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DEATH IN PARADISE - 01

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Kriminalistische Kunstkniffe

Da es einen Gefangenen in der Polizeistation gab, war Sergeant Sarah Dechiles bis Mitternacht auf ihrem Posten geblieben, bis Derrick Faulkner sie abgelöst hatte. Nachdem die Polizistin gegangen war, hatte er kurz in den Zellentrakt geschaut, wo Dayana Tanguy friedlich schlief. Anschließend hatte er seinen Laptop eingeschaltet und sich nochmal in Bezug auf die Rechtslage auf den neuesten Stand gebracht.

Derrick Faulkner war bewusst, dass Commissioner Patterson irgendwann hinter sein kleines Spielchen kommen würde. Doch in diesem Fall war ihm das Wohl des Mädchens wichtiger, als irgendwelche Paragraphen. Er konnte nur hoffen, dass Commissioner Selwyn Patterson dafür Verständnis aufbringen würde.

Nachdem er eine Weile darüber gegrübelt hatte, stand er auf und begab sich zum Whiteboard. Sinnend sah er auf den Spielstand, den er oben notiert hatte. Er war sich sicher, dass der Ermordete damit einen Hinweis auf seinen Mörder hatte geben wollen und es oblag ihm, intelligent genug zu sein, diesen Hinweis zu verstehen. Doch im Moment verstand er an diesem Hinweis rein gar nichts.

Die 30 hatte er zuerst mit den beiden Frauen in Verbindung gebracht. Doch von Florence hatte er vorhin erfahren, dass die Werbefirma von James Watt und seiner Frau THIRTY DEGREES MARKETING hieß. Also musste er sich auf die Bedeutung der Null konzentrieren. Nach den Aussagen der Hinterbliebenen hatte Henderson Wayne seinen Schwager eine Null genannt. Das würde passen, doch es fehlte ein brauchbares Motiv. Das fehlte bisher auch bei beiden Frauen. Mittel und Möglichkeiten hatten alle drei gehabt, darum war es so wichtig, auf das Motiv zu kommen. Also würde er, nach der Verurteilung des Mädchens, mit voller Energie in diese Richtung ermitteln müssen.

Derrick Faulkner schloss seine Augen und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Florence hatte zu berichten gewusst, dass sich das Verhältnis zwischen Henderson Wayne und seiner Verlobten, nach dem Unfall, immer mehr angespannt hatte. Doch das mochte daran liegen, dass Natalie Lorrimer den Unfallwagen gefahren hatte.

Faulkner seufzte leise. Laut des medizinischen Befundes war Wayne an den Folgen des Treppensturzes gestorben. Wer immer den Mann getötet hatte, er oder sie hatte das Ganze vermutlich sehr genau geplant. Nach seiner Erfahrung gab es bei Morden keine Zufälle. Nach einer Weile begannen seine Gedanken, sich im Kreis zu drehen. Er döste weg und wachte erst wieder auf, als draußen das erste fahle Licht des anbrechenden Morgens die Landschaft in ein unwirkliches Licht tauchte.

Derrick Faulkner reckte sich und stand auf, um sich einen Kaffee zu machen. Ein kurzer Regenschauer hatte etwas Abkühlung gebracht. Doch auch mit knapp 20 Grad Celsius war der anbrechende Morgen ungewohnt warm für ihn. Es würde sicherlich einige Zeit brauchen, bis er sich an das hiesige Klima gewöhnt hatte.

Faulkner zog sein Hemd aus, legte den Rückenhalfter mit dem Messer ab und zog sich danach wieder an. Den Halfter nachdenklich betrachtend legte er ihn schließlich wieder in die Schublade seines Schreibtisches, der er sie gestern entnommen hatte.

Darum bemüht leise zu sein, um Dayana nicht aufzuwecken, schüttete sich Faulkner eine große Tasse Kaffee ein, als er durchgelaufen war, und begab sich wieder hinter seinen Schreibtisch. Dabei fragte er sich zum wiederholten Mal, ob es falsch war, was er zu tun beabsichtigte. Doch auch diesmal sagte er sich, dass der Mensch vor Paragraphen gehen musste. Andererseits gefiel es Faulkner nicht, das Recht in dieser Form auszulegen. Er fragte sich, ob er diese Ausnahme machen durfte. Seine Befürchtung war, dass es keine bleiben würde, wenn er diese Grenze erst einmal überschritten hatte.

Noch gestern Nachmittag hatte er mit Richterin Anne Stone telefoniert, um für heute eine Verhandlung anzuberaumen. Florence hatte behauptet, dass diese Frau nicht umsonst als Eiserne Lady bezeichnet wurde. Nun, die Reibeisen-Stimme hatte, nach der Meinung des Inspectors, zu dieser Bezeichnung zumindest schon einmal gepasst.

Unzufrieden mit sich selbst zog der Polizist das Notizbuch zu sich heran, schaltete seinen Laptop ein und lenkte sich damit ab, im Internet Informationen über Henderson Wayne zu suchen. Das Notizbuch aufschlagend, jedoch nichts notierend, las er einen längeren Artikel, der sich mit dem Autounfall der Tennislegende beschäftigte. Nach der Durchsicht einiger weiterer Artikel darüber schloss er das Notizbuch wieder, frustriert darüber, dass er nichts gefunden hatte, was sich zu notieren gelohnt hätte.

Der Polizist trank den Rest seines Kaffees, erhob sich und schritt dann auf die Veranda hinaus. Sich mit den Ellenbogen auf das Geländer lehnend blickte er über die Dächer der tiefer liegenden Häuser auf das Meer hinaus. Nicht mehr lange und Honoré würde zum Leben erwachen. Faulkner hatte die Zeit, kurz vor Sonnenaufgang, stets gemocht. Sie versetzte ihn in eine ruhige und friedfertige Stimmung. Auf den Wellen spiegelten sich bereits die Reflexe der aufgegangenen Sonne, die sich, hier in Honoré, noch hinter den östlichen Hügeln verbarg. Zu seiner Rechten schlug die Kirchturmuhr sieben.

Zu Überraschung des Inspectors tauchte bereits zehn Minuten später Florence Cassel auf, denn ihr Dienst begann erst um acht Uhr.

Sie begrüßten sich knapp, als sie oben bei Faulkner ankam. Nach einem kurzen Moment erschien Florence wieder auf der Veranda und stellte sich zu ihrem Vorgesetzten. Es dauerte eine Weile, bis sie leise meinte: „Sir, Sie hatten es gestern ziemlich eilig, mit Richterin Stone zu telefonieren.“

„Ich möchte den Fall mit der Diebin abschließen, Florence“, erwiderte der Mann ausweichend. „Damit wir uns voll und ganz auf den Mord konzentrieren können.“

„Haben wir das Alter der Diebin schon bestätigt, Sir.“

Der Inspector sah Florence an und erwiderte: „Nein, das erledigen wir heute Nachmittag. Es gibt jedoch vorerst keinen Grund zu der Annahme, die Diebin wäre nicht achtzehn. Sie macht zumindest den Eindruck. Ist vermutlich eine reine Formsache.“

Die Augenbrauen der Polizistin hoben sich. „Sollten wir das nicht zuerst erledigen?“

Der Inspektor sah die Frau nur unwillig an und sie hakte sofort nach: „Sie kennen schon die Antwort darauf, nicht wahr, Sir?“

„Es vermeidet eine menschliche Tragödie, die Fakten in diesem Fall nicht zu früh zu kennen, also fragen Sie nicht weiter. Ich will Sie da nicht mit hineinziehen, Florence.“

„Das haben Sie bereits getan, Sir. Wir sind ein Team. Also, reden Sie mit mir.“

Der Mann zögerte einen Moment lang, bevor er eindringlich erklärte: „Was ich weiß ist, dass die Diebin bei sich Zuhause die Hölle erwarten würde. Sagen wir also, es wäre besser, wenn sie zunächst eine dreimonatige Strafe auf Saint-Marie verbüßen müsste. Dann würde sich dieses Problem quasi von selbst erledigen.“

Florence Cassell, die gut zwischen den Zeilen lesen konnte, fragte nach: „Was sagt das Gesetz dazu?“

„Von dieser Seite her ist die Sache einwandfrei. Sie muss nur vor einer Verifizierung ihres Alters rechtskräftig verurteilt werden. Was durchaus wahrscheinlich ist, da ich mich bis dahin auf die Aussage der Festgenommenen stützen kann. Also bitte, Florence.“

Die Frau sagte für eine ganze Weile nichts. Endlich deutete sie ein Lächeln an und fragte sanft: „Sie haben Mitleid mit dem Mädchen und entscheiden deshalb mit dem Herzen, statt sich neutral an das Gesetz zu halten, wie es Ihre Pflicht wäre? Das ist riskant, Sir.“

„Das weiß ich.“

Florence nickte. „Wie ich bereits sagte, wir sind ein Team. Ich halte ihnen also den Rücken frei. Doch das hier sollte ein absoluter Ausnahmefall bleiben, denn ich kann und will so etwas nicht permanent decken. Sie verstehen mich, Sir?“

Derrick Faulkner sah seine Kollegin dankbar an. „Ich verstehe Sie, Florence und ich verspreche Ihnen, dass ich das nicht zur Gewohnheit werden lasse. Der Commissioner wird mir dafür ohnehin die Ohren langziehen, wenn er Wind davon kriegt.“

„Vermutlich wird er das, Sir. Doch der Commissioner ist kein Unmensch.“

Faulkner nickte nur und folgte nach einem Moment der Polizistin ins Innere der Station, um nach Dayana Tanguy zu sehen.
 

* * *
 

Der Prozess gegen Dayana Tanguy, wegen mehrfachen Diebstahls, dauerte nicht lange. Es kam, wie Derrick Faulkner es dem Mädchen vorausgesagt hatte. Richterin Anne Stone verurteilte sie zu drei Monaten Dienst bei der Stadtreinigung von Honoré. Da sie obdachlos und mittellos war, wurde ihr eine einfache kleine aber saubere Unterkunft gestellt. Bereits am nächsten Tag sollte sie ihren Strafdienst antreten.

Als Derrick Faulkner mit der Verurteilten das Gerichtsgebäude verließ, um sie zu der neuen Unterkunft zu fahren, kam ihnen Commissioner Selwyn Patterson entgegen. Der Chief schickte das Mädchen zum Land-Rover und wappnete sich innerlich für das, was nun vermutlich auf ihn zukommen würde. Zumindest schwante Faulkner nichts Gutes, bei der finsteren Miene seines Vorgesetzten.

„Guten Morgen, Inspector Faulkner“, sprach Patterson seinen Untergebenen mit tragender Stimme an. „Auf ein Wort.“

Derrick Faulkner nahm unwillkürlich Haltung an und erkundigte sich neutral: „Natürlich, Commissioner. Was kann ich für Sie tun?“

Einen bezeichnenden Blick zu dem Mädchen am Land-Rover werfend grollte der ergraute Commissioner: „Für diese Frage ist es wohl etwas zu spät, Inspector. Aber immerhin könnten Sie mir die Gründe nennen, für ihr unkonventionelles Verhalten.“

Der Inspector sah in den Augen des Commissioners, dass dieser genau wusste, was im Gange war und er entschloss sich dazu, dem Mann reinen Wein einzuschenken. Im Verlauf der Beichte stellte er klar, dass er allein es gewesen war, der entschieden hatte.“

Nachdem der Inspector geendet hatte, sah der Commissioner erneut zu dem Mädchen und danach zu seinem Untergebenen. „Ich habe so eine Ahnung, welche Gefühle Sie bei dieser Aktion geleitet haben, Inspektor. Also schön. Ich werde mich vor Sie stellen. Weil Sie ehrlich waren und sonst keinen verpfiffen haben. Aber sollten Sie mir bei einer wichtigen Sache hier auf Saint-Marie querschießen, dann werde ich Sie - wie könnte man das am besten sagen? Dann werde ich Sie kielholen lassen. Auf dem neuesten Flugzeugträger Ihrer britischen Majestät und das wird bestimmt kein Vergnügen, Inspector.“

Die Haltung des Inspectors straffte sich noch etwas mehr. „Verstanden, Sir.“

„Dann wünsche ich Ihnen noch einen guten Tag.“

Der Commissioner schritt in Richtung des Gerichtsgebäudes davon und Derrick Faulkner sah im mit gemischten Gefühlen nach. Nach einem Moment aufatmend schritt er zu dem Rover, wo ihn Dayana fragend musterte.

„Der sah ziemlich sauer aus, Inspector.“

„Der war ziemlich sauer“, gab der Mann trocken zurück. „Aber er hat mir nicht den Kopf abgerissen und ich habe meinen Job noch. Also gut gelaufen, könnte man sagen.“

„Danke, Sir.“

Der Polizist winkte ab. „Schon gut. Jetzt setze ich dich erst einmal bei deinem neuen Zuhause ab. Du versprichst mir, dass du in den nächsten drei Monaten keinen Ärger machen wirst, denn ich habe mich für dich ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt.“

Das Mädchen nickte ernsthaft und stieg in den Wagen.

Als sie vor der Unterkunft hielten, zerrte Derrick Faulkner seine Geldbörse heraus und entnahm ihr 300 Ostkaribische Dollar. Sie dem Mädchen reichend meinte er: „Davon kaufst du dir etwas zu essen und ein paar neue Klamotten. Das ist nicht geschenkt, Dayana. Nachdem du deine Strafe verbüßt, und einen festen Job gefunden hast, zahlst du mir das Geld irgendwann zurück. Das hat aber keine Eile.“

Dayana Tanguy wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihre Augen schimmerten feucht, als sie zögernd die Geldscheine nahm. Sie schluckte und fragte: „Warum tun Sie das, Mister?“

Derrick Faulkner sah das Mädchen offen an und schluckte trocken. Etwas kratzig erwiderte er: „Ich hatte eine Tochter. Als sie acht Jahre alt war, wurden sie und meine Frau ermordet. Für sie kann ich nicht mehr da sein, aber für dich schon. Du erinnerst mich an meine Tochter Nancy, obwohl sie dir gar nicht ähnlich sah. Darum möchte ich nicht, dass du dein Leben verpfuschst, zumal du gar nichts dafür kannst.“

Das Mädchen sah ihn stumm an und nahm ihn nach einer Weile spontan in die Arme.

Als sie ihn wieder freigab, sagte Faulkner betont grob, damit seine Emotionen ihn nicht übermannen konnten: „Jetzt raus mit dir, du Racker. Ich habe zu tun.“

Das Mädchen stieg rasch aus. Draußen winkte Dayana ihm noch einmal zu und betrat das zweistöckige Gebäude, vor dem der Rover stand. Faulkner wartete eine Weile und sah sinnend durch die Windschutzscheibe des Rovers, bevor er den Motor startete und losfuhr.
 

* * *
 

Zurück auf dem Revier sah Florence Cassell ihren Vorgesetzten fragend an. „Wie ist es gelaufen, Sir?“

Derrick Faulkner grinste schief und machte eine wiegende Geste mit der linken Hand. „Die Verurteilung ist durch. Gleich nach dem Verlassen des Gerichts habe ich den Commissioner getroffen. Nun, Sie sehen es ja. Der Kopf ist noch dran.“

Sowohl Sarah Dechiles, als auch Wellesley Karr, die mit der letzten Bemerkung des Inspectors nichts anzufangen wussten, sahen von Faulkner zu Florence, die jedoch nur unmerklich den Kopf schüttelte.

Derrick Faulkner entging dies während er unverwandt auf das Whiteboard starrte. Nach einer Weile sah er zu Florence und fragte, etwas abwesend: „Haben wir die Kopie des Testaments, Detective-Sergeant?“

„Ja, Sir. Wie ich es vermutet hatte, ist seine Verlobte, Natalie Uma Larissa Lorrimer, die Hauptbegünstigte. Seine Schwester Ann-Doreen bekommt nur einen Anteil von zwanzig Prozent des Vermögens von Henderson Wayne.“

„Natalie Uma Larissa Lorrimer“, echote Sarah Dechiles. „Das ist kein Name, das ist ein Beruf. Jede Wette.“

„Ja, ist schon ein ziemlich krasser Name“, meinte Faulkner zustimmend. „Doch dafür kann sie letztlich nichts. Was sagt der Unfallbericht, aus England, Sergeant?“

Sarah Dechiles konzentrierte sich und gab Auskunft: „Damals hat besagte Frau mit dem krassen Namen hinter dem Steuer des Wagens gesessen. Sie hatte Glück und trug lediglich einige Rippenprellungen und einen Armbruch davon.“

„Was Sie so Glück nennen“, spöttelte Faulkner und zwinkerte Dechiles dabei zu. „Sieht nicht danach aus, als wäre das bereits ein Mordversuch gewesen. Außerdem hätte sie das gesamte Vermögen bekommen, wenn sie verheiratet gewesen wären.“

„Das potenzielle Motiv liegt also eher beim Ehepaar Watt“, stellte Florence Cassell fest und blickte dabei fragend zu Faulkner.

Zweifel lagen in den Augen des Inspectors. „Nur, falls Henderson Wayne nicht vorhatte, sich von seiner Verlobten zu trennen oder sein Testament zu ändern.“

„Wir haben in den sichergestellten Unterlagen des Verstorbenen kein solches Dokument gefunden und es scheint auch keine Hinweise oder Gerüchte über eine Trennung zu geben, Sir“, warf Wellesley Karr ein. „Übrigens, Sir, die Verlobte von Henderson Wayne hat vorhin angerufen und darum gebeten, dass wir den Rollstuhl zurückgeben. Wie sie sagte, möchte sie ihn aus sentimentalen Gründen wiederhaben.“

„Falls sie nochmal anruft, dann sagen Sie ihr, dass wir den Rollstuhl noch für unsere Untersuchungen brauchen“, gab der Inspector zurück. Danach sah er in die Runde und meinte: „Findet das außer mir noch jemand schräg? Ich meine, wer stellt sich ausgerechnet einen Rollstuhl als Andenken an eine Person in die Bude? Wozu gibt es denn Fotos?“

Keiner von Derrick Faulkners Untergebenen schien eine Idee zu haben und der Inspector sagte nach eine Weile: „Das dachte ich mir.“

Nachdem Faulkner noch eine Weile nachdenklich dagestanden hatte, sah er zu Florence und meinte zu ihr: „Ich hole jetzt den Rollstuhl und wir zwei machen ein paar Versuche auf der Veranda, Florence.“

„Was denn für Versuche, Sir?“

„Werden Sie dann schon sehen.“

Nach nebenan, in den Asservaten-Raum verschwindend, hörten Derrick Faulkners Untergebene ihn für eine Weile rumoren, bevor er wieder mit dem Rollstuhl bei ihnen auftauchte. Er schob ihn nicht, sondern trug ihn umständlich zur Tür hinaus.

Florence Cassell sah Dechiles und Karr verwirrt an, bevor sie ihrem Vorgesetzten hinaus auf die Veranda folgte.

Draußen hatte Derrick Faulkner inzwischen den Sport-Rollstuhl dicht an der Holztreppe abgesetzt, die hinunter zur Vorveranda führte, auf der eine Reihe von großen Blumenkästen stand. Von dort aus führte die Steintreppe hinunter auf die Straße.

Florence kam näher und fragte: „Was jetzt, Sir?“

Faulkner deutete auf den Rollstuhl und erklärte: „Ich setze mich jetzt in den Rollstuhl, dessen Bremse noch immer angezogen ist, Florence. So, wie es war, als wir den Stuhl vorgefunden haben.“

Faulkner umrundete den Rollstuhl und setzte sich hinein. Etwas hin und her rutschend, bis er einigermaßen bequem saß, stellte er schließlich seine Füße auf die entsprechenden Fußplatten.

Florence beobachtete den Inspector dabei, wie er damit begann, heftig in dem Rollstuhl vor und zurück zu schaukeln. Dabei musste sie sich ein Lachen verbeißen, da es so aussah, als würde ihr Vorgesetzter bei einem Heavy-Metal-Konzert voll mitgehen. Nach einem Moment warnte sie: „Seien Sie vorsichtig, Sir.“

Derrick Faulkner hörte auf zu wippen und sah seitlich zu Florence. „Ein Versagen der Bremse können wir ausschließen. Auch einen Unfall, denn die Bremse funktioniert so gut, dass Wayne unmöglich aus Versehen über die Kante des Treppenabsatzes gerollt sein kann. Das bedeutet im Umkehrschluss eins: Jemand hat nachgeholfen.“

„Wie wir bereits vermutet haben, Sir.“

Faulkner nickte. „Richtig, Florence. Stellen wir mal fest, wie kräftig jemand sein muss, um den Rollstuhl, mit Inhalt, umkippen zu können.“

„Sir?“

„Versuchen Sie, mich aus dem Rollstuhl zu kippen, Florence. Keine Sorge, ich bin ja nicht so hilflos, wie Henderson Wayne.“

„Wenn Sie meinen, Sir.“

Etwas zögerlich trat die Polizistin hinter den Rollstuhl. Dann packte sie von unten fest die beiden Griffe, die zum Schieben gedacht waren und kippte den Rollstuhl schwungvoll nach vorne. Dabei wurde sie davon überrascht, dass es wesentlich einfacher gelang, als sie es zuvor angenommen hatte.

Nicht weniger überrascht war Derrick Faulkner, der vornüber fiel. Er hatte geplant rechtzeitig aus dem Rollstuhl zu springen, doch für dieses Vorhaben passierte alles viel zu schnell. Er schaffte es gerade noch, die Arme schützend über seinen Kopf zu legen, bevor er die Holztreppe hinunterfiel. Einen Moment später krachte der Rollstuhl auf ihn und Faulkner gab ein schmerzhaftes Ächzen von sich.

Während Florence Cassell bestürzt zu ihrem Vorgesetzten hinuntersah, empörte sich lautstark eine Frau, die auf der Straße, vor der Station, diese Szene verfolgt hatte.

„Bist du völlig von Sinnen, Florence? Was machst du denn da mit einem hilflosen Kranken?“, schrie eine helle Stimme zu der Polizistin hinauf.

Auf die Straße hinuntersehend, erkannte die Polizistin ihre Freundin Céline. Immer noch etwas unter dem Eindruck der Ereignisse stehend rief sie zurück: „Er wollte das so!“

„Ach ja?“

Zur Überraschung der Taxifahrerin kam von dem Mann, den sie nicht erkannt hatte, in diesem Moment ein Lebenszeichen, als er grollend meinte: „Krank ist okay, Céline, aber das hilflos nehmen Sie gefälligst zurück.“

Céline, die schnell die Treppe hinauf gerannt war, kniete sich zu dem Mann hinunter, der sich langsam vom Boden aufrappelte. Sie legte ihre Hand auf seine Wange und fragte überrascht: „Sie sind das?“

Die Lippen des Mannes verzogen sich zu einem schmerzlichen Grinsen und Céline nahm schnell ihre Hand wieder fort.

Als Faulkner endlich aufrecht stand, hielt er sich den linken Arm und gab zurück: „In voller Größe. Florence hat mich wirklich auf meine Anweisung hin hier herunterbefördert. Allerdings hatte ich das Ende etwas anders geplant. Es handelt sich um eine Ermittlung.“

Von weiter oben sagte Florence: „Schön, dass wir uns endlich wiedersehen, Céline. Ich wollte dich eigentlich gestern besuchen. Was machst du hier?“

„Ich hatte dieselbe Idee, Flo. Bevor ich gesehen habe, wie du mit Rollstuhlfahrern umspringst, wollte ich mal kurz hereinschauen, um dich auf der Insel zu begrüßen.“

Derrick Faulkner nahm den Rollstuhl zur Seite, um Céline den Weg nach oben freizumachen. Danach folgte er der Frau, inklusive des ziemlich ramponierten Transportgerätes, hinauf zur Veranda.

Florence zog ihre alte Schulfreundin schnell zu der Bank hinüber, die zwischen zwei der Türen stand.

Derrick Faulkner schritt derweil mit dem Rollstuhl ins Innere der Station, wo er aus den Augenwinkeln mitbekam, wie sich Sarah Dechiles und Wellesley Karr rasch an ihre Schreibtische setzten.

Mit einem unterdrückten Schmunzeln ob der Neugier seiner Untergebenen brachte der Inspector schnell den Rollstuhl zurück.

Als Faulkner in den Büroraum zurückkam, sah ihn Sarah Dechiles etwas erschrocken an und deutete auf seinen linken Arm. „Sie bluten, Sir.“

„Ich habe keine Zeit zum Bluten.“

Sarah Dechiles erhob sich und holte den Verbandskasten. Mit ihm zu ihrem Vorgesetzten gehend, gab sie ärgerlich zurück: „Das hier ist nicht der Film PREDATOR, Sir. Ich hoffe, Sie haben wenigstens Zeit genug, um sich von mir verbinden zu lassen.“

„Schon gut, Sergeant“, erwiderte Faulkner beschwichtigend und hielt ihr den Arm hin. „Mögen Sie den Film?“

Während die Frau die Wunde desinfizierte und sie anschließend verband, bestätigte sie: „Ja, der Film gefällt mir. Auch, wenn manche Sprüche ziemlich albern sind.“

„Ich habe es ja verstanden, Sergeant.“

Die Frau grummelte vor sich hin, erwiderte aber nichts darauf. Nach einer Weile legte sie zwei Klammern an, mit denen sie den Verband schloss.

Das Werk seiner Untergebenen begutachtend meinte Faulkner: „Sie haben das offensichtlich nicht zum ersten Mal gemacht, Sergeant?“

„Leider“, antwortete Dechiles lakonisch und verstaute den Verbandskasten wieder. „Seien Sie das nächste Mal einfach etwas vorsichtiger, Sir.“

Mit gelinder Verwunderung zu Sarah Dechiles sehend, wandte sich der Inspector um und blickte zum Whiteboard. Nach einem Moment nahm er einen Filzschreiber von der Ablage des Boards und notierte: Sturz war kein Unfall! Den Filzschreiber schließend und wieder zurücklegend grübelte Faulkner über das Verhalten des Sergeants nach. Offensichtlich hatte sie sich wirklich Sorgen um ihn gemacht. Mit einem unbewussten Lächeln schritt er zu seinem Schreibtisch, setzte sich in den Lehnstuhl und dachte über das nach, was er und Florence draußen herausgefunden hatten. Dabei bekam er mit, wie Karr einen Anruf entgegennahm und dem Anrufer mitteilte, dass der Rollstuhl von Henderson Wayne noch Teil der aktuellen polizeilichen Ermittlungen sei.

Noch bevor Karr den Hörer wieder aufgelegt hatte, sah Faulkner zu dem Officer und erkundigte sich: „Das war schon wieder Natalie Lorrimer?“

„Ja, Sir“, bestätigte der Officer. „Diese Frau entwickelt sich echt zur Nervensäge.“

Das Telefon klingelte erneut. Diesmal nahm Sarah Dechiles ab, während Faulkner fragend zu Karr sah.

Sarah Dechiles sagte nach einer Weile nur: „Ich werde es ihm ausrichten.“

Nachdem Sergeant Dechiles den Hörer aufgelegt hatte, sah sie zu ihrem Vorgesetzten und erklärte: „Der Anruf kam vom Flugplatz, Sir. Dort ist ein Paket für Sie angekommen.“

Das Gesicht des Inspectors hellte sich auf. Sich hinter seinem Schreibtisch erhebend sah er zu Dechiles und sagte freudig: „Wir fahren sofort dorthin, Sergeant. Und danach bringen Sie mich zu meiner Hütte, denn in diesen Sachen, die ich seit gestern trage, kann ich nicht vernünftig nachdenken.“

Sich an Officer Karr wendend erkundigte sich Faulkner: „Wann bekommen wir übrigens den abschließenden Autopsie-Bericht?“

„Nicht vor morgen Früh, schätze ich.“

Der Inspector bedankte sich bei Karr, schritt zu Sarah Dechiles und gab ihr die Schlüssel des Land-Rovers. „Auf geht’s, Sergeant. Sie fahren.“



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