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Eine Stunde in der Stadt

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Eine Stunde in der Stadt
 

Manche Dinge lassen wir los, ohne uns darüber im Klaren zu sein. Wir lassen Momente einfach so verstreichen, zum Beispiel einen warmen Sommerabend mit Freunden, vielleicht mit einem Lagerfeuer und Musik, die nur ihr in diesen Momenten und nur zu dieser Zeit gehört habt. Ihr tragt Kleider, die ihr nur zu dieser Zeit getragen habt, spielt Kartenspiele, die nur ihr alle kennt und spielt. Ihr redet über die Dinge, die ihr gemeinsam erlebt habt, über Leute, die nur ihr kennt, doch vielleicht kennt ihr euch schon heute nicht mehr. Der Sommerabend vergeht einfach so, beinahe unbemerkt und hinterlässt nur so ein unbestimmt warmes Gefühl, wenn ihr einen eurer alten Songs zufällig im Radio hört. Ihr habt diese Zeit, die in eurer Erinnerung einen bestimmten Zauber inne hat einfach losgelassen, ohne, dass ihr es gewollt oder geplant habt. Jeden Augenblick lassen wir los.
 

Heute ist es Winter und zartweiße Wölkchen tanzen aus meinem Mund und aus meiner Nase, wenn ich atme. Sogar diese weißen Wölkchen werde ich loslassen, nur mit dem Unterschied, dass ich weiß, dass sie nächstes Jahr wiederkommen werden, aber für ein halbes Jahr lang lasse ich sie los.

Doch jeden einzelnen Tag, jede Stunde, jede Sekunde lassen wir los, obwohl wir genau wissen, dass sie niemals wieder kommen werden.

Als ich so durch die Stadt schlendere, bin ich mir dessen sehr bewusst. Wenn ich das Schlagen der Kirchturmuhr höre, weiß ich, dass ich diesen Ton niemals wieder auf genau die selbe Art hören werde, wie ich es nun tue. Ich bin direkt neben der Kirche, doch meine Ohren sind durch den Stoff meiner Wollmütze verdeckt und auch der Schnee, der überall liegt, dämpft die Geräusche etwas. Vielleicht bilde ich mir das ja auch nur ein, doch in diesem Fall werde ich es mir niemals wieder so einbilden, wie in diesem Moment.

Meine Schuhe versinken in dem plattgetretenen braun-grauen Schneematsch und meine Füße fühlen sich an wie Eisklötze. Ein Gothic läuft an mir vorbei und ich frage mich, ob er sich anders fühlt als ich, weil er dunkle Sachen trägt und ein schwarz-geschminktes Gesicht hat.

Ein junges und glücklich wirkendes Paar steht an einem Schaufenster und das Mädchen zeigt auf eine bestimmte Uhr. Bald ist auch Weihnachten und ich genieße das Gefühl, nicht in der Stadt zu sein, um Weihnachtsgeschenke zu kaufen.

Und bei meinem Bummel gehen mir ständig wirre Gedanken durch den Kopf. Ich frage mich, wann man zu seinem Partner das "Ich liebe dich" sagen sollte und dann frage mich, warum das eigentlich so furchtbar relevant ist. Ein anderer Gedanke gilt den Tauben zu meinen Füßen. Haben sie etwa noch kälter Füße als ich und wenn ja, stört sie das denn nicht?

Ich könnte mir auch Gedanken über wichtigere Dinge machen, zum Beispiel persönliche Probleme, Aufgaben, die ich noch zu erledigen habe oder ähnliches, aber das mache ich nicht. Man braucht doch nicht immer über solche Sachen nachzudenken, oder? Es ist doch in Ordnung, wenn die schwierigste Frage, mit der ich mich gerade beschäftige die ist, ob ich mir einen dieser köstlich duftenden Crèpes an einem der Weihnachtsmarktstände gönnen, oder doch lieber Geld und Kalorien sparen soll?

Direkt an mir läuft ein Jugendlicher vorbei. "Ein kleiner Gangster", denke ich und beinahe berührt meine Schulter seine Jacke. Einen kurzen Moment kann ich die Musik aus seinem CD-Player hören. Rap, was sonst, und schon ist er aus meinem Blickfeld verschwunden und irgendwoher höre ich ein leises Weihnachtslied.

Schnell mache ich einem Blinden Platz, ich möchte nicht von seinem Blindenstock ertastet werden.

Die Tüte mit Lebensmitteln schneidet in meine Hand und ich wechsle sie in die andere, die ich die ganze Zeit in meiner Jackentasche versucht habe warm zu halten. Jetzt wird sie auch kalt.

Heute sehe ich die Stadt mit anderen Augen. Ich sehe sie mit den Augen des Alltags, den selben Augen, die ich schon immer hatte und doch sieht die Welt jeden Tag anders aus.
 

Später sitze ich im Bus und betrachte die Landschaft, die auch jeden Tag anders ist. Es gibt keinen Tag, an dem die Bäume die selbe Anzahl von Blättern tragen, keinen Tag, an dem die Pflanzen das selbe Alter haben, keinen Tag, an dem sie Blätter die selbe Formation von Wassertropfen auf ihrer Oberfläche haben. Und doch erkenne ich die Landschaft jeden Tag wieder und nicht nur das, ich habe sogar das Gefühl, jeden Tag die selbe Landschaft zu sehen.

Mit meiner Fingerspitze berühre ich die kalte Fensterscheibe und schließe meine Augen und auch diesen Tag lasse ich los.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Memphis
2005-01-12T19:23:12+00:00 12.01.2005 20:23
Es erinnet mich an ein Buch von Rosendorfer: Die Schönschreibübungen des Gilbert Hasdurbal Koch.
So vom Stil ist es irgendwie ähnlich, find ich.

Ich fand es auf jeden Fall mal wieder sehr schön. Sehr Atmosphärisch und so.

liebes grüßle
Memphis
Von:  SailorTerra
2005-01-04T17:28:38+00:00 04.01.2005 18:28
Eine sehr nachdenkliche Geschichte, die mich auch mal wieder zum nachdenken gebracht hat.
Wie vergänglich die Dinge doch sind... Wie du schon gesagt hat, letztendlich vergeht alles... jede Sekunde die wir verstreichen lassen, kommt nicht zurück... hm...
Sie ist auf jeden Fall schön geschrieben, auch wenn ich mich wiederhole ^^"
Ich mag deine Geschichten... jede einzelne und ich muss mich entschuldigen, dass ich erst jetzt meinen Senf dazu gebe.

Alles liebe


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