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Common Ground

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Eigentlich wollte ich diesmal keine lange Vorrede schreiben, aber etwas muss ich doch loswerden:
Dieses Kapitel möchte ich der lieben Karma widmen. Du hast mich zu diesem Pairing gebracht, mit deinen Stories meine Vorstellung von den beiden und ihrer Dynamik maßgeblich geprägt und nicht zuletzt auch einiges von dem, was in diesem Kapitel passiert, in meinem Kopf ins Rollen gebracht. Ich danke dir dafür! <3

So, und damit jetzt endlich viel, viel Spaß! Ich habe schon von Anfang an unter anderem auf diesen Punkt hingearbeitet und ich hoffe, es gefällt euch! *hibbel*

Soundtrack (und titelgebender Song) zu diesem Kapitel: Thrice - My Soul Komplett anzeigen

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Are you ready?

Spätestens nach dem Abendessen hatten sich alle durch den Wettbewerb erhitzten Gemüter wieder etwas beruhigt und die meisten Schüler hielten sich einmal mehr im Gemeinschaftsraum auf. Duke und seine Freunde hatten das ebenfalls vor, standen aber schon seit mindestens fünf Minuten unschlüssig nahe der Tür und waren noch immer nicht zu einer Entscheidung gelangt, wie genau es nun weitergehen sollte. Trotz der über den Tag kultivierten Rivalität zwischen den Klassen fiel Duke auf, dass die vielfältigen Erlebnisse sie wohl letzten Endes doch irgendwie ein wenig zusammengeschweißt hatten: Die Billard-Spieler der Domino-High spielten gegen ein paar der Privatschüler und hatten sichtlich Spaß dabei. Zwei von Teas Zimmergenossinnen saßen mit Kentas Freundinnen an einem Tisch, hatten den Inhalt ihrer Schminktäschchen auf dem Tisch ausgebreitet und tauschten sich nun intensiv darüber aus. Am Bücherregal stand Ginta gemeinsam mit Satsumi und unterhielt sich angeregt mit ihr über ein Buch, das er offenkundig mit Begeisterung gelesen hatte. Als er es aus dem Regal zog und aufschlug, um ihr eine bestimmte Stelle zu zeigen, trat sie noch ein Stück näher zu ihm und Röte stieg auf ihrer beider Gesichter, als sich dabei ganz zufällig (oder auch nicht) ihre Arme berührten. Duke sah es aus dem Augenwinkel und ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht. Außerdem wusste Tea zu berichten, dass selbst Herr Takeda und Frau Kobayashi offenbar das Kriegsbeil begraben hatten: „Toko hat gemeint, sie hat aus unserem Zimmerfenster gesehen, dass die beiden mit einer Flasche Wein draußen vor der Herberge sitzen und siehe da, auf einmal können sie sich unterhalten wie normale Erwachsene!“

Ryou zuckte nur mit den Schultern. „Ist doch schön für sie! Und was machen wir jetzt mit dem angebrochenen Abend?“

Für Tristan war die Antwort sonnenklar. „Hallo?! Unseren Sieg feiern? Genug Alkohol haben wir auf jeden Fall und wenn Tea noch ein paar von den restlichen Mädels dazu holt, spielen wir Flaschendrehen! Oder ‚Wahrheit oder Pflicht‘! Das wär doch was! Oder, Alter?“

Mit einem vielsagenden Blick stupste Tristan Duke in die Seite. Der war sofort alarmiert. Gott, nein! Noch mehr selbstoffenbarende Klassenfahrt-Spiele konnte er wirklich nicht gebrauchen! Seine inoffizielle Runde „Wahrheit oder Pflicht und Wahrheit“ mit Kaiba, die er eigentlich gewonnen, aber dadurch irgendwie auch verloren hatte (es war kompliziert), reichte ihm für heute vollkommen aus. Und Kaiba wäre sicherlich wenig angetan von Was-auch-immer-er-ihm-offenbaren-würde, wenn er dabei eine Alkoholfahne hätte. Von den nicht abschätzbaren Konsequenzen abgebauter Hemmschwellen mal ganz zu schweigen. Mit einem Seufzen ließ Duke betont die Schultern sinken. „Ach, wisst ihr, heute wäre das wahrscheinlich fast ein bisschen Verschwendung. Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich für meinen Teil bin vom Lauf und vom Basketball ganz schön fertig. Ich würde vermutlich gar nicht lang genug durchhalten, um das ausreichend zu würdigen.“

Im Geiste klopfte Duke sich auf die Schulter. Wenn das nicht eine völlig glaubhafte und nachvollziehbare Begründung war! Auch Joey streckte sich jetzt und konnte ein dabei Gähnen nicht zurückhalten. „Jetzt wo du es so sagst, merke ich auch, dass ich ganz schön im Arsch bin.“

Ryou und Yugi nickten ebenfalls in stiller Zustimmung, sodass Tristan seine Pläne mit sichtlicher Enttäuschung begraben musste. „Okay, dann aber definitiv morgen! So ein grandioser Sieg muss doch begossen werden und ich habe keine Lust den ganzen Fusel wieder mit zurück nach Hause zu schleppen!“

Innerlich atmete Duke auf. Langsam sollte er wirklich ernsthaft über eine Drittkarriere als Schauspieler nachdenken. Mit einem entschuldigenden, hoffentlich nicht zu zufrieden aussehenden Lächeln klopfte er Tristan fest auf die Schulter: „Morgen auf jeden Fall! Versprochen!“

Während Tristan noch einmal leicht genervt mit den Augen rollte, meldete sich Yugi mit einem neuen Vorschlag zu Wort: „Ich hab’s! Wo wir doch letztens erst darüber gesprochen haben: Warum spielen wir nicht noch zwei, drei Runden Dungeon Dice Monsters?“

„Stimmt, gute Idee, Alter!“, erwiderte Joey schon wieder etwas enthusiastischer und sah zu Duke. „Hat tatsächlich ganz schön Bock gemacht, als du vorgestern gegen Kaiba gespielt hast!“

Dukes Gesicht hellte sich schlagartig auf und ein breites Grinsen legte sich auf seine Lippen.

„Gerne doch!“ Wie hätte er dazu auch nein sagen können?
 

Wie üblich war Seto nach dem Abendessen wieder hoch ins Zimmer gegangen, um weiter an den Entwürfen zu arbeiten. Seine Aufmerksamkeitsspanne war dabei allerdings in etwa so groß wie vor ein paar Tagen, als er krampfhaft versucht hatte, zu lesen und dabei – anders als jetzt – gerade nicht an die DDM-Duel Disk zu denken. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab, weg von den Technikplänen und hin zu der Frage, was Devlin ihm wohl später erzählen würde. Mit der Rückseite des Stiftes trommelte er selbstvergessen auf den Block vor sich und warf einen beiläufigen Blick auf seine Uhr. Vermutlich würde Devlin erst gegen zehn zurück kommen, er musste sich also noch über zweieinhalb Stunden gedulden.

Wenn du jetzt spielst und gewinnst, dann erfährst du etwas über mich, das niemand anderes weiß.

Devlin hätte ihm alles Mögliche anbieten können – warum ausgerechnet das? Wie war er darauf gekommen, dass es im Moment wenig gab, was ihn mehr interessierte und er deshalb kaum hätte ablehnen können? War er so durchschaubar geworden? Oder noch viel schlimmer: Ahnte Devlin etwas von seinem Zustand und nutzte das aus?

Und wenn ich es nicht tue oder … verliere?

Mhm, dann darf ich dir eine beliebige Frage stellen und du musst sie mir wahrheitsgemäß beantworten.

Tze, aber natürlich! Frustriert ob seiner plötzlichen Erkenntnis knallte er den Stift auf das Papier und massierte sich die Stirn. Das hatte dieser langhaarige Würfelfanatiker wirklich geschickt angestellt! Ein uralter Trick: Mal gewinnt man, mal verlieren die anderen. In jedem möglichen Ausgang behielt Devlin am Ende die Kontrolle. Und er hatte es nicht bemerkt, weil Devlin ihn so durcheinandergebracht hatte mit seinen Haaren, seinen Augen, seinem verdammten Schmuck, dieser verwirrenden Nähe. Wäre Seto in diesem Fall nicht das „Opfer“ gewesen, es hätte ihm beinahe Anerkennung abgerungen. Devlin hatte es wirklich aufs Perfekteste verstanden, seine (hormonell beeinträchtigte) Klaviatur zu spielen. Das war genau die Art von Fehlern und Unaufmerksamkeiten, die er schon bei der Diagnose seines ganz und gar unerfreulichen Zustands befürchtet hatte.

Andererseits… Er griff wieder nach dem Stift und tippte den Radiergummi am Stiftende nachdenklich an seine Lippen. Devlin würde etwas mit ihm teilen, das nach eigener Aussage niemand anderes von ihm wusste – demzufolge nicht einmal der Kindergarten. Es musste sich also wirklich um etwas Besonderes handeln, wurde doch in diesem äußerst kommunikativen Personenkreis sonst nahezu alles geteilt. Welchen Inhalts die Information auch immer sein mochte, sie würde ihn mit Devlin verbinden – und nur ihn. Unwillkürlich hoben sich Setos Mundwinkel ein wenig.

Seine Gedankengänge wurden jäh unterbrochen, als sich unerwartet die Tür öffnete, und Seto konnte gerade noch verhindern zusammenzuzucken. Schnell versuchte er sich wieder auf den Block und die Entwürfe zu konzentrieren und das warme, kribbelige Gefühl zu unterdrücken, das sich in seiner Brust auszubreiten begonnen hatte.

Duke trat herein, ging zielstrebig zu seiner Tasche und begann darin zu kramen, sodass Seto stark vermutete, dass er nur schnell etwas holen wollte. Als Seto ganz leicht den Kopf reckte und sah, wie Duke die beiden Würfelsäckchen und das DDM-Spielbrett hervorholte, konnte er sich eine kleine Spitze nicht verkneifen: „Und wer darf heute den Erfinder besiegen?“

In Dukes Augen trat ein amüsiertes Blitzen und er zuckte lächelnd mit den Schultern. „Wir werden sehen. Solange es nicht schon wieder du bist, ist es mir fast egal.“

Genau wie Duke musste nun auch Seto unweigerlich schmunzeln. Diese kleinen Wortduelle mit Devlin machten irgendwie Spaß. Seine Überlegenheit war hier weit weniger klar als bei Wheeler und darin lag unleugbar ein gewisser Reiz. Schon wandte sich der Schwarzhaarige wieder zum Gehen, da wurde Seto noch einmal ernst und setzte in seiner gewohnten Kühle hinterher: „Denk an unsere Abmachung, Devlin! Und übrigens: Ich sehe ganz genau, was du da getan hast! Glaub’ ja nicht, dass mir so etwas nochmal passiert!“
 

Er hatte zwar keinen blassen Schimmer, was Kaiba damit meinte, aber das hinderte (Ego-)Duke nicht daran, sich trotzdem ein wenig geschmeichelt zu fühlen und er nahm die Bemerkung mit einem nonchalanten Grinsen zur Kenntnis. Als er schon im Begriff war, die Türklinke nach unten zu drücken, musterten ihn die blauen Augen noch ein letztes Mal eindringlich. „Ich hoffe sehr für dich, dass sich das Spiel für mich gelohnt hat, Devlin!“

Mit der größten Selbstsicherheit, die er aufbieten konnte, gab Duke nur zurück: „Keine Angst, das hat es!“ und verließ schnell das Zimmer. Keine Ahnung, ob sich das bewahrheiten würde, aber was hätte er auch anderes sagen sollen? Kaibas hohe Erwartungshaltung war, nun ja, zu erwarten gewesen. Er musste sich wirklich etwas Gutes einfallen lassen. Kein Druck, wirklich gar keiner.

Aber er hatte ja noch etwa zweieinhalb Stunden.
 

Leider gingen zweieinhalb Stunden weitaus schneller vorbei, als Duke es für möglich gehalten hätte. Sie hatten mehrere Runden DDM in verschiedenen Konstellationen gespielt – Tristan gegen Yugi, Tea gegen Joey, Yugi gegen Ryou – und Duke war vollauf damit beschäftigt gewesen, seine Freunde zu coachen und zu genießen, dass sie sichtlich Freude beim Spielen hatten. So sehr es ihn zeitweise belastete, sie (und auch Kaiba) im Unklaren über seine tatsächliche Lage lassen zu müssen, aber dieses Spiel, sein Spiel war definitiv jede Unannehmlichkeit wert.

Als schließlich um kurz vor zehn Frau Kobayashi im Gemeinschaftsraum aufkreuzte, um sie auf ihre Zimmer zu scheuchen, wurde Duke mit Schrecken bewusst, dass er, anders als geplant, nicht eine Sekunde lang darüber nachgedacht hatte, was er Kaiba gleich „Gutes“ erzählen würde. Alles in ihm zog sich zusammen und sein Puls ging sprunghaft nach oben. Nachdem sie das Spiel vollständig eingepackt hatten, machten sie sich auf den Weg in ihre Zimmer und erst jetzt konnte Duke anfangen, das Problem zumindest im Hinterkopf zu wälzen. Zu seinem Leidwesen musste er sich aber noch zu sehr auf das Gespräch seiner Freunde und seine Umwelt konzentrieren, damit hoffentlich niemand etwas bemerkte.

Auf halber Treppe zu den Zimmern kam ihnen Herr Takeda entgegen und musste stehen bleiben, um sie vorbei zu lassen. Peinlich berührt und wenig erfolgreich versuchte er, eine weitere Flasche Wein hinter seinem Rücken zu verbergen. „Gute Nacht, meine Herrschaften, sehr gut gekämpft heute!“ Er reckte seine freie Hand kurz als Faust nach oben, bevor er die Finger zu einem lockeren Winken streckte. „Schlafen Sie gut!“

Kaum waren die Freunde an ihm vorbei, eilte er mit leicht federndem Schritt die letzten Stufen nach unten. Joey sah ihm mit einem Kopfschütteln nach. „Na, die bechern wohl heute auf jeden Fall noch ein bisschen!“

„Ja, im Gegensatz zu uns!“ Tristan hatte es offenbar noch immer nicht ganz verwunden, dass heute nicht gefeiert worden war. Mit einem sanften Stoß in die Seite versuchte Duke ihn zu besänftigen, auch um seine eigenes schlechtes Gewissen zum Schweigen zu bringen: „Hey, wir sind doch dann morgen dran, schon vergessen?“

„Hm.“, knurrte Tristan, „Hauptsache, es kommt dann morgen nicht auf einmal irgendwas anderes dazwischen!“

Im ersten Stock angekommen wünschte Tea ihnen eine gute Nacht und verschwand in ihr Zimmer, während Duke und die anderen noch ein Stockwerk höher stiegen. Vor der Zimmertür der Jungs musste Duke sich auch von ihnen verabschieden und kaum war die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen, begannen seine Gedanken mindestens ebenso wild los zu rasen, wie es sein Herz schon in den letzten Minuten getan hatte.

Ich hoffe sehr für dich, dass sich das Spiel für mich gelohnt hat, Devlin!

Noch immer hatte er keinen Plan.

Für seine Ohren unnatürlich laut hallten seine Schritte in dem ansonsten leeren Flur wider, als er langsam auf ihr Zimmer zuging. Obwohl er nicht einmal seinen Hoodie anhatte, schwitzte er und seine Hand zitterte ein wenig, als er sie auf den Türgriff legte.

Vielleicht, ganz vielleicht hatte Kaiba es ja in der Zwischenzeit vergessen?!
 

Als Duke den Raum betrat, saß der Brünette bereits umgezogen, aber noch immer mit dem Dino-Block in Händen im Bett. Eilig ging Duke zu seiner Tasche und schnappte sich sein Schlaf-Shirt, da sah Kaiba kurz von dem Block auf.

„Also? Bekomme ich jetzt endlich meine Belohnung dafür, dass ich diese absolut anspruchslosen Schachpartien erduldet habe?“ Die wachsende Ungeduld in seiner Stimme war kaum zu überhören.

Da ging sie hin, die winzige, vollkommen irrationale Hoffnung, Kaiba könnte ihre Abmachung vergessen haben. Als könnte er sich dadurch auch selbst überzeugen, versuchte Duke cool zu bleiben und zwang sich zu einem gewohnt offensiven Grinsen. „Oh, dein enormes Leid soll natürlich nicht umsonst gewesen sein! Mein Einsatz kommt sofort. Gib mir nur noch einen Moment!“

Mit diesen Worten flüchtete er ins Badezimmer; vordergründig, um sich umzuziehen und bettfertig zu machen, aber nicht zuletzt auch, um sich noch etwas Zeit zu verschaffen.

Nachdem er den ersten Punkt schnell erledigt hatte, tigerte er beim Zähneputzen rastlos in dem kleinen Raum auf und ab. So langsam musste wirklich, wirklich eine Entscheidung her, was er Kaiba gleich erzählen sollte! Was wusste bisher niemand von ihm? Im Kopf spulte er im Schnelldurchlauf sein bisheriges Leben ab. Dinge aus der Kindheit lagen natürlich nahe, bevorzugt noch aus seiner Zeit in Amerika, denn da hatte ihn ja hier noch niemand gekannt und er hatte mit seinen Freunden nie ausführlicher darüber gesprochen. Aber würde es Kaiba wirklich interessieren, dass er Klavier spielen gelernt, die japanisch angehauchten American Pancakes seiner Mum geliebt und mit sieben sein erstes eigenes Brettspiel entwickelt hatte? Nein, der Mehrwert dieser Informationen hielt sich dann doch in Grenzen, davon hatte Kaiba nichts. Es musste schon etwas mehr her, etwas, das eine gewisse Fallhöhe hatte. Die Wahrheit musste bei ‚Wahrheit oder Pflicht’ nun mal auch ein bisschen weh tun. Aber das grenzte die Auswahl natürlich sehr viel stärker ein.

Wären da nicht diese verfluchten Gefühle, hätte er Kaiba einfach offenbaren können, dass er auch auf Männer stand. Zack, Problem gelöst! Aber unter den aktuellen Bedingungen schied diese Option leider aus.

Irgendetwas anderes aus diesem Bereich? Sein erstes Mal vielleicht?

Nein, für ein erstes Mal war das eigentlich ziemlich gut gelaufen.

Irgendeine andere derartige Begegnung, die er bereute?

Gab es nicht.

Und davon mal ganz abgesehen war Kaiba vermutlich ohnehin nicht der Typ für die schmuddeligen Themen.

Nachdem er den Mund ausgespült und die Zahnbürste wieder verstaut hatte, wühlte Duke geistesabwesend in seinem Kulturbeutel nach der Haarbürste. Kaum war sie gefunden, löste er seinen Zopf, legte das Haargummi auf den Fliesenabsatz über dem Waschbecken und begann sich zu kämmen. Was gab es denn noch über ihn zu wissen, verdammt noch eins?! Und wie schaffte er es eigentlich immer wieder sich in solche Situationen hinein zu reiten?

Ein tiefer Seufzer entfuhr ihm, als er mit einem kurzen Kopfschütteln dem jungen Mann in die Augen sah, der ihm mit seinen langen, schwarzen Haaren und ungeschminktem Gesicht aus dem Spiegel entgegen blickte.

Er hielt in seiner Bewegung inne.
 

Das war mit absoluter Sicherheit etwas, das wirklich niemand von ihm wusste.

Und so langsam gingen ihm die Ideen aus.

Er schluckte. Sollte ausgerechnet Kaiba der erste andere Mensch sein, der ihn so sehen würde, seit …
 

Mein Gott, Junge, mach dir doch wenigstens einen Zopf!

Du siehst aus wie sie!
 

Seine Muskeln spannten sich unwillkürlich an. So nahe hatte er noch nie jemanden an sich herangelassen. Weder seine langjährigen Kollegen, noch seine Freunde und auch Max nicht, seinen mittlerweile fast ein wenig väterlichen Vertrauten und Förderer. Der kannte zwar vermutlich ein paar der Hintergründe, aber definitiv nicht alle Fakten, denn darüber gesprochen hatten sie nie.

Sollte, nein, konnte er das wirklich tun? Oder würde er in sich zusammenfallen wie ein schlecht gebautes Kartenhaus?

Sein Atem zitterte. Sein Herz bebte.

Was wäre die Alternative?

Raus spazieren, das Ganze abblasen und Kaiba gegenüber sein Gesicht verlieren?

Ganz sicher nicht!

Ihm etwas Irrelevantes oder Erfundenes auftischen?

Instinktiv schüttelte Duke den Kopf. Nein, auch keine gute Idee. Ein einziger durchdringender Blick aus den viel zu blauen Augen und er würde sofort auffliegen. Und für immer hier im Badezimmer zu bleiben, war leider ebenfalls keine wirkliche Option.

Haben … sie dich eigentlich gefragt, was heute wirklich los war?

Hatte er nicht erst gestern erlebt, dass auch Kaiba irgendwie verwundbar sein konnte?

Ausgehend von dem, was Duke über seine Vergangenheit wusste oder zumindest erahnen konnte, hatte der Brünette vermutlich sein eigenes, nicht eben kleines Päckchen zu tragen. Wenn ihn also jemand verstehen können sollte, dann doch wohl Kaiba, oder?
 

Noch einmal starrte er sein Spiegelbild mehrere Sekunden lang unverwandt an, dann stopfte er die Bürste mit einer gewissen Endgültigkeit wieder in seine Waschtasche zurück. In ihrem gewohnten Automatismus wanderte seine Hand sofort zu dem Haargummi, doch noch in der Bewegung stoppte er sich. Seine Eingeweide krampften sich spürbar zusammen, sein ganzes Inneres rebellierte, so unangenehm, so falsch fühlte es sich an, sich nicht die Haare zusammen zu binden und den Kajalstrich neu zu ziehen, in dem vollen Bewusstsein, dass er gleich einem anderen Menschen unter die Augen treten würde.

Erst nach dem dritten, tiefen Atemzug hatte er das Gefühl, dass sein Puls wieder einigermaßen unter Kontrolle war. Rasch löschte er das Licht im Badezimmer – nicht, dass er es sich doch noch einmal anders überlegte – und trat so wie er war hinaus.
 

Kaiba war noch immer vollauf in die Entwürfe vertieft und nahm keinerlei Notiz von ihm. Wortlos schlüpfte Duke halb unter die Bettdecke und stützte den Kopf auf die Hand. Nur das spärliche Licht von Kaibas Nachttischlampe erhellte den Raum und rief Duke noch einmal die ungewohnte Nähe und Privatheit ihrer Situation ins Bewusstsein. Erwartungsvoll sah er seinen Bettnachbarn an und versuchte seinen Atem dabei weiterhin möglichst ruhig zu halten. Erst nach mehreren Sekunden registrierte Kaiba aus dem Augenwinkel seine Anwesenheit und legte endlich den Block beiseite.

Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Die Augen des Brünetten weiteten sich sichtlich überrascht, als er sich Duke zuwandte, was diesem ein zufriedenes Schmunzeln entlockte. Der Effekt hatte zumindest schon mal Wirkung gezeigt. Noch einmal kratzte Duke sein gesamtes Selbstbewusstsein zusammen und deutete mit einem vorsichtigen Lächeln auf seinen Kopf. „Hiermit präsentiere ich feierlich die Sensation, die tatsächlich noch nie jemand vor dir gesehen hat – ausgenommen meine Eltern vielleicht. Das bin ich. Einfach so. Ohne Makeup, ohne Frisur, ohne Schnickschnack.“

Während er darum kämpfte, nach außen weiterhin vollkommen locker zu wirken, hämmerte sein Herz von innen beinahe gewaltsam gegen seinen Brustkorb – umso mehr, da die blauen Augen seines Gegenübers ihn noch immer leicht ungläubig und so durchdringend wie nie zuvor musterten. Schließlich hielt Duke das andauernde Schweigen nicht mehr aus.

„Also, was sagst du?“
 

Ohne seinen Blick auch nur eine Sekunde von dem Schwarzhaarigen abzuwenden, atmete Seto einmal hörbar tief ein und aus. Mit dieser Art von Enthüllung hatte er absolut nicht gerechnet. Musste er unbedingt etwas dazu sagen? Konnte er das … alles nicht einfach noch für eine Weile weiter in sich aufnehmen?

Die langen schwarzen Haare, die Duke in sanften Wellen über die Schultern fielen, seine unheimlich intensiven grünen Augen, die auch ohne den Kajalstrich absolut einnehmend waren, die längliche Narbe unter dem linken Auge, die erst beim näheren Hinsehen auffiel.

Wirklich niemand anderes hatte Devlin bis jetzt so gesehen? ‚Gut so!’, war Setos erster bewusster Gedanke dazu und es kostete ihn einiges an Willensstärke, einen sofortigen und im Vergleich zu gestern wesentlich extremeren Totalausfall zu verhindern. Nach einigen weiteren Sekunden aufgeladener Stille rang Seto sich endlich zu einer verbalen Antwort durch, auch weil der Schwarzhaarige ihn mittlerweile zunehmend verunsichert ansah. Er musste sich kurz räuspern, um seine Stimme wiederzufinden und stellte bemüht nüchtern fest: „Sieht auf jeden Fall besser aus als mit dem Geschmier. Wesentlich ernstzunehmender. Ich nehme an, du machst das wegen der Narbe?“
 

Unwillkürlich zuckte Duke kurz zusammen, schüttelte seinen reflexhaften Schreck aber sogleich wieder ab. Logisch, dass Kaiba die Narbe gesehen hatte, er war ja nicht geschminkt – das war doch der ganze Punkt der Aktion gewesen! Er sollte lieber froh sein, dass Kaiba nicht nach den Haaren gefragt hatte, aber verständlicherweise war wohl für Außenstehende die Tatsache, dass er als Mann Makeup trug, um einiges auffälliger, als dass seine Haare immer zusammengebunden waren.

Duke öffnete schon den Mund für eine Antwort, brachte dann aber kein Wort über seine Lippen, sondern nickte nur. Der intensive Blick des Älteren bohrte sich noch immer viel zu tief in sein Inneres. Schließlich konnte Duke ihm nicht mehr länger standhalten, drehte sich auf den Rücken und sah stattdessen an die Zimmerdecke. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Kaiba auf der anderen Seite sich ebenfalls hinlegte und den Blick genau wie er zur Decke richtete, so als gäbe es dort oben für sie beide irgendetwas Interessantes zu sehen. Im Unterschied zu vorhin war Duke in diesem Moment tatsächlich dankbar für die Stille, denn noch immer waren seine Eingeweide regelrecht zusammengeschrumpft und sein Herz hatte keinerlei Anstalten gemacht sich zu beruhigen. Die schiere Intensität der Situation hatte ihn kälter erwischt als gedacht. War das Ganze doch ein Fehler gewesen und er gar nicht bereit dafür?

So oder so, für einen Rückzieher war es jetzt zu spät.

Endlich brach er mit einem tiefen Seufzen erneut das Schweigen; immerhin hatte er Kaiba ja auch ein paar Informationen versprochen.

„Ich hab sie von meinem Vater.“

Umgehend drehte der Brünette den Kopf und sah aufmerksam zu ihm hinüber; Duke jedoch starrte weiter ausweichend an die Decke – ihm würde sonst wieder die Stimme versagen, das wusste er – und holte zögerlich zu einer ausführlicheren Erklärung aus: „Es war vor etwas mehr als drei Jahren. Kurz danach bin ich dann auch hierher nach Japan abgehauen. Nachdem meine Mutter …“

Er stockte und knetete fahrig die Bettdecke zwischen seinen Händen. Zu lange hatte er es nicht mehr laut ausgesprochen und die Gefühle und Erinnerungen drängten mit Macht zurück in sein Bewusstsein.
 

„Duke, mein Schatz, kommst du bitte mal runter ins Wohnzimmer? Dein Vater und ich, wir… müssen mit dir reden.“

Alarmiert und mit klopfendem Herzen kam er der Aufforderung seiner Mutter nach und stieg die Treppen hinunter. Wie er von einigen Klassenkameraden wusste, deren Eltern sich hatten scheiden lassen, bedeuteten Sätze wie diese selten etwas Gutes.

„Setz dich, mein Sohn!“, forderte sein Vater ihn auf und wies auf das Sofa. Duke gehorchte, während seine Mutter sich im Sessel gegenüber niederließ und etwas näher zu ihm rückte. Sein Vater blieb unruhig hinter ihr stehen. Irritiert beobachtete Duke, wie er seufzte, sich die Stirn massierte und dabei seine Augen abschirmte. So hatte er ihn noch nie gesehen. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.

Schließlich atmete auch seine Mutter einmal tief durch, beugte sich noch etwas weiter vor und legte ihm vorsichtig die Hand auf das Knie. Ihre sanften, grünen Augen blickten ihn ernst an. „Wie du ja weißt, waren wir – das heißt eigentlich ich – vor ein paar Tagen im Krankenhaus, weil es mir in den letzten Wochen nicht so gut ging.“

Dukes Augenbrauen zogen sich sorgenvoll zusammen und er nickte. „Aber du hast gesagt, es ist bestimmt nichts weiter.“

Sie schluckte und schloss kurz die Augen, ihr Kinn begann leicht zu zittern und für einen Augenblick musste sie sich abwenden. Liebevoll legte ihr sein Vater die Hand auf die Schulter. Das schien ihr die nötige Kraft zu geben, sich wieder zu sammeln und mit brüchiger Stimme weiter zu sprechen.

„Ich bin sehr krank, mein Schatz.“
 

Blaue Augen sahen Duke erwartungsvoll an und obwohl er spüren konnte, dass kein Drängen darin lag, brachte es ihn schließlich doch dazu sich zu überwinden und fortzufahren: „Meine Mutter, sie … ist gestorben, als ich zehn war. In den Jahren nach ihrem Tod … hat mein Vater sich sehr verändert und ist persönlich und dann bald auch geschäftlich immer weiter abgerutscht. Irgendwann stand er ziemlich mit dem Rücken zur Wand und brauchte dringend ein paar Erfolge. An diesem Punkt war ihm praktisch jedes Mittel recht und er wollte auch meine Ideen für sich verwenden. Ich war damit aber alles andere als einverstanden und hatte kein Problem das auch zu sagen, wenn das Gespräch darauf kam. An einem Abend hatten wir … einen besonders hässlichen Streit. Er hatte schon ziemlich viel getrunken und sein Whiskyglas noch in der Hand. Ich war zu dem Zeitpunkt zwar schon einiges gewöhnt, aber so wütend hatte ich ihn noch nie erlebt. Auf einmal gab es so ein knirschendes Geräusch und das Glas in seiner Hand war zersplittert. Als er dann … zugeschlagen hat, waren noch ein paar Splitter in seiner Hand. Ich kann von Glück reden, dass es nicht das Auge erwischt hat, sondern nur diese Narbe dabei herauskam.“

Duke wandte seinen Kopf nun doch leicht rechts, um Kaibas Reaktion sehen zu können; dessen Gesichtsausdruck war jedoch nicht zu deuten. Mit wiedergefundenem Mut drehte Duke sich zurück auf die Seite, um sich von Neuem den blauen Augen seines Gegenübers zu stellen. Jetzt, wo es einmal raus war, war es zumindest ein wenig leichter. „Seitdem die Wunde einigermaßen verheilt ist, überschminke ich sie. Es hilft mir, die Distanz zu wahren, das Ganze von mir fernzuhalten. Flucht nach vorn, wenn du so willst. Ich hatte auch keine Lust auf ständige Fragen, wo diese dämliche Narbe herkommt, das … würde ich wahrscheinlich nicht aushalten. So bin ich eben nur der gutaussehende Typ mit dem Kajalstrich und dem Würfel im Ohr, das hat komischerweise noch nie jemand hinterfragt.“

„Und bescheiden nicht zu vergessen…“, warf der Brünette leise mit einem minimalen Schmunzeln ein. Darauf musste Duke unweigerlich kichern, und das, obwohl einem signifikanten Teil von ihm eher zum Heulen zumute war. Dann zuckte er mit den Schultern und seufzte. „Dieses Erlebnis und mein Vater sollen keine Macht über mich haben. Ich … will das einfach nur vergessen.“

Das Kissen raschelte leise, als der Brünette nur bedächtig mit dem Kopf schüttelte.

„Was?“ Duke konnte seine Irritation nicht verbergen.

Seine innere Unruhe stieg sofort wieder an, als Kaiba sich ebenfalls auf die Seite drehte und damit automatisch den Abstand zwischen ihnen weiter verringerte. Der durchdringende Blick des Brünetten steigerte die Beklommenheit nur noch, denn wieder war es, als könne Kaiba in ihm lesen, wie in einem offenen Buch.

„Nimm es mir nicht übel, Devlin, aber das ist absoluter Blödsinn!“

Erstaunt wanderten Dukes Augenbrauen nach oben. Normalerweise war Kaibas Direktheit etwas, das Duke durchaus schätzte, aber jetzt und hier kam sie in seinen Augen einer absoluten Anmaßung gleich. Entsprechend frostig fiel seine Antwort aus. „Lass mich raten, du wirst mir sicherlich auch gleich erläutern, wie du zu diesem, ich möchte mal sagen, überraschenden Urteil kommst.“

Anscheinend war es tatsächlich ein Fehler gewesen, sich ausgerechnet Kaiba so zu offenbaren. Was genau hatte er sich davon eigentlich erhofft?!

Der Brünette atmete einmal gedehnt aus und begann mit ruhiger Stimme und der ihm eigenen Selbstverständlichkeit zu erklären: „Ganz einfach: Diese Narbe ist offensichtlich ein Teil deiner Vergangenheit, wenn auch ein schmerzhafter. Aber sie gehört zu dir, sie hat dich zu dem gemacht, der du heute bist. Anstatt das zu akzeptieren, mit ihr zu leben und damit das Thema wirklich abzuschließen, versteckst du sie. Damit lässt du überhaupt nichts hinter dir. Im Gegenteil, du lässt dich jeden Tag aufs neue von ihr und damit auch von deinem Vater einschränken. Mit diesem kleinen, schwarzen Strich“, er deutete auf Dukes Auge, „gibst du ihm immer neue Macht über dich und dein Leben. Im Grunde spielst du ihm nur in die Hände.“

Duke wich seinem Blick aus, nahm einen tiefen Atemzug und dachte einen Moment über das Gehörte nach. Schließlich nickte er langsam. „Hm, so hab ich das noch nie betrachtet.“

Das war definitiv eine neue Sichtweise auf die Dinge. Fragen begannen in seinem Kopf umherzuschwirren und er konnte sich kaum entscheiden, welche er zuerst stellen sollte.

„Mal angenommen, ich würde den Kajal tatsächlich weglassen: Dann muss ich doch aber ständig erklären, was das für eine Narbe ist.“

Der Brünette rollte nur mit den Augen und schnaubte verächtlich. „Du musst gar nichts! Die anderen sind doch völlig egal; das geht niemanden etwas an! Ja, vielleicht wundern sich die Leute kurz und mit Sicherheit wird die Frage aufkommen, aber am Ende hast ganz allein du die Macht, zu entscheiden, ob und wie du antwortest. Und irgendwann, wenn das Thema nicht mehr neu genug ist oder die Leute verstanden haben, dass sie keine ernsthafte Antwort erhalten werden, hören sie auch auf zu fragen.“

„Sprichst du aus Erfahrung?“ Die Frage war ganz von allein über Dukes Lippen gekommen.

Für einen Moment hing Stille im Raum, bevor Kaiba leicht schmunzelnd mit einer Gegenfrage antwortete: „Was glaubst du?“

Ein vorsichtiges Lächeln stahl sich nun auch auf Dukes Lippen. „Ich glaube, ja.“

Der Brünette nickte nur bedächtig, sagte aber nichts weiter dazu, sondern wechselte abrupt das Thema. „Warum ich?“

Wieder fühlte Duke sich merkwürdig ertappt. „Hm?“
 

„Warum ich? Warum hast du das ausgerechnet mir gezeigt?“

Diese Frage hatte Seto schon die ganze Zeit beschäftigt und er war unsicher gewesen, ob er sie stellen sollte oder nicht. Doch wie er es auch drehte und wendete, es führte kein Weg daran vorbei. Er musste es einfach wissen. Von all den anderen Menschen in Devlins Bekanntenkreis, mit denen er zum Teil sogar eng befreundet war, hatte er sich entschieden, sich ausgerechnet ihm so zu offenbaren. Seto wagte es kaum, die möglichen Implikationen in Betracht zu ziehen. Das nervöse Flattern in seiner Magengegend, das ihn schon die ganze Zeit unterschwellig begleitet hatte, drängte sich einmal mehr machtvoll in sein Bewusstsein, während er voller Spannung die Antwort des Schwarzhaarigen erwartete.
 

Duke blickte kurz zur Seite, biss sich auf die Unterlippe und raschelte nervös mit den Füßen unter der Decke. Ein kühler Windstoß zog durch das angekippte Fenster und sorgte dafür, dass sich die Härchen auf seinem Unterarm aufstellten. Auch wenn man sie eigentlich hätte erwarten können, hatte er mit dieser Frage nicht gerechnet. Sein Herz raste. Was, wie viel konnte er sagen, ohne sich zu verraten?

Schließlich sah er den Brünetten wieder an und zwang sich zu einer leisen Antwort, die – so gut es eben ging – der Wahrheit entsprach: „Ich … weiß nicht genau. Weil ich wollte. Weil ich das Gefühl hatte, dass du das irgendwie … verstehen kannst. Besser als die anderen.“
 

Seto schluckte und erwiderte nichts, sondern sah den Schwarzhaarigen einfach weiter an, während die Worte wie Echos in seinem Innern nachhallten.

Weil ich wollte.

Er hatte Mühe, seinen Atem ruhig zu halten und ihm war, als müsste sein Herz jeden Augenblick seinen Brustkorb durchstoßen.
 

Duke konnte die ungewohnte Röte förmlich fühlen, die auf seine Wangen trat. Warum sagte Kaiba gar nichts? Hatte er jetzt etwa doch zu viel gesagt? Oder eher zu wenig? Mit einem verlegenen Lächeln schüttelte er den Kopf. „Lächerlich und bescheuert, ich weiß.“

Für einen kurzen Moment drehte er sein Gesicht in das Kissen, um dem unverwandten Blick seines Gegenübers erneut zu entkommen.
 

Als der Schwarzhaarige den Blick wieder hob, fielen ein paar dünne Haarsträhnen in sein Gesicht; er schien sie jedoch – anders als Seto – gar nicht zu bemerken. Noch ehe er es hinterfragen oder sich stoppen konnte, glitten Setos Finger einem jahrelang eingeübten Reflex folgend wie von selbst über Dukes Stirn und strichen die verirrten schwarzen Strähnen vorsichtig beiseite.

„Wie bei meinem kleinen Bruder – immer Haare im Gesicht!“

Kaum hörte er seine eigene Stimme leise diesen sanften Tadel aussprechen, wurde ihm schlagartig bewusst, dass er gerade eine Grenze übertreten hatte. Seine Augen weiteten sich und er fror von einer Sekunde auf die andere regelrecht ein.

„Ich … es tut …“, setzte er schon zu einer äußerst artikulierten Entschuldigung an und wollte gerade seine Hand wegziehen, aber zu seiner Überraschung wurde sie noch in der Luft festgehalten. Setos Atem stockte und sein Blick wurde von grünen Augen gefesselt, die ihn ansahen, als wüsste ihr Besitzer selbst nicht ganz, wie es nun weitergehen sollte.

Ganz langsam führte Duke Setos Hand wieder zurück zu seinen Haaren, die zwar ebenso schwarz waren, sich aber so viel weicher und glatter anfühlten als Mokubas unbändige Strubbelmähne. Bedächtig wurde sie weiter nach unten geleitet, zu Dukes Hals, wo er dessen Wärme und für einen kurzen Moment auch dessen Puls fühlen konnte – ebenso unregelmäßig und schnell, wie sein eigener – und von dort weiter nach hinten in Dukes Nacken, wo sich die feinen Härchen durch die Berührung aufrichteten. Vorsichtig ließ der Schwarzhaarige Setos Hand los und überließ sie wieder sich selbst. Überdeutlich spürte Seto, wie Dukes Finger dabei sanft sein Handgelenk und seinen Unterarm hinab strichen und auf jedem Zentimeter eine Gänsehaut hinterließen. Noch immer konnte er kaum atmen, sein Herz schlug rasend schnell und beinahe im wahrsten Sinne des Wortes bis zu seinem Hals – so sehr, dass er glaubte, jeden Moment daran zu ersticken. Die grünen Augen seines Gegenübers hielten seinen Blick unerbittlich gefangen und er sah sich nicht mehr in der Lage irgendeinen klaren Gedanken zu fassen. Ganz von allein und ohne sein bewusstes Zutun vergruben sich seine Finger noch einmal in den pechschwarzen Haaren und Seto nahm erneut das wunderbar fließende, seidige Gefühl an seinen Fingerspitzen wahr. Vorsichtig strich er über die warme, zarte Haut von Dukes Hals wieder nach vorne und mit der Außenseite seiner Finger nach oben über die Wange des Schwarzhaarigen. Behutsam zeichnete er schließlich mit dem Daumen die dünne Narbe unter Dukes Auge nach, der dabei hörbar die Luft anhielt, kurz die Augen schloss und beinahe unmerklich lächelte.
 

Was folgte, brannte sich nur bruchstückhaft, aber dafür umso deutlicher in Setos Erinnerung ein.

Das leise Rascheln der Decke, als der Schwarzhaarige die verbliebenen Zentimeter zwischen ihnen überwand. Weiche Lippen, die sich vorsichtig und tastend auf seine eigenen legten.

Seine Überraschung und der unmittelbare Impuls, den federleichten Kuss ebenso sanft zu erwidern.

Ihr kurzes Innehalten, Dukes heißer Atem an seinen Lippen und das Gefühl, als würde etwas in ihm explodieren.

Ein zweiter Kuss, länger, intensiver. Dukes Zunge, die beinahe zärtlich über seine Lippen strich und der er Einlass gewährte. Erregung, die sich in seinem Körper ausbreitete. Und dazwischen immer wieder diese tiefgrünen Augen, trunken von Verlangen wie seine eigenen.

Mit seinem letzten Funken bewusster Wahrnehmung erkannte Seto, dass er gerade dabei war, kampflos die Führung abzugeben. Sofort ergriff er selbst die Initiative und erkundete mit der Zunge nun seinerseits Dukes Mund. Doch der Schwarzhaarige war äußerst hartnäckig und Seto spürte deutlich das leicht belustigte Zucken von Dukes Mundwinkeln an seinen Lippen, als er schon nach nur wenigen Sekunden versuchte, den Spieß wieder umzudrehen. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte Seto so stark um die Oberhand und Kontrolle ringen müssen und es gleichzeitig so sehr genossen, sich einfach fallen zu lassen. Ein wohliger Schauer überlief ihn, als Dukes Hand auch durch seine Haare strich, danach fordernd seinen Hals hinabwanderte und sich schließlich fest und voller Leidenschaft in seine Schulter drückte. Schwer atmend unterbrach der Schwarzhaarige den Kuss – eine Sekunde, zwei, viel zu viele – und strampelte hastig seine Decke beiseite. Seto schaltete sofort, hob seine Decke leicht an und ließ ihn zu sich. Seine linke Hand legte sich in Dukes Nacken und zog ihn noch enger an sich, jetzt wo es keinerlei störendes Hindernis mehr zwischen ihnen gab. Die Wärme des fremden Körpers so nahe an seinem benebelte seine Sinne noch mehr und umgehend suchten seine Lippen wieder die des Schwarzhaarigen, so als würde er nur dadurch noch am Leben gehalten.

Dankbar nutzte Seto den erweiterten Handlungsspielraum und erkundete mit der rechten Hand Dukes Oberkörper, der ihm schon heute Morgen durch das hellgraue T-Shirt so verlockend erschienen war und bedauerlicherweise noch immer von ebendiesem verborgen wurde. An Dukes Hüfte angekommen fanden seine Finger wie von selbst den Weg unter den weichen Stoff, um endlich die Haut darunter direkt zu spüren. Als seine Finger sich zum ersten Mal sanft über Dukes Bauch tasteten, entwich dem Schwarzhaarigen ein leises Keuchen und Seto gab sich vollends der schieren Macht seiner Erregung und seiner Gefühle hin.
 

Duke hatte keinen blassen Schimmer, was hier gerade passierte und es war ihm auch vollkommen egal – Hauptsache, es hörte nicht auf! Endlich keine Masken mehr, keine Fassaden, nichts verstecken, nichts hinterfragen. Als er fühlen konnte, wie Setos Hände sein T-Shirt immer weiter nach oben schoben, während sie Zentimeter um Zentimeter seinen Oberkörper erforschten, richtete er sich kurz auf, zog sich das T-Shirt hektisch über den Kopf und schmiss es achtlos hinter sich. Zurück in der Umarmung des Brünetten nahm er ihren Kuss jedoch nicht sofort wieder auf, sondern versank einen Moment lang in den blauen Augen seines Gegenübers. Wie ein Tsunami überschwemmte ihn eine ungeahnte Wärme und sanft strich er noch einmal durch Setos haselnussbraunes Haar. Ein verzücktes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Genauso wunderbar weich, wie er es sich die ganze Zeit vorgestellt hatte.

Seine Erregung drängte sich nun jedoch ebenfalls zunehmend in sein Bewusstsein und voller Ungeduld machte er sich auch an Setos Oberteil zu schaffen. Der Brünette verstand den Wink mühelos, streifte das Shirt ab und warf es beiseite. Neugierig erkundeten Dukes Hände Setos Brust und Bauch, zeichneten sanft die Linien der Muskeln nach, bevor er sich auf den Rücken rollte und den Brünetten halb mit sich zog, um ihn ganz mit seinen Armen umfangen zu können. Seine Finger krallten sich regelrecht in Setos Rücken, als der Brünette die Gelegenheit nutzte, um von seinen Lippen abzulassen und sich mit leidenschaftlichen Küssen über seine Wange, sein Kinn und dann seinen Hals hinab bis zu seinem Schlüsselbein zu arbeiten. Wieder entfuhr Duke ein kurzes Keuchen, als Setos Hände dabei an seinen Flanken entlang nach unten wanderten und schließlich auf seinen Hüften verharrten, quälend nah am Bund seiner Boxershorts. Duke schloss die Augen, biss sich auf die Unterlippe und genoss die fordernden Berührungen und Küsse, die so anders waren als die zärtlich-verschüchterten der Mädchen, mit denen er bis jetzt im Bett gewesen war. Der Brünette schob sich wieder nach oben, nahm einmal mehr seine Lippen in Besitz und zog ihn schwungvoll mit sich zurück auf die Seite. Berauscht von heißem Verlangen presste Duke sich noch enger an ihn und bewegte zum ersten Mal ganz bewusst seine Hüfte gegen die Härte in Setos Schritt. Erstickt stöhnte der Brünette in ihren Kuss hinein und es brachte Duke beinahe um den Verstand.
 

Mit einem Mal polterte es laut auf dem Flur. Gedämpft drang die leicht lallende Stimme von Frau Kobayashi durch die Tür: „Huch, Takeda-san, Sie sind aber stürmisch!“

Die Antwort des Lehrers blieb unverständlich.

„Also Takeda-san, Sie sind mir ja Einer! Na, wenn das so ist, sollten wir erstmal wieder aufstehen und in mein Zimmer gehen, bevor wir noch die Schüler wecken. Dann sind wir ganz ungestört, wenn wir …“ Auch Frau Kobayashis Stimme wurde immer leiser und entfernte sich, bis man schließlich irgendwo am anderen Ende des Gangs das Zuschlagen einer Tür hörte.
 

Ein Bulldozer hatte die Wand ihres Zimmers eingerissen und ein riesiger Scheinwerfer war auf sie gerichtet. So in etwa kam es Duke zumindest vor, als er durch die Worte und lauten Geräusche brutal aus seinem Gefühlsrausch zurück in die Realität gerissen wurde. Noch immer konnte er den schweren, heißen Atem des Brünetten auf seiner Haut spüren, lagen sie doch nach wie vor halbnackt und eng umschlungen unter derselben Decke. Konnten sie noch vor ein paar Sekunden ihre Blicke kaum voneinander lösen, brachte Duke es nun kaum mehr über sich den Brünetten auch nur anzusehen, der seinen Blick ebenfalls krampfhaft gesenkt hielt. Weiterzumachen, wo sie unterbrochen worden waren, war keine Option.

Der Moment – ihr Moment – war unwiederbringlich vorüber.

Reden, geschweige denn darüber reden, war mindestens genauso unmöglich, mal ganz davon abgesehen, dass vermutlich keiner von ihnen zu sinnvollen Äußerungen überhaupt in der Lage gewesen wäre. Was auch immer hier gerade passiert war, hatte sich verselbstständigt und war irgendwie … eskaliert.

Duke schluckte und brachte es als Erster über sich, das peinliche Schweigen zu durchbrechen. „Wir sollten … langsam schlafen, glaube ich.“

Seto nickte nur mechanisch.

Die unangenehme Stille hing weiterhin fast greifbar im Raum, während sie sich überstürzt voneinander lösten und Duke unter seine eigene Decke zurückkehrte. Als hätten sie sich aneinander verbrannt, vergrößerten sowohl Duke als auch Seto merklich ihren Abstand zueinander. Das Knipsen von Setos Nachttischlampe und die Dunkelheit, die sich daraufhin im Raum ausbreitete, hatten beinahe etwas Erlösendes.


Nachwort zu diesem Kapitel:
So.
Herzlich willkommen in der Story-Mitte, alles bis hierher war nur Vorgeplänkel ;D

Im nächsten Kapitel erwartet die beiden dann eine Extra-Portion Awkwardness. Ich freu mich schon ein bisschen drauf. ;P

Bis spätestens dahin und
LG
Eure DuchessOfBoredom Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (6)

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Von:  Kuro_Kami
2021-10-13T13:40:58+00:00 13.10.2021 15:40
Da liest man die ersten 19 Kapitel und bekommt dann offenbart das es alles nur vorgeplänkel war. War minimal geschockt. Aber hey das Kapitel war sehr schön und wenn wir erst jetzt in Mittelteil ist werden noch viele schöne Kapitel folgen. Ich freu mich drauf.♥️
Antwort von:  DuchessOfBoredom
13.10.2021 16:22
Danke für deinen lieben Kommentar und freut mich, dass es dir bis jetzt gefällt! :)
"Vorgeplänkel" war natürlich ein bisschen überspitzt formuliert, aber ja, die Klassenfahrt geht sieben Tage – wir sind jetzt gerade mal am Ende von Tag 4 angekommen und es geht laut Plan auch danach noch ein klein wenig weiter. Also da kommt jetzt schon noch ein bisschen was. ;)
Von:  Kuro_Kami
2021-10-12T19:07:17+00:00 12.10.2021 21:07
Sehr schönes Kapitel ♥️
Von:  empress_sissi
2021-10-10T14:13:10+00:00 10.10.2021 16:13
Neiiiinnnn, das ist wirklich ungerecht 😭 jetzt haben die beiden wirklich lange gebraucht, um sich ihren Gefühlen (oder in Setos Fall ihren hormonindizierten Verhaltensweisen) zu mindest in kleinem Maßen klar zu werden und dann kommt diese plumpe Unterbrechung. Da hätten sich die Lehrkräfte wohl besser weiter angiften sollen, weil da wäre wohl jedem die Stimmung flöten gegangen.
Bin mal gespannt, wie der nächste Tag ablaufen wird 🙈
Von:  Hypsilon
2021-10-04T20:51:39+00:00 04.10.2021 22:51
Das war ja wirklich ausgezeichnet. Ich hab mich wirklich lange gefragt, was Duke Seto verraten könnte die Backstory ist wirklich toll, sehr berührend und total passend und dann findet Seto so schöne Worte, Himmel, war der Aufbau schön.
Auch wenn es ein bisschen schade ist, finde ich es irgendwie auch gut, dass sie unterbrochen wurden - und hallo?! Wer sie da bitte qie unterbrochen hat? Das ist ja echt ne geile Wendung, tja, ne Flasche Wein ;)
Auf die Awkwardness freu ich Licht schon direkt.
Ob Duke zu sich und seiner Narbe steht, bin ich übrigens auch schon sehr gespannt, hach, man will ihn einfach drücken und lieb haben ❤ und Kaiba auch, ob er sich Duke auch mehr öffnet?^^
Von:  Yui_du_Ma
2021-10-04T18:02:42+00:00 04.10.2021 20:02
War ein gutes Kapitel! ^.^
Da ist man richtig gespannt, wie es da weiter geht.
Wie sich das entwickelt hat mit dem Eröffnen des Geheimnisses von Duke.
Fand es gut beschrieben.
Von:  Mopsfloh
2021-10-03T16:54:53+00:00 03.10.2021 18:54
Was für ein gutes Kapitel!
War echt gespannt, was Duke Seto sagen bzw. zeigen wird und hatte das mit der Narbe irgendwie schon wieder ganz vergessen. Und wie sich das alles dann entwickelt hat! *_*
Einfach toll, kann es kaum erwarten, bis es weiter geht.
Antwort von:  DuchessOfBoredom
03.10.2021 19:40
Freut mich sehr, dass es dir gefallen hat!
Ich glaube, das mit der Narbe als Grund für Dukes Kajalstrich hatte ich bis hierhin auch noch gar nicht thematisiert, das wurde jetzt erst enthüllt. Ehrlich gesagt hab ich auch keine Ahnung, ob das überhaupt zum YGO-Canon gehört. 🤷‍♀️ In meinen Headcanon ist es jedenfalls durch Fun Fair von Karma gekommen und ich hab das hier nur weiter gedacht. ;)

Bis zum nächsten Mal dann! :)


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