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Auf dem dritten Auge blind

von

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Angst ist für die Seele ebenso gesund

wie ein Bad für den Körper

Maxim Gorki
 

Er konnte seine Zehen nicht mehr spüren. Das Gefühl der Taubheit kroch allmählich durch seinen ganzen Körper. Es war trügerisch. Die Schmerzen ließen nach. Die klappernden Zähne beruhigten sich. Seine Atmung wurde flacher, der Herzschlag langsamer. Das Eiswasser umhüllte seinen Körper wie ein nasses Grab. Er hatte dem Tod schon viele Male in die Augen gesehen, in der Natur, auf dem Schlachtfeld. Er hatte Freunde sterben sehen, die ihm teuer waren und die er nicht hatte beschützen können.

Und einmal war er selbst gestorben.

Der Tod machte ihm keine Angst mehr, das Sterben sehr wohl. Er hatte oft darüber nachgedacht, was wohl der beste Weg war, seinen letzten Atemzug zu tätigen. War es im hohen Alter umgeben von liebenden Freunden und Familie? Das klang wohl verlockend, doch der Weg dorthin war ein müßiger.  Körper und Geist bauten ab, man spürt seinen eigenen, unaufhaltsamen Zerfall und dieses fürchterliche Gefühl begleitete einen manchmal zwanzig-dreißig Jahre lang. Sollte man dann nicht lieber den Freitod wählen, wie zum Beispiel durch ein Bad im ewigen Eis? Dann konnte man gehen, wann immer man den Zeitpunkt für richtig erachtet, wenn die Geschäfte erledigt waren oder man ein endloses Leiden umgehen wollte. Doch dieser Weg - der Weg des Feiglings - hatte auch seine Nachteile. Die Seele würde durch den Freitod niemals ihren Weg in den Himmel finden, so viel wusste er. Es war vermutlich der schlimmste Tod von allen, denn so landete man nicht nur in der Hölle, nein, man verlor auch die Bindung zu seinem Körper für immer. Die einzige Möglichkeit, den Himmel zu erreichen und nicht als hüllenlose Seele zu wandeln, war der Heldentod. Wenn die Götter, Kaios oder der Herr der Unterwelt einen für würdig erachteten, sein Leben für eine große Tat gegeben zu haben, dann konnte man sogar seinen Körper im Jenseits behalten. Es war die Belohnung für ein rechtschaffenes Leben und danach sollte jeder gute Geist streben.
 

„Tien? Tien! Hörst du mich? Hey! Bitte schau mich an!“

Durch das dritte Auge auf seiner Stirn blickte Tenshinhan unvermittelt in das besorgte Gesicht seines Kameraden Chiaotzu. Das kleine, puppenähnliche Wesen schwebte kopfüber vor ihm und hüllte sich dabei fest in einen dicken Winterpelz.

„Wie lange?“, fragte Tenshinhan. Seine Stimme war nicht viel mehr als ein angestrengtes Hauchen. Er konnte spüren, wie die Wärme seines Körpers über seinen Atem entwich und augenblicklich vor ihm kondensierte.

„Es sind genau äh…“, Chiaotzu tippte auf der digitalen Armbanduhr herum, die er sich vor Kurzem zugelegt hatte. Die Bedienung fiel ihm nicht leicht, es war das komplexeste Stück Technik, das die beiden Kampfkünstler, die ein Leben in absoluter Abgeschiedenheit führten, je besessen hatten.

„Zweiundvierzig Minuten.“

„Nicht… genug.“

Jeder Atemzug brannte jetzt wie Feuer in seinem Brustkorb. Es fühlte sich an wie der letzte Funken Leben, an dem er sich festklammerte. Dieses Eisbad war einer der ultimativen Tests seiner Willensstärke. Eine Prüfung für Geist und Körper. Er musste Fortschritte machen, musste seine eigenen Grenzen jedes Mal aufs Neue überwinden. Nur so konnte er sein Ziel erreichen, die Erde beschützen und seinen schärfsten Rivalen endlich übertrumpfen.
 

Doch dann zahlte sein Körper den Tribut für seinen Starrsinn und der Kopf kippte von einem Ohnmachtsanfall gepackt auf seine Brust. Für Chiaotzu war es das endgültige Zeichen, dass er eingreifen musste. Es war nicht das erste Mal und es würde sicher nicht das letzte Mal sein. Doch das gehörte auch zu ihren Prinzipien als Trainingsgefährten - man passte aufeinander auf.

Chiaotzu streckte die Hände aus und sandte eine Energiewelle direkt in Richtung des eisigen Wassers. Binnen weniger Herzschläge spürte Tenshinhan, wie seine Haut zu kribbeln begann und auch seine Zehen konnte er wieder bewegen. Der kleine Eistümpel, in dem er saß, heizte sich auf und allmählich begann er sogar zu dampfen.

„Geht es dir gut?“, fragte Chiaotzu. Seine Stimme überschlug sich immer, wenn er nervös war und wurde dabei ganz piepsig.

„Das waren nicht mal eine Dreiviertelstunde…“, antwortete Tenshinhan resigniert, „Das hätte Goku mühelos geschafft.“

Aber zumindest hatte er seine eigene Leistung von letzter Woche übertroffen. Für einen kurzen Moment war die Temperatur des Wassers genau richtig. Man konnte fast meinen, er säße plötzlich in einer Badewanne. Doch dann blickte er seinen fliegenden Kameraden ernst an und rief: „Na los! Verwandle den Tümpel in einen Geysir. Auf die Prüfung der Kälte folgt der Hitzetest!“

Außerdem war dieser Saunaeffekt wichtig für sein Immunsystem. Eine Erkältung in dieser abgeschiedenen Einöde würde seinen sicheren Tod bedeuten - das durfte nicht geschehen. Er hatte noch eine wichtige Mission vor sich.
 

Seit anderthalb Monaten trainierten die beiden ehemaligen Kranich-Schüler bereits in den nördlichen Ausläufern der Yunzabit-Höhen - einem der lebensfeindlichsten Orte der Erde. Und sie trainierten für nichts Geringeres als die Rettung des Planeten. In weniger als drei Jahren, so wurde es ihnen prophezeit, würden zwei Cyborgs auf der Erde auftauchen und sie in ihre Schreckensherrschaft zwingen. Und nach aktuellem Stand waren nicht einmal die übermächtigen Saiyajins ihnen gewachsen. Tien wusste, dass er noch eine Menge aufholen musste, wenn er jemals das Level von Goku erreichen, nein, übertreffen wollte. Dafür würde er bis ans Äußerste gehen. Lieber starb er in einer gnadenlosen Schlacht, als sich zwei Robotern zu unterwerfen. Wie gesagt… er war kein Freund der modernen Technik.

Nachdem er seine Muskeln eine gute halbe Stunde lang im kochend heißen Wasser des Geysirs aufgelockert hatte, war es an der Zeit, sich auf die Suche nach etwas zu Essen zu machen. Hier in der Wildnis waren sie Jäger und Sammler, lebten nur von dem, was die Natur ihnen bereitstellte. Das war gegenwärtig vor allem Fleisch - von hier heimischen Bergziegen, Yaks oder Riesenechsen.

„Ich werde auf die Jagd gehen“, teilte er seinem Kameraden mit, „Möchtest du mitkommen?“

Doch Chiaotzu schüttelte den Kopf.

„Ich möchte lieber schon mal ein Lager aufschlagen und ein Feuer machen. Es wird immer kälter und windiger.“

„Du kannst uns ja ein schönes Iglu entwerfen“, antwortete Tien grinsend, schnappte sich sein Jagdmesser und den gefütterten Mantel und machte sich auf den Weg.
 

Die letzten Wochen hatte er viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Die weiße Einöde ließ nicht viel Platz für Ablenkung und Chiaotzu war zwar ein guter Kamerad, aber gesprächig waren sie beide nicht. Natürlich kreisten Tiens Gedanken ständig um das Training, immerhin stand das Schicksal der Welt auf dem Spiel. Aber was wäre, wenn es die Prophezeiung nicht gegeben hätte? Was hätte er mit seinem Leben angefangen, wenn Frieden auf der Welt herrschte, wenn es keine Notwendigkeit mehr gab, geistige und körperliche Grenzen zu sprengen? Er war jetzt Mitte Dreißig und bis auf die Kampfkunst hatte er nichts. Keine Hobbys, keinen festen Beruf, keine Familie. Und er wurde nicht jünger. Irgendwann würden seine Kräfte ihren Höhepunkt erreicht haben und dann ging es nur noch darum, den Abbauprozess zu verlangsamen. Konnte das wirklich schon alles sein? Hatte ihn womöglich bereits die sagenumwobene Midlifecrisis im Griff?

Spuren im Schnee ließen ihn ins Hier und Jetzt zurückkehren. Sie könnten ihn direkt zu einer Fleischquelle führen. Er durfte sich jetzt nicht mit quälenden Gedanken um die Zukunft belasten. Es war doch viel wichtiger, sich um die Gegenwart zu kümmern. Und gegenwärtig knurrte ihm der Magen gewaltig.

Doch eines verwirrte ihn, als er die Spuren genauer betrachtete. Sie gehörten zu keinem Tier, es waren Fußabdrücke. Ein einzelner Mensch war in dieser Ödnis unterwegs. War er etwa so in Gedanken vertieft gewesen, dass er selbst schon im Kreis lief? Nein, unmöglich. Bei genauer Betrachtung stellte er fest, dass die Abdrücke kleiner waren, als die seiner eigenen Schuhe, jedoch auch größer als die von Chiaotzu. Das ließ eigentlich nur eine einzige Schlussfolgerung zu - es gab noch einen anderen Menschen hier oben.
 

Tenshinhan entschloss sich dazu, den Spuren zu folgen. Die Aussicht auf Abwechslung vom tristen Trainingsalltag waren gut, außerdem fühlte er sich sicherer, wenn er wusste, dass er niemanden mit seinen Übungen störte. Es konnte schon vorkommen, dass er zum Test seiner Stärke gewaltige Felsbrocken durch die Gegend warf. Daher hatte er sich angewöhnt, zum Schutz vor Kollateralschäden, immer an einem möglichst menschenfernen Ort zu trainieren. Ob er es hier wohl mit einem weiteren Eremiten zu tun hatte? Einem Ausgestoßenen, einem Eigenbrötler?

Die Spuren führten ihn in Richtung Ozean. Am Ufer in der Ferne konnte er ein kleines Ruderboot erkennen. Hatte womöglich jemand Schiffbruch erlitten? Er schloss einen Moment die Augen, doch es gelang ihm nicht, eine Aura zu spüren. Außerdem nahm der Wind weiter an Stärke zu. Ein Schneesturm kam auf.

Er entschied sich zu fliegen. Auch wenn es ihn Kraft kostete, so wollte er den Spuren folgen, bevor sie sich im Schneegestöber verloren. Noch etwa eine halbe Meile legte er zurück, da gesellten sich plötzlich eine weitere Spur dazu. Eine wesentlich größere, tierische. Es musste zu einem Aufeinandertreffen gekommen sein. Das Tier war dem Menschen gefolgt, so viel stand fest.

„Blut“, Tien schluckte. Auf dem Boden unter ihm tat sich eine gewaltige, tiefrote Lache auf. Der zugehörige Kadaver befand sich ganz in der Nähe. Ein toter Eisbär lag bäuchlings im Schnee, das Rückenfell war ihm zum großen Teil abgetrennt. Vorsichtig drehte Tenshinhan das Tier herum. Der Bauch war von einer sauberen Klinge aufgeschnitten worden und das Schnittmuster kam ihm nur allzu vertraut vor. Hier war jemand nicht etwa mit einem einfachen Messer vorgegangen - das war die Schnittverletzung eines Niuweidao, eines Ochsenschwanzschwerts. Der Kampf mit einer solchen Waffe wurde beim Herrn der Kraniche gelehrt, doch der wahre Meister dieser Technik war kein Geringerer als Tao Bai Bai, der jüngere Bruder von Meister Shen. Schon einmal hatte er versucht, sich bei Tenshinhan dafür zu rächen, dass er und Chiaotzu der Kranichschule den Rücken gekehrt hatten. War er jetzt wohl wieder hinter ihnen her?

„Chiaotzu!“, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Was, wenn Tao bereits auf dem Weg zu ihm war? Er musste schnell zurück. Sein Freund schwebte in Lebensgefahr.



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