das war das letzte, was sie für eine Weile sagen sollten.

Keith lernte bald, wie sensibel er an Stellen war, die er nie zuvor als sensibel wahrgenommen hatte, als Shiro sich alle Zeit der Welt nahm, um ihn mit seinen Küssen und Berührungen nach und nach zu einem vor Erregung hilflos zitternden Geschöpf zu reduzieren.

Als Shiro schließlich in ihn eindrang, kam es einer Erlösung gleich, und Keith bohrte seine Finger in den muskulösen Rücken des anderen Mannes und hielt sich an ihm fest, während er ihn Stoß für Stoß dem Höhepunkt entgegentrieb.

Und während er sich hart auf die Unterlippe biss, um einen verräterischen Aufschrei zu unterdrücken, als sein Orgasmus schließlich über ihn hinwegrollte, fragte sich Keith, wie er diese Sache mit Shiro jemals beenden sollte, ohne dass sein Herz dabei zerbrach.

 

Sie verbrachten den gesamten Vormittag in Shiros Kabine, und wenn sie sich nicht liebten, unterhielten sie sich leise über ihre Heimat, ihr Leben und ihre bisherigen Erlebnisse, sowie ihre Träume und Hoffnungen für die Zukunft.

Und mit jeder Stunde, die Keith Shiro dabei zuhörte, als dieser mit leuchtenden Augen von dem Haus erzählte, in dem er aufgewachsen war, oder den zahlreichen Menschen aus aller Welt, denen er während seiner Zeit in der Marine begegnet war, wurde Keiths Herz ein wenig schwerer und der Schmerz bei dem Gedanken, dass sich ihre Wege in nur drei Tagen wieder trennen würden, immer größer.

Doch er respektierte Shiros Entscheidung, zur Akademie zu gehen, und sprach ihn nicht noch mal auf das Thema an.

Stattdessen nahm er sich vor, jede weitere Sekunde zu nutzen, die er mit ihm hatte.

 

Als die Mittagszeit kam, wuschen sie sich an dem Waschbecken in Shiros Kabine und zogen sich an, um essen zu gehen. Keiths Magen knurrte mittlerweile ununterbrochen und Shiro musste lachen, als er ein lautstarkes Grummeln von sich gab.

„Ich sehe, ich habe dich hungrig gemacht“, sagte er mit amüsierter Miene, und Keith stieß ein Schnauben aus.

„Ja, ja, lach du nur“, entgegnete er, doch als Shiro seine Hand nahm, um sie kurz zu drücken, und ihn dabei mit warmen Augen ansah, konnte er ihm nicht lange böse sein.

Nach dem Essen verbrachten sie einige Zeit auf der Promenade. Sie wechselten nur wenige Worte, stattdessen beobachtete Keith aufmerksam die Menschen um sie herum. Er sah zahlreiche Geschäftsleute, meist aufstrebende Unternehmer, und mehrere hochrangige Mitglieder des Militärs, aber auch viele junge Leute und Familien, die so wie er in die neue Welt aufgebrochen waren, um etwas zu finden, wonach sie sich alle sehnten: eine neue Heimat.

Keith fragte sich, ob auch er eines Tages einen Ort finden würde, den er Heimat nennen konnte, und ob seine Mutter ein Teil davon sein würde. Der Brief seines Vaters und die Augen, die ihm jeden Morgen aus dem Spiegel entgegenblickten, hatten ihm klar gemacht, dass sie zu einem der Völker gehören musste, die den Kontinent schon bewohnt hatten, lange bevor die ersten Einwanderer ihn in Besitz genommen hatten. Das allein machte seine Suche nach ihr fast unmöglich schwer, und Keith bezweifelte, dass die Feder ihm eine große Hilfe sein würde.

Als hätte Shiro seine Gedanken gelesen, streckte er die Hand aus und schloss die Finger um Keiths Handgelenk.

„Du wirst sie finden, Keith“, sagte er leise. „Ich glaube fest daran.“

„Warum?“, fragte Keith mit ebenso leiser Stimme.

Shiro blieb stehen und wandte sich ihm zu.

„Weil ich an dich glaube, Keith“, erwiderte er und sein Lächeln war so offen und aufrichtig, dass Keiths Herz in seiner Brust einen Sprung zu machen schien.

„Shiro, ich...“, begann er schließlich mit trockenem Mund zu sprechen. „Kann ich... ich meine, wollen wir...?“

Shiros Augen verdunkelten sich.

„Ich hatte gehofft, dass du das fragst.“

 

Shiros Blick bohrte sich in den seinen, als sie sich im abendlichen Halbdunkel liebten, so als wollte er sich seinen Anblick für immer ins Gedächtnis einbrennen.

Komm mit mir, wollte Keith sagen. Ich weiß, dass du darüber nachdenkst.

Doch er verkniff sich die Worte und hob stattdessen die Hand, um eine Strähne aus Shiros schweißnassem Gesicht zu streichen, während er den Blick der dunklen Augen unverwandt erwiderte.

Wenn dies alles war, was er haben durfte, dann würde er es festhalten, so lange er konnte.

 

Es war schon spät in der Nacht, als Keith sich wieder anzog, um sich auf den Rückweg zu seiner Kabine zu machen.

„Bleib“, sagte Shiro leise vom Bett aus. „Es kümmert mich nicht, was sie morgen früh über uns sagen werden.“

„Ich weiß“, entgegnete Keith und beugte sich zu ihm herab, um ihn zum Abschied auf die Wange zu küssen. „Aber ich habe Pidge versprochen, dass ich heute Nacht wiederkomme, und ich will sie nicht allein lassen. Außerdem bleiben uns noch zwei weitere Nächte.“

Shiro seufzte, doch dann nickte er.

„Ich verstehe“, sagte er. „Schlaf gut, Keith.“

„Du auch, Shiro“, erwiderte Keith sanft. „Ich werde morgen früh wieder hier sein, versprochen.“

Und mit diesen Worten verließ er die Kabine.

Mit schwungvollem Gang und einem Lächeln auf dem Gesicht machte er sich auf den Rückweg zum Deck der dritten Klasse. Er konnte es nicht erwarten, Pidge für den verbalen Tritt in den Hintern zu danken, den Keith so dringend gebraucht hatte.

Er hatte jedoch kaum die Treppe erreichte, als eine schwere Erschütterung durch das gesamte Schiff ging und ihn fast von den Füßen riss.

Keith stolperte kurz, doch er war sofort wieder auf den Beinen und sah, wie sich um ihn herum nach und nach die Türen der Kabinen öffneten, als auch die anderen Fahrgäste mit verwirrten Mienen und verschlafenen Gesichtern auf den Gang hinaustraten.

„Was ist passiert?“, fragte ein junger Mann im Schlafanzug, der neben Keith stehengeblieben war.

„Ich weiß es nicht“, sagte Keith besorgt und sah die Treppe zum Deck hinauf. „Aber ich habe das Gefühl, wir werden es bald herausfinden...“

 

 

Jetzt

 

Fast dreißig Stunden waren seit dem Untergang der Titanic vergangen, als Shiro wieder die Augen aufschlug.

Keith, der seine Seite keinen Moment lang verlassen hatte und lediglich hin und wieder in einen unruhigen Schlaf gefallen war, war schlagartig hellwach, als er das leise Stöhnen vernahm.

„Shiro...!“, stieß er hervor und hustete dann.

Während der langen Zeit, die er in dem eisigen Wasser zugebracht hatte, hatte er beinahe mehrere seiner Zehen verloren und sich überdies eine schwere Erkältung zugezogen. Mittlerweile war sein Zustand zwar wieder einigermaßen erträglich, doch er war sehr geschwächt und sein Hals war so rau, dass er kaum sprechen konnte.

Ein Mitglied des Schiffspersonals wurde auf ihn aufmerksam und war sofort zur Stelle.

„Sie können zu Bett gehen, Sir“, sagte er zu Keith, als er sah, dass Shiro bei Bewusstsein war. „Wir werden uns um Ihren Freund kümmern.“

„Noch... noch einen Moment“, erwiderte Keith. „Bitte...!“

Der Mann schenkte ihm einen strengen Blick, doch er hatte sich in den letzten Stunden oft genug mit Keith gestritten, um zu wissen, wie stur er sein konnte, und so seufzte er schließlich.

„Na schön“, meinte er. „Sie haben fünf Minuten.“

Keith nickte dem Mann dankbar zu, dann drehte er sich wieder zu Shiro herum und nahm seine Hand.

„Hey...“, sagte er leise und lächelte. „Wie geht es dir...?“

Shiros Blick irrte einen Moment lang ziellos umher, als könnte er nicht richtig sehen, doch dann fokussierte er sich allmählich auf ihn.

„Keith“, erwiderte er mit so schwacher Stimme, dass der andere ihn nur mit Mühe verstand. „... ging mir... schon mal besser.“

Er verzog die Lippen zu einem Lächeln, das Keith mit Tränen in den Augen erwiderte.

„Wo... wo sind wir...?“, fragte er dann.

Keith ließ den Blick durch den Raum schweifen, den sie mit sechs weiteren männlichen Überlebenden des Unglücks teilten.

„An Bord der RMS Carpathia“, sagte er. „Sie haben alle, die überlebt haben, aus dem Wasser geholt und versorgt. Mittlerweile sind wir wieder auf dem Weg nach New York.“

Shiro schwieg, während er sich die Neuigkeiten durch den Kopf gehen ließ.

„Wie viele...?“, fragte er schließlich leise. „Wie... viele Menschen...?“

Doch Keith schüttelte nur den Kopf. „Ich weiß es nicht, Shiro. Nicht viele. Die meisten haben... sie haben es nicht geschafft.“

„... ich verstehe.“

Shiro schloss die Augen; das kurze Gespräch schien ihn viel Kraft zu kosten.

„Was ist... mit Pidge?“, wollte er dann wissen.

Keith lächelte. „Es geht ihr gut. Sie ist in einem der Quartiere für die Frauen untergebracht, aber ich bin mir sicher, dass wir sie spätestens in New York wiedersehen werden.“

Shiro nickte schwach. „Gut.“

Und das war das letzte, was er sagte, bevor sein Atem tiefer und gleichmäßiger wurde, und Keith erkannte, dass er wieder eingeschlafen war.

Mit schmerzenden Knien erhob er sich von seiner Position neben Shiros Bett und hinkte zu seinem eigenen, bislang unberührten Bett hinüber, um sich darauf niederzulassen.

Kaum hatte sein Kopf das Kissen berührt, war er auch schon eingeschlafen.

 

Sie erreichten New York am Abend des nächsten Tages.

Da das Schiffspersonal der Carpathia, das sich um sie gekümmert hatte, Shiro für einen Reisenden der dritten Klasse hielt, wurden Keith und er gemeinsam in einem Anwesen untergebracht, das man den überlebenden Passagieren dieser Klasse für die Dauer ihrer Erholung sowie des Einbürgerungsprozesses zur Verfügung gestellt hatte.

Noch am selben Abend kam ein streng aussehender Sekretär mit Klemmbrett und Schnurrbart in ihr Zimmer, um ihre Personalien aufzunehmen.

Keith gab wahrheitsgetreu alles an, woran er sich noch erinnern konnte, und ging davon aus, dass Shiro dasselbe tun würde. Umso mehr überraschten ihn die Antworten seines Freundes auf die Fragen des Sekretärs.

„Kenshiro Matsumoto“, erwiderte Shiro, als der Mann ihn nach seinem Namen fragte. „Ich bin Schriftsteller aus Yokohama.“

„Haben Sie Verwandte oder Freunde hier, die wir für Sie benachrichtigen können?“, wollte der Sekretär wissen und Shiro zögerte nur kurz, bevor er die Frage verneinte.

Nachdem der Mann schließlich wieder gegangen war, sah Keith Shiro nur ungläubig an.

„Warum hast du ihn angelogen?“, fragte er. „Du hast mir erzählt, du hättest eine Pflicht gegenüber deiner Familie zu erfüllen – und außerdem wolltest du deine Heimat wiedersehen...!“

Shiro lächelte schwach. „Japan wird auch in zehn Jahren noch immer da sein, wo es jetzt ist. Es gibt keinen Grund, vorher nicht noch ein wenig von der Welt zu sehen.“

Er nahm Keiths Hand und verschränkte ihre Finger miteinander. „Was aber in zehn Jahren nicht mehr hier sein wird, bist du, Keith. Ich will dich nicht verlieren. Und wenn es bedeutet, dass ich mein altes Ich für tot erklären und mich selbst neu erfinden muss, dann soll es eben so sein.“

Keith war für einen Moment so gerührt, dass er nicht wusste, was er sagen sollte.

Dann flog er in Shiros Arme und presste das Gesicht an seine Schulter.

„Ich danke dir, Shiro“, sagte er und schniefte leise. „Ich hatte mich bereits damit abgefunden, dich gehen zu lassen, und hätte nie gedacht, dass du... dass ich dich...!“

„Ich weiß, Keith“, erwiderte Shiro sanft und drückte ihn an sich. „Ich weiß... Aber ich bin jetzt hier, und ich werde an deiner Seite bleiben, solange ich kann. Wir werden dieses seltsame, neue Land zusammen erkunden und deine Mutter finden – du hast mein Wort.“

Keith nickte nur stumm.

Und er wusste in diesem Moment mit unerschütterlicher Sicherheit, dass dies alles war, was er jemals brauchen würde.


Nachwort zu diesem Kapitel:
... ich gebe zu, zwischendurch auf die üblichen Geschlechterklischees zurückgreifen zu müssen, hat mich innerlich die Augen verdrehen lassen, aber es waren tatsächlich vor allem die Frauen, die den Untergang der Titanic überlebt haben, während der Großteil der Männer gestorben ist. "Frauen und Kinder zuerst!" hat man damals wohl noch sehr ernst genommen. ;)

Danke fürs Lesen, ich hoffe, es hat euch gefallen. ♥ Komplett anzeigen

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