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Blindes Vertrauen

Sieger Frühlings FF Wettbewerb 2004
von

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Omega - 2: Maskerade

Kapitel 2: Maskerade
 

"Du schwänzt deinen Nachhilfeunterricht in Mathematik."

"Es ist für einen guten Zweck."

"Trotzdem solltest du nicht hier sein."

"Das sagt derjenige, der sich einen Attest beim Arzt erschmuggelt hat."

"Ach, halt doch deine Klappe!"

Die junge Verkäuferin beobachtete die beiden Gestalten amüsiert, die langsam durch ihren Laden schlenderten, um immer dieselben Ständer umher. Zwei ungleiche Brüder, so vermutete sie, die sich nicht einigen konnten, was sie kaufen sollten. Die junge Frau lächelte und trat hinter ihrem Schalter hervor. Sie konnte sich noch gut genug an die Streitereien zwischen ihr und ihrem älteren Bruder erinnern, welche ähnlich abgelaufen waren.

"Kann ich euch beiden helfen?" fragte sie freundlich und lächelte, als der kleine Junge sie eisig anblickte und heftig seinen Kopf schüttelte, während der ältere Bruder erleichtert nickte.

Ein Trotzkopf und ein hilfloser Aufpasser also.

"Das wäre wirklich nett. Wir sind zu einer Geburtstagsfeier eingeladen und da unsere Gastgeberin gerne in Kostümen feiern will, sind wir nun auf der Suche nach einer passenden Verkleidung." Der junge Mann war vielleicht mit seinem kleinen Bruder überfordert, der noch finsterer drein schaute, seinen Arm ergriff und ihn erfolglos zur nächsten Tür zerren wollte, aber er benahm sich sehr höflich. Die junge Verkäuferin mochte solche jungen Männer.

"Klingt ja spannend. Weißt du eure Größen?"

"Nein, keine Ahnung."

"Kein Problem." Wie ein Cowboy in einem amerikanischen Western zog sie ein Maßband von ihrem Gürtel und schnappte sich einen strampelnden Jungen. Ein rotes Auge blitzte sie hasserfüllt an, aber sie war kleine Kinder gewöhnt.

"Lass mich los, du Zicke!" zischte der Junge, aber sie ignorierte seine Proteste einfach und maß professionell seine Größe, seinen Arm- und Brustumfang. Bei dem älteren Bruder konnte sie die Maße gut schätzen, er war etwa genauso groß und genauso schwer wie ihr eigener Bruder.

"Ich denke, für dich habe ich genau das Richtige." Fröhlich lächelte sie ihn fröhlich an. "Du wirst es mögen, jeder kleine Junge liebt dieses Kostüm."

Heimdal hätte sie am liebsten erwürgt.
 

***
 

"Das war peinlich!" Heimdal kochte innerlich vor Wut. Zornig schrie er Thor an, der vor ihm durch den weit ausladenden Park schlenderte. Der Einkauf hatte nicht mehr als eine Stunde gedauert, dem Wächter aber war diese Zeit wie eine Ewigkeit vorgekommen. Während der Donnergott umgarnt wurde, hatte man ihn wie ein kleines Kind behandelt - und ihm zum Schluss sogar einen Luftballon geschenkt, der nun hoch über ihnen thronte, da Thor sich den Luftballon schnappte, bevor Heimdal ihn hatte zertreten können.

"Das war oberpeinlich!"

"Dafür haben wir jetzt schöne Kostüme für morgen. Also grummel nicht so."

"Ich soll grummeln? Was würdest du denn machen, wenn dir so eine junge Schnepfe einfach so in die Wangen kneifen und dich >Süßer< nennen würde?" Heimdal brüllte nun, sein Gesicht war rot angelaufen und aufgebracht trat er gegen einen Stein, kickte ihn ganze zehn Meter weit fort.

"Reg dich nicht so auf..."

"Ich soll mich nicht aufregen?!" Heimdal schulterte die viel zu große Tasche und zog so kräftig an Thors Ärmel, dass dieser beinahe umfiel. "Bring mich nie wieder in solch eine Situation, du verdammter Blitzableiter!"

Heimdal blickte drohend in dunkle Augen und blinzelte überrascht, als der Donnergott leise zu kichern begann.

"Du siehst richtig niedlich aus, wenn du wütend bist. Weißt du das?"

"WAS???"

Der kindliche Gott ließ seine Tasche fallen und wollte sich auf Thor stürzen, aber der größere Gott hob ihn einfach vom Boden hoch und bevor es sich ein verdutzter Heimdal versah, saß er auf Thors starken Schultern. Gerade so wie ein kleines Kind.

"Sei doch wenigstens mal für eine Sekunde still, Heim." Der Donnergott legte seinen Kopf in den Nacken und schaute hinauf zu dem kleinen Gott, der noch immer unsagbar wütend, zugleich aber auch sehr unsicher aussah. Vermutlich erwartete er, jeden Augenblick heruntergeworfen zu werden und sich dabei schrecklich weh zu tun. "Schau statt dessen zum Himmel hinauf. Ist das nicht ein wunderschöner Sonnenuntergang?" Thor wandte seinen Blick dem zarten Orangeton zu, der das gesamte Firmament bedeckte. Die Kirschblüten leuchteten weiß im Kontrast, leicht bewegt von lauem Frühjahrswind.

Ein wunderschöner Sonnenuntergang?

Heimdal verzog skeptisch seinen Mund und umklammerte Thors Hals mit beiden Armen, als der Donnergott auf eine Parkbank stieg, um besser in den Himmel schauen zu können.

"In Walhalla waren die Sonnenuntergänge viel schöner." Erklärte der Wächter leise, konnte nicht verhindern, dass seine Stimme brüchig klang. Seine Wut war verraucht, hatte einer unendlichen Sehnsucht Platz gemacht. Einer Sehnsucht nach seiner Heimat.

"Anders vielleicht, aber nicht schöner."

Eine Weile standen sie schweigend auf der Parkbank, sahen nicht die Passanten, die teilweise kopfschüttelnd, teilweise lächelnd an ihnen vorbei liefen.

"Lass mich runter, Thor, ich muss nach Hause." Heimdal atmete erleichtert auf, als er wieder festen Boden unter seinen Füßen spürte, nachdem der Donnergott ihn sicher wieder abgesetzt hatte. Der Wächter blickte nicht in dunkle Augen, als er seine Tasche mit dem Kostüm aufhob und ohne ein Abschiedswort gehen wollte. Eine kleine Plastikschachtel versperrte ihm jedoch den Weg und widerwillig sah er auf.

"Sind ein paar Reisbällchen drin, Heim." Ohne zu erklären, wo der Donnergott das Essen her oder ob er es selbst gekocht hatte, drückte er die Schachtel dem kleineren Gott unzeremoniell in die Hand. "Du solltest regelmäßiger essen, du bist zu dünn."

Ich brauch keine Almosen!

Erst recht nicht von dir!

Heimdals Temperament loderte wieder auf, aber bevor er sich von dem verhassten Essen hatte trennen können, hatte sich Thor bereits umgedreht und war zur nächsten S-Bahn-Station gelaufen. Der Wächter wusste, dass er ihm mit der schweren Tasche nicht folgen konnte und stopfte die Schachtel schließlich zu seinem Kostüm. Vielleicht löste sich ja der Deckel und dann brauchte er dieses scheußliche Kleidungsstück niemals tragen.

Ich brauche deine falsche Freundschaft nicht, du Überläufer!

Heimdal seufzte, ergriff die Tasche und schleppte sie in Richtung seiner Wohnung davon. Obwohl er es sich fest vorgenommen hatte, warf er die liebevoll zubereiteten Reisbällchen nicht weg.
 

***
 

"Willkommen, Kazumi-kun. Ich hatte schon Angst, es wäre doch noch etwas dazwischen gekommen."

Das Tor quietsche ein wenig, als Mayura es öffnete und Heimdal herein ließ. Das Mädchen strahlte über das ganze Gesicht und war in einen braunen Mantel gehüllt. Eine ebenfalls braun karierte Mütze thronte auf ihrem Kopf und sie kaute unbewusst auf einer unbenutzten Pfeife herum. Jedem, der etwas von Weltliteratur und von Mayuras Vorlieben verstand, erkannte sofort, dass sie sich als Sherlock Holmes verkleidet hatte.

Ich hätte es wissen müssen.

"Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag." Sagte Heimdal und reichte ihr ein kleines Päckchen, das er in dem Geschäft hatte fachmännisch einwickeln lassen. Es interessierte ihn nicht wirklich, ob Mayura die Schokolade nun schmecken würde oder nicht, aber sie hatte gut im Schaufenster ausgesehen und schließlich ging man ohne Geschenke auf keine Geburtstagsfeier, auch nicht, wenn man sowieso nur seinen Erzfeind töten wollte.

"Arigatou, Kazumi-kun. Das ist wirklich lieb von dir."

Wenn du die Wahrheit kennen würdest, würdest du mich sofort wieder rausschmeißen.

"Gern geschehen." Antwortete er statt dessen und zuckte leicht zurück, als sie ihn unvermittelt umarmte.

"Die anderen sind hinterm Haus im Garten. Yamino-kun hat bereits den Grill angeworfen. Nach dem Abendbrot spielen wir Spiele." Mayura klatschte begeistert in ihre Hände, wobei sie beinahe ihr Geschenk fallen ließ. "Alle anderen sind auch schon da, das wird wirklich eine klasse Party!"

Ganz sicher...

Heimdal zwang sich zu einem Lächeln, obwohl er sich jetzt bereits extrem langweilte. Dabei war er extra eine Stunde zu spät gekommen, die Sonne war schon lange untergegangen und er hatte gehofft, dass sie im Haus feierten, da es noch immer Frühling und somit die Nächte noch recht kühl waren. Mayura schien jedoch andere Ideen zu haben und durchkreuzte somit Heimdals Plan, Loki im Haus aufzulauern, was wesentlich einfacher gewesen wäre als in Lokis ausladendem Garten mit den vielen Bäumen.

"Übrigens, hübsches Kostüm, Kazumi-kun."

"Wirklich?" Heimdal konnte nicht verhindern, dass seine Stimme sarkastisch klang, während er den schwarzen Umhang inspizierte.

"Ja, nur die Maske sitzt nicht richtig." Das Mädchen drehte sich plötzlich um und beugte sich zu ihm herab. Vorsichtig richtete sie die Maske, lächelte ihn glücklich an. "So sieht's perfekt aus, Kazumi-kun."

Sie hat nicht die Höhle gesehen, oder?

Nein, sonst würde sie nicht so dämlich grinsen.

Oder findet sie das gar normal? Wer weiß, was sich wirklich hinter ihrer harmlosen Fassade verbirgt? Vielleicht hat Loki sie in alles eingeweiht und ich bin derjenige, der in eine dämliche Falle tappt. Womöglich...

Papperlapapp! Ich muss an meine Mission denken! Ich brauche mein Auge zurück! Ich will nicht erblinden!

"Dein Kostüm ist auch schön." Brachte er hervor und hustete. Weit schob er seine nagenden Zweifel fort, folgte ihr, immer darauf bedacht, wie ein kleiner Junge zu wirken, der einfach nur bei ihr ein paar Spiele spielen wollte.

Solange es nicht Go ist! Das werde ich auch in dreitausend Jahren nicht begreifen!

"Nicht wahr? Papa hat's mir genäht! Endlich bin ein richtiger Detektiv und löse jeden Fall. Loki-kun kann bald seine Detektei schließen!"

Nee, für Go ist die zu doof.

Heimdal nickte scheinbar zustimmend und bog mit ihr um die Ecke, um im nächsten Moment von tausend Lichtern umgeben zu sein, die Glühwürmchen glichen. Schwerelos tanzten sie um ihn herum und er fragte sich, ob sich Odin so fühlte, wenn er in der Nacht auf die Erde herabblickte.

Bezaubernd...

Heimdal brauchte einige Augenblicke, um zu verstehen, dass es sich um Lampinons handelte, die rings um eine große Wiese an den Ästen der Bäume und an extra angebrachten Wäscheleinen hingen und im leichten Abendwind sanft hin und her schaukelten. Künstliches Licht gab es nicht, nur das Licht der Sterne, des beinahe vollen Mondes und all dieser Kerzen. Sie tauchten die große Tafel in ihrer Mitte in ein warmes Licht.

Das Weibsstück mag doof sein, aber sie hat Geschmack.

"Ich wusste es, jetzt kommt der Retter der Enterbten." Quietschte eine ihm wohl bekannte Frauenstimme und Heimdal stählte sich innerlich, als eine der drei Schicksalsgöttinnen aufsprang und auf ihn zueilte.

"Der Rächer der Enterbten ist Robin Hood, Urd. Das ist eindeutig Zorro!"

"Wie immer die Besserwisserin, Skuld."

"Aber er ist ein niedlicher Zorro." Die dritte Stimme gehörte Belldandy und Heimdal funkelte Urd wütend an, als sie ihn grinsend musterte und ihm schließlich seinen schwarzen Hut klaute, um durch seine Haare zu wuscheln.

Hab ich was in meiner Frisur? Wieso kann die nie jemand in Ruhe lassen?

"Cool, dass du doch noch gekommen bist. Hast es wohl endlich eingesehen und schließt Frieden?"

Na, bestimmt nicht!

Dennoch machte er gute Miene zu bösem Spiel und nickte tapfer. Wenn die drei Schicksalsgöttinnen oder die anderen glaubten, er würde Loki etwas antun wollen, dann würden sie ihn nicht aus den Augen lassen. Besser, ihnen etwas vorzuspielen und damit seine Ruhe zu haben - und eventuell die Chance zu bekommen, die ihm sein Auge und seine Heimat zurückgeben könnte.

"Das ist toll, Kazumi-chan." Urd, die sich in tausend Seidentücher gewickelt hatte und damit wohl wie die berühmte Märchenerzählerin Sherezade aussehen wollte, ergriff seine rechte Hand und zog ihn hinüber zu der großen Tafel, an der viele bekannte, aber auch viele unbekannte Gesichter saßen. Urds Schwestern, Belldandy und Skuld, hatten sich als Prinzessin Kaguya und Königin Elisabeth I. verkleidet, beides sehr passende Kostüme, wie er innerlich höhnisch bemerkte. Zu ihnen und Thor, der natürlich als Samurai dort saß, um nicht von seinem Hammer, der in der Menschenwelt in einem Katana, einem traditionell japanischen Schwert, steckte, getrennt zu sein, schob sich Heimdal einen Stuhl. Am Tisch der Tafel saß Mayura und zu ihrer Linken ihr Vater, der seinen Cowboyhut in den Nacken schob und sich betont lässig gab. Heimdal hatte ihn schon ein paar Mal gesehen und mochte ihn nicht sonderlich. Aber er schien ein guter Vater zu sein, sonst hätte das Mädchen ihn nicht eingeladen und bestimmt nicht in ihre Nähe gesetzt. Misgard stand als Pirat verkleidet hinter dem Grill, aber er enterte wohl keine Schiffe, sondern vielmehr saftige Steaks. Köstlicher Geruch verbreitete sich in der kühlen Abendluft und Heimdals Magen begann zu knurren. Immerhin hatte er den ganzen Tag noch nichts gegessen.

Die anderen Personen, vermutlich Mitschüler Mayuras, die sich als Indianer, japanische Kaiser und einige Märchengestalten verkleidet hatten, saßen ebenfalls an der Tafel und unterhielten sich angeregt, machten Photos und lachten gemeinsam mit Mayura über diesen und jenen Lehrer.

Wo ist eigentlich Loki?

Heimdal blickte sich suchend um, aber er konnte den Gott des Unheils nirgendwo finden. Wollte dieser der Feier etwa fernbleiben, weil er den Wächter durchschaut hatte und um seine Sicherheit fürchtete?

Nein, dann hätte er niemals zugelassen, dass sie mich einlädt.

Denn dass Loki den Geburtstag von Mayura nicht verpassen würde, das war klar. Genauso, wie Mayura unendlich traurig wäre, wenn Loki zu ihrer ganz persönlichen Feier nicht erschiene. Und traurig sah das Mädchen wirklich nicht aus, wie es eher weniger sorgfältig die Geschenke auspackte. Das Geschenkpapier schien ihr ständig im Weg und so riss sie es mit einem entschiedenen Ruck auf.

"Lecker! Weiße Schokolade!" rief sie erfreut und zeigte das kleine Päckchen hoch. Die durchsichtige Plaste reflektierte den Feuerschein und die anderen Personen nickten zustimmend, als sie die weiße Katze darin sahen.

"Genau das Richtige für dich, du Naschkatze." Meinte ein Mitschüler in blauer Matrosenuniform und der halbe Tisch bog sich vor Lachen. Vermutlich erinnerten sie sich gerade an ein Erlebnis mit Mayura, in dem das Mädchen seine Vorliebe für Schokolade unter Beweis gestellt hatte.

Ein Ereignis, an dem ich nicht teilgenommen habe.

Na, und? Das will ich auch nicht!

"Eine nette Geste, Heim." Flüsterte Thor so leise, dass nur Heimdal neben ihm es verstand. Der Donnergott wusste, wie sehr der Wächter seinen japanischen Namen verachtete, besonders mit dem kindlichen Zusatz, und hatte sich vorgenommen, diesen so wenig wie möglich zu gebrauchen. Es reichte, wenn die restlichen Gäste ihm mit >Kazumi-chan< anredeten und damit halb zur Weißglut trieb.

"Das Essen ist gleich fertig." Meldete sich die Piratenschlage zu Wort und klapperte mit einer hölzernen Zange. "Könntet Ihr so lange auf die Steaks aufpassen, Daidouzi-sama? Ich werde Loki-sama holen."

"Natürlich." Der Cowboy schlenderte lässig zu dem Grill hinüber. Er hatte die Sache voll im Griff. Auch wenn ein Steak ihm entkam und beinahe auf den Boden fiel.

"Wo ist Loki-kun eigentlich?" erkundigte sich Skuld, der erst jetzt das Fehlen des inoffiziellen Gastgebers aufzufallen schien, und korrigierte ein wenig ihre Perücke. Ihr Gesicht war weiß geschminkt und sie sah bizarr aus. Heimdal hoffte, dass sie am heutigen Abend keine Prophezeiung machen würde. Und wenn doch, dass diese Prophezeiung nicht ihn betrag, denn Skulds Voraussagungen waren nie besonders angenehm.

Hauptsache, es gibt etwas zu Essen, dann ist uns auch egal, wer es spendiert.

"Er suchte noch etwas und meinte, er käme dann gleich runter."

Verfressene Bande, alle samt! Bestimmt hat Thor Lokis Fehlen auch nicht bemerkt.

"Dann sollte er sich beeilen, die Steaks sind fertig." Mayuras Vater legte das köstlich duftende Fleisch auf einige Teller und stellte diese auf den Tisch, wo sie die Gäste bis an das Ende der Tafel hindurch reichten und zwischen den anderen Tellern abstellten, die so viel Essen - besonderes, gutes, gekochtes Essen - beinhalteten, wie Heimdal noch nie in dem Jahr gesehen hatte, das er nun schon auf der Erde verbüßte. Es gab Reisbällchen, Fisch, frische Okynomiaki, die noch keine fünf Minuten den Ofen verlassen hatten, exotische Früchte, Glasnudeln, diverse Soßen und - Heimdall glaubte seinen Augen nicht zu trauen - sogar Kartoffelbrei und heiße Kartoffeln, seine heimlichen Leibspeisen. Auch für den Nachtisch war gesorgt, Torten, Kuchen und Schokolade standen bereits auf einem Tisch abseits der Festtafel bereit.

Das hat alles Loki bezahlt. Das Mädel hat kaum Geld und der Vater bestimmt auch nicht.

Er macht ihr eine Freude, genauso wie all die anderen auch. Ganz einfach so...

Heimdal schluckte... und riss sein Auge auf, als er die Gestalt sah, die zusammen mit Midgard aus dem Haus trat. Loki hielt Fenrir auf seinem Arm, der Welpe hatte sich eine Krawatte um den Hals gebunden und einen lustigen Faschingshut aufgesetzt. Aber die lächerliche Aufmachung des Höllenhundes war es nicht, was Heimdal die Sprache verschlug. Es war vielmehr Lokis Anblick. Denn es handelte sich nicht länger um den kleinen Jungen, der eine Detektei betrieb und angeblich Privatunterricht erhielt. Nein, über den Rasen schritt der Gott des Unheils höchstpersönlich.

Das... das... das...

"Das Kostüm gefällt mir am allerbesten, Loki-kun." Mayura war aufgesprungen und zu ihm hinüber gelaufen, um einmal um ihn herum zu tanzen und ihn von allen Seiten eingehen zu begutachten. Loki lächelte sie leicht errötend an, fühlte sich ein wenig unsicher in den hellen Gewändern. Aber nur ein wenig. Seiner Mayura gefiel es und das war die Hauptsache.

Er trägt seine traditionelle Kleidung!

Heimdal starrte mit offenem Mund auf den mächtigen Gott, sah nicht mehr den Kinderkörper, der in dem weißen Gewand steckte, das ärmellos war und ihm bis über die Füße reichte, so dass er aufpassen musste, nicht über den Saum zu stolpern und hinzufallen.

Er trägt sogar den Kranz!

Der Lorbeerkranz thronte in braunem Haar, die daran befestigten Flügel wippten leicht auf und ab, während Loki seine Mayura zu der Tafel begleitete und an ihrer rechten Seite Platz nahm. Fenrir rollte sich in seinem Schoß zusammen, wohl wissend, dass ab und an ein Leckerbissen für ihn abfallen würde, und dass er nach dem Abendbrot einen großen Napf mit einem noch größeren Steak von seinem jüngeren Bruder erhalten würde.

Ja, so eine Familie war toll!

"Wirklich cooles Outfit." Bemerkte ein Mitschüler und zwei andere Mitschülerinnen, beide als Rotkäppchen und Schneewittchen verkleidet, stimmten lautstark in sein Urteil ein. Damit unterbrachen sie die merkwürdige Stille, die an der Tafel entstanden war. Die Schicksalsgöttinnen und Thor hatten ebenfalls den einst so starken Gott des Unheils gesehen, nicht länger den kindlichen Loki, und sich stumm gewundert, ob diese Macht noch immer in ihm steckte und sie es einfach nicht gesehen hätten.

Ob er noch immer das Zeug besaß, sich gegen Odin aufzulehnen und ihn zu besiegen.

Nein, ich werde ihn besiegen!

Heimdal holte tief Luft, dann ergriff er mit seiner rechten Hand das Glas, das vor ihm stand, und hob es im Gruß. Mayura räusperte sich und sprach die wohl kürzeste Rede, die Heimdal je in seinem Leben gehört hatte.

"Arigatou, dass ihr alle gekommen seid. Viel Spaß bei der Feier."

Die Götter wie auch die Schüler prosteten ihr zu und auch Heimdal nahm ein Schluck von seinem Getränk, nur, um zu erkennen, dass es sich dabei um Sekt handelte. Nun, vielleicht würde diese Party doch nicht so langweilig werden.

Bereits wollte er zu Messer und Gabel greifen, um sich das erste Steak zu nehmen, als Mayura sie alle um Einhalt gebot.

"Einfach nur essen ist doch langweilig. Ich kenne da ein lustiges Spiel..." Sie hielt einen Schal, eine Mütze und ein paar Handschuhe, die aneinander genäht waren, in die Höhe und Heimdal stöhnte innerlich auf. Die Party würde noch schlimmer werden, als er sich das jemals erträumt hatte.

Kinderspiele.

Ich habe Hunger!

"Jeder würfelt mit diesem Würfel." Sie gab die Kleidungsstücke an Loki weiter und hielt einen faustgroßen, roten Würfel in die Höhe, der wirklich nicht zu übersehen war, selbst nicht in der Dunkelheit des Abends. "Wenn er eine Sechs würfelt, muss er sich so schnell er kann, all diese Sachen anziehen und darf dann essen, aber nur so lange, bis jemand anderes eine Sechs würfelt. Dann muss er sofort aufhören mit essen und die Sachen dem anderen geben, damit sich dieser so schnell wie möglich umzieht und zu essen beginnt..."

Oh nein, ich werde verhungern!

Thor blickte ebenfalls nicht glücklich drein, sein Magen schien ebenso heftig zu knurren wie Heimdals, aber die beiden wurden rasch von begeisterten Göttinnen und Mitschülern überstimmt.

"Gut, dann fangen wir an. Trinken ist natürlich immer erlaubt, nicht, dass einer an seinem Steak erstickt." Mayura grinste über das ganze Gesicht. "Und keine Panik an die Hungrigen unter euch, nach spätestens einer Stunde können wir dann normal essen, aber so lange will ich das Spiel schon spielen."

"Keine Bange." Rief Urd begeistert von der Idee und fieberte bereits dem Würfel entgegen. "Essen können wir später noch, jetzt wollen wir Spaß haben!"

"Hört, hört!" pflichtete Skuld ihr bei und es war einer der wenigen Momente, in denen sich die beiden Schicksalsgöttinnen einig waren. Weitere Photos wurden geschossen und Thor und Heimdal sahen, wie die köstlichen Steaks in weite Ferne rückten.

Loki würfelte als Erster. Natürlich hatte er sofort eine Sechs.
 

***
 

"Jetzt sind wir vollgefuttert und könnten etwas Bewegung gebrauchen. Wie wäre es mit Karaoke?" schlug Urd vor und Heimdal hätte die falsche Sherezade am liebsten erstochen. Erstens war er noch nicht satt, immerhin hatte er erst vor zwei Minuten richtig zu essen beginnen dürfen, ohne sich jedes Mal in Schal und Mütze einwickeln zu müssen, wenn ihm denn das Glück überhaupt hold war und er eine Sechs würfelte. Und zweitens hasste er Karaoke-Singen. Seine Grundschullehrerin hatte es einmal mit ihrer Klasse getan und einmal versuchten Thor und Freyr, ihn zu diesem dummen Spiel zu überreden. Nie kannte er die Lieder und wenn er doch mit der Melodie etwas anzufangen wusste, fiel ihm nie der Text ein. Nein, er würde keinen Spaß daran haben. Ganz und gar nicht.

"Spitze Idee!" stimmte Thor der Schicksalsgöttin mit vollem Mund zu und Heimdal sah ein, dass es wohl kein Entrinnen gab. Zumindest nicht beim Zuhören, singen würde er nicht. Nein, nie und nimmer!

"Ich hab eine Liste mit Liedern..." Mayura kramte einen Zettel hervor und Midgar machte sich sofort daran, den kleinen CD-Player sowie ein dunkles Mikrophon anzuschließen. Er war auf alles vorbereitet.

"Perfekt. Jeder, der gesungen hat, bestimmt den nächsten Titel und den nächsten Sänger." Skulds Vorschlag traf auf breite Zustimmung, nur Heimdal versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Er zog seinen Teller nah an seinen Körper und aß, in der Hoffnung, dass man ihn übersah.

Wie soll ich bei diesem Theater Loki vernichten?

Der Abend ist erst jung, bestimmt haben sie noch andere Spiele geplant und dann ist der Weg frei für mich.

Allein diese Hoffnung hielt ihn bei dieser Feier aufrecht, schlug ihn nicht sofort in die Flucht. Besonders in jenen Augenblicken, da er sich beinahe mit dem Schal strangulierte und Mayura eine Sechs würfelte und ihm die Handschuhe fortgerissen wurden, ohne dass er auch nur einmal in die leckere Kartoffel hatte beißen können, die die folgenden fünf Runden unangetastet auf seinem Teller lag, als wollte sie ihn verspotten.

"Fangt ihr dann gleich an?" schlug ein Mitschüler Mayuras vor, dessen Kriegsbemalung nach dem Essen ein wenig verwischt war, und hob seinen Photoapparat, um die nächsten hundert Bilder zu schießen. Er hatte die Festplatte seiner Digitalkamera bereits zwei Mal gewechselt.

Japaner sind verrückt nach Photos.

Heimdal tastete unauffällig nach einer Handvoll Lychees und einem Pfirsich, beobachtete schweigend die Schicksalsgöttinnen, die sich ohne zu zögern der Herausforderung stellten.

Japaner sind noch verrückter nach Karaoke!

"Hm... was wollt ihr?" fragte Mayura, die erst überlegte, ob sie erklären sollte, dass die jungen Frauen einzeln zu singen hatten, da sie nur ein Mikro besaßen, entschied sich dann aber dagegen. Urd, Skuld und Belldandy würden sich schon etwas einfallen lassen, dessen war sie sich sicher.

"Such du was aus." Urd lüftete leicht ihre Schleier, um sicher zu der kleinen Plattform zu gelangen, die Heimdal erst jetzt sah. Sie stand etwa zwei Meter von der Tafel entfernt und war mit Extralampions ausgestattet. Fünfzig Zentimeter erhöhten die Bretter die Sänger. Fünfzig Zentimeter zu viel für den Wächter.

"Ok, dann Lied Nummer eins. Bitte schön, viel Spaß." Mayura reichte der ältesten der Schwestern das Mikro und nickte Midgar zu, der die entsprechende CD einlegte und auf Play drückte. Sofort ertönte Musik, die sogar Heimdal bekannt vorkam. Er konnte sich nicht an die Sänger erinnern, aber Freyr hatte diese Musik öfter gehört.

"Help!" sangen alle drei Geschwister auf einmal und die Schüler begannen, laut zu klatschen und zu pfeifen, als sich die Schicksalsgöttinnen so richtig in Pose warfen. Heimdal war dies alles ungemein peinlich und er griff nach seinem Sektglas, das noch immer halb voll war, zum Abendbrot selbst hatte es Tee, Mineralwasser und Limo gegeben. Vielleicht ließ sich dieses Chaos im beschwipsten Zustand leichter ertragen.

"I need somebody." Urd schmollte in die Runde und blinzelte geblendet, als sie prompt photographiert wurde.

"Help!"

"Not just anybody." Skuld schnappte ihrer großen Schwester das Mikro weg und tanzte damit quer über die Bühne zu Belldandy, Urd natürlich dicht auf den Fersen.

"Help!"

"You know I need someone."

"Help!"
 

"When I was younger, so much younger than today

I never needed anybody's helping anyway."
 

Urd hatte das Mikro zurückerobert und strich sich durch ihre langen Haare, tat so, als sei sie schon furchtbar alt.

Eigentlich ist sie das ja auch.

Heimdal grinste hämisch und schenkte einfach Urds Sekt in sein eigenes Glas um, um ihn dann zu trinken. Wenn die Schicksalsgöttin nicht an ihrem Platz war, so war das nicht seine Schuld. Sie hatte sich selbst dort hinein geritten!
 

"But now these days are gone and I'm not so self sure

And now I find that change of mind has opened looked doors."
 

Skuld sang ebenfalls leidend in das Mikro, so als habe sie wirklich ihr Selbstvertrauen verloren. Dabei waren sie Göttinnen, die das Schicksal der Menschen webten, sie verloren nie ihr Vertrauen - denn sonst wäre die Zukunft und damit die gesamte Welt verloren.

So ein bescheuertes Lied!
 

"Help me if you can

I'm feeling down."
 

Nun war Belldandy an der Reihe. Sie hatte die klarste und schönste Stimme der drei Schwestern, vermasselte jedoch den Einsatz, als ihre zwei Schwestern plötzlich hinter ihr standen und ganz laut und vor allen Dingen ganz falsch >down, down, down< sangen. Die anderen Gäste tobten und weitere Photos wurden geschossen.
 

"And I do apreciate you being round."

>Round, round, round.<
 

"Help me get my feet back on the ground."

>Ground, ground, ground.<
 

Skuld und Urd umarmten ihre Schwester und gemeinsam sangen sie in das Mikrophon, während sie langsam auf den Boden sanken:
 

"Won't you please, please help me, help me, help meeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeee."
 

"Bravo!" klatschten Thor und Mayura hingerissen, der Matrosenschüler knipste zehn weitere Photos, besonders da Urd unbeabsichtigt ihre Seidenröcke zu hoch gerutscht waren. Alle waren begeistert, nur Heimdal blickte nicht besonders erbaut drein, stahl nun Belldandys Sektglas, bevor diese zurückkehrte und ihn auf frischer Tat ertappte. Wenn sie es später bemerkte, würde er einfach behaupten, von nichts zu wissen. Das klappte immer. Nun ja, fast immer. Ach, egal, Hauptsache, die ganze Sache ging ihm nicht mehr so auf die Nerven!

"Ein starker Auftritt, Mädels." Mayuras Vater hob anerkennend seine Sakeflasche, um die Heimdal ihn unendlich beneidete, und prostete den Schwestern zu.

"Wer ist der nächste?" Das Geburtstagskind hielt Urd den Zettel entgegen und an ihrem Grinsen konnte Heimdal deutlich erkennen, dass dies gerade eine schlechte Idee gewesen war. Eine ganz schlechte Idee.

"Loki-kun."

Aber das Schicksal verschonte den Wächter dieses Mal und er atmete erleichtert auf. Erleichtert und auch schadenfreudig, denn Loki erbleichte ein wenig und nahm sichtlich nervös das Mikrophon entgegen. Heimdal freute sich gerade diebisch, bis er das freche Grinsen auf dem Gesicht des Unheilsgottes sah, als ihm das Stück genannt wurde, zu dem er singen sollte. Falsche Töne und vergessene Zeilen spielten keine Rolle, Hauptsache, man konnte sich inszenieren. Und Loki konnte das.

Das hat er schon immer gekonnt.

Heimdal erinnerte sich noch gut daran, welch schauspielerisches Talent in dem jungen Gott steckte, wenn sie wieder etwas angestellt hatten und sich vor Odin dafür verantworten mussten. Loki hatte sie fast immer aus dem gröbsten Schlamassel herausgeredet. Damals, als sie noch Freunde gewesen waren. Vor der Prophezeiung. Vor dem Verrat...

Ja, Heimdal wusste, was für ein Talent in dem Unheilsgott steckte, aber der Auftritt Lokis, besonders in einem Kinderkörper, verschlug ihm fast die Sprache und er hustete heftig, als er sich an Belldandys Sekt verschluckte.
 

"kimi wa seijitsu na moralist

kirei na yubi de boku o nazoru

boku wa junsui na terrorist

kimi no omou ga mama ni kakumei ga okiru"
 

Loki hielt das Mikro fest in seinen Händen und tanzte lasziv zu Mayura hinüber. Diese kicherte, als er zuerst seine Hand durch ihr langes Haar gleiten ließ, dann seinen Arm lässig um ihre Schultern legte und ihr schließlich einen kurzen Kuss auf die Wange drückte. Die Schicksalsgöttinnen grölten und auch Mayuras Vater schien sich nicht daran zu stören, dass Loki in seinem Alter nicht nur den Text dieses Liedes kannte, sondern ihn auch noch dessen Tochter vorsang - mit einem mehr als eindeutigen Augenaufschlag.

Gespielt hin oder her, er steckt im Körper eines neunjährigen Jungen und sie ist heute siebzehn Jahre alt geworden! Merkt das hier keiner?

Heimdal, der sich fragte, wann Thor in Nasenbluten ausbrechen würde, so sehr starrte dieser die zwei Hauptakteure des Karaoke-Aktes an, blickte sich um, aber alle feierten bei Lokis Auftritt, ja, beinahe alle der Schüler sangen den Text stumm mit.
 

"koi ni shibarareta specialist

nagai tsume o taterareta boku

ai o tashikametai egoist

kimi no oku made tadoritsukitai"
 

Nun spielte Mayura auch noch mit und strich sanft mit ihren Fingern über Lokis Wange. Waren denn hier alle so blind und sahen nicht, dass sich gerade ein Neunjähriger an eine fast volljährige Oberschülerin ranmachte? Egal, ob dieser nun ein Gott war oder nicht!
 

"kimi no kao ga toozakaru

ah boku wa boku de nakunaru mae ni"
 

Mayura schubste Loki leicht von sich, nur, um ihn dann wieder an sich heran zu ziehen. Sein Lorbeerkranz verrutschte leicht und sein Grinsen wurde eine Spur ernster, als er die letzten Zeilen des bekannten Liedes einer japanischen Rockgruppe sang. Der Schalk verschwand aus seinen Augen und nur Heimdal schien es zu bemerken.

Meint er es wirklich ernst mit ihr?

Mit ihr? Einem Mystery-Fan? Sie wird ihn doch schreiend rauswerfend, wenn sie die Wahrheit über seine Herkunft erfährt. Ihn und seine missratenen Söhne.

Und was ist, wenn nicht?
 

"aishite mo ii kai? yureru yoru ni

arugamama de ii yo motto fukaku

kuruoshii kurai ni nareta kuchibiru ga tokeau hodo ni

boku wa...kimi no...Vanilla"
 

Beim letzten Vers ergriff Mayura ihren Loki und zog den kindlichen Gott auf ihren Schoß, wo sie ihn wie gefangen fest umarmte. Der Junge grinste in die Linsen diverser Kameras, als habe er wirklich eine große Eiskrem erhalten. Noch immer feierten die anderen Gäste, schienen das alles nur für eine riesige Schau zu halten, vielleicht sogar die Hauptakteurin schlecht hin: Mayura. Heimdal sah seinem Erzfeind jedoch an, dass es sich bei ihm nicht um eine Show gehandelt hatte, ganz und gar nicht. Seine Gefühle waren echt gewesen.

Nein, ich habe kein Mitleid mit ihm!

Ich muss ihn vernichten!

Er hat mir mein Auge zurückzugeben - ansonsten werde ich erblinden!

Das ist meine höchste Mission. Wie sein beschissenes Privatleben aussieht, geht mich verflucht noch mal einen feuchten Dreck an!

"Ich Text, du Opfer." Ordnete der Gott des Unheils das Mädchen an und rutschte von ihrem Schoß, um die Liste der magischen Lieder eingehend zu studieren. Mayura und Midgar hatten sie zusammen erstellt und er mochte die Auswahl: lustige Lieder, traurige, romantische, aus den Charts, aus Filmen und aus Musicals. Er beobachtete, wie Mayura zu den anderen zwei Göttern hinüber ging, die bis jetzt noch verschont geblieben waren und musste grinsen, als Heimdal versuchte, unter das Tischtuch zu kriechen. Es war offensichtlich, dass er lieber sterben als Karaoke singen würde. Mayura schien dies auch zu spüren, oder sie ließ sich von Thors offenherzigem Gesicht beirren, jedenfalls wählte sie den Donnergott und Loki konnte beinahe den Steinberg sehen, der dem Wächter soeben vom Herzen gefallen war. Kurz überflog der Gott des Unheils noch einmal die Titelliste, bevor er sich für ein Lied entschied, von dem er wusste, dass es Thor nicht nur kannte, sondern dass es auch zu ihm passte.

"Hier." Er hielt dem jungen Gott Mikro und Zettel entgegen, wo er mit dem Zeigefinger auf besagtes Lied deutete.

Der Donnergott nickte und schob sich einen Stuhl auf die Bühne, um sich mit einem theatralischen Gesichtsausdruck darauf zu setzen. Loki mochte der Meister der Schauspieler sein, aber er war auch nicht schlecht.

Leise Klaviermusik wurde eingespielt und neben den Lampions erhellten bald darauf die ersten Feuerzeuge und Wunderkerzen die Nacht. Heimdal wunderte sich für einen Augenblick, woher die Jugendlichen diese Utensilien hatten, erinnerte sich dann aber an die Karaokeverrücktheit der Japaner und entschloss, sich darüber nicht mehr zu wundern, es verschwendete nur seine Energie.
 

"Where do we go from here

This isn't where we intended to be

We had it all, you believed in me

I believed in you"
 

Natürlich kannte Heimdal das Lied, es entstammte einem amerikanischen Film, den sich Freyr oft angeschaut hatte. Wenn er jetzt hier sein könnte, er wäre begeistert, würde vermutlich mit Thor zusammen singen. So aber saß der Donnergott allein auf der Bühne und bot ebenfalls eine gute Show. Man konnte ihm seine Traurigkeit beinahe abnehmen.

Heimdal schluckte, als er sich der Worte bewusst wurde und verfluchte Loki einmal mehr dafür, dass er ausgerechnet dieses Lied ausgewählt hatte. Der Wächter hatte es in dem Film schon gehasst. Es wurde von einer todkranken Frau gesungen, die auf ihrem Sterbebett erkannte, wie sehr ihr Mann sie liebte, den sie immer nur als politisches Mittel, nie als Menschen mit Gefühlen gesehen hatte.
 

"Sudden tears disappear

What do we do for our dream to survive

How do we keep all our passion alive

As we used to do"
 

Ein beschissenes Lied!

Heimdal sah sich um und stahl Thors Sektglas, als er erkannte, dass dieser sich während des Abendbrotes auch mehr an die Limonade gehalten hatte.

Mag hier denn keiner mehr Alkohol?

Muss ich erst diesen bekloppten Cowboy umbringen, um mich betrinken zu können?
 

"Deep in my heart I'm concealing

Things that I'm longing to say

Scared to confess what I'm feeling

Frightened you'll slip away"
 

Thor schaute in die Runde - und die ersten Mädchen suchten doch tatsächlich nach ihren Taschentüchern! So traurig war das Lied auch nun wieder nicht!

Heimdal trank den Sekt mit einem großen Schluck und ärgerte sich, als Thors Blick von Mayuras Vater rasch auf die Schicksalsgöttinnen fiel, ihn ausließ.

Na toll, erst geht er mit mir dieses bescheuerte Kostüm einkaufen und dann werde ich ignoriert. Na danke auch!

Die Stimme des Donnergottes war sanft und er traf sogar alle Töne, was bei den Schwestern nicht unbedingt der Fall gewesen war. Die Mädchen hingen ihm förmlich an den Lippen und Heimdals Nervpegel erreichte neue Höhen.
 

"Deep in my heart I'm concealing

Things that I'm longing to say

Scared to confess what I'm feeling

Frightened you'll slip away."
 

Die ersten Mädchen seufzten wohlig ob der Romantik des Liedes und Heimdal sah sich gequält nach einer Rettung um - und fand sie auf dem Süßigkeitentisch in Form einer großen Bowle. Wenn dort kein Alkohol drin war, wenigstens ein bisschen, schließlich war das Geburtstagskind keine fünf Jahre mehr, dann würde er sich umbringen oder, was noch schlimmer war, sich die Liedliste ansehen und freiwillig das dümmste davon vortragen.
 

"You must love me.

You must love me.

You must... love me."
 

Spätestens jetzt waren alle Mädchen dahingeflossen, selbst Mayura, die möglichst unauffällig in ein Taschentuch schnäuzte. Einen Moment herrschte Schweigen, dann applaudierten die anderen und die Feuerzeuge blitzten ein letztes Mal auf, als sich der Donnergott tief verbeugte und schließlich an seinen Platz zurückkehrte, nachdem er den Matrosenjungen mit einem modernen Lied, das Heimdal nicht kannte und auch nicht weiter kennen wollte, ausgesucht hatte. Es war sehr rhythmisch und schon schunkelten alle mit.

Das war der Tropfen, er das Fass zum Überlaufen brachte.

Ich harke mich nicht bei jemandem unter! Diesen Käse können die vergessen!

Entschlossen ergriff er eine weitere Kartoffel und erhob sich. Mayura, die fragend aufsah, deutete er, dass er ein wenig Bewegung nach dem reichhaltigen Mahl bräuchte und ging hinüber zu den Bäumen, nachdem sie ihn verstehend zugenickt hatte. Sie hatte nicht von jedem erwartet, die Karaokeidee toll zu finden und akzeptierte, dass er sich lieber verzog, bevor er wirklich singen musste. Immerhin hatte er sich beim Essen wacker geschlagen und sie würde ihn bei dem nächsten Spiel wieder holen.

Mühelos schwang er sich auf einen Ast und lehnte sich gegen den Stamm. Schweigend blickte er durch die Blüten hinauf zum Mond, der beinahe voll am klaren Himmel stand. Die Luft war kühl, aber angenehm, der wenige Sekt wärmte ihn von innen, auch wenn er lieber betrunkener wäre. Nun, vielleicht hatte er mit der Bowle Glück, er würde es später herausfinden.

Ein Mädchen im Schneewittchenkostüm folgte dem Matrosen und sang mit heller Stimme ein eher klassisch angehauchtes Stück. Sie schaffte die Höhen mühelos und wurde zum Dank mit einigen Schneeglöckchen beworfen in Ermangelung der Rosen.

"Eine schöne Nacht." Thor fragte erst gar nicht, ob er denn erwünscht wäre, sondern schwang sich neben ihn auf den Ast, der sich gefährlich bog, aber ihren beiden Gewichten dann doch Stand hielt. Der Donnergott hielt einen Apfel in seiner Hand, den er gedankenverloren an seiner dunklen Samuraikleidung polierte, bis er glänzte. Dabei blickte auch er zum Himmel empor, ließ seine Beine baumeln, so dass der Ast leicht hin und her wippte.

Heimdal wollte ihn erst anfahren, sagte dann aber doch nichts.

"Sie haben viel Spaß mit ihrer Feier." Thors Stimme war seltsam monoton und er wechselte den Apfel von der rechten in die linken Hand, nur, um ihn weiter zu polieren. "Das erinnert mich an unsere Saufgelage in Walhalla, Heim. Kannst du dich noch daran erinnern? Loki war manchmal so betrunken, dass er gar nicht mehr stehen konnte und wir beide ihn in seine Gemächer tragen mussten."

Erneut antwortete Heimdal nicht und es schien, als störte es den Donnergott nicht, als bräuchte er einfach nur die Chance, darüber zu reden, was ihn am meisten bewegte.

"Während seine Kinder in Asgard weilten, hat er keinen einzigen Tropfen angefasst, Heim. Für ihn war der Alkohol immer ein Spiel, eine Erheiterung gewesen in seinen Junggesellentagen. Und dann haben sie sie ihm genommen..." Thor seufzte leise. "Danach waren wir noch einmal aus, in der Menschenwelt, in einer Kneipe." Der Apfel verharrte über Thors Brust und der Gott seufzte tief. "Ich dachte, Loki will sich nicht betrinken, sondern ertrinken. Es war beängstigend."

Noch immer starrte Heimdal stumm zum Mond hinauf. Die Musik und das Gelächter der anderen drangen kaum an ihre Ohren.

"War es denn so eine Sünde, dass Loki die drei aufgenommen hat? Was war so schlimm daran, dass er alles zerstört hat?" Thor schüttelte seinen Kopf und blickte hinüber zu Heimdal, dessen Gesicht in den Schatten der Äste verborgen lag.

"Ich wünschte, es wäre wieder so wie früher, Heim. Ohne die Angst vor Ragnarök und ohne den Hass."

"Ich will einfach nur nach Hause." Gab der Wächter so leise zu, dass Thor ihn beinahe nicht gehört hätte. "Einfach zurück nach Walhalla und diesen ganzen Scheiß hier vergessen." Er deutete mit seiner linken Hand auf seinen Kinderkörper und presste die rechte gegen die Höhle, die allmählich wieder zu schmerzen begann. Die letzten Tage war er von größerer Pein verschont geblieben, aber er hatte geahnt, dass die Hilfe Odins nicht ewig andauern würde.

"Loki kann von mir aus hier bleiben bei dieser dummen Tussi und seinen Gören. Ich will mein Auge zurück und in Walhalla meinen Platz wieder einnehmen." Tränen brannten in seinem Auge und Heimdal fragte sich, ob die vier Gläser Sekt diese Wirkung auf seinen kleinen Körper hatten. Früher hatte er ein halbes Duzend Bierkrüge austrinken können, ohne dass ihm auch nur schwindelig wurde - und nun schüttete er dem Donnergott sein Herz aus, als sei er bereits sturzbetrunken. Und das nach einer derartig geringen Menge Alkohol, die er früher nicht einmal für voll genommen hätte.

Ja, früher...

"Also willst du ihn gar nicht töten?"

"Ich..." Thors Frage hatte ihn überrumpelt und Heimdal hielt für einen langen Moment inne. Der Donnergott drängte ihn nicht. "Ich hab keine Ahnung... vielleicht, vielleicht nicht... auf jeden Fall werde ich es sowieso irgendwann tun müssen. Ragnarök ist unausweichlich, wann immer es auch stattfinden wird."

"Scheiß Prophezeiung." Fluchen sah dem Donnergott überhaupt nicht ähnlich, aber Heimdal nickte nur zustimmend.

"Loki hat mein Auge gestohlen, dafür muss er auf jeden Fall büßen!"

"Was ist, wenn er es nicht gestohlen hat?"

"Wer hat's dann, Thor?" Heimdal lehnte sich zu Thor hinüber und schob den violetten Vorhang und die schwarze Maske zur Seite. Das Pochen verstärkte sich unangenehm, als er das rechte Lid öffnete und dem Donnergott die Leere dahinter zeigte. "Es ist ja nicht mehr da, oder ist mir da was entfallen? Und als es verschwand, stand Loki direkt vor mir. Ich denke, die Indizien sind zu belastend."

Heimdal erwartete, dass Thor angeekelt zurück schreckte oder eines dieser verflucht mitleidigen Gesichter aufsetzte, aber der Donnergott hob lediglich seine freie Hand und strich damit zögernd über Heimdals unversehrte Wange.

"Tut es eigentlich immer noch weh? Du hattest am Anfang diese Art Anfälle." Murmelte er und wunderte sich, warum er diese Frage nicht schon viel eher gestellt hatte - und warum er jetzt auf einmal den Mut aufbrachte, so offen mit Heimdal darüber zu sprechen.

Soll ich es ihm sagen?

Wird er mir glauben?

Wird er mir helfen, von Loki mein Auge zu fordern und damit mein Augenlicht und mein Leben zu retten?

Oder wird ihm sein ehemaliger bester Freund, mein jetziger Feind, wichtiger sein?

Heimdal wusste es nicht. Er wusste jedoch genau, dass er diese Bowle dringender benötigte als je zuvor. Die Feier ging noch lange und er glaubte nicht, sie im nüchternen Zustand ertragen zu können. Nicht mit all den Menschen, die so fröhlich sein konnten, während er sich so unsagbar traurig fühlte.

"Heim?"

"Kommt ihr zwei? Wir wollen Blinde Kuh spielen und später vielleicht noch eine zweite Runde Karaoke singen. Ihr kennt doch Blinde Kuh, oder?"

"Hai." Rief Thor zu Mayura herunter, die zu ihnen heraufspähte und dabei stolz ihre Pfeife in die Luft hielt. Sie spielte sehr gerne Sherlock Holmes und der Donnergott wünschte, ebenfalls über die scharfe Kombinationsgabe des berühmten Privatdetektiven zu verfügen. Früher schon war Heimdal immer ein Buch mit sieben Siegeln für ihn gewesen, nun aber verstand er ihn überhaupt nicht mehr.

"Heim?"

"Ich will einfach nur nach Hause, Thor. Einfach nur nach Hause." Mit diesen Worten sprang Heimdal vom Ast und ließ sich sogar als Erster die Binde über seine ohnehin fast unbrauchbaren Augen legen.
 

***
 

"Midgard hat wirklich eine sehr schwierige Fährte gelegt." murmelte Thor und bückte sich, um weitere Äste beiseite zu schieben.

Nachdem sie ausgiebig >Blinde Kuh< und >Stille Post< gespielt und viel gelacht hatten, schlug die Weltenschlage vor, auf Schnitzeljagd zu gehen. Er hatte sich bereits während der letzten Spiele von den anderen entfernt und alles vorbereitet. Nun schwirrten kichernde Schüler und Götter durch den großen Garten und suchten nach gut versteckten Hinweisen, die sie zu einem tollen Schatz führen sollten.

"Der hat bestimmt gar keine Fährte gelegt und lacht sich jetzt ins Fäustchen." Heimdal verschränkte skeptisch seine Arme vor der Brust. Er verstand nicht, warum er überhaupt hier stand und an dieser blöden Schnitzeljagd teil nahm. Schließlich hatte er die letzte Stunde diverse dumme Kinderspiele über sich ergehen lassen, sein Bedarf an >Spaß< war mehr als gedeckt.

"Nein, man muss nur gut suchen." Thor erhob sich wieder und zeigte triumphierend ein kleines Stück Papier in die Höhe. "Wir werden diesen ominösen Schatz schon heben!" Der Donnergott ergriff Heimdal bei seiner rechten Hand und zog den innerlich genervt stöhnenden Wächter durch dunkles Dickicht. Hier schien selbst das Licht des Mondes und das der Laternen zu versagen. Heimdal war dies nur recht, die Dunkelheit tat seinem Auge, das weiterhin unangenehm pochte, besser als jede Helligkeit, selbst die einer Kerze.

Ich muss mein Auge wieder bekommen!

"Was glaubst du wohl, was das für ein Schatz sein wird?" fragte er spöttisch, als Thor plötzlich bremste und er beinahe gegen ihn prallte.

"Eine Truhe voller Gold."

"Gierhals." Heimdal schüttelte seinen Kopf und lehnte sich schließlich ergeben gegen den Stamm, als Thor wieder auf die Knie sank und erneut den Boden abzusuchen begann wie ein wilder Spürhund. "Da ist sicherlich nur eine Tafel Schokolade drin."

"Umso besser, dann werd ich sie essen." Grinste Thor und schob sich weiter durch den Busch vor sich, der seine Samuraikleidung beschmutzte. Es schien den jungen Gott jedoch nicht zu stören. Nichts konnte ihn an diesem Abend die gute Laune verderben. Nichts.

"Fresssack!"

"Ja, und?"

Heimdal grummelte nur genervt einige nicht besonders schöne Worte und drehte sich um, um zu schauen, wo die anderen waren. Die Mädchen, ja sogar die Schicksalsgöttinnen, hatten sich mit tragbaren Lampions bewaffnet, weil sie angeblich in der Finsternis des Gartens die Fährte nicht hätten sehen können.

Pah! Die haben doch alle nur Angst!

Wobei es Heimdal amüsierte, dass sich sogar die Schwestern, Göttinnen, die das Schicksal webten, in der Dunkelheit unwohl fühlten. Dabei sollte doch eigentlich jeder vor ihnen Angst haben und nicht umgekehrt!

Was kann ihnen hier schon geschehen? Sie verfügen noch über gewaltige Kräfte, könnten sich gegen alles verteidigen.

"Igitt! Eine Spinne!"

Urds Stimme, die durch den gesamten Garten hallte, und das folgende Gelächter belehrte ihn jedoch eines Besseren. Gegen seinen Willen musste er grinsen, während Thor vor ihm in Kichern ausbrach.

Einige Lichter, Glühwürmchen gleich, tanzten durch die Nacht und die frische, aber dennoch angenehme Luft war erfüllt mit fröhlichen Stimmen. Wenn Heimdal sich nicht so elend gefühlt hätte, wenn sein Auge nicht so schmerzen würde, er hätte sich vielleicht wirklich amüsiert. Vielleicht.

Ein Licht kam immer näher und Heimdal konnte Mayura erkennen, die, nachdenklich auf ihrer Pfeife kauend, den Boden einer kleinen Lichtung inmitten der vielen Bäume absuchte. Der Lampion wippte leicht über ihrem Kopf, während sie aufmerksam durch das Gras ging. Sie war allein, ihre Schulkameraden, die sie den ganzen Abend über umringt hatten, schienen sie verloren zu haben. Oder, was Heimdal logischer erschien, Mayura hatte ihre Freunde verloren, indem sie ohne auf den Weg zu achten, ganz einfach quer durch den Garten, den sie gut zu kennen schien, gestolpert war.

Wenn sie ein >Mystery< wittert, ist alles zu spät.

Heimdal grinste hämisch und stupste Thor mit seinem linken Stiefel an. Dieser hob seine rechte Augenbraue und wollte etwas zu dem kindlichen Zorro sagen, als dieser zu dem Mädchen hinüber deutete. Schweigend setzte sich Thor auf, den nächsten Schnipsel in seiner Hand vergessend, und blickte ebenfalls zu Mayura, die nun nicht länger allein war. Weder ihre Klassenkameraden noch die Schwestern hatten sie gefunden, nein, es war ein kleiner Gott, der aus der Dunkelheit der Nacht in das Licht ihres Lampions trat.

Heimdal war sich sicher, dass dies Lokis Werk war. Er hatte mit dem Mädchen allein sein wollen, vermutlich war die ganze Schnitzeljagd nur eine Tarnung, damit niemandem auffiel, dass Mayura fehlte. Heimdal war sich nur nicht sicher, was der Unglücksgott damit bezweckte.

"Hier ist noch eine Spinne! HILFE!!!"

Mayura kicherte, als nun auch Skulds Stimme lautstark betonte, dass sie Lebewesen mit mehr als vier Beinen nicht zum Kuscheln fand, und suchte weiterhin den Boden ab. Sie ging auf ihre Knie und steckte den Stiel des Lampion ins Erdreich, um besser sehen zu können. Loki schien sie nicht zu bemerken, so vertieft war sie in ihre Tätigkeit.

Ihr Berufswunsch ist Detektiv, sie nimmt das sehr ernst.

Aber sie nimmt auch Ufos und Horoskope sehr ernst.

Vermutlich würde sie sogar Götter ernst nehmen...

Heimdal ärgerte sich selbst über seine Gedanken und verschränkte erneut seine Arme vor der Brust, um dem Schauspiel, das ihm geboten wurde, zuzusehen.

Loki wird sich lächerlich machen! Wenn er ihr jetzt seine ach so unsterbliche Liebe gesteht, wie er das bei so vielen anderen Frauen in den Jahrtausenden vor ihr getan hat, wird sie ihn auslachen. Er steckt in dem Körper eines Kindes!

Unbewusst ballte Heimdal seine Fäuste.

In diesem beschissenen Körper wird man nicht für wahr genommen!

Sie wird ihn nicht verstehen, sie kann gar nicht!

Loki rückte seinen Flügelkranz zurecht, dann stahl er Mayura ihren Sherlock Holmes Hut. Das Mädchen fuhr erschrocken herum und lachte auf, als sie den Jungen neben sich stehen sah. Da sie kniete, waren sie gleich groß und Loki konnte sie anschauen, ohne sich den Hals verrenken zu müssen. Ein sanftes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als Mayura ihren Hut zurückforderte und statt dessen eine kleine Schachtel in die Hand gedrückt bekam, die ungeschickt in Geschenkpapier eingewickelt war.

Muss er diesen ganzen Schickschnack hier veranstalten, nur, um ihr sein Geburtstagsgeschenk zu überreichen?

Heimdal verzog angewidert seinen Mund. Wie immer musste sich Loki wichtig machen, und das gefiel dem Wächter überhaupt nicht.

Na warte! Wenn alle gegangen sind, werde ich mein Auge zurück holen und dann wirst du nicht mehr so dämlich grinsen!

Der junge Gott wollte sich gerade umdrehen und zurück zu der Tafel, und, was er nun wirklich brauchte, zurück zu der Bowle gehen, er hatte wirklich genug gesehen, als Thor neben ihm überrascht nach Luft schnappte. Heimdal richtete seinen Blick wieder auf Mayura und riss sein Auge auf, was daraufhin noch mehr schmerzte, und schüttelte ungläubig seinen Kopf. Die offene Schachtel lag vergessen im Gras, das Mädchen hielt nun eine goldene Kette mit einem Amulett in der Hand. Ein Schmuckstück, das so alt zu sein schien wie die Welt selbst.

"Er schenkt ihr DAS?" flüsterte Heimdal entsetzt und wusste selbst nicht, warum er nicht schrie. Es interessierte ihn nicht, ob Loki ihre Anwesenheit bemerkte oder nicht. Aber offensichtlich hatte ihn die Überraschung überwältigt. Genauso wie Thor, der drei Mal den Mund öffnete und tonlos wieder schloss. Er sah für einen Augenblick wie ein Fisch auf dem Trocknen aus, dann sammelte er sich wieder.

"Ich hätte es wissen müssen..." murmelte er mehr zu sich selbst als zu dem kindlichen Gott neben sich und erhob sich langsam aus seiner noch immer hockenden Position. Der Schnipsel Papier fiel unbeachtet auf den dreckigen Boden.

"Das ist Hels Kette! Ich dachte, sie wäre damit begraben worden."

"Nein, das ist nicht Hels Kette." Thor schüttelte energisch seinen Kopf und Heimdal brauchte einige Momente, um die Worte zu verstehen. Fragend blickte er zu den beiden Gestalten hinüber, beobachtete, wie Loki beschämt grinste, als Mayura ihn stürmisch umarmte. Dann half der Unheilsgott, dem Mädchen die Kette anzulegen.

"Wem gehörte sie dann?" Heimdal konnte sich noch gut, zu gut, daran erinnern, dass Hel diese Kette immer getragen und mehr als einmal verloren hatte. Jedes Mal hatten sie die Gemächer von Loki auf den Kopf gestellt, um das goldene Schmuckstück wieder zu finden, das Hel abhanden gekommen war. Sie war ein fröhliches, manchmal aber auch sehr ungeschicktes Mädchen gewesen.

"Hels Mutter." Thors Stimme war so leise, dass Heimdal ihn beinahe nicht gehört hätte.

"WAS?" brach es aus ihm heraus und er riss seinen Kopf zu dem Donnergott herum, der ausdruckslos zu den beiden Gestalten auf der Lichtung blickte. Seine dunklen Augen waren voller Trauer. "Woher willst du das wissen? Keiner weiß, wer Hels Mutter war, Loki hat nie über sie geredet!"

Nein, nicht einmal die Schicksalsgöttinnen, die alles zu wissen glaubten, hatten je die Identität der mysteriösen Frau, die Loki mehr berührt zu haben schien als alle Affären vor ihr, enttarnen können. Der Unheilsgott selbst hüllte sich in tiefes Schweigen.

"Ich habe sie ein einziges Mal auf der Erde gesehen." Flüsterte Thor, nahm aber den überraschten und teilweise auch vorwurfsvollen Blick des Wächters nicht wahr. Seine Augen waren starr auf das Paar vor ihm gerichtet.

Was? Er hat gewusst, wer Hels Mutter war und hat es all die Jahre nicht für nötig gehalten, mir davon zu berichten?

Gerade wollte er in wilde Schimpftiraden ausbrechen, als er die nächsten Worte des Donnergottes hörte, die ihn verstummen, seinen Ärger vergessen ließen.

"Sie sah genauso aus wie Mayura. Ganz genauso..."

Heimdall blinzelte verwirrt, sah dann wieder hinüber zu den beiden Gestalten. Mayura freute sich sichtlich über das kostbare Geschenk und Loki wirkte sehr glücklich, aber auch sehr nervös. Er schien sie etwas zu fragen und als sie nickte, trat er einen Schritt zurück und schloss seine Augen. Alle Geräusche erstarben um sie herum: Das Lachen der Mitschüler, die kichernden Schreie der Schicksalsgöttinnen, das Zwitschern der aufgescheuchten Vögel sowie die leise Musik, die aus dem CD-Player nahe der Tafel unaufhörlich spielte. Das Rascheln der Bäume verstummte und jeglicher Wind erstarb. Die Zeit schien still zu stehen.

Nein!

Heimdal kannte diese Vorboten, hatte sie bereits mehrfach während der Kämpfe gegen Loki erlebt. Der Unheilsgott wollte sich vor Mayuras Augen mit dem Bisschen, was ihm von seiner göttlichen Macht geblieben war, in seine wahre Gestalt verwandeln - mit Flügeln und allem drum und dran.

Das richtige Outfit hat er ja schon an!

Heimdal fühlte sich elend. Nicht nur, weil Mayura gleich den Schock ihres Lebens erhalten würde, sondern auch, weil er gleich Zeuge von Lokis Macht werden würde. Einer Macht, die er so nicht mehr besaß. Sicherlich, er konnte mit seinem Willen Vögel herbeiordern, ihnen Befehle erteilen und viele Kleinigkeiten im Haushielt gingen ihm leichter von der Hand, wenn er ein wenig seine übernatürlichen Kräfte einsetzte. Aber sie reichten nicht mehr aus, um sich vollständig zurück in seinen erwachsenen Körper zu verwandeln.

Nein! Dank Loki! Ohne mein Auge kann ich gar nichts!

Denn selbst seine noch übrig gebliebenen Kräfte schwanden mit jedem Tag, waren während seiner Anfälle unbrauchbar. Er war unbrauchbar...

"Das geht zu weit!" zischte er und rührte sich aus seiner Erstarrung, um zu den beiden zu treten und Loki zu verprügeln. Es würde nicht besonders ehrenhaft aussehen, aber er pfiff auf seinen Stolz und seine so schön zurecht gelegten Pläne, den junge Gott hinterhältig in seinem Haus zu überfallen und sein Auge zurückzufordern. Im Moment verspürte er einfach nur den Drang, Loki ins Gesicht zu schlagen und er sah nicht mehr ein, warum er diesem innigsten Wunsch nicht nachgeben sollte.

"Nicht!" Zwei Hände packten seine Schultern, hielten ihn zurück.

"Er wird uns verraten! Uns alle!" Heimdal wollte sich aus dem stählernen Griff befreien, aber es gelang ihm nicht.

Scheiß Körper!

Heftig wehrte er sich, als er sah, wie sich zwei weiße Flügel hinter Lokis kindlichem Körper ausbreiteten, langsam sichtbar wurden. Mit ihnen wuchsen auch Mayuras Augen, wurden tellergroß.

"Sie wird es nicht verstehen und dann können wir von hier fortziehen und uns woanders eine neue Existenz aufbauen! Und es wird wieder seine Schuld sein!"

"Sie wird es verstehen." Thors Stimme klang tief und überzeugt. Heimdal hielt kurz inne in seinem Kampf und schaute nach oben, um in Thors unbewegliches Gesicht zu blicken.

"Na logisch! Sie wird begeistert sein zu erfahren, dass ihr toller Loki ein Gott ist und Midgar und Fenrir seine Söhne. Sie wird sie sofort adoptieren, ganz klar!" Seine Stimme klang gepresst und er trat gegen Thors Schienbein, um sich endlich befreien zu können und Lokis Plan zu vereiteln, hatte aber offensichtlich nicht genügend Kraft. Thor ließ ihn nicht los, verzog nicht einmal sein Gesicht im Schmerz.

"Und selbst wenn, er ist im Körper eines Kindes gefangen, wie soll das denn gehen? Loki sollte wissen, wann seine Wünsche zu unmöglich sind!"

"Das haben die beiden zu entscheiden, nicht du."

"Was?"

"Das ist nicht deine Entscheidung."

"Er ist ein Gott, sie eine Sterbliche, das ist eine unmögliche Liebe! Sieht das hier denn niemand? Oder bin ich der einzige, der das pervers findet?"

"Halt einfach deine Klappe und misch dich einmal nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen!"

"Nichts angehen? Nichts angehen?" Heimdal war außer sich. So hatte Thor noch nie mit ihm gesprochen, so herzlos, so überheblich.

Genauso wie Loki!

"Er zerstört alles und du siehst tatenlos zu?"

Thor holte tief Luft und wirkte mit einem Mal sehr müde, so als würde er sich all der Zeitalter bewusst, die er schon durchlebt hatte. Als würde er sich so vieler Momente seiner Existenz erinnern, die er lieber für immer vergaß.

"Ich will doch nur, dass er glücklich ist, egal, was Odin davon hält..." Es war mehr ein Seufzen, ein gesprochener Gedanke als eine wirkliche Antwort. Heimdal starrte ihn schweigend an, zu entsetzt, um etwas erwidern zu können. Der pochende Schmerz hinter seinem Auge nahm überproportional zu und er biss sich auf die Zunge, um nicht laut aufzuschreien. Aus Pein und auch aus Frustration.

Loki!

Es hat sich alles immer nur um Loki gedreht! Um ihn und seine verdammte Brut!

"Daddy..." ein gedämpfte, beinahe unverständlicher Schrei unterbrach Heimdals düstere Gedanken und er blickte hinüber zu der Lichtung, auf der Loki in ein helles Licht gehüllt stand, die Flügel weit hinter sich ausgebreitet. Er wollte gerade seine letzten Reserven benutzen, um sich in einen jungen Mann zu verwandeln, als plötzlich ein Fellknäuel in seine Arme sprang und ihn nach hinten purzeln ließ. Das Licht erlosch, die Flügel verschwanden, nicht aber Mayuras verwirrter Gesichtsausdruck.

"Daddy..." wimmerte wieder Fenrir gepresst und Heimdal blinzelte, bis er begriff, dass der violette Schatten eine Tafel Schokolade war, die Fenrir in seinem Maul hielt und die beinahe so groß wie der Welpe selbst war.

"Du Schuft! Du Dieb!" Nun traten auch die Göttinnen aus dem Dunkel des Waldes, dicht gefolgt von Mayuras Mitschülern.

"Das ist unser Schatz!"

"Gib uns sofort unsere Schokolade wieder zurück!"

"Dieb!"

"Mistvieh!"

"Töle!"

"Daddy... befüpf miff..."

Loki starrte die Eindringlinge entgeistert an, dann Mayura, die sich vorsichtig vorbeugte und dem Welpen über den wuscheligen Kopf streichelte.

"Dieb!"

"Gib das sofort her!"

"Büdde... befüpf miff..."

Dann brach das Geburtstagskind in schallendes Gelächter aus, in das die anderen schließlich einstimmten, ihren Groll auf den gefräßigen Hund vergaßen.

Vom verfressendsten Göttersohn dieses Universums gerettet.

Heimdal holte tief Luft, wusste aber, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Loki Mayura alles beichtete, falls sie es nicht jetzt schon begriff, hatte sie seine Flügel bereits gesehen.

Vielleicht hält sie das alles nur für ein >Mystery<.

Und was, wenn nicht?

Ich will nicht verbannt werden wegen Loki. Nicht schon wieder...

Thors Hände verschwanden von seinen Schultern, da nun keine Gefahr der Störung mehr bestand, und Heimdal spürte ein Stechen in seiner Brust, als er sich an die Worte des Donnergottes erinnerte.

"Ich finde, Loki sieht sehr glücklich aus." Zischte er zynisch und schloss sein brennendes Auge. Die Schmerzen wurden immer intensiver und sein Verlangen nach Alkohol überwältigend. "Geh doch rüber, Thor, und feiere mit ihnen."

Ich frag mich sowieso, warum ich hier her gekommen bin. Ich hätte ihn genauso gut in der Nacht angreifen können, ohne all diesen Blödsinn mitmachen zu müssen.

"Heim..."

Der Wächter schüttelte seinen Kopf, rückte seinen schwarzen Hut zurecht und verschwand in der Dunkelheit, bevor der Donnergott noch weitere sinnlose Worte stammeln konnte. Heimdal wusste schon lange, dass sich Thor auf Lokis Seite geschlagen hatte, nicht nur wegen Midgars gutem Essen, sondern, weil sie auch in Asgard die besten Freunde gewesen waren. Heimdal hatte sich manchmal wie das fünfte Rad am Wagen gefühlt, hatte sich darum aber nie geschert. Nie wirklich. Bis heute.

Verdammt!

Es so offen von Thor zu hören, hatte weh getan, auch wenn er sich das niemals eingestehen würde. Er war derjenige, der litt, der betrogen und verraten worden war, und trotzdem war es Loki, der alle Aufmerksamkeit, jede Unterstützung erhielt.

"Heim, so warte doch..."

Nein, Heimdal brauchte Thors Worte nicht. Er brauchte sie alle nicht. Odin hatte schon immer Recht gehabt, als er ihm einbläute, dass er eine sehr wichtige Arbeit als Wächter übernahm und sich keine Fehler erlauben durfte. Keine Schwächen. Und Freunde waren eine Schwäche, selbst wenn er diese Personen nie als Freunde angesehen hatte. Nie bewusst.

Ich brauche keine Freunde.

Ich brauche keine Familie.

Aber er brauchte sein Auge zurück - und einen tiefen Schluck Alkohol.
 

***
 

"Wie soll ich denn meine ganzen Kleider da rein bekommen?" Urd hob ihre Schleier an und versuchte, diese in einen Sack zu pressen. Nur mit Hilfe ihrer Schwester Belldandy gelang es ihr mehr schlecht als recht.

Mayuras Vater, der Mitschüler im Matrosenanzug und das Schneewittchen standen bereits neben ihr, hatten ihre eigenen Säcke bis zur Hüfte empor gezogen und warteten nur noch auf den Startschuss zum Sackhüpfen. Es war ein weiteres Spiel, das Mayura vorschlug, als sie die Schnitzeljagd für beendet erklärten und den Garten verließen, um zu der Tafel zurück zu kehren. Viele waren sofort Feuer und Flamme, andere, die sich von der anstrengenden Suche nach Papierstreifen erst einmal ausruhen wollten, baten Midgar um die Fernbedienung des CD-Players und die Titelliste und sangen noch ein wenig Karaoke, während wieder andere sich über das kalte Buffett des Nachtischs hermachten. Es gab leckeren Kuchen, Schokoladenriegel, Gummibärchen, süße Reisbällchen und eine Bowle mit exotischen Früchten. Viel Alkohol war von Midgard nicht hinein gemischt worden, aber Heimdal kannte seinen Kinderkörper, es würde schon reichen, um wenigstens ein wenig angeschwippst zu werden.

Zumindest der Geschmack war da, das war die Hauptsache.

Heimdal füllte sich die größte Tasse, die er finden konnte, und setzte sich zurück an die Tafel, blickte umher. Unter lautem Johlen begann das erste Rennen des Sackhüpftuniers und weitere Photos wurden geschossen. Mayura hatte sich einen Stuhl an die Ziellinie geschoben und sich demonstrativ darauf gesetzt. Sie wollte Spaß haben und die anderen anfeuern, aber wusste, dass sie mit ihrer Ungeschicklichkeit lieber in keinen Sack stieg. Fenrir jagte hinter einer quietschenden Urd her und das Mädchen klatschte laut in ihre Hände, lachte fröhlich, als die Göttin den Welpen zu vertreiben versuchte, umsonst.

Loki brachte seinen Sohn in Sicherheit, bevor die Schicksalsgöttin stolperte und beinahe auf den meckernden Hund fiel. Fest hielt er den Welpen und redete auf ihn ein, bevor sich plötzlich zwei Arme um seinen Oberkörper schlangen und er im nächsten Moment von Mayura auf ihren Schoß gezogen wurde. Liebevoll lächelte sie ihn an, was er unsicher erwiderte, bevor ihr Vater als erster die Ziellinie überquerte und in einen Siegestanz ausbrach, der ihr die Lachtränen in die Augen trieb. Midgar übergab ihm die Prämie, in seinem Fall einen kleinen Beutel Tabak, schließlich war er ein Erwachsener, bevor er hinter den Stuhl trat und die nächsten Anweisungen für die folgende Runde gab. Nun waren Belldandy und ein paar andere Mitschüler Mayuras an der Reihe, die sich in ihren Kostümen ebenfalls kaum in die engen Säcke zwängen konnten.

Fast wie auf dem Bild...

Heimdal schluckte den Rest seiner Bowle und fragte sich insgeheim, ob er sich nicht gleich die ganze Schüssel nehmen sollte. So, wie Mayura Loki und Fenrir auf ihrem Schoß hielt und Midgar wachend hinter ihnen stand, es erinnerte Heimdal sehr an das Bild, das sich unter dem Rahmen in Lokis Schlafzimmer verbarg.

Blitzlichter der Photoapparate erhellten die Nacht und Heimdal kniff geblendet sein Auge zusammen. Als er es wieder öffnete, stand Thor vor ihm. Der Wächter zuckte leicht zusammen und ließ den Donnergott wortlos stehen, begab sich statt dessen zur Bowle und schenkte sich großzügig nach. Ein wenig schwappte daneben und befriedigt stellte er fest, dass sich sein Körper schon leichter anfühlte, seine Gedanken immer mehr im Nebel lagen und ihm Thors Worte immer weniger verletzten.

Sie haben mich nie verletzt!

Nie!

"Heim?" Thors Stimme klang unsicher und der Wächter musste auf einmal kichern, als er sich umdrehte und in Thors unglaublich dämlich dreinschauendes Gesicht blickte. "Heim, es tut mir leid wegen meines Ausbruchs. Ich..."

"Vergiss es." Der Wächter winkte ab und setzte sein großes Glas mit so viel Schwung auf den Tisch, dass erneut überschwappte und die Flüssigkeit über seine Hand lief. Langsam leckte er die Finger ab, freute sich, dass niemand weiter die Bowle bisher entdeckt hatte. Er würde auch dafür sorgen, dass er dieses wundervolle Getränk nur für sich selbst in Anspruch nahm. "Ich bin an deine Dummheit mittlerweile gewöhnt."

"Heim..."

Der Wächter verdrehte genervt sein Auge und nahm einen weiteren tiefen Schluck der Bowle, verschluckte sich beinahe an einem Stück Annanas und kicherte, als zwei Schüler das Mikro ergriffen und doch tatsächlich das Opening einer bekannten Zeichentrickfilmserie, die er Dank seiner Klassenkameraden besser kannte als ihm lieb war, sangen. Aus vollster Kehle, mit vollster Überzeugung. Im Alter von 16 oder 17 Jahren.

"Spielen wir eine Runde Go?" schlug Heimdal vor und war überrascht über sich selbst. Er hasste dieses Spiel, dessen Regeln er nie verstehen, bei dem er nie gewinnen und dessen Sinn er nie begreifen würde. Dennoch erschien ihm diese Idee auf einmal die brillanteste zu sein, die er seit Wochen hatte.

Dann kann ich Thor mit Steinen bewerfen.

Denn es war Heimdal nie gelungen, die Steine richtig zu halten. Wenn er es denn versuchte, schnippten sie ihm weg und verwandelten sich in gefährliche Geschosse, so dass selten jemand mit ihm das japanische Brettspiel wagen wollte. Niemand außer Thor, der erleichtert einwilligte und das Brett sowie die beiden Töpfe mit den Steinen aus der Ecke holte, wo Säcke und andere Gerätschaften lagen, und alles auf den Tisch stellte. Dann setzte er sich Heimdal gegenüber und ließ ihn eine Farbe auswählen. Der Wächter entschied sich für Schwarz. Nicht, weil er davon ausging, sowieso der Schwächere zu sein, sondern weil diese Farbe ganz einfach zu ihm passte.

Schwarz wie die Nacht.

Schwarz wie die Dunkelheit, die ihn zu verschlucken drohte.

Sein Auge schmerzte weiterhin, aber er besänftigte die Pein bei jedem Aufflackern mit einem kräftigen Schluck Bowle. Es half nicht wirklich, aber er fühlte sich nicht mehr so elend.

Heimdal setzte seinen ersten Stein und kicherte, während die Schüler das nächste Trickfilmlied sangen und nun auch Skuld unter Beweis stellte, wie gut sie in einem Leinensack eingepfercht springen konnte.
 

***
 

"Ich glaube, diese Steine gehören mir..." zögernd nahm sich Thor mehrere schwarze Steine und legte sie in seine Gefangenenschale. Er erwartete ein ärgerliches Brummeln des kindlichen Gottes, vernahm aber nur unkontrollierbares Kichern als Antwort. Fragend hob er seine Augenbraue, als der Wächter einen weiteren Schluck seines nunmehr vierten Glases Bowle nahm, sagte jedoch nichts. Er wusste, dass er in seinen Worten zu weit gegangen war und wollte keinen weiteren Streit heraufbeschwören. Auch war Heimdal mit seinen vielen Jahrtausenden alt genug, um selbst entscheiden zu können, wann er zu betrunken war.

"Scher schön..." Heimdal grinste ihn breit an, was Thor schaudern ließ, konzentrierte sich dann wieder auf das Brett unter sich. Im Hintergrund lachten Mayura und ihre Mitschüler. Sie hatten sich unter den Lampions in einem Kreis auf eine große Decke gesetzt und spielten nun Personenraten. Mayuras Vater gab eine wahrhaft köstliche Kopie von James Bond ab. Noch mehr Photos wurden geschossen, noch mehr Schokolade gegessen, noch mehr fröhlich gelacht.

Die Schicksalsgöttinnen hatten das Mikro von den trickfilmverrückten Schülern übernommen und sangen nun querbeet alle Lieder von Mayuras Liste. Sie hatten ebenfalls viel Spaß. Thor konnte sich nicht erinnern, die Schwestern jemals so glücklich gesehen zu haben. Meist sponnen sie das Schicksal, das oftmals traurig war, und waren deshalb selbst nachdenklich und betrübt gestimmt. Heute Abend jedoch schien diese Pflicht von ihren Schultern genommen zu sein und sie benahmen sich wie ganz normale junge Frauen.

Soeben legten sie die nächste CD ein und Urd setzte sich rittlings auf einen Stuhl auf die Bühne und machte ein sehr leidendes Gesicht, was ihr jedoch nicht recht gelingen mochte, konnte sie ein befreites Grinsen nicht unterdrücken. Leise Klaviermusik wurde eingespielt und Heimdal hob seinen Kopf, seine Stirn in Falten gezogen.
 

"How can you see into my eyes

Like open doors

Leading you down into my core

Where I become so numb"
 

Stumm formte der kindliche Gott die Worte und es überraschte Thor, dass Heimdal das Lied kannte. Es war zwar sehr populär in dem Heimatland der Gruppe, aber in Japan weitestgehend unbekannt. Mayura hatte die CD nur gekauft, weil ihr das Cover "mysteriös" vorgekommen war. Einen Abzug erhielt jeder von ihnen, weil sie die Musik so schön fand, aber Thor hatte geglaubt, dass Heimdal seine Kopie sofort in den Papierkorb geworfen hatte. Das Glänzen in dem roten Auge und das leise Mitsingen verrieten Thor jedoch das Gegenteil. Vermutlich hatte Heimdal sich die CD nicht nur angehört, sondern mochte sie sogar.
 

"Without a soul

My spirit sleeping somewhere cold

Until you find it there

And lead it back home"
 

Urd, die erkannte, dass Heimdal den Text auswendig kannte, grinste ihm ermutigend zu und winkte dann auffordernd mit dem Mikro, zu ihr zu kommen und mit ihr zu singen. Sehr zu Thors Überraschung nickte der kindliche Gott, setzte einen weitere Go-Stein auf das Brett, das er schon vor einer halben Stunde rettungslos verloren hatte, erhob sich und ging leicht schwankend zu der Bühne herüber, um sich auf den Rand zu setzen. Noch vor wenigen Stunden hätte sich Heimdal wohl unendlich geniert, mit der Schicksalsgöttin zu singen, aber nun waren nicht mehr so viele Leute vor der Bühne, die ihn anstarrten und auch schien der Alkohol seine Wirkung nicht zu verfehlen. Ohne weitere Umschweife übernahm Heimdal den Part des männlichen Sängers und im Duett sangen sie beide den Refrain. Der junge Gott begann ohne zu zögern und eine grinsende Urd fiel sofort mit ein.
 

"Wake me up"

"Wake me up inside"

"Can't wake up"

"Wake me up inside"

"Save me"

"Call my name and save me from the dark"

"Wake me up"

"Bid my blood to run"

"Can't wake up"

"Before I come undone"

"Save me"

"Save me from the nothing I've become"
 

Heimdals Stimme war viel zu hoch, viel zu kindlich für das Lied, aber das störte niemanden. Belldandy und Skuld klatschten Beifall und Heimdal grinste betrunken, während Urd versuchte, halbwegs ernst und glaubwürdig zu wirken, während sie die nächste Strophe sang.
 

"Now that I know what I'm without

You can't just leave me

Breathe into me

And make me real

Bring me to life."
 

Erneut wiederholten sie den Refrain und Heimdal wippte leicht mit seinen Beinen im Rhythmus. Sein Gesicht war gerötet und er wirkte so frei wie Thor ihn schon lange nicht mehr gesehen hatte. So wie er ihn immer sehen wollte. So wie damals in ihren ersten Tagen, als die Welt noch jung und sie alle noch gute, nein, beste Freunde gewesen waren.

Ich will nicht nur Loki glücklich sehen, Heim, sondern auch dich.

Aber Thor wusste, dass der Wächter ihm nicht geglaubt hätte, auch wenn er es laut aussprach. Seit dem Vorfall mit seinem Auge vertraute der junge Gott niemandem mehr - außer Odin. Und nichts, was Thor machen konnte, änderte Heimdals Einstellung. Besonders nicht, wenn er ihn nicht ausreden ließ, ihm seine Worte im Mund verdrehte.
 

"Frozen inside without your touch

Without your love, darling

Only you are the life among the dead"
 

Urd sang es voller Inbrunst, musste aber kichern, als Skuld Grimassen zog und auch Belldandy leise lachen musste, obwohl der Text an sich überhaupt nicht lustig war. Wahrscheinlich war Heimdal nicht der einzige, der sich an der Bowle gütlich getan hatte - oder aber sie hatten sich von Mayruas Vater eine Flasche Sake erbettelt, alt genug sahen sie ja aus, auch wenn sie sich nach Thors Meinung nicht so benahmen.

Heimdal wurde nun das Mikro gereicht, nicht länger nur kurz hingehalten und er nahm es ohne zu zögern an. Diese Stelle sang er nun allein, ohne Urd als Unterstützung. Der kindliche Gott schloss sein Auge und konzentrierte sich auf den Text.
 

"All of this time I can't believe I couldn't see

Left in the dark but you were there in front of me

I've been sleeping a thousand of years it seems

Got to open my eyes to everything"
 

Heimdal runzelte seine Stirn und das betrunkene Grinsen wich langsam von seinem Gesicht. Es wirkte, als würde er sich etwas bewusst, an das er nie vorher gedacht hatte. Oder versuchte er nur krampfhaft, in dem Nebel, der seine Gedanken umgab, den Text nicht zu vergessen? Fragte er sich bereits wieder, ob er den Rest Bowle auch noch trinken sollte oder wie er Thor in einem Revanchespiel schlagen konnte?

Thor wusste es nicht, aber er ahnte, dass er keine Antwort erhalten würde, selbst wenn er den Mut fand, den Wächter zu fragen.
 

"Without a thought

Without a voice

Without a soul

Don't let me die here

There must be something more

Bring me to life"
 

Thor schnappte unbewusst nach Luft, als er die Tränen in Heimdals Auge sah, als dieser wieder aufblickte und das Mikro an Urd zurückreichte, damit sie den Refrain erneut gemeinsam singen konnten.
 

"... to life..."
 

Urds Stimme klang in Heimdals Ohren wider, verwandelte sich rasch in ein Kichern, als der kindliche Gott von der Kante der Bühne rutschte. Seine Gefühle fuhren Achterbahn und er würde sich jetzt einfach den Rest der Bowle genehmigen, egal, was die anderen davon auch halten würden, wenn sie es denn überhaupt mitbekamen.

Er liebte dieses Lied, so wie er es zugleich auch hasste. Es beinhaltete einfach zu viel Wahrheit.

"Das war super!" klatschte Urd in ihre Hände und suchte auf der Liste bereits den nächsten Titel heraus, den sie nun mit ihrer kleinen Schwester Skuld gemeinsam singen würde. "Du hast wirklich Talent, Kazumi-chan." Sie kicherte unkontrolliert über seinen Spitznamen und Heimdal grinste höhnisch, erwiderte jedoch nichts.

"Beim nächsten Karaokesingen bist du beim Hauptakt schon dran." Skuld gesellte sich zu ihrer Schwester und nahm ihr das Mikro weg. "Dann kannst du dich nicht mehr rausmogeln."

"Gemeinsam macht es doch viel mehr Spaß." Lächelte auch Belldandy und legte die nächste CD in den Player. Bald sangen alle drei aus vollem Hals, während sich Heimdal zusammen mit der Bowleschüssel zurück an seinen Platz begab.

Nächstes Karaokesingen?

Wird es so wohl nicht geben, wenn ich nicht mein Auge zurück bekomme.

Er blinzelte und versuchte, seine trüben Gedanken auszuschließen. Schließlich hatte er sich doch betrunken, um sie zu vergessen, warum nervten sie ihn dann noch immer?

Vielleicht ist was in der Bowle drin, dass mich am Vergessen hindert?

Skeptisch beäugte er die Flüssigkeit, nur, um sie dann mit einem Schulterzucken in sein Glas umzufüllen und einen tiefen Schluck zu nehmen. Thor sah ihn misstrauisch an, aber Heimdal ignorierte es, wie er auch das Gelächter in seinem Rücken und die schiefen, kichernden Gesänge der Schwestern zu seiner Rechten ignorierte.

"Fertig." Murmelte er und setzte den letzten Stein auf das Brett, das Thor vergessen hatte abzuräumen.

"Fertig? Du hast verloren, Heim." Antwortete dieser leicht verwirrt und lehnte sich zurück, um sich ein wenig zu strecken. Da fiel ihm etwas auf und er beugte sich über das Brett, um es um 180 Grad zu drehen.

"Go geht aber anders, das weißt du, oder?"

"Ja." Gab Heimdal zu und grinste wieder betrunken, erfreut, dass der Alkohol seine Wirkung doch nicht verfehlte. "Aber so macht's viel mehr Spaß."

Thor hob fragend seine Augenbraue, bevor er mit den Schultern zuckte, hinter sich griff und sich einen Schokoriegel vom Buffett angelte. Er brach ihn in der Mitte auseinander und bot eine Hälfte Heimdal an. Äußerlich war er ruhig, aber innerlich erfreut, als der kindliche Gott sie annahm.

"Spielen wir noch eins?" fragte Heimdal und biss genüsslich in die süße Masse.

"Gern, aber denk dran, dass du mit dem Sternbild des großen Bären nicht gewinnen kannst, egal, wie schön es auch aussieht."

Heimdal grinste schweigend und versuchte krampfhaft, das Lied aus seinem Kopf zu verbannen, das sich dort eingenistet zu haben schien, ganz gleich, was die Schwestern jetzt auch sangen.

>Don't let me die here.<
 

***
 

Das letzte große Ereignis, das Paarlaufen, bei dem die Partner an einem Bein zusammen gebunden waren und auf drei Beinen über die Wiese humpelten, war auch beendet und langsam kehrte Ruhe ein. Die Göttinnen erlösten den CD-Player und gesellten sich zu den anderen, die wieder auf der Decke saßen und sich unterhielten. Midgar brachte das Eis aus dem Kühlschrank und obwohl es bereits weit nach Mitternacht war, hatten alle noch Hunger, oder zumindest den Appetit, der das Eis nicht schmelzen ließ.

"Ich hoffe, du magst Kirsch, eine andere Sorte war nicht mehr da." Thor balancierte zwei kleine Schüsseln zu der Tafel, an der Heimdal nun allein saß. Bis zu dem Paarlaufen hatten sie zwei weitere Spiele gespielt, die der Wächter mit Pauken und Trompeten verlor, dafür aber zwei wunderschöne Abbildungen des Orion und der Zwillinge legte. Dann fragte Mayura, ob er nicht mitspielen könnte, da sie sonst eine ungerade Zahl ergaben und so war Thor zusammen mit Mayuras Vater über die Wiese gehumpelt und gestolpert. Leider hatten sie nicht gewonnen, aber sie hatten es überlebt, das allein zählte für den Donnergott, der die Spiele der Menschen nie wirklich verstehen würde.

Danach hatte Midgar das Eis ausgeteilt und alle hatten sich in eine Runde gesetzt, um sich Gruselgeschichten zu erzählen.

Vielleicht kann ich Heimdal ja davon überzeugen, sich zu uns zu gesellen.

Thor stellte das Eis ab und drehte sich zu dem kindlichen Gott um, nur um zu sehen, dass dieser heute keine Geschichte mehr hören geschweige denn selbst erzählen würde. Heimdal hatte seine Arme auf den Tisch gelegt und seinen Kopf darin gebettet. Violette Strähnen hingen in sein Gesicht und sein Oberkörper hob und senkte sich regelmäßig. Der Wächter schlief tief und fest.

Und das, obwohl er sich in Lokis Nähe befindet.

Thor wunderte sich, ob es wirklich an dem Alkohol lag, oder ob der junge Gott die letzten Nächte nicht gut geschlafen hatte, um im Garten seines Erzfeindes eine so hilflose Pose darzustellen. Der Donnergott hatte Heimdals kränkliche Blässe während der letzten Tage bemerkt, genauso, wie er gesehen hatte, dass der kindliche Gott nicht nur in seiner Kleidung, sondern auch in seinen Stiefeln geschlafen hatte. Thor erinnerte sich noch zu gut an den Tag, da er ihn zum Schwimmen abholen wollte, und die Wohnung im totalen Chaos und Heimdal in einem Schlaf, der eher einer Ohnmacht glich, vorfand. Seitdem machte er sich Sorgen, wusste aber, dass Heimdal auf seine Fragen nicht reagieren würde, sie eher für einen Hinterhalt hielt. So wie er auch seine Einladung zum Eisessen Mitte der Woche schon für ein Attentat gehalten hatte. Thor ließ es sich nicht anmerken, aber er hatte gesehen, welche Gefühle sich auf Heimdals Gesicht abwechselten: Angst, Panik und ohnmächtige Wut - und dann maßlose Überraschung, als ihm die Eiskarte in die Hand gedrückt wurde.

Warum glaubst du, dass ich dir weh tun würde?

Habe ich das jemals getan, in all der Zeit?

Verdammt...

Thor biss sich auf die Unterlippe, um einen Seufzer zu unterdrücken, dann rüttelte er sanft Heimdals Schulter. Der Wächter konnte hier nicht sitzen bleiben. Es war noch immer Frühling und dazu noch in der Mitte der Nacht. Die anderen hatten sich bereits in dicke Pullover gehüllt, während Heimdal noch immer das dünne Kostüm Zorros trug. Wie auf Kommando fuhr der kindliche Gott fröstelnd zusammen, erwachte jedoch nicht.

"Heim?"

Nichts.

"Heim?"

Nicht einmal ein gestörtes Gesicht oder ein genervtes Luftholen. Nichts. Der Gott war wirklich tief in das Reich des Schlafes vorgedrungen und nicht einmal der Einschlag von Thors berühmt berüchtigten Blitz würde ihn jetzt wecken.

"Heim, wach auf, du wirst dich sonst erkälten." Als erneut die Antwort ausblieb, sah sich Thor kurz um und nahm sich einfach die weiße Jacke, die über einer der Stuhllehnen hing. Er wusste nicht, wem sie gehörte, aber offensichtlich wurde sie nicht gebraucht. Wenn sich der Besitzer oder die Besitzerin später meldete, könnte er sie immer noch zurück geben. Vorsichtig hüllte er Heimdal, der auch jetzt nicht reagierte, darin ein und konnte einen leisen Seufzer nicht unterdrücken.

Ich wünschte, er würde sonst auch so friedlich aussehen, so zufrieden mit sich selbst und der Welt.

Thor strich langsam die violetten Strähnen aus einem vollkommen entspannten Gesicht, wusste jedoch, dass dies ein Wunschtraum war. Nach dem Verlust seines Auges war Heimdal, der schon davor zynisch sein konnte, wenn er wollte, beinahe ungenießbar geworden. Nichts erinnerte Thor an den jungen Gott, den er einst kennen lernte, der sein bester Freund in Asgard wurde und mit dem er - zusammen mit Loki - so viel Unsinn angestellt und so viel Spaß gehabt hatte.

Dann kam diese bescheuerte Prophezeiung.

Es war, als würde ein Stück Heimdal, das Thor so sehr gemocht hatte, von einem Tag auf den anderen verloren gehen. Das glückliche Lächeln verschwand fast vollständig, machte einem leicht höhnischen Grinsen Platz. Es gab noch Augenblicke, wo Heimdal sein Schicksal vergaß, seinen Zynismus überwandt und wieder freundlich, ja beinahe frei sein konnte. Seltsamerweise waren diese Momente, die Thor mit gebrechlicher Angst genoss, meist in Lokis Gemächern gewesen, in Hels Gegenwart.

Nach Hels Tod und Lokis Verrat verschwanden auch diese Augenblicke und Thor meinte, Heimdal für immer verloren zu haben. Und nun fand er ihn hier, an der Tafel Lokis nach einem der absurdesten Tage seiner Existenz wieder.

Wieso kann es nicht so wie früher sein?

Thor holte zitternd Luft und gab dem Gefühl in seinem Herzen nach. Behutsam hob er den schlafenden Gott in seine Arme und setzte sich an seiner statt auf den Stuhl. Heimdal reagierte nicht, als er auf Thors Schoß gesetzt wurde. Kraftlos rollte sein Kopf an Thors Brust und er ließ seine Beine baumeln, rollte sich nicht zusammen, wie er das sonst immer tat.

Wieso kann es nicht so wie früher sein?

Stumm wiederholte Thor die Frage und verhalf Heimdal in eine angenehmere Pose, aus der er nicht mit Rückenschmerzen erwachen würde. Vorsichtig brachte er die schlaffen Arme des kleinen Gottes vor dessen Bauch und schluckte, als sich eine kindliche Hand ausstreckte und sich mit schwacher Kraft an dem dunklen Stoff des Samuraianzuges fest hielt.

Wieso kann es nicht so wie früher sein?

Aber Thor wusste, dass dies eine sinnlose Bitte war. Ein Wunsch, der niemals in Erfüllung gehen würde. Zu viel war geschehen, einfach zu viel. Heimdal hatte sein Vertrauen, Loki seine Familie und er, Thor, seine besten Freunde verloren. Angesichts dieser Tatsachen wog die Verbannung aus Asgard gar nicht mehr so schwer. Nein, Thor konnte damit leben, hier auf der Erde zu wandeln, von ihm aus für den Rest seiner Existenz. Denn Odin konnte er nicht mehr leiden, den Göttervater, wie er sich manchmal selbst nannte, der sich Heimdal gegenüber gar nicht väterlich verhalten und ihm von der Prophezeiung erzählt hatte. Von einer Vorhersehung der Schwestern, die Heimdal und Loki zu ewigen Rivalen, zu Erzfeinden werden ließ.

Wir waren davor so glücklich gewesen, so unbeschwert, so jung.

Danach war nichts mehr wie vorher gewesen. Erst recht nicht, nachdem Loki sein größter Wunsch, der nach einer Familie, von Odin so brutal zerstört wurde. Mit Schaudern dachte Thor an jene Nacht zurück, in der Loki versucht hatte, in Niflheim einzufahren - und in der Heimdal sein Auge und damit jegliches Vertrauen in jeden verlor.

Sein bester Freund wurde zu seinem Rivalen - und dann zu einem Verräter.

Verdammt!

Thor kämpfte mit den Tränen, während er unbewusst den kleinen Körper in seinen Armen wiegte, als wäre Heimdal wirklich das Kind, hinter dessen Maske er sich verbarg.

Ich hätte es irgendwie verhindern müssen. Ich bin ein Gott!

Dennoch wusste er nicht wie. Gegen das Schicksal kam niemand an, nicht einmal der Gott des Donners, vermutlich nicht einmal Odin persönlich.

Aus weiter Ferne hörte er fröhliches Lachen und Mayuras aufgeregte Stimme, wie sie eine mysteriöse Geschichte erzählte.

Ich will Loki glücklich sehen. Mit seinen Söhnen und mit diesem Mädchen.

Thor drückte Heimdal mit seinem linken Arm unbewusst an sich, während er mit der rechten Hand die violetten Strähnen aus dem Gesicht strich, über die gesunde Wange streichelte. Die Haut um das fehlende Auge war mit kleinen Narben übersät, aber Thor konnte sie nicht sehen, Heimdal hatte diese Seite gegen den warmen Körper neben sich gepresst.

Ich will aber auch dich glücklich sehen, Heim.

Thor wusste jedoch nicht, wie er das anstellen sollte. Würde er es laut aussprechen, Heimdal würde es ihm nicht glauben, ihn womöglich sogar auslachen und einen Lügner nennen. Nach dem Verrat schien jedes Bemühen umsonst zu sein. Egal, wie oft er zu Heimdal nach Hause kam und ihm etwas zu Essen machte, egal, wie oft er ihn von der Schule abholte oder einfach in seiner Gegend auftauchte, um einfach nur bei ihm zu sein, besonders jetzt, da Freyr mit seiner Schwester auf Weltreise war, nie schien sich Heimdal auch nur ein bisschen über seinen Besuch zu freuen. Immer grummelte er ihn an und schien ihn gar nicht zeitig genug wieder loswerden zu können.

Wenn das doch alles nicht geschehen wäre. Wenn es diese blöde Prophezeiung nie gegeben, wenn Odin Lokis Familie akzeptiert und sich dieser Vorfall mit dem Auge nie ereignet hätte!

Aber Thor wusste, was geschehen war, war geschehen. Er konnte es nicht ändern, so sehr er sich das auch wünschte.

"Thor?"

Die kindliche Stimme ließ ihn leicht zusammen zucken und er blickte geradewegs in dunkelgrüne Augen, als er aufsah. Loki stand neben dem Stuhl und musterte den schlafenden Heimdal in Thors Armen eine Weile stumm. Es war ein angenehmes Schweigen, in dem sich Thor der Illusion hingab, Loki könnte ihn verstehen, würde ihr Leid mit ihnen teilen.

"Er hat die ganze Bowle getrunken, oder?" sprach der Unheilsgott schließlich und wirkte mit einem Mal so müde, wie Thor sich fühlte.

"Ja."

"Manchmal bin ich dankbar, dass er sich meinem Körper hat anpassen müssen. Sake ist nichts für ihn."

"Aber für dich?"

"Nein."

Erneutes Schweigen, in dem Thor wieder Mayuras aufgeregte Stimme und das amüsierte Kichern der Schwestern hörte.

"Ich hab die Gästezimmer von Midgar herrichten lassen. Du kennst dich ja aus, Thor, such eins aus. Mir ist es lieber, wenn er mit einem gewaltigen Kater hier aufwacht und uns alle angiftet, als wenn er allein in dieser Wohnung ist."

Thor blinzelte und fragte sich, ob sich in seiner Limo nicht ebenfalls Alkohol befunden hatte. Hatte er gerade Besorgnis in Lokis Blick gelesen? Besorgnis um seinen ärgsten Rivalen, den er verraten hatte? Besorgnis um einen Gott, der einst - neben Thor - sein bester Freund gewesen war? Vor so langer Zeit...

"Du kannst ihn zu Bett bringen, Thor. Die Party geht bestimmt nicht mehr lange, alle sehen müde und erschöpft aus. Mayura ist dir nicht böse, wenn du jetzt ins Haus gehst."

"Ich will noch eine Weile hier sitzen." Erwiderte Thor ohne zu überlegen und zuckte innerlich ob seiner unüberlegten Worte zusammen.

Andererseits, was machte es schon aus, wenn er offen zugab, Heimdals Wehrlosigkeit noch ein wenig ausnutzen zu wollen? Der Wächter traute ihm nicht mehr, zog sich immer mehr vor ihm zurück. Thor wollte einfach nur noch ein wenig länger in Heimdals Nähe sein, ohne, dass ihn dieser so böse anschaute oder beschimpfte.

Ich bin egoistisch.

Aber er sieht so aus, als würde er sich wohl fühlen. Hier, bei mir. Bei uns...

Es entstand ein seltsamer Moment der Ruhe, in der sich die beiden Götter ansahen, und Loki schließlich leicht nickte.

"Natürlich." Der Unheilsgott rückte seinen Flügelkranz zurecht und lehnte sich leicht vor. Zögernd, so als würde er erwarten, dass der andere kindliche Gott aufwachen und ihn anfallen würde, legte er seine Hand auf Heimdals Schulter, ließ sie dort liegen. Erneut schwiegen sie und Thor entspannte sich langsam. Er hatte nicht wirklich geglaubt, dass Loki Heimdal etwas antun würde, aber er hätte den Wächter dieses Mal verteidigt. Nein, ein weiteres Unglück hätte er nicht zugelassen. Das sanfte Lächeln vertiefte sich auf Lokis Gesicht und erneut zweifelte der Donnergott an dessen Schuld. Dennoch, er hatte gesehen, wie Loki Heimdal angegriffen hatte, seine Erinnerungen konnte ihn doch nicht trügen, oder?

Heimdal drehte sich ein wenig in seinem Arm, schlief weiter. Er schien nicht zu bemerken, was um ihn herum geschah, und sollte sein Unterbewusstsein es doch mitbekommen, so schien es ihm in seinem betrunkenen Zustand egal zu sein.

Fühlt er sich wirklich sicher, so wie damals vor der Prophezeiung, als wir füreinander durchs Feuer gegangen wären?

"Du willst es Mayura sagen." Es war keine Frage. Loki erstarrte, dann nickte er, schaute weiterhin auf seine Hand hinab, die Heimdal sanft fest hielt. Sanft. Ihm nicht weh tat. Ihm nie hätte weh tun dürfen.

Thor erinnerte sich an die vielen Stunden, die sie gemeinsam verbracht hatten. In Asgard und auf der Erde als junge Götter, die sich erst langsam ihrer Aufgaben bewusst wurden. Der Donnergott hatte sich bei den beiden so wohl gefühlt, so verstanden, so akzeptiert. Wie in einer Familie. Erst recht, als Loki seine beiden Söhne und schließlich die kleine Hel aufnahm. Heimdal war irgendwie immer da gewesen, meist mit genervtem Gesichtsausdruck und einem heimlichen Lächeln auf den Lippen, das er dann nicht mehr hatte verbergen können, wenn ein kleines Mädchen vertrauensvoll in seine Arme getapst gekommen war.

In diesen Augenblicken waren sie alle glücklich gewesen. Loki mit seiner Familie, Thor mit seinen Freunden - und Heimdal auch.

Wird es jemals wieder so sein?

Thor hörte erneut Mayuras aufgeregte Stimme und Midgars fröhliches Lachen. Sogar Fenrir bellte aufgeregt, schien seinen >Daddy< nicht zu vermissen. Das letzte Mal, als Thor ihn sah, hatte er es sich auf Mayuras Schoß gemütlich gemacht.

Wird es mit Mayura wieder so sein?

Der Donnergott spürte den warmen Körper in seinen Armen, sah das Glitzern in Lokis Augen, und wusste mit einem Mal, dass diese beiden Götter die wichtigsten Personen in seinem Leben waren, egal, was vor einem Jahr auch vorgefallen war, egal, was auch immer diese dumme Prophezeiung auch aussagte. Er wollte sie nicht verlieren.

"Ich unterstütze deine Entscheidung, Loki." Flüsterte Thor schließlich und als Loki erstaunt aufsah, legte er seine Hand über die kindliche, die sich ganz kalt anfühlte. "Mayura scheinen deine Flügel nicht sehr gestört zu haben, ich hoffe, dass sie die restliche Wahrheit auch akzeptieren wird. Du verdienst es, glücklich zu sein, Loki."

Ja, dem Unheilsgott konnte er es offen sagen, sah die Dankbarkeit und das Verstehen in Lokis Augen. Thor wünschte sich, bei Heimdal ähnlichen Erfolg zu haben.

"Danke..." Loki musterte den schlafenden Gott erneut und holte tief Luft. Sehr tief. So als würde er mit seinen eigenen Gefühlen oder sogar mit den Tränen kämpfen. "Ich weiß, dass das damals vor einem Jahr eine sehr verrückte Zeit war und dass irgendwie alles schief ging..." sagte er ganz leise, ging das erste Mal seit jenen Geschehnissen in Asgard auf Thors stumme Fragen ein, die er oft zwischen ihnen gespürt, bisher aber ignoriert hatte. Er hatte nicht mit Verständnis, sondern eher mit Ungläubigkeit gerechnet. Nun, da Thor ihn jedoch unterstützte, fühlte er, dass der Donnergott die Wahrheit verdiente.

"Damals... ich war nicht ich selbst und wollte wirklich in Niflheim einfahren, Thor. Ich hab sie so geliebt und sie sind mir alle genommen worden. Ich wollte einfach nur noch sterben, nicht länger existieren. Ich wollte mir weh tun für meine Unfähigkeit, meine Familie nicht beschützen zu können. Mir! Aber niemals Heimdal oder dir." Nun rannen wirklich einige Tränen über das kindliche Gesicht. Sanft drückte Thor die kleine Hand.

"Ich weiß nicht, was damals passiert ist, Thor. Alles war so verzerrt und alles ging viel zu schnell. Aber ich habe Heims Auge nicht gestohlen. Ja, die Prophezeiung besagt, dass wir uns zu Ragnarök gegenseitig umbringen werden, aber ich würde ihn nicht so hinterhältig anfallen und ihm so weh tun. Niemals." Loki schüttelte seinen Kopf und es tat gut, darüber zu reden. Endlich. Nach so langen Monaten, in denen er befürchtet hatte, seine besten, seine einzigen wahren Freunde Asgards verloren zu haben.

"Ich habe sein Auge nicht genommen, Thor, das musst du mir glauben."

Thor lehnte sich zurück und schloss seine müden Augen, spürte Heimdals tiefes, regelmäßiges Atmen, fühlte Lokis kleine Hand.

Ja, er glaubte ihm, wollte es einfach. Und hoffen, dass alles wieder so wie früher werden würde. Irgendwie.
 

***
 

Loki riss sich aus Thors Armen frei und stürmte auf den Wächter der Götter zu, um ihm auch noch sein zweites Auge zu stehlen, um ihm endgültig seine Macht und damit sein Leben zu nehmen, so wie er das schon vor einem Jahr vorgehabt hatte.

Nein!

Heimdal fuhr schweißgebadet in die Höhe, den Mund zu einem stummen Schrei geformt, den er nie ausstieß, egal, wie heftig seine Alpträume auch waren. Alpträume gepaart mit Erinnerungsfetzen und Angstphantasien.

Nein...

Der kindliche Gott vergrub sein Gesicht in seinen zitternden Händen und holte tief Luft. Für einen langen Zeitraum, beinahe eine halbe Ewigkeit, verharrte er in dieser Haltung, brachte seinen bebenden Körper wieder unter seine Kontrolle und versuchte, den pochenden Schmerz hinter seinem Auge zu ignorieren. Nach einem Alptraum wie diesen war die Pein in seinem Kopf noch intensiver, seine Sinne empfindlicher als am Tag.

Verdammt!

Heimdal ballte seine Fäuste und wurde sich erst jetzt bewusst, dass er nicht auf seinem Futon, sondern auf einem europäischen Bett befand. Außerdem befand er sich nicht allein in den Zimmer, in welches Haus es auch immer gehörte. Stetiges Schnarchen, kaum lauter als ein Flüstern, vertrieb die Stille der Nacht.

Wo bin ich?

Heimdal öffnete sein linkes Auge und fuhr stöhnend zusammen, als der Schmerz zunahm, sich wie eine Nadel durch sein Gehirn bohrte. Der Wächter wusste, dass es nicht an dem Alkohol lag, der noch zur Genüge durch seine Venen floss. Für einen Kater war es zu früh und selbst wenn, Heimdal kannte diese Pein zur Genüge, sie hatte nichts mit der Bowle zu tun.

Der Wächter zwang sich, die schützende Hand von seinem Auge zu nehmen, die er in einer Reflexbewegung darüber gelegt hatte, und blinzelte erneut in die Dunkelheit des Zimmers. Lokis Zimmer.

Na wunderbar!

Heimdal stöhnte erneut auf, dieses Mal genervt. Was machte er hier? Wie war er hierher gekommen? Wo waren die anderen?

Er drehte langsam seinen Kopf, um die Schmerzen nicht zu provozieren, und erkannte, dass es sich nicht um Lokis Schlafzimmer handelte, denn auf dem Nachttisch standen keine Photographien, aber er befand sich eindeutig in dem Haus seines Erzfeindes. Thors Wohnung war winzig, der Donnergott hätte sich niemals ein solches Zimmer samt Einrichtung leisten können. Jemand anderes als Thor und Loki kamen nicht in Frage, ihn zu beherbergen. Vielleicht noch Mayura, die Heimdal langsam für alles fähig hielt, da sie sich nicht zu wundern schien, dass ihr bester Freund nicht nur Flügel besaß, sondern auch ein äußerst explizites Lied sang, obwohl er gerade neun Jahre zählte. Dann aber erinnerte er sich, dass das Mädchen in einem Tempel wohnte, dort gab es sicherlich keine europäischen Betten, sondern traditionell japanische Futons als Schlafstatt.

Also Lokis Haus.

Toll, ich will ihn bezwingen und ende statt dessen betrunken in einem seiner Betten.

Odin wäre begeistert.

Heimdal verzog abschätzend seinen Mund und richtete sich langsam auf, schob die viel zu warme Decke von seinem zitternden Körper. Er trug noch immer dieses dämlichen Zorrokostüm, aber jemand schien ihm seine Stiefel ausgezogen zu haben. Die Maske sowie der viel zu große Hut fehlten ebenfalls. Der Wächter blickte sich um, konnte sein geliebtes Schuhwerk jedoch nirgendwo entdecken. Statt dessen blieb sein Blick an einer Gestalt hängen, die auf dem Sofa an der gegenüberliegenden Wand lag und das schnarchende Geräusch verursachte.

Wer hat in seinem Schlafzimmer ein Sofa?

Heimdal blinzelte und schob sich vorsichtig von der weichen Matratze. Seine Beine vermochten kaum, ihn zu halten, und seine mit Schmerzen gefüllte Welt drehte sich um ihn. Aber es gelang ihm, sich am Bettpfosten festzuhalten und das Karussell seines Lebens allmählich zu verlangsamen. Er schwankte zu dem Sofa hinüber, als befände er sich auf einem Schiff in Seenot, und erkannte überrascht Thor, der darauf lag und tief und fest schlief. Er trug ebenfalls noch seinen Samuraianzug, hatte sich eine dünne Decke über seinen Körper geworfen und sich auf den Rücken gedreht, so dass er Heimdal eher an einen ertrunkenen Hund als an einen einst so mächtigen Gott erinnerte.

Warum ist er noch hier?

Vermutlich wegen des Frühstücks oder weil er die Reste des Abendbrots aufessen will.

Fresssack!

Heimdal fuhr heftig zusammen, als ein weißes Licht hinter seinem Auge zu explodieren schien. Der Schmerz wurde unerträglich und er biss sich hart auf die Lippen, um nicht aufzuschreien und damit Thor zu wecken. Der Wächter wollte nicht, dass ihn jemand so sah, so um Fassung ringend, erst recht nicht den Donnergott, der sich schon vor einen Jahr auf Lokis Seite schlug und Heimdal damit deutlich zeigte, dass er von ihm keine Hilfe zu erwarten hatte. Er brauchte sein Mitleid nicht.

Er stieß den angehaltenen Atem aus, als der Schmerz ein wenig abklang und tastete sich blind zur Tür, da die Schatten, die dunkler als die Nacht waren, ihn erneut umhüllten. Es war kühler auf dem Gang und Heimdal stolperte mehrere Male über unsichtbare Barrieren, konnte sich aber jedes Mal im letzten Moment noch halten. Sein linkes Auge begann zu tränen, warme Flüssigkeit lief über seine Wangen und er konnte nichts dagegen tun, obwohl er sich dafür unendlich schämte. Er weinte nicht, nein, er weinte nicht. Das würde er nie tun. Nicht als stolzer Wächter der nordischen Götter!

Die Höhle seines rechten Auges, seines von Loki gestohlenen Auges, brannte, als würde sie in Flammen stehen. Ihm drehte sich der Magen um und er fiel beinahe bewusstlos gegen die Wand, die sich als eine Tür entpuppte, die nachgab. Der Wächter gab einen erschrockenen Laut von sich, bevor er eine unsanfte Bekanntschaft mit dem harten Boden machte. Für die nächsten Minuten blieb er bewegungslos auf den kalten Fließen liegen und wimmerte leise. Die Übelkeit, die nicht von dem Alkohol herführte, dafür kannte er sie zu gut, wurde übermächtig, egal, wie stark er auch dagegen ankämpfte. Vor wenigen Monaten noch hatte ein Glas Wasser und ein wenig Ruhe ausgereicht, um seinen Körper wieder zu beruhigen. Damals galt es nur, die Schmerzen auszustehen. Heute jedoch schienen sie ihn zu vernichten, er war machtlos ob ihrer Zerstörungswut.

Heimdal würgte und schaffte es noch, sich wenigstens auf seine Ellenbogen zu stützen, bevor er sich erbrach. Es war Lokis Haus, da konnte es ihm egal sein, solange er sich nicht selbst bespuckte. Aber es war ihm nicht egal, ganz und gar nicht. Es bereitete ihm eine Gänsehaut, während er hingebungsvoll den Inhalt seines Magens hergab. Dass er es nicht mehr schaffte, seinen Körper zu kontrollieren, bewies ihm, dass Odin Recht hatte, dass die Lage ernst war, sehr ernst. Wenn er nicht bald sein Auge zurück erhielt, würde er sterben. So wie es im Moment aussah, einen langsamen und qualvollen Tod.

Warum ich?

Warum nicht er?

Warum so?

Heimdal hatte sich seit dem Bekanntwerden der Prophezeiung immer gefragt, auf welche Art Loki und er zu Ragnarök gegeneinander kämpfen, welche Waffen sie benutzen, welchen Ort sie auswählen würden. Der Wächter hätte es nie für möglich gehalten, dass Loki ihn heimtückisch überwältigen und anschließend dahinsiechen lassen würde, anstelle ihn in einem ehrlichen Zweikampf zu stellen.

Er ist glücklich in dieser beschissenen Verbannung, während ich mir die Seele aus dem Leib kotze, dabei ist er der Verräter! Er hat Odins Zorn auf sich gezogen, er hat mich verraten! Warum?

Heimdal würgte, bis sein Magen nichts mehr hergab, und konnte einen gequälten Schluchzer nicht unterdrücken.

Warum?

>Hol dir dein Auge zurück, mein kleiner Heimdal. Hol dir dein Auge zurück und vernichte diesen Verräter.<

Der Wächter erinnerte sich der Worte des höchsten nordischen Gottes und kämpfte erneut gegen die Übelkeit und die Schmerzen an. Ein entschlossener Ausdruck erschien auf seinem Gesicht, als die Pein ein wenig nachließ und die Schatten so weit wichen, dass er erkannte, dass er sich in Lokis Küche befand. Neben der Spüle standen diverse Arbeitsgeräte, die Midgar bestimmt mit der Kreditkarte seines Vaters bestellt hatte: ein elektrischer Reiskocher, ein Mixer, eine Mikrowelle, ein Püreestab und ein Messerset in einem Holzblock. Heimdal schwankte hinüber und zog das größte Messer, das fast genauso groß wie sein kindlicher Arm war, aus dem Block. Es glitzerte im Mondlicht und Heimdal grinste zufrieden.

Jetzt werde ich ihn ein für alle Mal besiegen.

Er muss mir mein Auge zurückgeben.

Er muss!

Heimdal spülte sich den Mund aus und bespritzte sein verschwitzte Gesicht mit kaltem Wasser. Seine Schmerzen verschwanden nicht vollständig, so ein Anfall war nie schnell vorbei, aber er fühlte sich wenigstens ein bisschen munterer. Das musste er auch sein, wollte er seinen ärgsten Feind vernichten. Wenigstens war das Überraschungsmoment auf seiner Seite.

Noch immer schien die Welt zu schwanken, aber der Wächter ignorierte es so gut es ging, konzentrierte sich statt dessen auf die Aufgabe, die vor ihm lag, und das Messer in seinen Händen. Befriedigt lächelte er bei dem Gedanken, die Klinge in Lokis Leib zu rammen und zu sehen, ob er dann immer noch so dämlich lachte, wenn er dieselben Schmerzen verspürte, die Heimdal dank ihm beinahe jede Nacht erdulden musste.

Der Wächter öffnete aufs Geradewohl die erste Tür, die sich jedoch als das Arbeitszimmer des Unheilsgottes, oder besser, seiner Detektei entpuppte. Heimdal verzog nur angewidert seinen Mund und versuchte erneut sein Glück. Er fand eine Toilette, einen Raum voller Antiquitäten und eine Abstellkammer. Als Heimdal bereits so frustriert war, dass er die Kommode im Flur eintreten wollte, fand er schließlich Lokis Schlafzimmer. Es sah dem Gästezimmer, in dem Thor noch immer schnarchend vor sich hin träumte, zum Verwechseln ähnlich. Vermutlich hatte sich Loki beim Einrichten des Hauses keine all zu große Mühe gegeben oder aber Midgar besaß nicht mehr Phantasie, als ein Schlafzimmer zu gestalten. Die Bilder auf dem Nachttisch machten den einzigen Unterschied - und natürlich die Gestalten, die in dem europäischen Bett lagen.

Gestalten?

Hatte Heimdal das Wort gerade im Plural benutzt? Dies hier war doch Lokis Schlafzimmer, oder hatte er etwas verpasst? Nein, die Photos auf dem Nachttisch zeigten noch immer Loki und seine verdammte Brut.

Gestalten?

Heimdal schlich sich näher an das Bett heran und bemerkte sofort das Fellknäuel, das am Fuße der Matratze lag und so laut schnarchte, dass sich der Wächter wunderte, wie die anderen Personen überhaupt Schlaf fanden. Thors Schnarchen hörte sich dagegen wie sanfte Musik an.

Fenrir?

Heimdals Schmerzen hielten ihn zurück, missbilligend seinen Kopf zu schütteln. Er hatte ja gewusst, dass Lokis älterer Sohn einen schwerwiegenden Vaterkomplex entwickelte, aber er hatte nicht gedacht, dass es so schlimm um ihn stand. Im Bett seines Vaters zu schlafen wie ein kleines Baby, schämte sich der Höllenhund denn nicht?

Nein, wenn es um seinen >Daddy< ging, hat Fenrir noch nie irgendwelche Scham besessen.

Der Wächter unterdrückte ein abschätziges Brummen und wandte sich den Gestalten unter der Decke zu. Überrascht riss er sein Auge auf, das sofort wieder stärker zu pochen begann, als er Mayura erkannte. Das Mädchen hatte ihren Sherlock-Holmes Mantel gegen ein Nachthemd getauscht, das selbst in der Dunkelheit der Nacht noch entsetzlich zu leuchten schien. Grelles Pink. Wenn Heimdal nicht bereits mit seiner Gesundheit zu kämpfen gehabt hätte, jetzt hätte sein Auge mit Sicherheit weh getan.

Was macht sie in Lokis Bett? Immerhin ist er nur ein neunjähriger Junge! Weiß ihr Vater das? Lässt er das etwa auch noch zu? Oder sind hier einfach nur alle bescheuert und ich krieg das als einziger mit?

Heimdal ließ seinen Blick über Mayuras schlafende Gestalt gleiten und konnte ein zorniges Grollen nicht länger unterdrücken, als er seinen Feind sah, der in den Armen des Mädchens lag und in seinen Träumen selig lächelte. Er selbst hatte seine traditionelle Götterkleidung gegen einen dunklen Schlafanzug getauscht und seine sonst auch wild wirkenden Haare bildeten ein großes Durcheinander auf seinem Kopf.

Wie kann er nur? Wie kann er glücklich sein, wenn ich leide?

Heimdal kamen Thors Worte wieder in den Sinn und er biss erneut auf seine bereits blutende Lippe. Langsam kroch er auf die Matratze und hob das Messer, um es Loki in den Leib zu rammen. In einen kindlichen Körper, in den er ebenfalls gezwungen worden war und den er abgrundtief hasste, so wie er den Unheilsgott vor sich verabscheute.

Stirb!

Stirb und lass mich für immer in Ruhe!

Heimdal packte den Griff der Waffe stärker und holte tief Luft. Gleich würde er zustoßen. Gleich. Jeden Moment. Jetzt!

Mayura gähnte und zog den kleinen Gott stärker in ihre Arme, bedeckte unbewusst Lokis Brust mit ihrem Ellenbogen, so dass Heimdal die Angriffsfläche genommen wurde.

Egal, ich kann ihm immer noch die Kehle durchschneiden. Ihm und seiner verdammten Brut. Sie sollen genauso leiden wie ich die letzten Monate. Ganz genauso!

Heimdal setzte die kalte Klinge an Lokis Kehle und wollte zudrücken. Mayuras geflüsterte Worte, mehr im Schlaf als im Wachzustand gesprochen, ließen ihn jedoch erstarren.

"Mein Loki-chan..."

So hat sie ihn noch nie genannt. Loki-kun, aber nie Loki-chan!

Unfähig, sich zu bewegen, starrte Heimdal in das entspannte Gesicht seines Feindes, der die Gefahr nicht zu spüren schien, in welcher er sich befand. Der Wächter fragte sich, ob der Unheilsgott dem Mädchen wirklich die Wahrheit gesagt hatte - und ob sie ihn als das akzeptiert hatte, was er war. Ob sie ihn dafür liebte.

Wie schafft er das?

Wie kriegt er immer alle dazu, ihn zu mögen?

Nein, nicht alle. Mich nicht! Ich werde nie wieder nach seiner Pfeife tanzen. Wie wieder!

Heimdal konzentrierte sich auf seine Aufgabe und schnappte verblüfft nach Luft, als er direkt in dunkelgrüne Augen schaute, die ihn stumm ansahen.

Seit wann ist er wach?

Warum reagiert er nicht, greift mich nicht an, verteidigt sich nicht? Ist das ein neues Spiel?

Für eine halbe Ewigkeit starrten sich die beiden kindlichen Götter an. Keiner von beiden sagte etwas, keiner bewegte sich. Das Messer befand sich noch immer an Lokis Kehle, aber weder drückte Heimdal zu noch schob es der Unheilsgott beiseite.

"Heimdal?" unterbrach Loki schließlich die Stille und der Wächter zuckte unbewusst zusammen, wobei ihm beinahe das Messer aus der Hand gefallen wäre. Er hielt es jedoch fest und sah, dass er Loki geschnitten hatte. Eine kleine Wunde an seinem Kinn blutete, aber noch immer zog er Unheilsgott nicht seine Sense, um ihn von sich zu stoßen.

"Heimdal?" fragte der Unheilsgott erneut und hob endlich seine Hand. Aber nicht, um seinen Angreifer zu schlagen, sondern, um ihm die violetten Strähnen aus dem Gesicht zu streichen. Loki wollte Heimdals Gesicht sehen und nicht mit einem Schatten diskutieren. Der Unheilsgott runzelte seine Stirn und schnippte kurz mit seinen Fingern. Im nächsten Moment erhellte Licht den Raum und Heimdal kniff geblendet sein Auge zusammen, das zu explodieren schien.

>Ohne dein rechtes Auge wirst du erblinden und früher oder später sterben, wenn Loki nicht deine Hilflosigkeit ausnutzt und dich zuerst umbringt.< Erneut hörte Heimdal Odins Stimme in seinen Gedanken und wusste, dass er seine Chance verpasst hatte. Nun, da er geblendet war, würde Loki ihm auch noch das andere Auge stehlen und ihm vernichten, so wie es die Prophezeiung vorhergesagt hatte. Warum hatte er nicht zugedrückt, als er die Möglichkeit dazu gehabt hatte? Weshalb hatte er gezögert? Zu lang gehadert?

"Heimdal..." Lokis Stimme klang mit einem Mal kurzatmig, so als wäre er einen weiten Weg gelaufen, oder als wäre er entsetzt.

"Gib mir mein Auge zurück, du verdammter Verräter!" zischte der Unheilsgott und fuchtelte blind mit dem Messer in der Luft herum, wo er Loki zu treffen erhoffte. Warum weder Mayura noch Fenrir von dem grellen Licht erwachten, blieb ihm ein Rätsel, aber es interessierte ihn nicht weiter. Er musste Loki vernichten und sein Auge zurückfordern, alles andere konnte ihm egal sein.

"Heim..."

"Ich will mein Auge zurück. Red ich vielleicht Chinesisch?" Heimdal fuhr herum und deutete mit dem Messer in die Richtung, aus der er Lokis Stimme hörte. Der kindliche Gott schien aufgestanden zu sein, um ihn zu verwirren, um ihn zum Narren zu halten. Zitternd kam er auf seine Beine und stolperte der Stimme hinterher, die seinen Namen immer und immer wieder sagte, wie eine Litanei.

"Verdammt, Loki!" Heimdal wischte sich die lästigen Tränen aus seinem Auge und blinzelte mehrfach, bis sich sein trüber Blick ein wenig aufhellte. Er erkannte nur Schemen, aber der dunkle Schatten vor ihm konnte nur Loki sein. Niemand anderes in seiner Größe trug einen schwarzen Schlafanzug, nicht einmal die verrückten Kinder in seiner Grundschule zur Mittagspause. Heimdal richtete das Messer erneut auf und stürmte auf den Unheilsgott zu, um ihn aufzuschlitzen. "Dafür wirst du büßen!"

Der Schatten bewegte sich nicht von der Stelle und Heimdal grinste bereits triumphierend, da wich Loki ihm jedoch im letzten Moment aus und sich das Messer bohrte sich anstelle in den kindlichen Körper in den Schrank. Heimdal heulte zornig auf, aber es war ihm nicht möglich, die Waffe aus dem Holz zu ziehen, sie steckte fest.

"Dann muss ich dich eben mit meinen bloßen Händen vernichten!" zischte der Wächter und drehte sich zu Loki um, der noch immer ein schwarzer Punkt in einer schwankenden Welt darstellte. Er streckte seine Hände aus und erwischte Loki dieses Mal, vermutlich an seinen Armen.

"Heim, bitte, hör mir zu." Sagte der Unheilsgott und Heimdal spürte im nächsten Moment Hände auf seinen Schultern. "Wir müssen miteinander reden."

"Reden? Wozu denn? Wir haben uns doch schon alles gesagt." Der Wächter schob Loki quer durch den Raum, bis der Unheilsgott auf ein Hindernis stieß und Heimdal ihn dagegen presste und somit gefangen hielt. "Du hast mir mein Auge genommen und dafür wirst du büßen!"

"Ich hab dich nicht verraten, Heim." Antwortete Loki in einer Stimme, die für Heimdals Nerven viel zu ruhig, viel zu gefasst war. Der Unheilsgott sollte Angst vor ihm haben, so wie der Wächter sich in jener Nacht vor über einem Jahr gefürchtet hatte.

"Du bist also nicht nur ein Verräter, sondern auch ein Lügner!" zischte Heimdal und verstärkte seinen Griff um Lokis Arme. Er wollte nicht, dass ihm der kleine Gott noch einmal entkam, dieses Mal würde er seine Mission zu Ende bringen, mit allen Mitteln.

"Ich habe..."

"Wer soll es sonst getan haben, hm? Etwa Thor? Oder gar Odin?" Als Loki nichts erwiderte, grinste Heimdal höhnisch, fühlte sich in seiner Ahnung bestätigt. "Du hast nicht auf Ragnarök warten können, nicht wahr? Langsam wolltest du mich vernichten. Aber das wird dir nicht gelingen, Verräter, denn ich werde dich zuerst umbringen!"

"Heimdal..." Der Wächter erwartete Gnadenersuche, vielleicht sogar eine Beleidigung, aber die nächsten Worte des Unheilsgottes ließen ihn zusammen fahren. "Du blutest. Deine beiden Augen bluten."

"Was?" entfuhr es ihm erstaunt, dann aber besann er sich auf Lokis Heimtücke. Das alles war doch nur eine Lüge, um ihn zum Zweifeln zu bringen. Sicher, der Schmerz in seinem Auge nahm mit jedem Augenblick zu, er musste sich beeilen, aber Blut? Das war lächerlich, einfach nur lächerlich! "Red keine Arien, sondern bereite dich auf deinen letzten Gang vor!"

"Hast du dich verletzt?"

"Du hast mir mein Auge gestohlen und wagst es, solche Fragen zu stellen?" Heimdal war außer sich. Er ließ Loki für einen Moment los, um seine Hände um dessen Kehle zu schließen. Gerade wollte er zudrücken, als ihn zwei starke Arme ergriffen und ihn von seinem ärgsten Feind fortzogen.

"Das ist unfair!" schrie er und trat wild um sich, ohne aber irgendjemanden zu treffen. "Das soll ein Zweikampf sein!"

"Beruhige dich, Heim." Hörte er eine ihm nur zu bekannte Stimme hinter sich und sein Zorn war unermesslich, als Thor ihn so fest umarmte, dass er sich nicht einmal mehr bewegen konnte. Wehrlos hing er in den Armen des Donnergottes und sein linkes Auge blitzte hasserfüllt den dunklen Schatten vor sich an.

"Beruhigen? Ihr seid beide Verräter!" kreischte er, wunderte sich nur für den Bruchteil einer Sekunde, warum weder Fenrir noch Midgar bei dem Lärm auftauchten und ebenfalls ihrem Vater zur Hilfe kamen. Vier gegen einen war für diese verdammte Brut doch weitaus günstiger, und typischer, als dass zwei über eine Person herfielen. "Ihr verdammten Lügner! Erst stehlt ihr mir mein Auge und jetzt wollt ihr mich vernichten. Ich krieg nicht mal einen fairen Zweikampf!"

"Du brauchst keinen Kampf, du brauchst Hilfe." Stellte Loki fest, aber seine Stimme zitterte leicht. Der Schatten trat näher an Heimdal heran und der Wächter zappelte erneut in Thors unnachgiebigen Armen. Jetzt würde Loki seine Rache vollenden und ihm auch noch das zweite Auge nehmen. Heimdal fragte sich, wie er nur zu dieser Geburtstagsfeier hatte kommen, wie er wieder einmal eine Falle hatte übersehen können. Es war alles ein abgekatertes Spiel gewesen. Vermutlich steckten sogar die Göttinnen dahinter, hatten sich deswegen den ganzen Abend so freundlich ihm gegenüber verhalten.

Und er war in ihre Falle getappt wie ein blinder Anfänger.

"Fass mich nicht an!" spie er und wandte in Panik seinen Kopf zur Seite, versuchte vergeblich, diesen zu verbergen. Lokis kleine Hand zwang ihn jedoch, ihn direkt anzusehen, auch wenn Loki Gesicht einem verschwommen, weißen Fleck glich. Vorsichtig wurden Heimdals Haare hinter seine Ohren geschoben und er versteifte sich in Thors Armen, bereitete sich auf den ultimativen Schlag vor. Der Donnergott schnappte nach Luft und Heimdal fragte sich, ob Thor seinen Verrat bereute, nun, da es zu spät war.

"Du brauchst wirklich Hilfe, Heim." Flüsterte Loki und anstelle ihm sein linkes Auge auch noch zu nehmen, fuhren kalte Finger über seine heißen Wangen. Der Schmerz verdoppelte sich trotzdem schlagartig und Heimdal röchelte, als ihm jegliche Luft aus den Lungen gepresst wurde.

"Scheiße!" fluchte Thor und seine Stimme klang mit einem Mal so weit weg, als würde er sich in einem anderen Raum befinden, oder aber in einer anderen Welt. "Heimdal! Was ist los? Was ist geschehen?" Der Wächter spürte, wie die Arme ihn losließen, aber anstelle auf den harten Boden zu knallen, wie er das in Lokis Küche bereits getan hatte, fingen ihn sanfte Hände auf und legten ihn behutsam auf eine weiche Unterlage. Heimdal konnte nicht sagen, ob es sich dabei um die Matratze von Lokis Bett handelte oder etwas anderes, es war ihm auch egal. Sein Magen schien voller Bienen zu sein, die in ihrer ohnmächtigen Wut immer wieder in seine Haut stachen und er schaffte es gerade noch, seinen Kopf zu drehen, um sich erneut zu erbrechen. Er hatte zwar geglaubt, bereits in der Küche sein gesamtes Abendbrot dem Fliesengott gespendet zu haben, aber offensichtlich hatte er sich geirrt.

So schlimm war es noch nie.

Er stöhnte gequält auf und die Spirale aus Schmerzen spitzte sich immer weiter zu. Die weiche Unterlage begann zu schaukeln, aber er konnte nicht zuordnen, ob jemand darüber sprang - wohl, um ihn doch noch anzugreifen - oder ob der Alkohol seine schlimmste Wirkung entfaltete und die Welt in einen Seesturm verwandelte.

"Meine Güte!" Mayuras Stimme benutzte keine Schimpfwörter, aber sie klang ähnlich gehetzt wie Thors. "Was ist hier geschehen?"

"Keine Ahnung, aber ruf den Krankenwagen, sofort!" Das war nun Thor, der außer sich vor Wut war. Oder war es Angst?

Angst? Wovor denn? Dass ich hier krepiere? Bestimmt nicht...

"Hai!" Die Welt schwankte noch ein wenig mehr und Heimdal hörte das Knallen mehrerer Türen und dazwischen Midgars verschlafene Stimme.

Wenigstens er schläft nicht im Bett seines Vaters, sonst würde ich sie alle für verrückt halten.

Heimdal grinste müde bei dem Gedanken und wollte sich zu einem Ball zusammen rollen, als die nächste Welle der Agonie über ihm hinweg schwappte. Es gelang ihm jedoch nicht, sein Körper schien ihn nicht gehorchen zu wollen. Mehr und mehr aufgeregte Stimmen - und ein aufgeregtes Bellen, wie Heimdal genervt feststellte - füllte seine Welt der Schatten und er stöhnte auf, als jemand mit einem feuchten Tuch über sein glühendes Gesicht fuhr. Würde man ihm jetzt sein Auge nehmen? Jetzt, da er wirklich und wahrhaftig wehrlos in Lokis Haus lag? Hatte Odin Recht gehabt? Mit der Prophezeiung und seinen weisen Worten den Unheilsgott betreffend?

>... wenn Loki nicht deine Hilflosigkeit ausnutzt und dich zuerst umbringt.<

Odins Stimme war allgegenwärtig in seinem Kopf, schien wirklicher zu sein als Mayuras Weinen, mit dem sie erklärte, dass der Notarzt unterwegs wäre.

"Wie konnte das passieren?"

>Mein kleiner Heimdal.<

"Er blutet aus beiden Augen."

>Mein kleiner Heimdal.<

"Sein Kopf ist ganz heiß."

>Mein kleiner Heimdal.<

"Er hat Blut erbrochen!"

>Mein kleiner Heimdal. <

"Der Notarzt sollte jeden Moment da sein. Ich geh schon mal an die Eingangstür."

>Mein kleiner Heimdal.<

"Ich komme mit, Daidouzi-sama."

Heimdal grinste höhnisch und fragte sich, wann Midgar diesen förmlichen Ton aufgeben und Mayura Ka-san nennen oder gleich das grausame Englisch seines älteren Bruders übernehmen und sie schlicht und ergreifend >Mommy< rufen würde. Erneuter Schmerz fuhr durch seinen ganzen Körper und er stöhnte laut auf. Eine kühle Hand legte sich auf seine Stirn und der nasse Lappen verharrte auf seine rechten Wange.

"Halt durch, Heim, der Arzt wird gleich da sein."

Als ob der mir helfen könnte. Niemand kann mir helfen. Niemand, außer...

"Gib mir..." Das Sprechen fiel ihm unendlich schwer und er konnte die Übelkeit, die wieder in ihm aufstieg, kaum zurückdrängen. "... meine Auge, Loki."

"Heimdal..."

"Ohne Auge... verliere ich meine... Macht und mein... Leben..." brachte er mit letzter Kraft hervor und würgte er erneut. Sanfte Hände hielten ihn, während er sich erneut übergab. Jegliches Gefühl verließ seinen zitternden Körper und er fragte sich, ob das wirklich das Ende war, da er nicht einmal mehr seine Arme spürte, ohne sie Loki nicht erwürgen konnte. Andererseits, was brachte ihn der Tod seines ärgsten Feindes, wenn dieser sein Auge mit sich nahm?

"Ich hab es nicht!"

Phantasierte er bereits, oder klang Lokis Stimme wirklich verzweifelt?

"... kannst gerne hier... hier leben mit all diesen Personen... ich..." Heimdal würgte und das Atmen fiel ihm schwerer. Müdigkeit breitete sich in ihm aus und er wollte mit einem Mal allein sein. Der Anfall klang ab, so wie jedes Mal, und jetzt bräuchte er seine Ruhe und ein paar Stunden Schlaf, dann würde es ihm besser gehen, dann würde er sich erneut mit ihnen befassen und vielleicht auch eine Erklärung finden, warum er mitten in der Nacht Lokis Bett vollgebrochen hatte.

"... ich brauch deinen Tod nicht... Loki... mein Auge... brauch nur mein Auge..." flüsterte er und schloss das brennende Lid. Im Moment nahm er sowieso nichts mehr von der Welt um ihn herum wahr.

"Ich hab es nicht! Verdammt! Wie kann ich dir sonst helfen, Heimdal. Heimdal? Heimdal?!"

>Mein kleiner Heimdal...<

Odins Stimme war wieder in seinen Gedanken und für einen Moment glaubte er, das gleißende Licht vor sich zu sehen, dass ihm dieses Mal jedoch nicht weh tat. Wieder spürte er die großen, kühlen Hände, die sanft über seine Wangen streichelten, hörte die väterliche Wärme in den Worten des mächtigsten nordischen Gottes.

>... wieso hast du nur versagt, mein kleiner Heimdal?< fragte die Stimme und unendliche Verzweiflung stieg in dem Wächter empor, als er den Sinn der Worte verstand.

Seid Ihr enttäuscht, Odin?

"Heimdal?! Los, sag was, mach keinen Scheiß hier!"

>Nein, nur maßlos traurig, mein kleiner Heimdal.<

Ich habe alles versucht, aber ich war allein, hatte keine Hilfe in dieser schwierigen Aufgabe.

>Es war deine Aufgabe, mein kleiner Heimdal, deine allein. Du hättest sie bewältigen sollen.<

"Heimdal! Wach auf! Der Notarzt trifft gerade ein, hörst du's? Gleich ist Hilfe da!"

Dann werde ich mir das nächste Mal mehr Mühe geben.

>Es wird kein nächstes Mal mehr geben, mein kleiner Heimdal.<

"Heimdal, gib jetzt nicht auf, hörst du mich? Wir brauchen dich doch!"

Komme ich zurück nach Walhalla?

Der Wächter fühlte sich glücklich. Nun würde er endlich seine Heimat wieder sehen, sein geliebtes Asgard. Endlich würde er diesen kindlichen Körper loswerden und so mächtig wie vor Lokis Verbannung durch das Himmelsreich wandeln. Ja, er war glücklich. Sollte sich doch jemand anderes um Loki und Odins Zorn kümmern, es war sowieso nie seine Aufgabe gewesen. Zu Ragnarök würde er bereit sein, sich dem Unheilsgott zu stellen, aber davor wollte er einfach nur seine Aufgaben als Wächter erfüllen und eine ruhige Existenz führen. Loki konnte hier auf der Erde mit Mayura und seiner Brut glücklich sein, er würde es in Walhalla sein.

Heimdal lächelte glücklich und ließ zu, dass ihn die Dunkelheit vollkommen verschluckte. Ja, jetzt würde er nach Hause gehen. Endlich.

>Nein.<

"Heimdal!"
 

***
 


 

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(wird später im Nachwort noch einmal erwähnt, aber da ich nicht alles auf einmal hochlade zur Hilfe zum Lesen des zweiten Kapitels ^-^)
 

Gackt - Vanilla (lyric + English translation):
 

kimi wa seijitsu na moralist kirei na yubi de boku o nazoru

boku wa junsui na terrorist kimi no omou ga mama ni kakumei ga okiru

You're an honest moralist You trace me with your pretty finger

I'm a pure terrorist Your thoughts are rising like a revolution
 

koi ni shibarareta specialist nagai tsume o taterareta boku

ai o tashikametai egoist kimi no oku made tadoritsukitai

A specialist bound by romance You used your long fingernails on me

An egoist who wants to confirm love I want to struggle on until I'm inside of you
 

kimi no kao ga toozakaru

ah boku wa boku de nakunaru mae ni

You keep yourself at a distance

ah Before I lose myself
 

aishite mo ii kai? yureru yoru ni

arugamama de ii yo motto fukaku

kuruoshii kurai ni nareta kuchibiru ga tokeau hodo ni

boku wa...kimi no...Vanilla

Is it okay to love, too? In the shaking night

It's good as it is More Deeper

As those almost maddening lips I've gotten used to melt together

I am...Your...Vanilla
 

(Translated by: Mina-P (Email: Minako@senshigakuen.com))



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Minerva
2007-07-18T12:54:04+00:00 18.07.2007 14:54
so ganz ehrlich? Ich musste heulen. Wirklich.
Der arme kleine Heimdall (obwohl er mich schon allein für diese Wortwahl gerne umbringen würde... hihi)
Aber ich glaube von irgendwo her kenne ich diese Situation... Na Fürst der Finsternis? *schmunzel*
Lokis große Liebe war übrigens die Riesin Angroboda (Kommt im zweiten Teil des Mangas Detektiv Loki - Ragnarok) aber mit Mayura gebe ich mich auch zufrieden.
Besonders die Szene wo Thor Heimdall umarmt hat und Loki dabeistand fand ich so unglaublich süß. Ich musste wirklich heulen.
Naja das du genial bist brauch ich ja nicht zu sagen. Ich bin neidisch - ich würde gerne auch so schön traurig schreiben können...

tat


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