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Skater Love

von

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Gemeinsame Zukunft

„Die Fahrkarten, bitte.“

Blinzelnd löste ich mich vom Anblick der vorbeiziehenden Landschaft, um meine Fahrkarte aus dem Rucksack zu ziehen. Mit einem müden Lächeln hielt ich sie dem Zugbegleiter entgegen, der nach einem prüfenden Blick darauf kurz nickte.

„Vielen Dank.“

 

„Gerne“, erwiderte ich, bevor ich erneut meiner Beschäftigung der letzten Stunden nachging. Die Musik aus meinen Kopfhörern wurde kurz leise, als der Song endete, und im nächsten Moment war es Hizumis Stimme, die mir durch Mark und Bein ging. Einen Augenblick lang überkam mich Wehmut, wie immer, wenn ich meinen früheren Bandkollegen singen hörte, aber dann überwog die Freude, seiner Stimme auf diese Weise überhaupt wieder lauschen zu können. Ein kleines Lächeln zupfte an meinen Mundwinkeln, bevor ich mich wieder auf die verregnete Landschaft vor den Fenstern des Hochgeschwindigkeitszuges konzentrierte.

 

Schon eigenartig. Als ich heute Morgen losgefahren war, hatte es noch geschneit, aber je näher ich der Hauptstadt kam, desto trostloser wurde das Wetter. Sollte das ein Zeichen sein? Ich unterdrückte ein Augenrollen ob meiner idiotischen Gedanken und wagte einen Blick auf das Display meines Smartphones. Keine Nachrichten. Natürlich nicht. Ich war es schließlich gewesen, der Karyu darum gebeten hatte, sich über die Tage, die ich bei meinen Eltern verbrachte, nicht zu melden. Ich hatte die kleine Auszeit nutzen wollen, um mir noch über so einige Dinge im Klaren zu werden und hatte gedacht, keinen Kontakt zu ihm zu haben, würde mir dabei helfen. Pustekuchen. Ich glaube, ich hatte in meinem ganzen über vierzig-jährigen Leben noch nie jemanden so vermisst wie meinen zu groß geratenen Freund in den letzten drei Tagen. Ich rieb mir über die Nasenwurzel, als sich Kopfschmerzen anbahnten. Warum quälte ich mich nur immer so?

 

Obwohl Karyu krank gewesen war, waren die Tage, die er bei mir verbracht hatte, unglaublich schön gewesen. Nun gut, nicht von Anfang an, aber zumindest ab dem Zeitpunkt, als ich mir hatte eingestehen müssen, dass ich mehr für ihn empfand als nur Freundschaft. Und ihm ging es genauso. Wenn ich ehrlich war, konnte ich das noch immer nicht fassen und auch deswegen hatte ich mir diese kleine Auszeit erbeten. Rückblickend hatte sie mir jedoch rein gar nichts gebracht. Nicht zuletzt deswegen hätte ich ihn längst anrufen können, zugeben, dass ich ein Idiot und mein Wunsch noch bescheuerter gewesen waren. Stattdessen litt ich wie ein Hund, weil ich noch nie gut darin gewesen war, Fehler zuzugeben, und hatte damit nicht mehr erreicht, als den Spürsinn meiner Mutter zu reizen. Es war ein hartes Stück Arbeit, sie davon zu überzeugen, dass mit mir alles in Ordnung war, und irgendwie war ich mir sicher, dass sie mir noch immer nicht glaubte. Innerlich stellte ich mich schon auf diverse Kontrollanrufe in den nächsten Wochen ein. Und das alles nur, weil ich mir wieder einmal selbst im Weg stand und weil Karyu ein viel zu guter Mensch war, der die Wünsche seiner Freunde respektierte. Ich war fast schon wütend auf ihn, weil er sich nicht über mich hinweggesetzt und sich doch bei mir gemeldet hatte, bis mir auffiel, wie unfair diese Erwartungshaltung war.

 

Ich war so tief in meinen Gedanken versunken, dass ich beinahe nicht mitbekommen hätte, wie die Musik in meinen Ohren zu meinem Klingelton wurde. Verblüfft schaute ich auf das Display, auf dem munter blinkend Karyus Name zu lesen war.

 

„Wenn man an den Teufel denkt …“, meldete ich mich anstelle eines Grußes und musste schmunzeln, als ich Karyus lachen durch die Leitung rauschen hörte.

 

„Sag nicht, du hast an mich gedacht?“

 

„Gut, dann behalte ich es eben für mich.“

 

„Was? Nein. Sag es noch mal, bitte, so oft du magst.“

 

„Nö, dein Ego ist schon groß genug.“

 

„Pfff.“

Obwohl der Tunnel, durch den der Zug gerade fuhr, Karyus Schnauben beinahe schluckte, konnte ich mir seine Schmollschnute nur allzu gut vorstellen.

„Na schön, dann gibt es eben keine Ego-Streicheleinheiten für den armen Karyu. Ich versteh schon.“ Wieder lachte er leise und diesmal jagte mir der kleine Laut eine wohlige Gänsehaut über den Rücken. Verflucht, wie ich den Kerl vermisst hatte. Das war doch nicht normal.

 

„Wieso rufst du denn an?“, brachte ich schließlich mit leicht heiserer Stimme die Frage heraus, die ich gleich hätte stellen sollen.

 

„Glaubst du mir, wenn ich sage, dass ich deine Stimme hören wollte?“

 

„Eigenartigerweise ja.“

 

„Ehrlich?“

 

„Mhmh, mir … geht es ähnlich.“

 

„Wieso hast du dann …? Ach, nicht so wichtig.“

Fast glaubte ich, ein feines Lächeln durch die Leitung hören zu können, was gänzlich abwegig war, mein Herz jedoch etwas schneller schlagen ließ.

„Ich hatte gehofft, dass es okay ist, wenn ich anrufe. Immerhin bist du jetzt nicht mehr bei deinen Eltern und ich war brav und hab deinen Wunsch respektiert und überhaupt und sowieso. Bleibt es übrigens dabei, dass du um 13:27 Uhr ankommst?“

 

„Ehm.“ Ich blinzelte dreimal kurz hintereinander, während ich Karyus Redeschwall zu verarbeiten versuchte. „Ist schon okay, dass du angerufen hast“, murmelte ich schließlich, „ich hätte mich allerdings auch spätestens bei dir gemeldet, sobald ich zu Hause bin.“ Gut, dass er mich gerade nicht sehen konnte. Vermutlich sah ich nur halb so überzeugt von meinen eigenen Worten aus, wie mir lieb gewesen wäre. Ich war mir nämlich gar nicht so sicher, ob ich mich wirklich bei ihm gemeldet hätte. So wie ich mich kannte, hätte ich zahlreiche Gründe gefunden, weshalb es besser für uns beide war, ihn nicht anzurufen. Das Ende vom Lied wäre gewesen, dass ich mich so lange in meine Zweifel hineingesteigert hätte, bis sie zu meiner Wahrheit geworden wären. Manchmal hasste ich meinen Denkapparat mit einer Passion, die schon an Fanatismus grenzte.

„Und, ja, ehm, an der Ankunftszeit hat sich nichts geändert, der Zug ist pünktlich, warum?“

 

„Ah, sehr gut. Ich bin schon auf dem Weg zum Bahnhof, um dich abzuholen.“

 

„Das musst du nicht.“

 

„Will ich aber, also keine Widerrede.“

 

„Okay.“

 

„Ein wenig mehr Enthusiasmus, bitte. Ich hab dich drei Tage lang nicht gesehen oder gehört. Ich bin auf Entzug und es wäre sehr zuvorkommend von dir, wenn du wenigstens so tun könntest, als ob es dir genauso ginge. Nur, damit ich mich nicht so allein damit fühle, verstehst du?“

 

Wieder schlich sich Karyus leises Lachen durch die Leitung und hätte ich nicht schon längst bemerkt, dass er maßlos übertrieb, spätestens jetzt wäre es mir klar geworden. Plötzlich zupfte ein Grinsen an meinen Mundwinkeln und ein unsichtbares Gewicht schien von meinen Schultern zu fallen.

 

„Du bist wirklich eine Marke für sich“, merkte ich leise an, weil ich nicht wollte, dass das ganze Abteil mein Telefonat mithören konnte. Ich schätzte meine Privatsphäre, anders als manch anderer Mitreisender. „Ich freu mich wirklich, dich wiederzusehen, Karyu.“

 

„Ich mich auch. Bis in einer Stunde.“

 

~*~

 

„Sehr geehrte Fahrgäste, in wenigen Minuten erreichen wir Tokyo Hauptbahnhof. Vielen Dank, dass Sie …“

 

Ich blendete die betont gut gelaunte Stimme der Ansagerin aus, während ich meine Sachen zusammenpackte. Das Gute daran, dass ich dieses Jahr nicht mit dem Auto zu meinen Eltern gefahren war, war die Tatsache, dass mich meine Mutter nicht für ein komplettes Jahr mit Essen hatte versorgen können, wie sie es sonst immer tat. Dennoch waren die beiden Taschen, die sie mir heute unbedingt doch hatte mitgeben müssen, schwer und ich ehrlich froh, nun nicht mit den Öffentlichen durch Tokyo tingeln zu müssen. Mit gebührendem Abstand zu dem Pärchen vor mir stellte ich mich mit meinem Gepäck in den schmalen Durchgang, zupfte meine Maske zu Recht und wartete, bis der Zug endlich zum Stehen kam.

 

Erst, als ich mit dem Strom an Menschen tiefer in das rege Treiben des Bahnhofs eintauchte, wurde mir bewusst, dass Karyu und ich vergessen hatten, einen Treffpunkt auszumachen. Ziemlich umständlich, weil ich so bepackt war, begann ich, in meiner Jackentasche nach meinem Smartphone zu fahnden. Bevor ich meinen Freund jedoch anrufen konnte, stellte sich mir jemand in den Weg. Ruckartig blieb ich stehen, den Mund bereits geöffnet, obwohl ich nicht hätte sagen können, ob mir ein unwirsches Motzen oder eine Entschuldigung über die Lippen gekommen wäre. Was ich schlussendlich sagte, war lediglich ein Name, bevor ich in die Arme sank, die so einladend für mich geöffnet waren.

 

„Karyu.“ Plötzlich wurde es still in mir, als die vielen Gedanken, die mich so gequält hatten, endlich Ruhe gaben. Leicht erschauernd genoss ich seine so vertraut gewordene Nähe, die ich in den letzten Tagen schmerzlich vermisst hatte, während mich seine Arme noch fester umschlossen. Es war mir egal, dass Gefühlsbekundungen in der Öffentlichkeit noch immer verpönt waren oder ob die Leute uns verurteilten, nur weil wir zwei Männer waren, die sich innig in den Armen lagen. Selbst die Tatsache, dass ich nicht mal eine Hand freihatte, um Karyus Umarmung wenigstens angedeutet erwidern zu können, war für den Moment nicht so wichtig. Ich war zu Hause, das war alles, was zählte.

 

„Ich hab dich so vermisst“, nuschelte Karyu gegen meine Haare und ein kurzer Druck auf meinem Scheitel ließ mich vermuten, dass er mir gerade einen Kuss gegeben hatte.

 

„Du legst es echt drauf an“, nuschelte ich und revanchierte mich, indem ich das freie Stückchen Haut zwischen dem Kragen seiner Jacke und seinem Schal küsste. Mit der Maske über Mund und Nase war das zwar ein eher unsinniges Unterfangen, aber die Geste zählte.

 

„Mir doch egal.“

 

„Mir auch.“ Ich grinste und hob den Kopf, damit Karyu die feinen Lachfältchen um meine Augen sehen konnte. „Trotzdem sollten wir besser gehen, bevor irgendwer seine angeborene Höflichkeit über den Haufen wirft und Ärger macht.“

 

„Oder uns trotz Masken erkennt.“

 

„Ja, darauf hätte ich noch weniger Lust.“

 

„Gut, dann lass uns gehen. Mein Wagen steht im Parkdeck.“

 

Ohne mir eine Chance zum Protest zu geben, griff Karyu nach den beiden Taschen, sodass ich nur noch den Rucksack auf meinen Schultern zu tragen hatte. Wenn er wollte, war er wirklich ein Gentleman der alten Schule, aber das sollte ich ihm lieber nicht sagen. Sein Ego war auch ohne meine Hilfe meist groß genug. Verstohlen schmunzelnd setzte ich mich in Bewegung und stellte nicht zum ersten Mal fest, wie praktisch Karyus Größe in solchen Situationen war. Ohne nennenswerte Probleme bahnten wir uns unseren Weg durch das Gewirr von Menschen und nur ein paar Minuten später saß ich in seinem Auto. Gerade verstaute er mein Gepäck im Kofferraum – nein, auch hier hatte ich ihm nicht helfen dürfen – und ließ sich dann neben mich in seinen Sitz fallen.

 

„Seit wann bist du eigentlich schon wieder zurück?“

 

„Ich wollte den Rückreiseverkehr vermeiden und bin daher schon um acht bei meinen Eltern losgefahren.“

 

„Bäh.“ Ich rümpfte die Nase, während der Motor brummend zum Leben erwachte und Karyu den Wagen durch die labyrinthartigen Gänge des Parkdecks zu steuern begann. „Ich hatte mir extra einen späteren Zug ausgesucht, um nicht so früh aufstehen zu müssen.“

 

„Du bist eben ein notorischer Langschläfer. Zumindest, wenn du mal ordentlich schlafen kannst.“

Ich drehte den Kopf zur Seite und sah aus dem Fenster, damit Karyu den Anflug der Verlegenheit auf meinem Gesicht nicht sehen konnte. Er hatte nicht nur recht, sondern in den Tagen, die er krank bei mir zu Hause verbracht hatte, auch hautnah mitbekommen, wie ausgeprägt meine Schlafstörungen waren. Dass er daran nicht ganz unschuldig war, sei an dieser Stelle dahingestellt. Immerhin hatte ich selbst bei meinen Eltern nur semi-gut schlafen können.

„Hey, alles in Ordnung?“

 

„Klar, ich war nur kurz in Gedanken.“ Ich lächelte, als ich locker seine Hand umfasste, die sich frech auf meinen Oberschenkel geschlichen hatte und drehte den Kopf, um ihn wieder ansehen zu können. „Erzähl mir, was ihr in den letzten Tagen so gemacht habt“, forderte ich und bemerkte, wie ich mich nach und nach entspannte, während ich mich ganz auf Karyus Stimme konzentrierte.

 

~*~

 

„Ehm, Karyu?“, murmelte ich eine ganze Weile später. „Das ist aber nicht der Weg zu mir.“

 

„Weiß ich.“

 

„Aha. Und wohin fahren wir?“

 

„Lass dich überraschen, wir sind gleich da.“

 

Stirnrunzelnd sah ich wieder aus dem Fenster und versuchte zu erkennen, wo genau wir uns befanden. Ich musste vorhin tatsächlich etwas eingenickt sein, denn normalerweise kannte ich mich in der Stadt gut aus, aber gerade …

 

„Halt mal, dort vorne geht es doch zur Eishalle, oder?“

 

„Ganz genau.“

 

„Willst du jetzt noch mal Schlittschuhlaufen gehen?“

 

„Klar, warum nicht? Ich dachte mir, jetzt, wo du dich nicht mehr vor mir genieren musst, weil du weißt, dass ich dir auch dann noch verfallen bin, wenn du übers Eis eierst, könnten wir das noch mal versuchen.“

 

„Wa… Wie bitte? Wer geniert sich hier?“

 

„Na, du.“

 

„Träum weiter, Eisprinzessin. Schon mal daran gedacht, dass ich letztes Mal einfach keine Lust auf Eislaufen hatte?“ Während ich damit beschäftigt war, die Röte auf meinen Wangen zu ignorieren, war Karyu eigenartig still geworden. Erst dachte ich, er würde sich konzentrieren müssen, während er vor der Eishalle nach einem Parkplatz suchte, aber als er auch dann noch schwieg, als der Motor längst abgeschaltet war, kam mir die Sache spanisch vor. „Karyu?“

 

„Hattest du wirklich keine Lust gehabt?“

 

„Was?“

 

„Letztens, aufs Schlittschuhlaufen?“

 

„Ach, du.“ Ich lächelte und nach einem prüfenden Blick zu allen Seiten beugte ich mich etwas näher zu ihm, um ihm einen kurzen Kuss auf die Wange zu drücken. „Rein theoretisch könnte es möglich sein, dass ich dich gerade auf den Arm genommen hab.“

 

„Das war fies.“

 

„Nein, das war purer Eigenschutz, schließlich muss sich ein Angeklagter nicht selbst belasten.“

 

„Angeklagter, hu?“ Ich sah den Triumph in seinen Augen glänzen, bevor er mein Kinn mit einem Finger leicht nach oben drückte und mich küsste.

 

„Karyu“, nuschelte ich pro forma protestierend, doch zeitgleich fielen mir die Augen zu. Himmel, wie ich das vermisst hatte. Ich war tatsächlich binnen weniger Tage süchtig geworden. Süchtig nach diesem Mann und seinen Küssen. „Wir sollten es nicht übertreiben“, murmelte ich schließlich, als sich diese verführerischen Lippen für einen kurzen Moment von meinem Mund lösten. „Außerdem wolltest du doch Eislaufen gehen, oder nicht?“

 

„Schon, aber deine Lippen fühlen sich so gut an, dass ich ernsthaft am Überlegen bin, meine Pläne über den Haufen zu werfen.“

 

„Nichts da, jetzt wo wir schon hier sind, gehen wir auch aufs Eis.“ Ich legte die flache Hand auf seine Brust und schob ihn ein Stück auf Abstand. Grinsend ob seines nicht allzu glücklichen Gesichtsausdrucks schnallte ich mich ab und stieg aus dem Auto. „Nun komm schon“, forderte ich, eine Hand noch an der geöffneten Wagentür, „und vergiss diesmal nicht, dich anständig anzuziehen.“

 

~*~

 

Entweder war diese Eishalle nie sehr gut besucht oder Karyu hatte ein Händchen dafür, immer genau zur ruhigsten Zeit herzukommen. Denn wie auch schon beim letzten Mal tummelten sich nur wenige Familien auf der Bahn. Von unserem ersten Besuch unterschied sich jedoch, dass Karyu und ich diesmal gemeinsam übers Eis schlitterten, statt jeder für sich. Seine Finger fühlten sich trotz der Handschuhe angenehm warm an, während sie die meinen umschlossen. Vielleicht bildete ich mir die Wärme nur ein, aber das war egal, denn sie zog sich durch meinen gesamten Körper. Ich fühlte mich wohl und drehte den Kopf, um Karyu, dem ich dieses Gefühl zu verdanken hatte, anzulächeln. Natürlich konnte er das unter dem Mundschutz nicht sehen, aber der warme Glanz in seinen Augen zeigte mir, dass er die Geste trotzdem erwiderte. Ich fuhr schräg vor ihn und hielt ihm auffordernd meine andere Hand entgegen.

 

„Halt mich mal fest, ich will versuchen, ob ich das mit dem Rückwärtslaufen noch hinbekomme.“

 

„Uh, pass aber auf, ich will nicht wieder mehr Zeit mit meinem Hintern auf dem Eis verbringen als mit meinen Füßen.“

 

„Vertraust du mir so wenig?“

 

„Ach, dir vertrau ich genug, ich vertrau nur meinen Beinen nicht.“

 

„Das kommt davon, wenn man so lange Stelzen hat.“

 

„Ich lass gleich los, dann kannst du zusehen, wie du dein Experiment allein durchziehst.“

 

„Hey, nein.“ Ich umfasste seine Finger stärker, die mir tatsächlich beinahe entglitten wären, und begann mit vorerst zaghaften Schwüngen, rückwärts zu laufen. „Krass, das klappt ja wirklich noch.“

 

„Mh, sieht zwar noch ein bisschen ungelenk aus, aber tausend Mal besser, als alles, was ich auf dem Eis zustande bringe.“

 

Ich weigerte mich, mich durch Karyus zweifelhaftes Kompliment aus dem Konzept bringen zu lassen, und konzentrierte mich stattdessen auf meine Bewegungen. Irgendwann fühlte ich mich sicher genug, um nicht mehr ständig auf den Boden sehen zu müssen, und konnte stattdessen erneut Karyus Blick suchen. Seine Augen schienen die ganze Zeit auf mich gerichtet gewesen zu sein und ihre Intensität ließ mich für einen Sekundenbruchteil wohlig erschauern. In meinem Magen begann es zu kribbeln, mein Herzschlag beschleunigte sich und wären wir allein und nicht gerade auf dem Eis gewesen, hätte ich nicht sagen können, was ich getan hätte. Okay, doch, ich wusste nur zu gut, was ich tun wollte, aber, nun ja, die Umstände waren wie schon festgestellt alles andere als ideal.

 

„Was geht in deinem süßen Kopf vor, mh?“

Karyu war mir plötzlich deutlich näher gekommen, ohne dass ich es bemerkt hatte.

 

„Das würdest du jetzt gerne wissen, was?“

 

„Oh, ja, ich brenne darauf.“

Himmel, wie stellte der Kerl das nur an. Ich hatte Eis unter den Kufen, das Wetter war verregnet und kalt, und dennoch fühlte ich mich wie unter der Wüstensonne schmorend.

„Verrat es mir.“

 

Ich schüttelte so heftig den Kopf, einerseits, weil ich ihm gerade wirklich nicht verraten wollte, was in meinem Hirn vor sich ging und andererseits, weil es mir Spaß machte, ihn zu ärgern, dass ich unwillkürlich das Gleichgewicht verlor. Ich versuchte, mit den Armen zu rudern, hatte jedoch vergessen, dass ich noch immer Karyus Hände festhielt, und machte die Sache damit nur noch prekärer.

 

„Fuck“, stieß ich hervor, als ich nach hinten zu kippen drohte, fand mich nach einem kräftigen Ruck jedoch gegen Karyus Oberkörper gepresst wieder.

 

„Ich sagte doch, du sollst aufpassen, dass wir nicht wieder auf dem Eis landen.“

 

„Pah, daran warst nur du schuld. Wenn du mich nicht so aus dem Konzept gebracht hättest, hätte ich auch nicht beinahe das Gleichgewicht verloren.“

 

„Ich hab dich also aus dem Konzept gebracht?“

 

„Argh, du.“ Mit einer locker geballten Faust schlug ich Karyu gegen die Brust und versuchte, ihn finster anzufunkeln, was Dank des breiten Grinsens, das nicht nur meine Mundwinkel unter der Maske hob, sondern sich auch in meinen Augen spiegeln musste, jedoch nicht wirklich funktionieren wollte.

 

„Dafür liebst du mich doch.“

 

„Ja, schon möglich.“ Für einen kurzen Moment schlang ich die Arme um Karyus Mitte, bevor ich wieder auf Abstand ging, um seinen erstaunten Blick aus geweiteten Augen genussvoll in mich aufzunehmen.

‚Touché, mein Lieber‘, dachte ich und unterdrückte nur schwer den Drang, ihm triumphierend die Zunge herauszustrecken.

„Was ist jetzt, Mister Eisskulptur, wollen wir noch ein paar Runden drehen oder hast du schon genug?“

 

„Du …“ Karyu schüttelte den Kopf, fuhr sich kurz durch die Haare und wirkte alles in allem weitaus weniger cool, als er mich glauben lassen wollte. Hehe.

„Wie kommst du nur immer auf diese Spitznamen.“

 

„Keine Ahnung, vielleicht inspirierst du meine kreative Ader?“ Skeptisch hob sich Karyus rechte Augenbraue, bevor ich erneut dieses ganz bestimmte, leise Lachen vernehmen konnte, das ich so sehr an ihm mochte.

 

„Na, dann komm, lass uns noch etwas weiterschlittern.“

Er hielt mir seine Hand entgegen, die ich nur zu gerne umfasste. Kurz sah ich mich um, aber keiner der Anwesenden schien sich für unsere kleine Flirteinlage interessiert oder sie gar bemerkt zu haben. Mh, vielleicht wurde die Gesellschaft langsam toleranter. Schön wäre es, aber wirkliche Hoffnung machte ich mir dahingehend keine. Lieber genoss ich es, ungezwungen Karyus Nähe genießen zu können.

„Was hältst du davon, wenn wir noch einen Glühwein trinken und ich dich dann zu mir nach Hause entführe?“

 

„Ich weiß nicht, ob ich mich von dir entführen lassen will“, scherzte ich und zwinkerte ihm neckisch zu. Ich hatte zwar gehofft, den Abend nicht allein verbringen zu müssen, aber so leicht wollte ich es meinem Freund dann doch nicht machen.

 

„Mh, dann werde ich mich wohl anstrengen müssen, um dich davon zu überzeugen, dass du freiwillig mitkommst.“

 

„Das wirst du wohl tun müssen.“ Ich drückte seine Finger, bevor ich unsere Verbindung löste, um einige Schlittschuhlängen vor ihm herfahren zu können. „Aber dafür wirst du mich erst einmal einholen müssen.“ Ich drehte mich weg von ihm, gab mehr Schwung und sauste einigermaßen sicher davon.

 

„Och nö~“, hörte ich ihn noch jammern und freute mich diebisch darüber. Leise in mich hineinlachend glitt ich über das Eis und genoss die Freiheit, die ich gerade verspürte, in vollen Zügen. Ob es an der bloßen Geschwindigkeit lag oder vielmehr daran, dass ich soeben den Entschluss gefasst hatte, es mit Karyu ernsthaft versuchen zu wollen, hätte ich nicht mit Sicherheit sagen können. Vermutlich war es eine Mischung aus beidem und darüber würde ich mich nicht beschweren. Letzten Endes schien die Auszeit, die ich mir erbeten hatte, doch etwas gebracht zu haben, und wenn es nur die Erkenntnis war, dass ich diesem Kerl mit Haut und Haar verfallen war. Und verdammt, ich genoss dieses Gefühl gerade mehr, als ich jemals für möglich gehalten hätte.

 

„Zero~!“

 

Karyus Stimme riss mich aus meinen Überlegungen. Gerade rechtzeitig konnte ich bremsen und mich umdrehen, um mitanzusehen, wie mein Freund mit eindeutig zu viel Schwung das Gleichgewicht verlor, erstaunlich elegant auf die Knie fiel, nur um die letzten Meter bis kurz vor meine Füße zu rutschen.

 

„Wenn du mir jetzt einen Heiratsantrag machst, gehe ich und fahr mit dem Taxi nach Hause.“ Ich hatte Ernst bleiben wollen, doch schon ab der Hälfte meines Satzes musste ich so heftig lachen, dass ich mich selbst nicht mehr auf den Schlittschuhen halten konnte. Wir mussten schon ein glorreiches Bild abgeben, wie wir beide prustend auf dem Eis hockten und nicht mehr auf die Beine kamen. Mein Gelächter verstummte erst, als ich plötzlich eine Berührung im Gesicht spürte. Karyu hatte mir einige meiner wirren Strähnen aus der Stirn gestrichen, während mich seine schönen Augen so intensiv musterten, dass ein ganzer Schwarm Schmetterlinge in meinem Magen zum Leben erwachte.

 

„Eingefangen hab ich dich schon mal.“

 

Ich nickte traumwandlerisch langsam und hätte mich gerade am liebsten an ihn gekuschelt, säßen wir nicht noch immer auf dem Eis und würden in regelmäßigem Abstand nicht andere Schlittschuhläufer an uns vorbeifahren.

 

„Wenn du mir jetzt noch einen Glühwein spendierst, musst du mich nicht einmal mehr entführen.“

 

„Dann hab ich dich also überzeugt?“

 

„Könnte man so sagen, ja.“

 

 

 

tbc …?


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo zusammen,


ich wünsche euch ein frohes neues Jahr und hoffe, ihr seid alle gut rübergerutscht.

Hier könnte die Story nun zu Ende sein, allerdings hätte ich noch eine vage Idee für einen zitronigen Abschluss des Ganzen. Lasst mich wissen, ob daran Interesse besteht. Momentan hält sich das Feedback wieder einmal sehr in Grenzen, was es mir nicht gerade leicht macht, herauszufinden, was ihr gern lest und was nicht. Von daher wären Reviews oder Favoriteneinträge wirklich super gern gesehen und echt hilfreich. ;) Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  MarryDeLioncourt
2022-01-04T09:55:54+00:00 04.01.2022 10:55
Hallöchen.
Bisher sehe süß und amüsant. Das erinnert mich btw auch immer daran, wenn ich von meinen Eltern wieder nach Hause fahre. Ich glaube das haben wohl viele Eltern gemein, dass sie denken, wir verhungern ohne sie, egal wie alt wir sind😂.
Und ein zitroniger Abschluss, wie du es so schön nennst, würde diese kleine winterlovestory wohl den letzten Schliff geben, 😁.
Liebe Grüße und dir auch ein gutes neues Jahr
Antwort von:  yamimaru
05.01.2022 19:41
Hey,
wie lieb von dir, dass du die Geschichte gelesen hast und mir sogar Feedback dalässt.
Das freut mich riesig, gerade wo Rückmeldungen im Moment wieder ziemlich rar gesät sind,
Aber egal, die Hauptsache ist, dir hat die Geschichte bislang gefallen. ;)
Ich glaube, die Elternfraktion wird immer Angst haben, dass die Kinderchen verhungern, egal wie ald besagte Kinderchen werden. XD Aber gut zu wissen, dass es dir da genauso geht. Bei mir war dafür früher immer meine Oma verantwortlich. ;D
Schön, dass du auch einen zitronigen Abschluss dieser kleinen Geschichte lesen würdest. Das behalte ich definitiv im Hinterkopf. ^__^
Dann hoffentlich bis bald und alles Liebe <3
Yami


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