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23. Dezember 2010

von

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Moskau

Joachim wusste genau, wie das fünfte Rad am Wagen sich fühlte – oder in diesem Fall wohl das dritte Rad an einem Fahrrad. Er wusste es zu schätzen, dass Victor ihn mitgenommen hatte, war sich aber nur zu sehr dessen bewusst, dass er dies nur aus ihrer Freundschaft heraus gemacht hatte und weil er, wäre es nicht wegen Victor gewesen, bereits daheim in Wales gewesen wäre. So saß er aber zusammen mit Victor und Olga an einem Tisch in einem der feineren Moskauer Restaurants.

Er behielt den Blick gesenkt auf den Teller vor sich. Victor sah Olga nur alle paar Wochen, wenn nicht sogar nur alle zwei Wochen. Er hätte diese paar Tage sicher lieber mit ihr allein gehabt. Ach, es waren nicht einmal Tage, es waren nur wenige Stunden auf die wenigen Tage verteilt, die er seinen Onkel hier besucht hatte. Joachim war aus demselben Grund wie immer mitgewesen: Personenschutz und als persönlicher Arzt für seinen Freund. Beides nur Ausreden von diesem, um ihm Geld zuzuspielen, so kam es ihm vor. Jedenfalls heute, denn während ihres ganzen Aufenthalts in Russland war nichts von Bedeutung passiert. Keine Gefahr. Kein Anschlag. Gar nichts. Joachim ging jede Wette ein, dass Victor das gewusst hatte. Selbst wenn seine Familie dank ihrem Stand in den Vory etwas mörderisch war, so war es doch schlechter Stil jemanden drei Tage vor Weihnachten zu ermorden. Speziell da wenige scharf auf Victors Job in Südafrika zu sein schienen.

So saßen sie also hier. Die Mitte des Speisesaals des Restaurants zierte ein bunt geschmückter Weihnachtsbaum. Doch zumindest anders als er es selbst aus den UK kannte, war die Musik eher klassisch gehalten, anstatt zwischen fünf Weihnachtsliedern hin und her zu springen.

Es gab gutes Steak, dazu Kartoffeln und das in einer würzigen Soße. Herzhaft. Aber nicht klassisch Russisch.

Victor und Olga unterhielten sich auf Russisch, während Joachim versuchte nicht zuzuhören und doch dabei scheiterte.

„Kommst du über den Jahreswechsel noch einmal her?“, fragte Olga vorsichtig, während ihre Hand beinahe beiläufig Victors Hand berührte.

„Ja. Vielleicht. Ich muss sehen, was sich einrichten lässt.“ Bedauern klang aus Victors Stimme.

„Wir könnten uns auch woanders treffen. In Europa. Prag vielleicht? Ich habe Kontakte dort.“

Victor schenkte ihr ein kurzes, doch für ihn ungewöhnlich warmes Lächeln. „Das klingt nach einer guten Idee.“

Olga sah respekteinflößend aus, obwohl sie einen zierlich wirkenden Körper hatte und sie für eine Hexe und ihr Alter überraschend alt aussah. Sie war mit 43 fünf Jahre älter als Victor, sechs Jahre älter als Joachim damit. Die größtenteils grauen Haare waren nicht gefärbt. Auch gegen die Falten hatte sie weder magisch, noch mit Makeup etwas unternommen.

Vor allem war sie das Gegenteil von Karina, Victors Frau, die jünger als er war und die Joachim nie ohne Make-Up gesehen hatte.

Bedächtig kaute er auf seinem Steak, trank dann einen Schluck Wein. Er seufzte leise, ehe er es sich verkneifen konnte und zog damit Olgas Aufmerksamkeit auf sich.

„Entschuldige, Joachim“, meinte sie nun auf ihren deutlich akzentgeprägten Englisch. „Wir wollen dich nicht ausschließen.“

„Nun, ich will euch auch nicht in eurer Zeit stören“, erwiderte er rasch. Er fühlte sich wirklich schlecht. Es wäre ihm nur Recht gewesen, hätte Victor ihm einfach Geld gegeben, damit er selbst hätte Essen gehen können. Doch hatte er die Einladung auch nicht ausschlagen wollen. Es war ihm unhöflich vorgekommen.

„Schon gut“, erwiderte Victor. „Ich war dir soviel schuldig.“

Joachim lächelte nur milde und wurde sein schlechtes Gewissen dabei doch nicht los.

„Du fliegst morgen zu deiner Familie?“, fragte Olga nun.

„Heute Abend“, entgegnete Joachim. „Heute Abend kurz vor neun.“ Er lächelte matt. „Werde damit sicher nicht vor eins daheim sein.“

„Oh je ...“ Sie schenkte ihm einen mitleidigen Blick.

„Nun, wenn ich morgen nicht da bin um mit der Deko und dem Essen zu helfen ...“ Er ließ den Satz offen enden. Vielleicht tat er seiner Familie damit Unrecht, doch wenn er daran dachte, wie seine Tanten reagierten, war dieses Unrecht nicht allzu groß. Sein Magen zog sich zusammen bei den Gesprächen, die in den folgenden Tagen auf ihn warten würden. Er liebte seine Familie, doch hatten sich die Gespräche in den letzten Jahren wiederholt.

Warum er denn noch nicht wieder verlobt sei? Kenne er denn gar keine Frau? Er würde langsam ja alt. Er solle sich langsam um Nachwuchs bemühen. Immerhin waren sie eine der ältesten magischen Familien in Wales – sie hatten stolze Vorfahren. Seine eigenen nicht besonders tief gehenden Talente waren sicher ein Grund mehr, warum man auf begabteren Nachwuchs hoffte. Dabei fehlte ihm ja nicht einmal das Talent, doch seine magischen Resserven waren nie die größten gewesen und limitierten seine Zauber deutlich. Selbst wenn diese Dinge niemand aussprach.

Dann würde vor allem Tante Florence anfangen die Töchter magischer Familien aus dem Land durchzugehen. Viele von ihnen wahrscheinlich deutlich jünger als er. Sie würde vorschlagen, dass sie ja Treffen organisieren könnte. Er würde es bestimmt, aber freundlich und respektvoll ausschlagen.

Und schließlich würde sich das Gespräch den Entscheidungen seiner Karriere widmen. Wie lange er denn noch versuchen würde, dieses kleine Krankenhaus in Kapstadt am Leben zu erhalten. So würde er kein Geld machen. Er solle endlich seinen Stolz schlucken. Dann würde sein Vater oder sein Onkel vorschlagen, dass man ihm in diesem oder jenem Krankenhaus einen Job besorgen kann. Sein ruinierter Job, darüber würde man mit den nötigen Spendengeldern schon hinwegsehen. Über eine magische Karriere würde niemand sprechen, kam sie für ihn nicht wirklich in Frage.

Doch auch das würde er ausschlagen. Selbst wenn seine Verwandten dahingehend Recht hatten. Es war sein Stolz. Er war nicht bereit aufzugeben. Er wollte etwas erreichen – allein, selbstständig – und vor allem wollte er dies nicht für das Geld.

Er kannte das Spiel. Sie hatten es in den letzten beiden Jahren schon gespielt. Dabei war es lächerlich. Sie hatten damit schon angefangen, kaum dass Julia sich getrennt hatte.

„Joachim?“, fragte Olga.

Er sah auf. „Ja?“

„Du wirkst abgelenkt.“

„Entschuldige. Ich bin noch einmal durchgegangen, ob ich alles eingepackt habe“, log er. Schließlich wollte er sie nicht mit seinen Problemen belästigen. Sie konnte daran ohnehin wenig ändern. Und wahrscheinlich hatte sie selbst Probleme der Art, wenngleich anders. Immerhin war ihre Beziehung mit Victor nicht entsprechend der Tradition. Er hatte anderswo Frau und Kinder. Ihre Familie wollte ebenfalls einen Erben. Am besten jemand mit magischer Abstammung von beiden Eltern – etwas, womit Victor nie würde dienen können.

Offenbar dachte sie etwas Ähnliches, da sie seufzte. „Weihnachten bei der Familie, ja?“

Er nickte. „Weihnachten bei der Familie, ja.“

„Mit vielen Traditionen sicher.“

„Ich fürchte ja.“ Dabei waren die wenigsten davon magischer Natur, handelten viel mehr von Familientraditionen. Vom Essen, zu den Liedern, zu der Kleidung ... Seine Großeltern hatten sehr genaue Vorstellungen.

So teilten er und Olga ein Seufzen, ehe sie sich wieder dem Essen zuwendeten.
 

„Du hättest mich nicht fahren müssen“, meinte Joachim, während er im Wagen neben Victor saß. „Ich hätte auch ein Taxi ...“

„Ich bin dir soviel schuldig“, erwiderte Victor und schenkte ihm ein kurzes Lächeln. „Du hättest die letzten Tage vor Weihnachten nicht mit mir kommen müssen.“

Joachim presste seine Lippen aufeinander. Den Verdacht, dass der ganze Ausflug nur ein Versuch war, ihm Geld zuzuspielen, das er als Geschenk nicht angenommen hätte, sprach er nicht aus. „Danke.“ Er seufzte und schaute aus dem Fenster.

Wenigstens hatte es hier geschneit. Mehr noch, es war bitterlich kalt, wie man es vielleicht auch erwartet hatte. Es war damit wenigstens weihnachtlicher, als er es von seiner Heimat erwartete. Dort würde es wahrscheinlich vor allem wieder matschig und feucht sein. Ihm war die Erkältung der kommenden Woche praktisch garantiert, hatte er sie doch die letzten Jahre schon gehabt. Die Reise von Kapstadt auf die Nordhalbkugel war für sein Immunsystem nicht unbedingt gesund. Vor allem nicht, wenn er mit kleinen Neffen und Nichten und Cousinen rausgeschickt wurde, um Kinder zu bespaßen. Fraglos ein Versuch, ihn dazu zu bringen, selbst welche zu wollen – nicht, dass es eine gute Methode war oder er dies nicht ohnehin wollte.

„Ich wollte mit dir eigentlich noch über etwas sprechen“, begann Victor, als sie vor einer Ampel standen.

Joachim warf ihm einen Seitenblick zu. Es fühlte sich so falsch an, dass der Fahrer auf seiner linken Seite saß. „Ja?“

„Du brauchst eine vernünftige Möglichkeit Einkünfte zu erwirtschaften, oder?“

Joachim kam nicht umher zu schlucken. „Ja.“ Damit wandte er den Blick ab. „Aber ich komme schon klar.“

Davon ließ sich Victor nicht beirren. Etwas sagte Joachim, dass sein Freund dies schon die ganze Zeit hatte ansprechen wollen. „Die Sache ist, die Jobs für uns ab und zu sind nicht wirklich eine gute Einkommensquelle, oder?“

Worauf wollte er hinaus? Um seine Antwort möglich vage zu halten, nickte Joachim nur.

Kurz schenkte Victor ihm einen Blick. „Die Sache ist, ich habe über etwas nachgedacht. Und ... Na ja, es ist vielleicht moralisch nicht viel besser aus deiner Sicht, wobei ...“ Er unterbrach sich und strich sich kurz mit der Hand über das Kinn, ehe er schaltete. „Schau, ich kenne jemanden, der für eine Firma arbeitet.“ Die Art wie er das Wort „Firma“ betonte, ließ Joachim aufhorchen.

„Eine Firma?“

„Ja.“ Victor atmete tief durch. „Folgendes. Die Firma ist mehr oder minder eine Schleierorganisation, über die Söldnereiverträge und solche Dinge organisiert und vermittelt werden“, erklärte er dann.

„Ich bin nun wirklich kein Söldner“, murmelte Joachim.

„Nein, bist du nicht“, bestätigte Victor. „Lass mich bitte fertig erklären, ja?“ Er holte einen weiteren tiefen Atemzug. „Die Firma versorgt die 'Mitarbeiter' selbst, verstehst du? Medizinisch und so. Sie haben halt eine eigene Klinik und allen möglichen anderen Schnickschnack, sowie ich das verstehe. Deswegen ... Nun, ich habe mit jemanden da gesprochen und sie hätten eine Stelle für jemanden übrig, der etwaige Verletzungen flickt, Kugeln aus Organen zieht und solche Späße, weißt du? Es wäre so etwas wie eine fest Anstellung. Ein festes Gehalt. Mit Bonus, sollte es doch einmal Aufträge geben, bei denen du mitkannst.“

„Ah.“ Viel mehr viel Joachim dazu nicht ein. Söldnerei? Nun, theoretisch wusste er, dass sowohl in Kapstadt, als auch Johannisburg und Durban einiges in der Richtung organisiert wurde. International sogar. Es war ja bekannt genug, als dass es sogar in der Popkultur dazu Referenzen gab. Hier und da hatte er diese Dinge ja auch über Victor mitbekommen, doch eigentlich, ja, eigentlich war es ihm lieber aus diesen Dingen rauszubleiben. Nicht das es ihm gelang. Sein bester Freund war der Vorsteher der örtlichen Niederlassung der russischen Mafia. Und doch: Ohne Victor hätte er entweder nach Wales zurückreisen müssen oder wäre auf der Straße gelandet.

„Du musst dich noch nicht entscheiden“, meinte Victor. „Aber es wäre vielleicht besser für dich. Damit hättest du eventuell eine Chance deine Sachen wieder aufzubauen. Wieder auf die Beine zu kommen, wenn du verstehst.“

„Ich denke, ich verstehe.“ Seine Familie log er ohnehin schon lange an. Zumindest darin waren er und Victor einander nicht unähnlich. Wie wahrscheinlich auch darin, wie sie sich selbst belogen. So wie er sich selbst immer wieder einredete, dass Victor sich beständig aus den schlimmeren Vergehen seiner Familie heraushielt – auch wenn er genug gesehen hatte, um zu wissen, dass dies nur sein eigenes Wunschdenken war.

Der Flughafen war nun ausgeschildert. Sie bogen in die Richtung ab und für eine Weile herrschte Schweigen in dem Wagen.

Joachim wusste nicht, was er zu all dem sagen sollte. Er konnte nicht ewig so weitermachen wie zuvor und er war einfach nicht bereit zu seiner Familie zu fahren, zu sagen, dass er aufgab. Schon gar nicht an Weihnachten. Nein. Die Feiertage wollte er lieber genießen und zumindest ein paar Tage so tun, als sei alles okay.

In der Ferne kam der Flughafen nun auch in Sicht. Die Flutlichter waren in der Dunkelheit der russischen Nacht nicht zu übersehen. Die Wintersonnenwende war nahe. Als sie Näher kamen waren auch das Glasgebäude zu erkennen, inklusive Weihnachtlicher Zierden in den Fenstern. Joachim war früh genug, als dass er genug Zeit hätte, sich im Flughafen einen überteuerten Kaffee zu gönnen.

„Soll ich noch mit reinkommen?“, fragte Victor und meinte es deutlich als Angebot.

„Nicht nötig“, erwiderte Joachim und lächelte ihm zu. „Ich komm schon klar. Fahr lieber zu Olga zurück. Genießt die Nacht.“ Er bemühte sich um einen sanften Gesichtsausdruck.

„Danke.“ Victor nickte und bog auf die Einfahrt, statt in Richtung der Parkhäuser ab. Kurz darauf hielt er an einem der Ausstiegsstellen, die genau für so etwas gedacht waren. Er sah zu Joachim. „Du denkst darüber nach, was ich gesagt habe?“

Mehr als ein weiteres Nicken brachte Joachim nicht zustande. „Ja, werde ich.“ Er seufzte leise. „Danke dir, ja?“

„Gern.“

Damit stieg Victor aus, um seinen Koffer und die Umhängetasche aus dem Kofferraum des Wagens zu wuchten. „Und danke für das herbringen.“

„Auch das sehr gern“, erwiderte Victor mit einem Lächeln. „Frohe Weihnachten, Joachim. Ich hoffe, dein Familienbesuch wird nicht zu schlimm.“

„Schlimmstenfalls werde ich zwangsverheiratet.“ Joachim lachte halbherzig. Er beugte sich noch einmal zum Beifahrerfenster herunter, das Victor für ihn öffnete. „Dir auch frohe Weihnachten. Und einen guten Rutsch.“

„Wir werden sehen, wie gut der wird.“ Victor fuhr sich wieder über das glatte Kinn. Dann holte er tief Luft. „Nun. Bis im nächsten Jahr.“

„Bis im nächsten Jahr.“ Damit trat Joachim zurück. Er winkte, während Victor davonfuhr und wandte sich dann der mit Kunstschnee verzierten Scheibe des unteren Eingangs zu. Hier war der Weihnachtsschmuck deutlich auffälliger, als im Restaurant zuvor. Und dennoch änderte es nichts daran, dass nicht so wirklich Weihnachtsgefühle in ihm aufkommen wollten. Denn auch wenn er die Aufmüpfigkeit seiner Tante dahingehend hasste: Ein wenig hatte sie schon Recht. Wenn er Victor mit Olga sah, die vertrauten Blicke, die sanften Berührungen, dann kam er nicht umher ein wenig Neid zu fühlen. Er vermisste es. Das Weihnachten mit diesem gewissen anderen Menschen. Mit jemanden, den er auf nicht diese familiäre Art liebte.

Doch konnte er es keiner Frau verdenken, die an einem gescheiterten Arzt kein Interesse hatte – zumal er kaum dazu kam, sich unter Leute zu mischen, jemanden kennen zu lernen. Vielleicht war es keine schlechte Idee, zumindest irgendeine Anstellung zu suchen. Zumindest wieder etwas unter Leute kommen – Leute, die nicht zur russischen Mafia gehörten, hieß das.

Ja. Er konnte wenigstens über die Feiertage darüber nachdenken. Und vielleicht seiner Tante gegenüber so tun, als gäbe es jemanden. Selbst wenn sie ihn sofort durchschauen würde. Doch erst einmal die Gepäckabgabe, der Check-In und dann ein Kaffee. Vielleicht sogar mit übertriebenen Weihnachtsgewürzen.



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