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Liebe, Leid und Leben

Mamorus Jugend
von

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Die Sonne war gerade untergegangen, aber nichtsdestotrotz pfiff immer noch ein heißer Wind um die SilverStar-Ranch. Was der sandige Boden Stunde um Stunde über den ganzen Tag hinweg wie ein Schwamm an Hitze aufgesogen hatte, das gab er jetzt in gleichem Maße wieder ab. Wäre es – vom Licht von Millionen von Sternen mal ganz abgesehen – nicht so zappenduster gewesen, hätte jemand, der dieses Klima nicht gewohnt war, durchaus glauben können, es sei noch immer helllichter Tag, und ein Zauber habe die Sonne zwar ihrer Strahlen, nicht aber ihrer Hitze beraubt. Doch dieser natürliche Glutofen würde sich binnen der nächsten paar Stunden auf schneidend kalte Temperaturen hin absenken. Die Natur war nun mal grausam in der Ausführung ihrer eigenen Gesetze.

Nicht eine Sekunde lang zweifelte Mamoru am Wahrheitsgehalt dieser Aussage. Im Gegenteil. In gewisser Weise schien es genauso ein Naturgesetz zu sein, dass Liebe etwas Kompliziertes war. Wieso nur hatte Amors Pfeil ihn wieder einmal mit derartig berechnender Präzision treffen müssen?

Eine deutsche Lyrikerin und Aphoristikerin namens Rose von der Au hatte es einmal folgendermaßen ausgedrückt:

"So manches mal habe ich das Gefühl, dass Amor blind ist oder betrunken, oder schlimmer noch, seinen Schabernack mit mir treibt, aber vielleicht liegt es ja auch daran, dass ich ihm den Hintern hinhalte."

Mamoru seufzte leise. Nun war es also wieder passiert, und er konnte auch noch nichts dagegen tun. Wollte er überhaupt etwas dagegen tun?

Er wusste es beim besten Willen nicht zu sagen. Er wusste nur eines: So, wie er bisher sein Schicksal kennen gelernt hatte, war er sich sicher, dass seine Zukunft für ihn alles andere als einfach werden würde.

Zu diesem Zeitpunkt konnte er allerdings noch nicht einmal ahnen, wie sehr er damit Recht hatte!

Mamoru schloss nun endlich seine Haustür hinter sich und trat einige Schritte auf die Veranda hinaus. An der Kante blieb er stehen, dort, wo ihm das hölzerne Vordach nicht mehr die Sicht versperrte, und er warf einen andächtigen Blick in die atemberaubende Weite des nächtlichen Sternenhimmels, der an diesem Abend unbeschreiblich schön funkelte.

...Fast so wie Elyzabeths Augen...

Erneut kam ein leiser Seufzer über seine Lippen. Es war wohl ein weiteres Naturgesetz, dass ein Verliebter an nichts anderes mehr denken konnte, und sich seine Gedanken nur noch um diese eine Person drehten.

Konnte man die Natur eigentlich wegen Nötigung verklagen?

"In Amerika bestimmt...", brummte Mamoru leise als Antwort auf seine eigenen Gedanken. Er drehte sich nun endlich um und steuerte die Haustüre des Haupthauses an. Dies war der eigentliche Grund für ihn gewesen, überhaupt seine Wohnung zu verlassen. Er brauchte eine Ablenkung. Er ließ die Sterne einfach mal Sterne sein, ignorierte das gute Dutzend romantischer Gedichte, das ihm prompt zu dieser Himmelspracht einfiel, und drückte die Türklinke herunter.

"Tante Kioku! Ich bin's!", rief er und schloss hinter sich die Haustür.

"Schade. Ich hatte schon gehofft, der Weihnachtsmann käme dieses Jahr etwas früher", antwortete sie ihm aus der Küche entgegen.

"Nette Begrüßung!", brummte Mamoru zurück.

"Gern geschehen", kam es von seiner Tante, "das macht dann neun fünfundneunzig. Ich nehme keine Schecks!"

"Sorry, bin knapp bei Kasse...", beteuerte er und durchschritt das Wohnzimmer.

"Da gibt's nur Eins!" Mamoru musste seine Tante nicht sehen; er konnte hören, dass sie grinste. "Mach den Abwasch!"

Der Junge seufzte. So was in der Art hatte er schon erwartet.

Die Tür zur Küche war nur angelehnt. Mamoru öffnete sie vollends und sah seine Tante, wie sie gerade die Spülmaschine ausräumte.

Er grinste spöttisch.

"Aber wieso sollte ich das tun?", fragte er wie beiläufig nach. "Wie ich sehe, beherrschst Du das wunderbar! Geradezu fantastisch! Weltmeisterlich! Ich könnte das bestimmt nicht halb so schön wie Du machen!"

"Wäre aber besser, wenn Du es übst!", kam Kiokus Antwort, während sie einige Teller in einen Schrank räumte. "Ich sag Dir was, Kurzer: Damit könntest Du Deine kleine Freundin von gerade eben so richtig beeindrucken!"

Bei diesem Kommentar schoss das Blut nur so in Mamorus Wangen. Er hoffte inständig, dass seine Tante dies nicht bemerkte. Aber er machte sich diesbezüglich eigentlich keine großen Hoffnungen. Dazu kannte er Kiokus Adleraugen zu gut.

Er konterte:

"Ich beeindrucke sie lieber mit meinen Muskeln!"

Damit hob er den Arm und spannte ihn an. Er grinste selbstsicher, als er so auf die beeindruckenden Muskeln schaute, die sich deutlich unter dem festen Stoff seines Hemdes abzeichneten.

Darauf meinte Kioku nur trocken:

"Muskeln sind dazu da, um Arbeit zu verrichten!"

"Ich sag Dir Bescheit, wenn ich welche sehe...", feixte er.

Kioku lachte daraufhin gekünstelt auf. "Du würdest noch nicht mal dann jegliche Arbeit sehen, wenn man Dich mit der Nase darauf stieße!"

Mamoru schüttelte resigniert seufzend den Kopf. Es hatte keinen Sinn, diese Diskussion fortzuführen. Wortgefechte dieser Art waren so alt wie die Menschheit selbst, und Mamoru wusste, dass seine Tante mit ihrem Dickschädel so lange keine Ruhe gab und weiterhin noch Argumente sammeln würde, bis er die Diskussion eh früher oder später Leid war. Deswegen lenkte er das Gespräch auf ein anderes Thema:

"Es ist schon ziemlich spät, finde ich. Wo ist Onkel Seigi? Er scheint noch nicht zu Hause zu sein, oder irre ich mich da?"

"Du irrst Dich zwar nicht, aber ein schlechtes Gedächtnis hast Du!", grinste Kioku, jetzt, wo sie ihren Sieg in diesem verbalen Duell in der Tasche hatte. "Heute Morgen erst hat er doch noch erzählt, dass er geschäftlich verreisen muss. Zu dieser wichtigen Besprechung. Nach Oklahoma City. Bis morgen. Weißt Du das schon nicht mehr?"

"Moment mal...", Mamoru legte nachdenklich den Finger an die Lippen. "Da war doch was... Hat er nicht irgendwas gesagt von einem Meeting, in Oklahoma City, bis morgen? ...Ach, verzeih, hast Du gerade eben irgendwas gesagt?"

Seine Tante schüttelte seufzend den Kopf. "Du musst immer so rumblödeln..."

Dann lachte sie aber fröhlich auf. Ihre unerschütterliche gute Laune war wirklich eindrucksvoll. Mamoru hatte in seinem Leben schon so oft staunend bemerkt, dass es eigentlich gar nicht mal so leicht war, sie aus der Fassung zu bringen. Freilich, wenn es denn mal geglückt war, dann konnte Kioku jähzornig sein wie ein Kriegsgott, dem man aufs Füßchen getreten war. Dennoch war sie an und für sich ein ruhiger, fröhlicher, besonnener Mensch. Hatte eine schier ansteckendes, lustiges Gemüt. Hatte immer einen kessen Spruch und ein Grinsen auf den Lippen. Hatte immer fast schon überschäumende Lebensenergie.

Wertvolle, reichhaltige Lebensenergie...

Dieser Gedanke erweckte ungewollt etwas in Mamoru, das sehr tief und lange geschlafen hatte. Doch nun schien dieses Etwas durch sein plötzliches Erwachen doppelt so mächtig geworden zu sein, als jemals zuvor. Es war diese Gier nach Macht; das Lechzen nach Vollkommenheit und grenzenloser Stärke; der Hunger nach Kontrolle und absoluter Unbesiegbarkeit; der unbändige Wunsch nach dem erhebenden Gefühl von Kraft und nicht enden wollender Energie.

Ein kleines, geradezu bösartiges Lächeln erschein auf Mamorus Lippen; ansonsten war sein Gesicht zu einer Maske aus eisiger Gefühllosigkeit erstarrt. Kein Muskel rührte sich; es schien geradezu versteinert zu sein.

Alles war so unglaublich leicht...

Er musste ihr nur ihre Kraft rauben. Sie war ihm körperlich unterlegen. Nichts würde ihn daran hindern können, einfach über sie herzufallen und ihre wertvolle Lebensenergie aus ihrem Körper zu saugen, wie ein Vampir, der seine Zähne in den Hals seines Opfers geschlagen hatte. Womöglich würde sie nur zusammenbrechen und sich nicht mehr erinnern. Man würde es als die <Krankheit> abtun, die so oder so gerade über die Welt ging. Seine Tante wäre bei Weitem nicht die Erste, die plötzlich kraftlos zusammenklappen würde.

Es war so unglaublich leicht...

Mamoru ging langsamen Schrittes auf sie zu. Kioku war derweil wieder damit beschäftigt, die Spülmaschine weiter auszuräumen und dabei irgendwas zu erzählen. Ihr Neffe hörte es gar nicht. Er realisierte überhaupt nichts mehr aus seiner Umwelt. Alles, was er sah, war das Leben, das durch Kioku floss. Energie im Übermaße.

Es war so unglaublich leicht...

Im Moment hatte sie ihren Rücken zu ihm gekehrt. Vielleicht bemerkte sie noch nicht einmal, dass er sich ihr näherte. Oder sie dachte sich nichts dabei. Wie unvorsichtig! Wie töricht! Menschen waren doch so unendlich dumme Opfer! So unsagbar mühelos hinters Licht zu führen!

Es war so unglaublich leicht...

Er hob seine Hände an.

"Hey, Kurzer, ich hab Dich was gefragt. ...Hallo? Willst Du mir keine Antwort geben?"

Sie nahm einen Teller aus der Spülmaschine und drehte sich ihm dann erst zu, um ihn mit tadelndem und fragendem Blick anzusehen.

"Was grinst Du denn so blöde?"

Noch immer spürte sie nicht die Gefahr, die sich da anbahnte. Nur noch wenige Zentimeter trennten sie von ihrem Neffen.

"Mamoru? ...Du machst mir allmählich Angst. Lass das! S...s...sieh mich nicht so an, als ob Du mich fressen wolltest..."

Skepsis stieg in ihrem Blick auf. Sie trat einen Schritt zurück und stieß dabei an die Arbeitsplatte.

"Mamoru! Ich finde das nicht lustig! HÖR AUF!"

Das Grinsen auf seinem Gesicht wurde noch breiter, der eisige, unmenschliche Blick seiner Augen um eine Spur härter. Sein Denken war vollkommen ausgeschaltet. Alles, was jetzt noch zählte, war das süßliche, verlockende Gefühl von Energie und Leben, die mit jedem einzelnen Herzschlag durch Kiokus Adern pulsierten.

Es war so unglaublich leicht...

Mit einem Ruck schlossen sich seine Finger um ihren Hals. Sie begann zu schreien. Der Teller entglitt ihren Fingern und fiel scheppernd zu Boden. Hunderte von feinen, scharfkantigen Splittern flogen über die Fliesen.

Kioku krallte ihre Finger in die Unterarme ihres Neffen und riss mit aller Kraft daran. Doch so sehr sie auch zerrte, alle Anstrengung war umsonst. Weiter und weiter schlossen sich die Finger um ihren Hals, drückten allmählich ihre Stimmbänder und ihre Luftröhre zu. Das pure, reine Leben floss aus ihrem Körper; wie ein Wasserfall, der sich eine steile Klippe hinunterstürzte. Der Goldene Kristall, der noch immer tief im Inneren von Mamorus Körper verblieb, sog gierig die Energie in sich auf und speicherte sie. Seine Temperatur nahm stetig zu, bis der Herr der Erde eine unglaubliche Hitze in sich spürte, gepaart mit größter Befriedigung. Jeder einzelne Energieraub wurde stets mit einem gewaltigen Gefühl von Macht begleitet. Und dieser war keine Ausnahme. Eine erhebende Emotion von tiefster Zufriedenheit durchströmte Mamorus ganzen Körper, und jetzt, wo er einmal Blut geleckt hatte, wollte er mehr und mehr.

Es war so unglaublich leicht...

Kioku wehrte sich gegen den Angriff nach Leibeskräften, doch es reichte einfach nicht aus. Wo sie anfangs noch genug Kraft gefunden hatte, um Ohrfeigen und Tritte auszuteilen, da schwand ihr nun nicht nur ihre Energie, sondern auch ihr Sauerstoff immer weiter. Doch je mehr ihr Neffe an Energie gewann, umso unstillbarer wurde sein Hunger auf mehr ... viel mehr...

Allmählich konnte Kioku ihr eigenes Körpergewicht nicht mehr halten. Ihre Knie knickten ein und sanken zu Boden. Doch das störte Mamoru nicht. Mit unverändertem Lächeln auf den Lippen ließ er es geschehen und senkte seine Arme nachgebend. Inzwischen war Kioku merklich blasser geworden. Ihre Haut wirkte zusehends trocken und spröde. Der Griff ihrer Finger wurde merklich schwächer.

Es war so unglaublich leicht...

Nur wenige Sekunden waren bisher vergangen, aber die Energieübertragung lief mit solcher Geschwindigkeit ab, dass Kioku jetzt schon kaum noch Kraft übrig hatte. Mühsam öffnete sie ihre zusammengekniffenen Augen wieder und starrte ihren Neffen ungläubig an. Sie begriff gar nicht recht, wie ihr geschah. Sie wusste nur, dass sie schnell handeln musste, wenn sie sich noch retten wollte.

Sie fällte eine Entscheidung.

Alles, was danach kam, dauerte nicht länger als eine Sekunde.

Unter Aufbringung all ihrer restlichen Kräfte hob Kioku den Arm und griff in die Geschirrhalterung der Spülmaschine hinein, wo sie ihre Finger um das Erstbeste schloss, was sie finden konnte. Mit Schwung und unglaublicher Stärke schlug sie zu.

Die Kelle des schweren Suppenlöffels knallte wuchtig gegen Mamorus Schläfe und ließ ihn aufschreien. Er fiel zur Seite und flog regelrecht davon. Es war ein wahres Wunder der Natur, welche unglaublichen Kräfte ein Mensch doch aufbringen konnte, wenn er in Gefahr war, obwohl schon alle Reserven verbraucht waren...

Der Energiestrom zwischen den beiden wurde abrupt unterbrochen. Durch den harten Aufschlag wurde Kioku der metallene Löffel aus der Hand geprellt; Er flog weit weg und landete irgendwo unter dem Küchentisch auf dem Boden. Auch Kioku konnte ihr eigenes Gewicht nicht mehr in dieser aufrechten, knienden Position halten. Sie fiel wie ein Sack Mehl zur Seite und blieb keuchend auf den harten Fliesen liegen.

Mamoru ging es nicht unbedingt besser. Die Löffelkelle hatte die dünne Haut über seiner Schläfe aufplatzen lassen. Möglicherweise war Kiokus Energielosigkeit der einzige Grund, weswegen sein Schädel keinen Bruch erlitten hatte. Aber immerhin zog sich eine breite Blutspur an seiner Wange und seinem Kinn entlang, und die rote Flüssigkeit tropfte zu Boden. Ein heftiger Schmerz pochte durch Mamorus Kopf und ließ ihn aufschreien. Aber zumindest war endlich die energetische Verbindung zu seiner Tante gekappt und damit auch die erschreckende, unmenschliche Gier, die seinen menschlichen Verstand ganz und gar lahmgelegt hatte. Erst jetzt, wo die Situation eskaliert war, begriff Mamoru, was er da eigentlich gerade getan hatte. Neben dem überwältigenden Schmerz, der nun durch seinen Schädel jagte, gab es da nur zwei Dinge in ihm, die noch wesentlich mächtiger waren: zum einen die noch immer sehr mächtige Gier, die sich inzwischen anfühlte, als sei Mamoru auf Drogenentzug, die allerdings ganz langsam wieder abnahm; und zum anderen die tiefe Reue, die er wegen seiner Tat empfand. Er konnte sich selbst nicht erklären, wie er so sehr die Kontrolle über sich hatte verlieren können. Er hätte die Macht besitzen müssen, sich am Zügel zu reißen. Doch dem war nicht so gewesen. So unglaublich ihm das jetzt, im Nachhinein, auch erschien: Er hatte tatsächlich einen der wenigen Menschen angegriffen, die er über alles liebte und die ihm mehr als alles andere bedeuteten. Er fühlte sich schäbig.

Er presste eine Hand gegen seine heftig blutende Schläfe und richtete sich ächzend und stöhnend vom Boden auf. Ihm war schwindlig. Bunte Punkte tanzten vor seinem Gesichtsfeld herum. Schmerz pochte unangenehm durch seinen ganzen Körper. Unter großer Kraftanstrengung kroch er auf seine Tante zu, die noch immer schweratmend am Boden lag, aber noch bei Bewusstsein zu sein schien.

"Tan...Tante K...Ki...oku?"

Sie zwang sich dazu, die Augen zu öffnen und in seine Richtung zu sehen. Auch sie wälzte sich auf den Bauch und stützte sich ab, bis sie in einer halbwegs sitzenden Position war. In Mamoru keimte stumme Bewunderung für diese Frau auf. Er hätte nicht erwartet, dass sie nach dieser Aktion noch genug Kraft finden würde, sich selbst so aufzurichten. Sie war wirklich sehr zäh.

Die Sorge in ihm war groß. Er wusste, wie empfindlich der menschliche Hals war, und er hatte eine ungefähre Ahnung davon, was Sauerstoffmangel auch auf einen kurzen Zeitraum hin bewirken konnte. Er wollte sich davon überzeugen, ob alles noch in Ordnung war. In seiner zügellosen Gier hatte er so was wie Skrupel und Rücksicht absolut nicht mehr gekannt. Ihn erschreckte der Gedanke, dass er wohl ohne ihre Abwehr solange weitergemacht hätte, bis sie gestorben wäre – am Energiemangel oder aufgrund des fehlenden Sauerstoffs. Das durfte nie wieder geschehen!

Während er weiter auf sie zugekrochen kam und sich innerlich furchtbare Vorwürfe machte, ächzte er leise:

"Geht ... geht es Dir gut? Ist noch ... alles in Ord...nung?"

Kiokus Gesichtszüge verhärteten sich. Ihre Mine wurde finster, richtiggehend feindselig und zeigte nur noch Abscheu.

"Verschwinde...", zischte sie.

"Was?", machte Mamoru verwirrt. Merkte sie denn nicht, dass das gerade eben nicht er gewesen war? Konnte sie denn nicht verstehen, dass er nun wieder zu sich selbst gefunden hatte und sich um ihn sorgte?

Nein ... und woher sollte sie auch?

"Verschwinde, hab ich gesagt!"

Aus ihr sprach der tiefste Zorn, den ein Mensch nur empfinden konnte. Und da schwang noch etwas in ihrer Stimme mit. Angst. Oder eher noch: schrillste Hysterie. Sie vermochte vor lauter Panik nicht mehr klar zu denken. Sie zog zornig ihre Augenbrauen zusammen und ihre Augen verengten sich zu blitzenden, kleinen Schlitzen. Sie atmete immer noch heftig, aber immerhin fand sie schon wieder die Kraft, sich auf ihre Knie zu erheben. Dann griff sie nach der Arbeitsplatte in ihrem Rücken und zog sich daran hoch, bis sie wieder fest auf ihren Beinen stand. Dabei ließ sie ihren Neffen allerdings nicht eine einzige Sekunde aus den Augen. Mehr noch: Sie spießte ihn regelrecht mit ihren grimmigen Blicken auf.

Mamoru verharrte verblüfft in jedweder Bewegung. Er konnte ihre grenzenlose Wut sogar durchaus verstehen, aber dennoch hatte es so den Anschein, als weigerte sich sein Gehirn, diese Tatsache zu akzeptieren. Dies war seine Tante! Sie war der Mensch gewesen, der ihn aufgezogen und behütet hatte, seit seine Eltern auf solch tragische Weise verstorben waren! Und jetzt auf einmal war sie ihm so feindlich gesinnt, wie er es von seinen schlimmsten Widersachern nie gekannt hatte.

Seine Verwunderung war so groß, dass er für einen Moment sogar den scharfen Schmerz an seinem Kopf schlichtweg vergaß. Er starrte Kioku fassungslos an. Irgendwann richtete auch er sich auf, stützte sich am Küchentisch ab und arbeitete sich auf seine Beine. Erst jetzt fand er wieder zu seiner Fähigkeit, seine Stimmbänder zu benutzen:

"Tante..."

"ICH WILL NICHTS HÖREN!", kreischte sie ihn an. Sie erhob ihren Arm und ihre stark zitternde Hand zeigte in Richtung Tür. "Raus, aber sofort! RAUS SAGTE ICH!"

"Lass mich erklären..."

"NEIN!" Sie brüllte ihn unter ganzem Einsatz ihrer Stimmbänder an. Und wenn man bedachte, dass sie nur noch einen winzigen Bruchteil ihrer Energie besaß, dann war das eine bemerkenswerte Leistung. "Ich will Dich nie, nie, NIE WIEDER SEHEN! Und nun mach, dass Du RAUS KOMMST!!!" Ihre Stimme überschlug sich schier.

Der schwere Schmerz in seinem Schädel, der nun ganz langsam wieder in sein Bewusstsein zurückkehrte, war absolut nichts, verglichen mit dem scharfen Stich, der ihm nun durch das Herz fuhr. Er nahm die Hand von seiner Wunde runter, ließ Kopf und Schultern sinken und schlurfte schwermütig zur Tür. Ein letztes Mal drehte er sich seiner Tante zu und sah sie mit schuldbewusstem Blick an.

"Es tut mir Leid", sagte er in lautlosem Flüsterton. Doch Kioku starrte ihn nur weiterhin an wie einen schlimmsten Erzfeind, den es auszumerzen galt. Sie sagte kein Wort. Aber vielleicht war genau das noch viel schlimmer und schmerzhafter als alles, was sie hätte sagen können.

Mit hängenden Schultern schleppte sich Mamoru zur Küche raus, durch das Wohnzimmer und dann durch die Haustür auf die Veranda. Doch statt seine Schritte zu seiner Wohnung zu lenken, marschierte er in ungelenken und fahrigen Bewegungen auf den zur Garage umfunktionierten Stall zu. Auf dem Weg dorthin nutzte er fast schon beiläufig seine gerade erst neu gewonnene Energie dazu, die Wunde an seinem Kopf um einen großen Teil wieder zuwachsen zu lassen und die Schmerzen auf ein Minimum zu reduzieren. Er fühlte sich schäbig dabei, richtiggehend abartig.

Ohne wirklich aktiv zu wissen, was er tat, setzte er sich hinter das Steuer des blauen, schon etwas älteren Pick-Ups, den Seigi und Kioku ihm vor gar nicht mal so langer Zeit zum bestandenen Führerschein gekauft hatten. Er manövrierte den Wagen geistesabwesend aus der Garage und fuhr dann einfach los, ohne jegliches Ziel, einfach immer der Nase nach in die dunkle, nächtliche Prärie hinaus. Er fuhr mit solcher automatisierter Präzision und Ruhe über die holprigen Straßen, als ob er den Wagen mit höchster Konzentration führen würde, doch eigentlich brodelte es in seinem Inneren. Die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf mit solcher Geschwindigkeit, dass er keinen einzigen davon klar erfassen konnte. Alles, was er im Augenblick mit Sicherheit wusste, war, dass er sich sehr einsam und armselig fühlte. Wie hatte er nur so unendlich niederträchtig sein können? Wieso hatte er das Trachten seines Goldenen Kristalls nach neuer Energie nicht stoppen können? Er wusste es nicht. Aber er schwor sich, dass er das niemals wieder zulassen würde.

Nie wieder.

Er riss plötzlich das Steuer herum, bugsierte den Wagen auf offenes Gelände, trat unvermittelt auf die Bremse, legte eine Vollbremsung hin und schaltete den Motor aus. Seine Finger hielten sich so krampfhaft um das Lenkrad geschlossen, dass die Knöchel weiß hervortraten. Er lehnte sich vor und presste mit aller Kraft seine Stirn gegen das Steuer. Sein ganzer Körper zitterte so sehr, dass es ihm wohl sowieso keine Minute länger gelungen wäre, den Wagen sicher auf der Straße zu halten. Sein Atem ging keuchend. Er spürte tief in sich drin große Angst vor sich selbst – ja, regelrecht Abscheu seinem Dasein gegenüber!

Aus dem Keuchen wurde allmählich ein abgehacktes Stocken. Aus dem Stocken ein Schluchzen. Und das Schluchten schließlich wurde zu einem Schreien und Toben. Mamoru ballte seine Hand zur Faust und ließ sie wieder und wieder, ohne Rücksicht auf Verluste, gegen das Armaturenbrett krachen. Das Plastik knarrte hörbar unter jedem einzelnen seiner Schläge, doch es hielt.

Mamoru war völlig außer sich. Der innere Schmerz zerfraß ihn innerlich so sehr, dass er es bald nicht mehr dabei beließ, nur das Armaturenbrett zu malträtieren. Er richtete seinen Zorn gegen das Seitenfenster, trat im Fußraum der Fahrerseite um sich und schlug mehrmals feste mit seiner Stirn gegen das Lenkrad, bis ihm nur umso schwindliger wurde. Doch der schon nicht mehr ganz neue, nichtsdestotrotz sehr robuste Pick-Up hielt seiner Gewalt trotzig stand. Und irgendwann hatte sich der Herr der Erde weit genug ausgetobt, dass ihm jegliche Kraft fehlte, um sie weiter gegen den Geländewagen zu richten. Schluchzend sank er in sich zusammen, presste die Hände gegen das Gesicht und fand in sich nicht mehr den nötigen Zorn und Selbsthass, um seine Tränen weiter zurückhalten zu können. Alles, was er im Moment in sich spürte, war schmerzvolle aber gähnende Leere. Das Gefühl, an diesem Ort und zu dieser Zeit völlig fehl am Platze zu sein. Als gehöre er nicht mehr auf den selben Kontinent wie seine geliebte Tante, die er so sehr verletzt hatte. Nicht nur, dass er ihr körperlich geschadet hatte; er hatte sie auf einer sehr viel tieferen, quälenderen Ebene verletzt. Er hatte sie verraten und ihr Vertrauen missbraucht. Er hatte sie aus niedrigsten Gründen angegriffen. Und er hasste sich selbst dafür.

Irgendwie war es unfair. Wieso musste immer zuerst etwas wirklich Schlimmes geschehen, bevor man wusste, worauf es im Leben ankam?

Es kam ihm vor wie eine kleine Ewigkeit, in der er einfach dasaß, mit dem Oberkörper gegen das Lenkrad gesunken, und weinte. Doch irgendwann konnten einfach keine weiteren Tränen über seine Wangen laufen. Müde seufzend hob er seinen Kopf und wischte sich fast schon trotzig mit dem Hemdsärmel über sein Gesicht. Immerhin konnte er jetzt wieder ein wenig klarer denken. Er warf einen Blick durch die Windschutzscheibe hinauf zum Sternenhimmel. Diese Sterne ... erinnerten ihn an etwas...

Er griff nach seiner Halskette und holte sie unter seinem Hemd hervor. Dann öffnete er den Deckel der goldenen, sternförmigen Spieluhr und ihr sanftes Strahlen und ihre besinnliche Melodie zogen sich durch den Wagen. Die leise Musik hatte sofort eine beruhigende Wirkung auf ihn. Fast fühlte er sich, als könne er davonschweben, bis in einen wunderschönen Traum hinein, und nie wieder in dieser kalten, harten Realität aufwachen.

Es tat weh. Es tat ihm so unendlich in der Seele weh, was er getan hatte. Doch ändern konnte er es jetzt nicht mehr. Alles, was er jetzt zu tun hatte, war, sich auf die Zukunft vorzubereiten. Irgendwie musste er das Vertrauen seiner Tante zurück gewinnen. Die Frage war bloß, wie er das anstellen sollte...

Er lehnte sich – abermals seufzend – zurück und schloss für einen Moment die Augen. Er musste jetzt unbedingt einen klaren Kopf behalten. Die Sekunden strichen dahin, in denen er einfach schweigend der Melodie der kleinen Spieluhr lauschte. Aus den Sekunden wurden Minuten. Und doch schien es beinahe so, als würde die Zeit einfach stehen bleiben. Fast so, als wollte die Erde ihrem Herren einige zusätzliche Augenblicke schenken, damit er seine Situation leichter verarbeiten konnte.

Irgendwann – nach einer Ewigkeit, wie es schien – hob Mamoru wieder seine schweren Augenlider und starrte durch die Windschutzscheibe nach draußen. Die Sterne waren inzwischen deutlich weiter gewandert. Hier, in der Einöde der Prärie, strahlten sie in einem Glanz, den Mamoru zu seiner Zeit in der Großstadt nie gekannt hatte. Die Milchstraße hob sich als funkelndes Band von all den anderen Sternen ab, die nicht ganz so nah bei einander standen. Das schwache Licht reichte kaum aus, die Umgebung zu erleuchten. Man erkannte nur düstere, riesige Schemen in weiter Ferne. Die Berge am Horizont stanzten gewaltige, ungleichmäßige Löcher in das sonst so unendliche Meer der Sterne. Ansonsten war die Steppe da draußen nichts weiter als eine finstere, konturlose, leblose Ebene, in der unwirkliche Schatten hin und her wogten und wo die Finsternis alles zu verschlingen schien.

Mamoru hob seine Augen noch etwas weiter, bis sein Blick auf den Rückspiegel fiel. Er schaltete die Innenbeleuchtung des Wagens ein, reckte sich dann noch etwas nach oben und zur Seite, bis sich sein Gesicht auf dem Glas reflektierte. Von der gefährlichen Platzwunde an seiner Schläfe war nicht mehr viel zu sehen. Mamoru hatte die Macht des Goldenen Kristalls eingesetzt, um die Verletzung auf ein Minimum ihrer Größe zu reduzieren. Sein Auge war nicht angeschwollen; das hatte er wohl durch sein schnelles Reagieren mit seiner Heilfähigkeit verhindern können. Nur noch ein winziger Bereich dünnen Schorfs war übrig geblieben, und ein dicker Rinnsal eingetrockneten Blutes zog sich um sein Auge herum, die Wange entlang und den Hals hinunter. Der Herr der Erde zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche, befeuchtete es mit seinem Speichel und putzte sich das stark metallisch riechende Blut vom Gesicht herunter. Dabei ließ er noch den kleinen Rest verheilen, der von der Wunde übrig geblieben war. Eines musste er seiner Tante ja lassen: Sie hatte wirklich ordentlich getroffen. Was wäre wohl aus ihm geworden, wenn er sich nicht selbst so hätte helfen können? Doch den Gedanken schob er schnell zur Seite.

Das Blut, das bis in seinen Hemdskragen gesickert war, konnte er jetzt und hier nicht beseitigen. Aber immerhin hatte er inzwischen seinen Hals und sein Gesicht so weit gesäubert, wie es mit seinen bescheidenen Mitteln eben ging. Er zog den Aschenbecher des Pick-Ups auf, quetschte das benutzte Taschentuch achtlos hinein und schaltete zur gleichen Zeit die Innenbeleuchtung des Wagens wieder aus. Dann richtete er seine Konzentration wieder verstärkt auf die leise, zauberhafte Melodie der Spieluhr an seiner Halskette. Nun war das sanfte, bläuliche Strahlen, das auf ihrem Inneren kam, das einzig verbliebene Licht im Wagen.

So gemütlich es eben in dem schon etwas abgenutzten Sitz des Pritschenwagens ging, machte Mamoru es sich gemütlich und lauschte der sanften, beruhigenden Musik seiner Spieluhr. Vielleicht wäre er sogar irgendwann so eingeschlafen. Wenn er nicht ein leises, dumpfes Geräusch von außerhalb des Wagens gehört hätte. Er starrte in den rechen, äußeren Rückspiegel und erkannte eine Bewegung, die in der Düsternis da draußen mehr zu erraten als wirklich zu sehen war. Sein Körper spannte sich. Geistesgegenwärtig schloss er die Spieluhr. Das Lied verstummte und das Licht aus ihrem Inneren verlosch. Nicht, dass das einen großen Unterschied gemacht hätte. Die Spieluhr hatte die Umgebung nur sehr spärlich ausgeleuchtet. Aber er musste die Aufmerksamkeit des Fremden, der da draußen herumschlich, ja nicht sofort auf sich lenken. Andererseits, was sollte schon ein Wagen so mutterseelenallein und ohne sichtbaren Schaden hier draußen in der Walachei verloren haben? Irgendwo war es klar, dass der Fahrer da eigentlich nicht weit sein konnte...

Ein leises Klacken entstand, als der Fremde den Hebel zog, der die Beifahrertür öffnete. Mamoru legte die Hand an die Tür zu seiner Seite, den Blick starr auf die Tür in der gegenüberliegenden Richtung gerichtet, jeder Zeit bereit, rauszuspringen und den Fremden zu vertreiben ... oder, falls es nötig sein sollte, Schutz in dieser absoluten Dunkelheit da draußen zu finden.

Die Beifahrertüre schwang auf und automatisch schaltete sich die Innenbeleuchtung des Pick-Ups ein. Und in ihrem schwachen Licht erschien...

"Elyzabeth!", keuchte Mamoru überrascht auf. "Mit Dir hab ich ja am aller wenigsten gerechnet! Hast Du mich erschreckt! Himmel, Arsch und Zwirn; was schleichst Du um diese Uhrzeit an diesem gottverlassenen Ort durch die Gegend?"

Sie sah ihn abwägend an und erwiderte trocken:

"Das könnte ich Dich fragen."

Dann seufzte sie resigniert auf.

"Weißt Du ... Terra ist verschwunden. Ich schätze mal, er streunt hier irgendwo in der Gegend herum. Das kommt zwar schon mal vor, so dann und wann, aber ich mache mir halt trotzdem so meine Gedanken. Und als ich diesen Wagen hier gefunden hab, da musste ich halt schauen, was hier los ist."

Mamoru zog erstaunt die Augenbrauen hoch. "Wie, bitteschön, hast Du das Auto denn in dieser Finsternis gefunden?"

Erst sah sie ihn etwas bedeppert an. Dann flüchtete sie sich in ein Grinsen.

"Tja ... ich bin fast reingelaufen."

Das erklärte also das dumpfe Geräusch...

"...Und dann hab ich den Wagen erst erkannt. Hab mich noch hinten am Nummernschild vergewissert. Und ich hab mich gefragt, was Dein Auto denn hier zu suchen hat. Hier! Wo Du es doch erst seit kurzem hast!"

Mamoru kratzte sich am Kopf. "Wieso gehst Du überhaupt im Stockfinstren nach Deinem Wolf suchen, ohne Taschenlampe?"

"Ich..." Sie stockte kurz. "Ist ne blöde Geschichte. Sie ist mir runtergefallen und wohl an einem Felsen zerschellt. Ach, ist nicht so wichtig. Ich kann genügend sehen."

"Ja, das merk ich." Mamoru zog eine Grimasse. "Wehe ich entdecke morgen eine Beule in meinem Wagen."

Doch dann seufzte er nur wieder und schwieg. Ihm war in seiner Situation nicht besonders nach Scherzen.

Elyzabeth legte den Kopf schief. "Ist irgendwas?"

Sie zog sich am Wagen hoch, kletterte auf den Beifahrersitz, ließ aber noch die Tür offen stehen, damit das Licht nicht ausging.

"Irgendwie..." Sie sah ihn fragend an. Auch Besorgnis lag in ihrem Blick. "...wirkst Du anders. Stimmt etwas nicht? Ich hab das Gefühl, als ob was wäre..."

Mamoru schnaubte und lächelte bitter. "Merkt man es so leicht?"

Elyzabeth überlegte kurz, ehe sie antwortete. "Nein, leicht ist das nicht. Das war es nie. Du hast Dich und Deine Gefühle immer schon sehr unter Kontrolle halten können. Aber ich bin nun mal... Ich bin sensibel für so etwas."

Sie hatte etwas ganz anderes sagen wollen. Das merkte Mamoru. Wieso hatte sie ihren Satz nicht zu Ende gebracht?

"Schon immer?", fragte er nach und lachte humorlos auf. "Das klingt schon fast so, als ob Du mich seit Ewigkeiten kennen würdest..."

"Unsinn", tat sie es ab. Sie schüttelte entschieden den Kopf. "Aber ich kenne Dich einfach schon lange genug."

Und da änderte sich etwas in ihrer Stimme. Sie wurde mit einem Mal weicher, vorsichtiger. Leiser. Vielleicht auch sorgenvoller.

"Willst Du mir erzählen, was passiert ist?"

Er rang sichtlich mit sich. Zehn, fünfzehn, schließlich zwanzig schweigsame Sekunden lang. Dann senkte er den Blick.

"Eigentlich nicht wirklich. Es ... es gab Streit. Mit Tante Kioku. Ich kann es Dir nicht erklären. Ich habe es selbst noch nicht ganz verstanden."

Elyzabeth nickte. "Ich verstehe schon. Ist okay."

Dann grinste sie leicht.

"Was kann ich also tun, um Deine Gedanken ein wenig abzulenken?"

Nachdenklich sah er in ihre Richtung. Dann legte sich ein sanftes, dankbares Lächeln auf seine Lippen, als er erwiderte:

"Wenn Du mir einen Gefallen tun willst, dann ... könntest Du mit mir zusammen in die Sterne schauen!"

"In die Sterne schauen?"

"Ja! ...Willst Du?"

"Nun ... warum auch nicht? Einverstanden."

Mit einem "Super!" drehte sich Mamoru nach hinten und schnappte sich eine dicke Wolldecke von einem der Rücksitze. Dann öffnete er die Tür und stieg aus.

Etwas verdutzt beobachtete Elly ihn dabei. Dann stieg auch sie aus und sah sich mit an, was Mamoru mit der Decke vorhatte. Er löste die Seile, mit denen eine große Abdeckplane an der Ladefläche des Pritschenwagens befestigt war. Er schlug die Plane zurück, rollte sie sorgfältig zusammen und legte sie neben den Wagen. Als nächstes öffnete er den Verschluss der hinteren der Klappen, welche die Ladefläche umzäunten, und ließ die metallene Wand einfach an ihrem Scharnier herunterhängen. Zu guter letzt ergriff er wieder die Decke, die er aus der Fahrerkabine mitgenommen hatte, und breitete sie als weiche Unterlage über der Ladefläche aus. Danach stieg er kurz zurück hinters Lenkrad, schaltete die Innenbeleuchtung ganz aus, machte dafür das Radio an, stellte es laut und hüpfte wieder aus dem Wagen, wobei er die beiden Türen sperrangelweit offen stehen ließ. Er grinste zufrieden.

"Das nenne ich ein passendes Ambiente."

Elly nickte ihm anerkennend zu.

"Wirklich erstaunlich... Großartige Ideen hast Du!"

Damit kletterte sie auf die Ladefläche, setzte ihren Cowboyhut ab und hockte sich gemütlich hin. Mamoru stieg zu ihr. Das Grinsen war allerdings schon lang wieder aus seinem Gesicht entwichen. Er legte sich hin und ließ die Füße über die Ladefläche hinaus baumeln. Seine Arme verschränkte er hinter dem Nacken. So starrte er in den so unglaublich weiten, funkelnden Nachthimmel. Die Luft war für diese Uhrzeit immer noch erstaunlich warm.

Lange Zeit herrschte Schweigen zwischen den beiden. Jeder von ihnen genoss auf seine Weise die Pracht der Sterne. Jedes Wort wäre dabei unangebracht gewesen. Doch gerade, als Mamorus Gedanken wieder zu seiner Tante zurückwandern wollten, sagte Elly:

"Du hast vorhin wieder Deine Spieluhr gehört, hab ich Recht?"

Der Herr der Erde antwortete ihr nicht darauf, doch er löste einen seiner Arme aus seinem Nacken und legte die Hand auf die Spieluhr auf seiner Brust. Er hatte sie zwar vorhin geschlossen, doch hatte er im Eifer des Gefechts vergessen, sie auch unter seinem Hemd zu verstauen, wie er es sonst zu tun gewohnt war. Anscheinend lief heute gar nichts nach seinem Verstand.

Wie er so die goldene Spieluhr in der Hand hielt, spielten seine Finger unbewusst weiter an der Halskette herum und brachten irgendwann auch den Ehering seiner Mutter zum Vorschein, der bis zu diesem Zeitpunkt noch wohlverwahrt unter seinem Hemd gewesen war. Er strich sanft mit den Fingerspitzen über das fein verarbeitete Silber und seufzte schwer. Er musste sich endgültig von seinen finsteren Gedanken um seine Tante loslösen, und dafür fiel ihm im Augenblick nur ein probates Mittel ein: Er musste den Teufel mit Beelzebub austreiben.

"Sag mal ... Du hast mich doch vor ein paar Stunden nach diesem Ring gefragt..."

Elyzabeth nickte ihm stumm zu.

Mamoru zögerte noch eine Sekunde. Dann stellte er die Frage:

"Möchtest Du immer noch wissen, was es damit auf sich hat?"

"Aber natürlich! ...Das heißt, wenn es Dir nicht zu unangenehm ist..."

Sie brach ihren Satz zögerlich ab.

Mamoru schüttelte nur mit einem leichten, schmerzerfüllten Lächeln den Kopf.

"Ich habe es Dir hiermit ja immerhin angeboten", erklärte er. Dann begann er zu erzählen.
 

Der kleine Junge drückte seine Nase an der Wagenscheibe platt, als er nach draußen sah und die Welt in hohem Tempo an ihm vorbei zischte. Unglaublich viele Sterne funkelten ihm vom Himmel entgegen. Sie strahlten umso heller, da der Mond bis jetzt noch nicht aufgegangen war. Nicht eine einzige Wolke bedeckte den Himmel. Und der Wagen mit seinen drei Insassen war so weit von jeder Stadt entfernt, dass keine Straßenlaterne, keine Leuchtreklame, kein hell erleuchtetes Haus und keine fremden Autoscheinwerfer die gewaltige Pracht am Himmel stören konnten.

Gewöhnlich war der kleine Junge um diese späte Uhrzeit längst im Bett. Heute aber nicht. Heute war ein besonderer Tag...

Seine Nase und seine beiden kleinen Händchen waren fest gegen die Scheibe gepresst und hinterließen unschöne, schmierige Spuren. Sein Atem schlug sich als matte, glänzende Tröpfchenschicht auf dem Glas nieder. Seine Eltern sahen das für gewöhnlich nicht gerne, aber heute genoss der Junge ausnahmsweise mal schwach eingeschränkte Narrenfreiheit.

Die Frau, die vorne links auf dem Beifahrersitz saß, drehte sich halb um und warf einen kurzen, prüfenden Blick auf ihren Sohn.

"Mamoru?"

Fast schon widerwillig trennte der Junge sich von der Scheibe – wobei seine Händchen allerdings schön brav an ihrem Platz mitten auf dem Glas blieben – und drehte sich der Frau zu.

"Ja?"

Megami musste schmunzeln. Sie hatte in der Erziehung ihres Sohnes viel Wert darauf gelegt, dass er nicht unnötig alles voll mit Fingerabdrücken machte, wo man es besonders gut sah. Wie eben auf der glatten Fläche des Glases. Doch als sie sah, wie viel Freude er doch daran hatte, sich ausnahmsweise mal so auszutoben, da lachte sie innerlich mit ihm. Diese besondere, fürsorgliche Wärme lag in ihrem Blick, wie sie nur den Müttern dieser Welt vorbehalten war.

"Hat Dir der Tag heute Spaß gemacht?"

Der kleine Mamoru nickte heftig. Seine Augen leuchteten regelrecht vor Glück auf.

"Das war ganz toll heut!", rief er begeistert aus.

"Fein", antwortete seine Mutter lächelnd. "Ich freue mich, wenn es Dir gefallen hat."

"Wann machen wir so einen Ausflug noch mal?", fragte der Junge. Der Enthusiasmus in seiner Stimme war nicht zu überhören.

Megami lachte leise ehe sie antwortete:

"Wahrscheinlich nicht wieder, bevor das nächste Jahr rum ist, mein kleiner Schatz."

"Oooooch, das dauert aber so lang!", kam eine demonstrativ motzende Stimme vom Rücksitz.

Nun war es Keibi, der lachte.

"So einen Tag erlebt man nun mal nicht öfters. Tut mir Leid, Sohnemann", meinte er schließlich mit einem Grinsen.

"Aber ich kann doch ab jetzt länger nachts wach bleiben, gell? Gell? Ich bin doch schon sechs!" Mamoru rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her. Er war noch kein bisschen müde, obwohl es nicht mehr lang war bis Mitternacht.

Seine Eltern lachten.

"Das...", so antwortete Megami endlich, "...müssen wir uns noch überlegen. Aber mach Dir lieber keine großen Hoffnungen."

"Das ist unfair...", greinte der Sechsjährige. Aber er gab sich ziemlich schnell geschlagen. Er wusste, dass ihn ein Dickschädel jetzt so oder so nicht weiter bringen konnte. Schnell hatte er die Nase wieder gegen die Scheibe gedrückt – als befürchte er, seine ultimative Freiheit würde auf die Sekunde genau um Mitternacht ablaufen und er müsse die Zeit noch ausnutzen. Doch in dieser Pose verharrte er nur einen kurzen Augenblick. Dann rutschte er, soweit es eben ging, zur vorderen Kante seines Sitzes und lehnte sich seinem Vater etwas entgegen.

"Du, Papa? Fährst Du mal gaaaaanz schnell?"

"Das halte ich für keine gute Idee", mahnte Keibi, doch das glückliche – ja, stolze – Grinsen wich nicht aus seinen Gesichtszügen. "Verkehrsvorschriften sind dazu da, dass man sich an sie hält."

"Ich dachte, Regeln sind dazu da, um gebrochen zu werden?", feixte der Kleine von hinten.

Noch ehe sein Vater auch nur einen Piepton von sich geben konnte, mischte Megami sich ein:

"Das hat er nicht von mir."

Keibi seufzte theatralisch.

"Ich wusste, dass Du das jetzt sagen würdest, Spatz", witzelte er gut gelaunt.

Da meldete sich auch schon wieder Junior von der Rückbank:

"Och, komm schon! Bitte, bitte! Nur etwas schneller fahren, ja? ...Wenn ich es mir doch so sehr wünsche!"

Das Grinsen auf dem Gesicht seines Vaters wurde noch etwas breiter.

"Gut festhalten!", war alles, was er noch sagte, ehe er einen Gang runter schaltete und den Motor aufheulen ließ.

"Super!", freute sich Mamoru. Er lachte vergnügt. "Schneller! Noch schneller! Hol alles aus der Kiste raus!"

"Das...", so begann Megami, doch ihr Mann führte ihren Satz zu Ende:

"...hat er auch nicht von Dir. Ich weiß, Spatz."

Doch anstatt ernsthaft <alles aus der Kiste raus zu holen>, wie sein Sohn es ausgedrückt hatte, fuhr er nur gute vierzig Stundenkilometer schneller, als erlaubt war, und das auch nur über eine gut übersichtliche Strecke hinweg. Doch das alleine reichte schon, um Mamoru vergnügt aufquietschen zu lassen. Er lachte begeistert und genoss es, wie die Beschleunigung ihn in den Sitz drückte.

Als sein Vater wieder auf angemessene Geschwindigkeiten verlangsamte, gab der Kleine zwar ein kurzes, unwilliges, enttäuscht klingendes Geräusch von sich, aber als er sich in der dunklen Umgebung umsah, da wünschte er sich im Stillen fast schon, sein Vater würde noch etwas langsamer fahren. Wenn er seinen Kopf nach links wandte, quer durch das Auto hindurch sah und nach draußen schaute, dann erkannte er die zerklüftete, um mehrere Meter senkrecht emporragende Felsmauer. Und zur rechten Seite aus dem Wagen gesehen erkannte er zuerst die Gegenfahrbahn, dann eine Reihe von niedrigen, steinernen Pfosten, die optisch die Fahrbahn abgrenzten, wo einige Schilder standen, deren Bedeutung er nur erahnen konnte, und dann kam erst einmal eine ganze Menge Nichts. Genauso steil, wie die Felswand zu seiner Linken in den Himmel ragte, so fiel sie zu seiner Rechten auch ab. Sie fuhren zwar nicht schnell, aber stetig den Berg hinauf, und je höher sie kamen, umso kleiner wirkten die Bäume, die er unten im Tal in weiter Ferne erkennen konnte. Mamoru schluckte schwer. In dieser Höhe wurde ihm mulmig, wenn er weiter zu seinem Fenster raus in den Abgrund blickte. Und so richtete er lieber seinen Blick am Fahrersitz vor ihm vorbei und schaute aufmerksam zur Windschutzscheibe nach draußen, wo die Scheinwerfer des Wagens zumindest die nähere Umgebung erhellten und die Schatten der Felswand nicht mehr so bedrohlich wirken ließen, wie das in der absoluten Dunkelheit der Fall war.

Einige Minuten folgten sie so der sich in engen Kurven um das Felsmassiv windenden Straße. Mal ging es bergauf, mal bergab; mal war die Straße etwas breiter ausgebaut, und mal weniger. Der Wagen schlängelte sich über so einige Serpentinen hinweg und durch Höhlen hindurch.

"Alles klar, da hinten?" Keibi warf einen Blick in den Rückspiegel und sah seinen Sohn prüfend an. "Es ist so unheimlich still bei Dir..."

Mamoru lächelte schwach und machte eine nichtssagende Bewegung mit dem Kopf, die kein Ja und auch kein Nein war.

"Alles in Ordnung. Es ist bloß..." Er schaute etwas unbehaglich zum Fenster raus. "...es geht hier bloß so tief runter..."

Keibi setzte ein warmes, beruhigendes Lächeln auf, auch wenn Mamoru das von seiner Position aus nicht sehen konnte.

"Mach Dir mal keine Sorgen, kleiner Mann. Dir passiert schon nichts. Das könnte ich niemals zulassen! Ich fahre immer schön ordentlich!"

"Ich weiß, aber..."

Mamoru ließ seinen Satz unvollendet. Doch sein Gesichtsausdruck sprach Bände.

Keibi lachte daraufhin leise.

"Du brauchst Dir wirklich keine Gedanken machen. Ich werde Dich schon vor allen Gefahren, die es gibt, bewahren. Dafür bin ich da! Ich bin immerhin ein Superpapa! Der mächtigste und stärkste Papa des Universums! Ich verspreche Dir, dass ich Dich immer beschützen werde. Und Du weißt, Versprechen..."

"...muss man halten", vervollständigte der Junge den Satz. "Ich weiß. Und Du hast Dich immer daran gehalten. ...Also schön..."

Er atmete beruhigt auf und lehnte sich in seinen Sitz zurück.

Das Auto folgte der sanften Abwärtsbewegung der Straße. Vor ihnen lag eine enge Linkskurve, deren Ende hinter der steil aufragenden Felswand verschwand. Keibi verminderte die Geschwindigkeit schon weit vor der Kurve. Gehorsam folgte der Wagen den Bewegungen, die sein Fahrer ihm vorgab. Je weiter sie in die Kurve einfuhren, umso mehr wurde sie Sicht frei für die nächsten Meter, die vor ihnen lagen ... und für das große Etwas, das mitten auf der Straße auftauchte. Es war genauso dunkel wie der Rest der Nacht, und viel größer als ein Mensch. Vielleicht ein Bär, der aus einem Zoo ausgebrochen war, oder womöglich auch ein Fels, der sich aus der steilen Wand über der Straße herausgelöst hatte. Gleichwohl, die Scheinwerfer des Wagens beleuchteten es für den kurzen Zeitraum von weniger als einer Sekunde. Das war nämlich genau die Zeit, die Keibi brauchte, um zu realisieren, dass ihm etwas den Weg versperrte. Ein entsetztes Keuchen drang aus seiner Kehle, seine Hand presste sich rein instinktiv auf die Hupe, dann verriss er das Steuer.

Leider verriss er es in die falsche Richtung.

Der Wagen schleuderte herum und rutschte mit quietschenden Reifen quer über die Fahrbahn. Keibi stieg mit aller Macht auf die Bremsen, als ihm der Abgrund regelrecht entgegensprang.

Doch es war zu spät.

Die niedrigen, steinernen Pfeiler, welche die Fahrbahn begrenzten, vermochten den Wagen nicht mehr zu stoppen. Der Pfosten, der vom Auto gerammt wurde, zerbarst einfach unter der ungeheuren Wucht des Aufpralls und stürzte mit dem Fahrzeug in die Tiefe. Hartplastik und Glas splitterten. Der Motor heulte gequält auf, als die Reifen ins Leere griffen. Schließlich senkte sich der ganze Wagen, mit den Scheinwerfern voraus, der Bodenlosigkeit entgegen.

Mamoru spürte den harten Ruck, als der Felspfosten aus seiner Verankerung gerissen und einfach mitten in der Luft zerfetzt wurde.

Dann...

Freier Fall...

Das unangenehme Gefühl der Schwerelosigkeit...

Meter um Meter legte der Wagen in seinem Fall nach unten zurück. Er drehte sich im Sturz, als wolle er sich unbedingt mit der Kühlerhaube zuerst in das Erdreich weit unter ihm bohren. In wahnsinniger Geschwindigkeit raste der Boden auf die Insassen des Fahrzeugs zu. Und trotz der hohen Geschwindigkeit schien es Mamoru so, als könne er in Zeitlupe schauen, so genau sah er jedes einzelne Detail unter und vor ihm. Als wolle ihm die Zeit selbst einen Streich spielen und ihn jede einzelne Sekunde seines nahenden Todes aufzeigen. Die Beschleunigung war aber tatsächlich so groß, dass sie ihn in seinen Sitz presste und ihm die Luft aus den Lungen trieb. Keiner der drei Menschen war dazu in der Lage, zu schreien. Lautlos, fast schon friedlich, als wäre jedwede Normalität aus der Szenerie gewichen, näherte sich das Auto mit der zerbeulten Stoßstange dem Grund unter sich. Genau auf den sanft auslaufenden, grasbewachsenen Hügel zu. Und für die kurze Zeit zwischen dem Ende des Sturzes und dem Aufprall verlor Mamoru dann das Bewusstsein. Weil sein Gehirn sich nicht selbst dabei beobachten wollte, wie es starb. Es konnte die grausame Wahrheit des Sterbens einfach nicht ertragen.

Die Motorhaube schoss wie eine Kanonenkugel in die lockere Erde hinein. Das Schutzblech gab unangenehm kreischende Laute von sich, als es völlig zusammengestaucht und verrissen wurde.

Während sich die Nase des Fahrzeuges noch tief in den Boden rammte und so eine unfreiwillige Bremsung erfuhr, schleuderte das Heck noch durch die Gegend. Es riss den gesamten Wagen noch einmal in die Höhe, ließ ihn für wenige Sekunden in einer schier unmöglich anmaßenden Position senkrecht in der Luft stehen und verlagerte schließlich doch noch sein Gewicht, sodass das Auto haltlos auf die rechte Seite kippte, den Hügel hinunter schlitterte, und schräg, halbwegs auf der Seite liegend, halbwegs auf seinem Unterboden stehend, im Erdreich stecken blieb. Das Dach war eingedellt, die Kühlerhaube auf einen Bruchteil ihrer ehemaligen Länge zusammengestaucht, die Windschutzscheibe gesplittert, und beinahe die komplette rechte Seite zerknittert und eingeknickt. Staub wirbelte auf und lose Steine regneten vom Himmel herab. Dann legte sich eine unheimliche, endgültige Stille über den Platz.

Auch innerhalb des Wracks war es einige Momente sehr still. Doch irgendwann – nach Ewigkeiten, wie es schien – regte sich etwas. Träge hob Mamoru seine Augenlider. Er war verwirrt. Er brauchte ein paar Sekunden, bis er sich wieder in seiner Umgebung zurecht fand. Blut rann über seine Stirn in seine Augen und verklebte ihm die Sicht. Zitternd und langsam hob er seinen linken Arm und versuchte sich irgendwo abzustützen und sich aufzurichten. Doch er kam nicht weit. Etwas hielt ihn fest. Er drehte verwundert den Kopf und fand seinen rechten Unterarm im Überrest der halb aufgerissenen Türe eingeklemmt. Das Metall fraß seine scharfen Kanten von zwei Seiten her in das Fleisch und ließ es nicht mehr los. Alles unterhalb der Wunde war blutverschmiert und fühlte sich so unwirklich und taub an. Wie der Rest von seinem Körper.

Wie es nur diesen besonderen, lebensbedrohlichen Situationen zueigen war, ließ der Schock ihn keinen Schmerz und keine Gefühlsregung spüren. Ein seltsames Geräusch fuhr durch seine Ohren, das sich wie das laute Rauschen eines großen Wasserfalles anhörte, aber in Wahrheit nur in seinem Kopf existierte. Er fühlte sich nur noch müde und schwer. Dass er gerade eine ganze Menge Blut verlor war ihm regelrecht egal. Es fühlte sich bloß unangenehm ... kalt an.

"Papa?", flüsterte er. Es fiel ihm schwer, seine Zunge richtig zu bewegen, so matt und kraftlos fühlte er sich. Um seinen Kopf drehte sich alles. "Papa? Ich brauche Dich... Ich komme hier nicht mehr los. Papa?"

Er bekam keine Antwort.

So weit er nur konnte lehnte er sich zur linken Seite und versuchte, um den breiten Fahrersitz herum zu sehen. Viel sah er nicht. Doch was er sah, war Blut. Unglaublich viel Blut. Sein Vater lehnte über dem zerbeulten und halb herausgerissenen Lenkrad. Sein Arm, der halbwegs durch ein Loch in der Windschutzscheibe herauslehnte, verdeckte Mamoru die Sicht auf die tiefe Wunde in seinem Schädel. Wäre das Blut nicht gewesen – er hätte ausgesehen, als würde er nur tief schlafen.

Mamorus Blick wanderte weiter. Seine Mutter hing in dem schief eingekeilten Fahrzeug halbwegs seitlich über der Lehne. Ihr Kopf baumelte haltlos herum. Fast wie bei einer Puppe, die man achtlos in eine Ecke geworfen hatte. Auch ihr Gesicht war von einem breiten Rinnsal Blut verschmiert. Ihre Augen waren geschlossen.

"Mama?" Ein leichtes Zittern überkam Mamoru. Eine weitere Nebenwirkung des Schocks. Er hatte seine Muskulatur einfach nicht mehr unter Kontrolle. Doch selbst wenn, dann hätte es keinen Unterschied gemacht. Er wollte – er konnte nicht begreifen, was hier geschah.

"Mama?" Er versuchte es immer wieder. "Mama!"

Da auf einmal eine Regung. Ein sanftes Stöhnen glitt über ihre Lippen. Müde und unendlich langsam hob sie ihre Augenlider. Ihr Blick war leer und richtete sich auf einen scheinbar unendlich weit entfernten Punkt.

"Mama!"

Der kleine Junge streckte sich so gut es ihm möglich war. Doch es reichte ihm nicht. Sein kurzes Ärmchen verfehlte ihr Gesicht um wenige Zentimeter.

Allmählich kam immer mehr Bewegung in ihren Körper. Ihr Blick klärte sich. Sie erkannte ihren Jungen, und ein heller Funke erwachte in ihren Augen.

"Mamoru", wisperte sie kraftlos.

Sie versuchte, ihren Arm aus dem Wirrwarr des Sicherheitsgurtes zu lösen. Erst nach dem vierten Versuch gelang es ihr. Unter leisem Ächzen hob sie ihren Arm und hielt ihn ihrem Sohn entgegen. Ihre Fingerkuppen streichelten zärtlich über seine Wangen. Sie lächelte sanft.

"Mama", sagte der Kleine, "warum antwortet Papa mir nicht?"

Ein leises Stöhnen drang wieder über ihre Lippen. Es konnte auch ein Schluchzen gewesen sein.

"Er ... schläft sehr tief."

Sie musste gar nicht erst in seine Richtung sehen, um das zu wissen. Zu viel Blut tropfte unablässig von der zerschundenen Decke des ehemaligen Fahrzeugs.

"Weck ihn auf! Bitte..."

Sie schüttelte langsam den Kopf.

"Das kann ich nicht. Das kann niemand mehr. ...Mamoru, hör mir gut zu. Was ich ... Dir sage ist ... unheimlich wichtig..."

Mit eisernem Willen hielt sie ihre Hand an seiner Wange. Er legte die Finger seines freien Armes darüber.

"Ja?"

Megami hatte Mühe, zu sprechen. Sie keuchte dabei. Ein deutlich schmerzhafter Ausdruck verzerrte ihr Gesicht zu einer Maske aus Pein und Kummer.

"Du musst ... leben, verstehst Du? Dein ... Vater und ich, wir lieben ... Dich mehr als alles auf dieser Welt. Das darfst Du ... nie vergessen, hörst Du? Vergiss es ... niemals. Wir haben Dir ... das Leben geschenkt, damit ... Du glücklich wirst. Du wirst groß und ... stark werden und Dir all Deine Träume erfüllen, versprichst Du mir das? Bitte, Du musst ... es mir versprechen!"

"Ich ... ich...", stammelte er verwirrt. Sein Verstand war bereits zu vernebelt, um noch begreifen zu können.

"Mamoru...", begann Megami. Ihr Körper raffte sich auf und sammelte nochmals alle Energien, die er noch aufbringen konnte. Eine unglaubliche Klarheit strahlte in ihren Augen auf. Sie starb, und sie wusste es.

"...mein kleiner Schatz ... denke immer daran, dass es wichtig ist, niemals aufzugeben! Du bist etwas ganz Besonderes. Ich kann es mir selbst nicht erklären, aber ich spüre, dass Großes in Dir lebt! Und ich weiß, dass Du es noch weit bringen wirst. Du wirst leben und Du wirst glücklich sein. Vielleicht wird es nicht immer ganz leicht werden, aber Du musst Dich daran erinnern, dass Dein Vater und ich immer in Deinen Träumen bei Dir sein werden!"

Er schüttelte verständnislos den Kopf.

"Was redest Du da? Du wirst doch dabei sein, wie ich erwachsen werde! Du darfst doch nicht weg gehen ... Du darfst ... mich doch nicht alleine lassen!"

Tränen bildeten sich in seinen großen, dunkelblauen Kulleraugen.

"Es tut mir Leid, Mamoru", wisperte Megami. Sie fand in sich einfach keine weitere Kraft mehr. Sie biss tapfer die Zähne zusammen und zwang sich zu einem Lächeln. Und trotz der Pein, die darin lag, waren ihre Augen immer noch voller tief empfundener Liebe, Wärme und Fürsorge.

Sie zog in unsicheren Bewegungen ihren Arm zurück, schloss die Finger ihrer anderen Hand darum und löste ihren Ehering vom Finger. Sie reichte ihrem Sohn das Schmuckstück und erklärte:

"Nimm das. Eines Tages wirst Du ... ein Mädchen treffen, das Du ... wirklich sehr lieb hast. Und ich hätte gerne, dass Du ihr dann diesen ... Ring überstreifst."

Verständnislos blickte Mamoru sie einige Sekunden lang an. Dann nahm er den Ring entgegen und steckte ihn in seine Hosentasche. Er streckte dann wieder seinen Arm aus, um sanft ihre Hand zu berühren.

Megami lächelte stolz. Tränen stiegen ihr in die Augen. Leise keuchte sie auf. Dann wisperte sie tonlos weiter:

"Es wird Zeit für mich. Ich muss jetzt ... auch schlafen, Mamoru. Ich bin sehr, sehr müde. Später einmal, eines schönen Tages, sehen wir uns in einem langen, wunderbaren Traum wieder. Aber bis dahin musst Du Dich noch gedulden. Ich ... wir beide werden auf Dich warten! Sei stark! Ich liebe Dich, Mamoru, ich liebe Dich! Du warst das Beste und Schönste, was mir jemals ... passiert ist..."

Sie zog keuchend ihren Arm wieder zurück. Ein letztes Mal nickte sie ihm aufmunternd lächelnd zu. Dann hob sie ihren Oberkörper in einer letzten Kraftanstrengung an. Sie drehte sich herum, sodass ihr Sohn nur noch ihren Rücken sehen konnte. Sie presste sich gegen ihren Sitz. Und dann tat auch sie ihren letzten Atemzug.

Reglos verharrend starrte Mamoru sie an. Noch immer weigerte sich sein Verstand, das, was er sah, als die Wahrheit zu akzeptieren.

"Mama?", fragte er leise. "Du ... tust nur so, gell? Komm, hör schon auf damit! ...Bitte... Bitte, Mama, bitte! Dreh Dich wieder zu mir herum, ja? Tu mir das doch nicht an... BITTE... MAMA!"

Er schrie aus Leibeskräften nach ihr. Doch vergeblich. Er brüllte nach seinem Vater; ballte seine Hand zur Faust und drosch wie wild auf die Rückseite des Fahrersitzes vor ihm ein; trat dagegen. Doch alles, was er erreichte, war, dass sich das Metall nur noch tiefer in seinen rechten Arm fraß. Bald resignierte er. Er keuchte schwer vor Anstrengung und lehnte nur noch seinen Kopf gegen die halbwegs geborstene Fensterscheibe neben sich. Die Tränen rollten noch immer aus seinen Augen und über die Wangen, wo sie schmierige, nasse Streifen inmitten des langsam eintrocknenden, dunkelroten Blutes hinterließen. Irgendwann schloss er seufzend seine Augen. Vielleicht schlief er nur ein, vielleicht war es aber auch eine kurze Ohnmacht, die ihn überkam. Er wusste nur, dass sich etwas verändert hatte, als er wieder erwachte. Als er den Kopf wandte und sich umsah, bemerkte er schlagartig, dass es weit mehr als nur eine Veränderung gab. Er befand sich nicht mehr im Auto, sondern auf einer Tragbare daneben. Blitzende Lichter von Krankenwagen und Feuerwehrautos durchzogen die Nacht. Ein wildes Chaos herrschte, in dem Rettungskräfte wild durcheinander wuselten, Werkzeuge und Verbandkästen hin und her trugen oder einige der vielen Leute etwas auf Papierblöcke kritzelten. Das Auto stand etwas abseits von Mamoru. Man hatte es inzwischen aus seiner irdenen Klammer befreit und an allen Ecken und Enden aufgeschnitten. Es hatte jetzt sehr viel mehr Ähnlichkeit mit einem bizarren Puzzle oder mit einem modernen Kunstwerk, als mit einem Wagen.

Einige Meter weiter weg von sich fand Mamoru zwei weitere Tragbahren auf dem Boden liegen. Es lagen Menschen darauf, aber er konnte sie nicht sehen. Die Körper waren vollständig von Tüchern verhüllt. Ein Wagen wurde gerade rückwärts zu ihnen gefahren, wohl um sie dort aufzuladen. Das war nicht ganz einfach, weil das Auto Schwierigkeiten hatte, durch die herumwuselnden Menschen, die Wrackteile, den aufgewühlten Boden und die außen herum angelegten Ackerböden zu manövrieren, ohne stecken zu bleiben oder gar noch mehr Schaden dabei anzurichten. Es wirkte schon beinahe unfreiwillig komisch. Aber eben nur beinahe.

Doch so sehr sich Mamoru umblickte, seine Eltern fand er nicht.

"Hey, Kleiner!", tönte die Stimme eines jungen Mannes hinter ihm. "Da passe ich mal eine Sekunde nicht auf, und dann bist Du schon wach... Unglaublich. Wie fühlst Du Dich?"

Mamoru wandte verwirrt den Kopf. Der Mann, der gesprochen hatte, trug einen weißen Arztkittel. Er hatte sich gerade an einem Köfferchen zu schaffen gemacht, das hinter ihm auf dem Boden stand. Er hielt etwas in der Hand, aber Mamoru war noch zu benebelt, um es genauer erkennen zu können. Noch dazu war seine Verwirrung zu groß, als dass er gewusst hätte, was er hätte antworten können. So blieb er stumm und starrte den Fremden nur fragend an.

"Kannst Du mir Deinen Namen sagen?", fragte der Herr. Doch auch das blieb ihm unbeantwortet.

"Was ist los – hast Du Schmerzen?"

Doch Mamoru verlor schlicht und ergreifend das Interesse an dem Gespräch. Alles, was er registrierte, war die allgemeine Aufregung um ihn herum ... und das langsam anschwellende, schmerzhafte Pochen, dass er in all seinen Gliedern verspürte. Er sah an sich herab. Sein rechter Arm war einbandagiert. Auch über seiner Stirn trug er einen Verband. Einige Pflaster klebten ihm noch im Gesicht und an den Armen. Vielleicht war da noch mehr, aber er verlor wieder zu schnell das Interesse daran, als dass es ihn gestört hätte. Nur eines fiel ihm noch auf: die Infusionsflasche, deren Kanüle ihm im linken Ellenbogengelenk steckte.

Der Arzt, der bei ihm war, hatte sich wohl inzwischen seine eigenen Gedanken gemacht über den Zustand des Jungen. Er hob seinen Arm. Nun erkannte Mamoru auch, was er dort in der Hand hielt: eine Spritze. Der Mann führte sie in ein kleines Seitenröhrchen ein, das die Verzweigung des dünnen Plastikschlauches war, der Infusionsflasche und Kanüle mit einander verband. Die Substanz aus der Spritze vermischte sich mit der Flüssigkeit, die dem Jungen aus der durchsichtigen Plastiktasche heraus verabreicht wurde.

Der Mann in dem weißen Kittel lächelte beruhigend.

"Es ist besser, wenn Du jetzt schläfst. Ruh Dich aus..."

Mamoru sah ihn wieder mit seinem verständnislosen Blick an. Dann weiteten sich seine Augen in purem Entsetzen. Als wolle er mit seinem Blick signalisieren <nein, bitte nicht schlafen! Ich will nicht einschlafen ... wie sie!>

Doch da war es schon zu spät.

Mamoru unterlag schon sehr bald im Kampf gegen seine Müdigkeit. Kurz bevor sein Geist endgültig im Reich der Träume verschwand, warf er noch einen letzten Blick auf die beiden Tragbahren, die ihm vorhin schon aufgefallen waren. Sie wurden gerade in ihren Transportwagen verladen. Dabei verrutschte eines der weißen Tücher, die eigentlich dazu da waren, die darunter liegenden Körper vor unerwünschten, fremden Blicken zu schützen. Ein schwarzer, blutverschmierter Haarschopf kam zum Vorschein. Dann die Stirn und die Augenpartie. Dann noch ein weiterer, winziger Teil des Gesichtes. Und ein tiefes Loch, das im Kopf seines Vaters prangte.

Und genau dieser Zufall war wie ein unhörbares, aber mächtiges Kommando für Mamorus Gehirn.

Sein Verstand tat daraufhin das Einzige, wozu er noch in der Lage war, um sich selbst zu schützen: Er löschte die Erinnerungen...

ALLE!

Er ließ nur noch einzelne Eindrücke und Impressionen zu.

Einzelne Bilder.

Wortfetzen.

Verzerrte Geräusche.

Die warme Augustluft.

Das beeindruckende Bild des aufgehenden Halbmondes, der nah am Horizont stand und doppelt so groß wie sonst wirkte.

Das unbestimmte Gefühl, unendlich einsam und verloren zu sein...

...

Schließlich war es endgültig vorbei.

Ein letztes Mal verlor er das Bewusstsein...

...Nur, um am einsamsten Ort der Welt aufzuwachen...

...in einem Krankenhaus...

Als er zum ersten Mal die Augen aufschlug, da glaubte er zu aller erst, er sei doch gestorben und im Himmel. Alles um ihn war so hell, so weiß, und es wirkte so unglaublich weit weg. Erst, als sich sein Blick schärfer einstellte, bemerkte er, dass dieses Licht hier nicht voller Wärme und Liebe war, wie man immer behauptete, sondern es wirkte eher kalt und abweisend. Es brannte unangenehm in den Augen und blendete. Außerdem war der Schmerz in seinem rechten Arm schlimmer geworden. Noch nicht so schlimm, wie man es vielleicht eigentlich erwartet hätte, aber das lag wohl an der Flüssigkeit, die ihm auch jetzt noch intravenös verabreicht wurde, und die höchstwahrscheinlich unter anderem ein Schmerzmittel enthielt. Das Bett war viel zu riesig für einen Sechsjährigen, und es war hart und unbequem. Der ganze Raum war viel zu groß, und er wirkte umso größer, da er beinahe leer war. Das Bett, in dem Mamoru lag, ein breites Fenster, ein Tisch mit drei Stühlen und an einer Wand ein mit einer Gardine verhängter Durchgang zu einem kleinen Waschraum. Alles wirkte nur kahl und trostlos. Man konnte es als richtiggehend lebensfeindlich bezeichnen.

Eine männliche, tiefe Stimme drang an sein Ohr:

"...konnten wir nicht feststellen. Die Jungs von der Verwaltung recherchieren noch. Aber es sieht so aus, als sei der Kleine vollkommen allein."

Eine weibliche Stimme: "Keine Verwandten? GAR keine?"

Die männliche Stimme: "Zumindest wird noch weiter gesucht..."

Eine andere weibliche Stimme: "Herr Doktor, er kommt zu Bewusstsein!"

Mamoru hatte den Kopf gedreht, um feststellen zu können, woher diese fremden Stimmen kamen. Den hochgewachsenen Arzt mit den silbergrauen Haaren und die beiden Krankenschwestern hatte er gar nicht gesehen. Ihre weißen Kittel waren wie Tarnumhänge in dieser bleichen Umgebung. Sie alle drei kamen näher, bauten sich um sein Bett auf und sahen ihn einen kurzen Moment prüfend an. Dann setzte der Doktor ein professionell antrainiertes Lächeln auf und setzte sich vorsichtig auf die äußerste Bettkante. Nicht, dass das nötig gewesen wäre. Das Bett hätte ausgereicht, um drei Mamorus Platz zu bieten.

"Guten Morgen, junger Mann", begrüßte ihn der Arzt. "Mein Name ist Doktor Mugiwara. Ich hoffe, Du gestattest mir ein paar Fragen?"

Mamoru wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Also machte er eine Bewegung, die wohl ein halbes Schulterzucken und ein halbes Kopfnicken darstellen sollte.

"Sehr schön", freute sich der Doktor. Es klang aber irgendwie ... gekünstelt und einstudiert. "Tu mir bitte den Gefallen und sag mir Deinen Namen."

"Mei... meinen Namen?", fragte er verunsichert nach. "Ich... ich... weiß nicht genau..."

Die rechte Augenbraue des Arztes rutschte die Stirn hinauf.

"Du weißt nicht genau? Denk nach... Versuch Dich zu erinnern! Streng Dich an, Du kannst es schaffen!"

"Ich... Es geht nicht. Ich ... kann ... mich nicht mehr erinnern. Ich fühle mich ... so schrecklich allein..."

Tränen stiegen in seine Augen. All das hier kam ihm so merkwürdig fremd vor. Er verstand es nicht. Er wusste nicht, was die fremden Leute von ihm wollten, oder wo er war, oder wer er war. Für ihn fühlte es sich an, als sei dies sein erster Tag auf Erden. Er wusste nicht, woher er sich an seine Sprache erinnern konnte. Das Wissen, was die Worte, die er sagte und hörte, bedeuteten, war einfach da. Alles um ihn herum war so verwirrend. Er sah die Dinge an und ordnete ihnen eine Bedeutung zu. Aber er konnte sich nicht erklären, wie das möglich war. Doch dieses Unverständnis erstreckte sich nicht nur auf seine Umgebung, sondern es betraf auch ihn selbst. Er atmete, ohne zu wissen, warum, und die Gefühle, die in ihm aufkamen, waren ihm so fremd, dass er sie einfach nicht zuzuordnen wusste. Er hatte keine Ahnung, wie er sich zu verhalten hatte. Ohne zu begreifen, was geschah, spürte er dicke Tränen seine Wangen hinab rollen und wunderte sich nur, was das nun wieder war.

Die Krankenschwester am Kopfende seines Bettes legte tröstend ihre Hand auf seinen Kopf und streichelte ihm über das Haar.

"Beruhige Dich wieder", sagte sie mit leiser Stimme. "Es wird alles wieder gut. Vielleicht, wenn Du Glück hast, wirst Du Dich schon bald wieder an alles erinnern können!"

Der kleine Junge schluchzte leise, als er der jungen Frau den Kopf zuwandte. "Und wenn ich kein Glück habe?"

Darauf wusste die Krankenschwester auch keine Antwort. Ratlos schaute sie den Doktor an. Dieser ergriff nun das Wort:

"Du musst einfach fest daran glauben. Ich versichere Dir, dass Du noch ein langes, glückliches Leben vor Dir hast. Sei unbesorgt. Und nun wäre es das Beste, wenn Du Dich erst mal richtig ausruhst. Du hast nur sehr wenig geschlafen, seit Du hier mitten in der Nacht eingeliefert worden bist. Ich werde Dir etwas geben, was Dich beruhigt. Du brauchst keine Angst haben."

Angst? Was war das doch gleich?

Der Doktor zog aus einer Tasche seines Kittels ein schmales, längliches, silbern schimmerndes Etui heraus, in dem sich – was auch sonst? – eine Spritze befand, die mit einer milchigen Flüssigkeit gefüllt war. Es schien fast, als hätten sämtliche Ärzte der Welt ein nicht enden wollendes Depot daran in ihrer Ausrüstung.

Wie schon einige Stunden zuvor wurde die Nadel der Spritze wieder in ein kleines Zuführungsrohr am dünnen Schlauch der Infusionsflasche befestigt und das Medikament unter die Kochsalzlösung gemischt. Es dauerte gar nicht mal lange, da fielen Mamoru schon die Augen zu. Das Letzte, was er noch hörte, war die Stimme des Doktors, der irgendwas murmelte:

"...ausgerechnet, wo doch gerade sein Geburtstag war. Der arme Junge. Er sollte eigentlich..."

Dann schlief er fest.

Sein Traum war eigenartig. Er sah darin eine junge Frau, die er aber im dichten Nebel nicht erkannte. Nur ihr goldenes Haar glitzerte hell in der Dunkelheit. Ihre sanfte Stimme flüsterte ihm zu, er müsse den Silberkristall finden. Koste es, was es wolle...

Und dieser Traum wiederholte sich Nacht für Nacht. Mamoru fragte sich, ob er diese Träume auch schon vor seinem Unfall gehabt hatte. Er wusste es nicht mehr. Er wusste gar nichts. Es gab in der Welt dort draußen so viel zu entdecken, was für ihn neu war – oder besser gesagt: was wieder neu für ihn geworden war. Das Krankenhauspersonal schaffte es nicht lange, ihn an sein Bett zu fesseln, und so gestattete man ihm nach einigen Tagen kurze Spaziergänge in der winzigen Parkanlage des Krankenhauses, freilich nur in Begleitung.

Doch das eine Mal, als es mitten in der Nacht war, und Mamoru wieder schlaflos am Fenster hockte und in die Sterne hinaus blickte, da sah er ein kurzes Leuchten am Himmel, das sich in hoher Geschwindigkeit der Erde näherte – und sie schließlich erreichte. Kurzentschlossen hüpfte Mamoru vom Bett, schlüpfte in seine Hausschuhe, schnappte sich einen Schirm, schlich die Flure des Krankenhauses entlang und verschwand im strömenden Regen. Nicht weit außerhalb der Krankenhausanlage fand er auch schnell, was er gesucht hatte. Ein kleiner Junge lag da im Regen und wirkte sehr müde und abgekämpft. Er keuchte geschwächt. Mamoru hielt den Schirm über ihn und schaute ihn neugierig an.

"Bist Du gerade vom Himmel gefallen?"

Der Junge hob den Kopf und sah ihn schüchtern an. Er sah eigenartig aus. Seine Haut war hellgrün, die langen Haare im tiefdunklen Türkis mit zwei dünnen Strähnchen an den Schläfen, die irgendwas zwischen rosa und lila waren, und seine Ohren liefen oben spitz zu und standen weit von seinem Kopf ab.

Mamoru kniete sich zu ihm herunter und fragte weiter:

"Bist Du ein Engel, der gekommen ist, um mir Gesellschaft zu leisten? Ich fühle mich so schrecklich einsam!"

Der Junge sah noch immer verblüfft zu ihm hoch. Dann lächelte er zaghaft. Er richtete sich in eine ebenso hockende Position auf.

"Ich weiß nicht, was ein Engel ist", erklärte er, "aber mein Name ist Fiore."

"Ich heiße Mamoru... Das hat man mir zumindest gesagt, als ich hier vor ein paar Tagen aufgewacht bin."

Mamoru kratzte sich verlegen am Hinterkopf.

"Ich habe nämlich mein Gedächtnis verloren. Und ... was machst Du so ganz alleine hier?"

Fiore seufzte gequält auf.

"Ich..."

Er suchte sichtlich nach Worten, um seine Situation zu erklären, doch er schien sie einfach nicht zu finden.

Mamoru machte eine nickende Bewegung in Richtung Krankenhaus.

"Lass uns zuerst einmal rein gehen. Hier ist es ungemütlich. Aber ... Du musst ganz leise sein! Da drinnen schlafen alle noch, und ich glaube nicht, dass es gut ist, wenn sie Dich und mich hier finden!"

Er legte beschwörend den Finger an die Lippen. Dann packte er Fiore an der Hand und zerrte ihn ins Innere des Krankenhauses. Er lotste seinen neuen Freund sicher durch die langen Gänge und wich geschickt den Krankenschwestern aus, die ihre Nachtschicht schoben. Dann bugsierte er Fiore in sein Zimmer, ließ ihn sich an einem Handtuch abtrocknen und nahm ihn zu sich ins Bett. Die beiden redeten noch sehr lange mit einander. Fiore erzählte, dass er nicht wisse, woher er kam oder wohin er wolle, und dass er auf diesem Planeten nur eine Zuflucht gesucht habe. Er sei einfach ein Reisender durch das Weltall, ohne Heimat und ohne Ziel.

Mamoru nahm ihn als Freund gern bei sich auf. Sie teilten sich das Bett und leisteten sich tagelang Gesellschaft. Oft versteckte sich Fiore in dem kleinen Waschraum, der an das Krankenzimmer angrenzte, oder er rutschte unter das Bett, wenn es besonders schnell gehen musste. Er schaffte es tatsächlich, Mamorus Laune durch seine bloße Anwesenheit zu bessern. Zwar saß der Schock über den Unfall noch tief in der Seele des Sechsjährigen, aber immerhin konnte Fiore ihn zum Lachen bringen. Daran hatten sich die Krankenschwestern tagelang die Zähne ausgebissen.

Doch irgendwann kam der Tag, als Fiore sich mit unglücklichem Gesichtsausdruck zu Mamoru umdrehte, und ihm verkündete, er könne nicht länger bleiben.

"Aber... warum denn nicht?", fragte Mamoru entsetzt. "Ich will nicht schon wieder alleine gelassen werden!"

"Das verstehe ich ja. Ich will auch nicht einsam sein", erklärte der junge Außerirdische. "Aber es geht leider nicht anders. Ich kann auf der Erde nicht überleben. Ich brauche dazu Energie, verstehst Du? Und mein Körper kann sich nicht von Essen ernähren wie Deiner. Hier bleiben kann ich unmöglich. Entweder würde meine Anwesenheit auffliegen und uns beide verraten, oder ich müsste sterben. Und keiner dieser beiden Wege gefällt mir. Aber wenn ich es mir aussuchen könnte, dann würde ich den Weg wählen, der Dich beschützt. Glaub mir, es ist besser, wenn niemand erfährt, dass ich hier gewesen bin. Aber ich ... möchte Dir danken. Du hast Dich so um mich gesorgt, wie das noch nie einer vorher gemacht hat! Ich schulde Dir was..."

"Bleib hier", flüsterte Mamoru in einem letzten, trotzigen Aufbäumen. "Irgendwie wird es schon gehen. Bestimmt!" Tränen schossen ihm in die Augen.

Fiore schüttelte den Kopf.

"Es tut mir unendlich Leid. Du bist mein aller bester Freund, weißt Du?"

"Ich will nicht, dass Du gehst!", schluchzte er leise.

"Mamoru..." Fiore senkte betreten den Blick. "...Es ... tut mir Leid. Ich werde versuchen, das jetzt so schmerzlos wie möglich hinter uns zu bringen. Ich ... möchte nicht sehen, dass Du traurig bist. Irgendwann einmal komme ich hier her zurück! Ganz bestimmt... Und nun ... muss ich mich auf den Weg machen. Du bleibst vielleicht besser hier. Das macht es für uns beide leichter."

"Leb wohl, Fiore...", presste Mamoru heraus.

Fiore nickte. Tiefe Trauer stand in seinem Gesicht geschrieben.

"Mach es gut, Mamoru. Ich gehe dann also..."

Er veränderte sein Aussehen so, dass er wie ein gewöhnlicher Erdling aussah. Für einen kurzen Augenblick konnte er das durchaus tun. Die Zeit würde ihm reichen, zum Dach des Gebäudes zu kommen, um von da aus im Weltall zu verschwinden. Er warf einen letzten, sehnsüchtigen Blick auf seinen besten Freund. Dann ging er durch die Tür.

Mamoru hockte sich auf die Bettkante und konnte die Tränen nicht mehr zurück kämpfen. Sein kleiner Körper bebte unter seinen Schluchzern. Er fühlte sich so unendlich alleine gelassen. Es war einfach nicht fair!

Die Trauer nahm ihn ganz ein. Und so bemerkte er gar nicht, wie ein kleines Mädchen die nur angelehnte Tür zu seinem Zimmer aufstieß. Sie war vielleicht nur halb so alt wie Mamoru. Ihre riesigen, blauen Augen schauten ihn verständnislos an. Ihr Haar war zu zwei kleinen, goldblonden Zöpfchen gebunden, die aus zwei kleinen, kugelrunden Haarbällen heraus an ihrem Kopf herab hingen und noch ziemlich kurz waren. Sie trat um einige Schritte weiter in das Krankenzimmer hinein, sodass man besser ihr lilanes Kleidchen und den großen Rosenstrauß in ihrer viel zu kleinen Hand sehen konnte. Sie setzte ein unschuldiges, warmes Lächeln auf und überwand noch die letzten paar Meter bis zu Mamoru. Dort angekommen legte sie ihre freie Hand auf die seine und legte ihre Wange auf seinen Handrücken.

Mamoru bemerkte sie jetzt erst und sah erstaunt von der Bettkante aus auf sie herab.

"Wer bist Du?"

Die Kleine verharrte in ihrer Position und antwortete nur:

"Weine nicht."

Mamoru ließ den Kopf hängen. Neue Tränen bahnten sich ihren Weg seine Wange hinab.

"Bald wird ein guter Freund weggehen... Aber ich kann nichts dagegen tun..."

"Mal sehen", sagte die Kleine nachdenklich. Sie hob den Kopf und schaute ihn lächelnd an. "Von heute an werde ich eine große Schwester sein. Meine Mama hat ein Baby bekommen... Und ich habe das hier als Geschenk mitgebracht... Hier!"

Sie entfernte eine der Rosen aus dem Strauß und hielt ihm die Blume hin. Die Blüte war tiefrot und noch geschlossen, und sie sah wunderschön aus.

"Danke...", murmelte Mamoru. Er nahm die Rose entgegen – und lächelte. "...das ist wirklich ein schönes Geschenk..."

"Vielleicht hilft sie Dir ja!", freute sich das Mädchen. "Ich muss jetzt wieder los, sonst macht sich mein Papa noch Sorgen. Mach's gut!"

Sie lachte und rannte auf ihren kurzen Beinchen zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal herum, winkte ihm zu, und verschwand dann endgültig aus seinem Blickfeld.

Mamoru sah sanft lächelnd auf die Rose in seiner Hand hinunter und zögerte. Aber nur eine Sekunde lang. Dann sprang er vom Bett und machte sich auf den Weg. Nur Augenblicke später war er durch Flure und durch den Treppenschacht gerast und betrat nun das Dach. Ein letztes Mal wischte er sich mit dem Ärmel seines Schlafanzuges über die Augen und stieß die Tür zum Dach auf. Fiore stand noch da. Er hatte seinen Blick in den vom Sonnenuntergang blutrot gefärbten Himmel gerichtet. Doch jetzt, wo er Mamoru bemerkte, senkte er seinen Kopf wieder und lächelte seinen Freund ermutigend an.

Mamoru keuchte, weil er so schnell gerannt war. Doch er versuchte, seinen Atem zu beruhigen. Er kam auf Fiore zugelaufen und hielt ihm die Rose hin.

Fiore lächelte sanft und nahm die Rose entgegen.

"Danke... Eines Tages... werde ich etwas für Dich tun. Ich werde zurückkommen... mit vielen Blumen!"

Mamoru stand einfach da und verkrampfte seinen Körper vor lauter Tränen. Dieser Abschied war unerträglich schmerzhaft für ihn. Und das Gefühl, wieder allein gelassen zu werden, stand ihm überdeutlich ins Gesicht geschrieben. Doch irgendwo tief in sich drin spürte er, dass es an der Zeit war, seinen einzigen Freund wieder loszulassen. Er presste seinen Ärmel gegen seine Wangen um so die Tränen aufzufangen.

Fiore baute derweil ein Energiefeld um sich herum auf, das ihn vor dem harten und kalten Weltraum schützen würde. Sein Körper verblasste zusehends und wurde von einem wahren Sturm von Blütenblättern umweht.

"...Weine nicht so viel. Ich werde viele Blumen mitbringen, wenn ich zurück kehre... Also..."

Das waren Fiores letzte Worte, ehe sein Körper ganz unsichtbar wurde und er sich selbst in den Weltraum teleportierte.

Sichtbar niedergeschlagen und mit hängenden Schultern zog sich Mamoru in sein Zimmer zurück. Er war von diesem Zeitpunkt an tagelang in sich gekehrt, weinte oft leise und vermochte weder ordentlich zu schlafen noch ausreichend zu essen. Für die Krankenschwestern, die sich rührend um ihn sorgten, war er ein einziges Rätsel. Wo er für eine kurze Zeitspanne gut gelaunt und einfach nur glücklich war, da war er jetzt viel zu still für einen Jungen seines Alters und auch sehr abweisend gegenüber allen Leuten, die sich ihm näherten. Niemand des Krankenhauspersonals konnte die Gründe dafür auch nur erahnen, und Mamoru behütete sein Geheimnis um Fiore wie seinen Augapfel. Er fand, dass es auch jetzt niemanden sonst etwas anging.

Die Tage krochen nur so dahin. Mamoru begann sich so allmählich zu fragen, was wohl weiter mit ihm geschah. Er hatte ganz bestimmt nicht vor, ewig hier zu verbringen. Aber wohin sollte er? Er kannte sich in dieser Welt da draußen nicht aus und er war ganz auf sich allein gestellt.

Das hieß: nicht ganz allein...

Es war ein Tag wie jeder andere in seinem neuen Leben. Die gleichen Gesichter, das gleiche Zimmer, das gleiche, tägliche Einerlei. Er hockte in seinem Bett und starrte zum Fenster raus. Das Wetter passte zu seiner Stimmung: Es war mies. Der Regen fiel nur so in Strömen herab, und das nun schon seit einer ganzen Weile. Und so was nannte sich August! Mamoru seufzte leise.

Es klopfte an seiner Tür. Er machte sich schon lange nicht mehr die Mühe, den Gast herein zu bitten. Es würde ja doch bloß wieder eine Schwester sein, und die interessierte es nicht, ob ihm gerade nach Stippvisite war oder nicht. Er drehte sich noch nicht einmal herum, als die Tür aufging.

"Mamoru? Kann ich mal für einen Augenblick mit Dir reden? Es ist sehr wichtig."

"Es ist doch immer sehr wichtig", gab er leise von sich. Aber die Schwester hörte die Worte sehr wohl. Ein verzeihendes Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. Sie konnte seine schlechte Laune in seiner schier ausweglosen Situation wohl sehr gut nachempfinden. Wie viel Leid mochte ihr in ihrem Beruf schon begegnet sein?

"Dieses Mal ist es aber was ganz Besonderes. Und ich möchte Dich gut darauf vorbereiten."

"Lass mich raten... Du willst mir zur Abwechslung mal rote Gardinen hier rein hängen?", gab er bissig von sich.

Die Schwester schüttelte resigniert den Kopf. Sie schloss die Tür hinter sich, trat auf Mamoru zu und legte sachte ihre Hand auf seine Schulter.

"Es gibt Neuigkeiten."

So allmählich wurde doch sein Interesse geweckt. Er wandte sich vom Fenster ab und sah die Krankenschwester fragend an.

Sie fuhr fort:

"Mamoru ... wir haben tatsächlich Verwandte von Dir ausfindig machen können."

Seine Augen wurden mit einem Mal groß. "Was?"

Die junge Frau nickte. "...Und sie sind hier."

"Wer... wer ist es?"

Er erhoffte sich, dass vielleicht schon die Namen irgendwas in ihm wecken würden. Er wünschte sich so sehr, dass endlich irgendwo in seinem Innersten ein Glöckchen aufbimmelte, das ihm zeigte, ob der Name, den man ihm hier verpasst hatte, auch wirklich der seine war. Gespannt wartete er auf die Antwort. Doch dazu kam die Pflegerin gar nicht ernst. Auf dem Gang wurden aufgeregte Stimmen laut. Dann wurde die Tür aufgerissen. Eine junge Frau kam hereingestürmt. Sie wirkte auf den ersten Blick sehr zierlich, doch diese Meinung änderte Mamoru schnell, als er bemerkte, dass sie sich energisch zur Wehr setzte – gegen gleich drei Pfleger auf einmal, die ihr nachgerannt kamen mit Sprüchen wie "So beruhigen Sie sich doch!" und "Sie können hier nicht einfach in irgendwelche Zimmer rennen!"

"Wollen wir wetten, dass ich's kann?", fauchte sie.

Vom Gang tönte die sanfte Stimme eines jungen Mannes:

"Sie müssen meine Frau entschuldigen... Die Umstände haben sie doch sehr mitgerissen..."

Mamoru legte nachdenklich seine Stirn in Falten. Wer, zum Teufel, waren bloß diese Leute?

Gerade da wandte die energische Frau ihren Kopf zum Krankenbett, und für eine Sekunde wirkte sie, als sei ihre Aufregung mit einem Male von ihr abgefallen. Sie starrte Mamoru aus großen Augen entgegen und rührte sich nicht um einen Millimeter. Dann endlich hob sie langsam ihre Hände und legte sie sich vor den Mund. Mamoru konnte an ihrem Gesicht nicht wirklich ablesen, welche Emotion in ihr stärker war – Trauer oder Entsetzen...

Endlich kam sie mit langsamen Schritten auf ihn zu.

"Mamoru... Ich bin es, Deine Tante Kioku. Erkennst Du mich noch? Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen... Wie geht es Dir? Mein armer Kleiner..."

Sie hatte das Krankenbett noch nicht ganz erreicht, da trat endlich auch ihr Mann in das Zimmer. Auch sein Blick fiel auf Mamoru. In seinen Augen stand tiefste Trauer geschrieben. Er konnte wohl im Moment mit seinen eigenen Gefühlen kaum zurecht kommen. Er hielt sich aber vorerst noch ein wenig im Hintergrund.

Die Frau war inzwischen am Bett angekommen. Mit langsamen Bewegungen setzte sie sich auf die Kante. Behutsam streckte sie ihre Hand aus, um Mamoru an der Wange zu berühren.

Ängstlich wich das Kind zurück.

"Wer ... sind diese Leute???"

Die Frau erstarrte in ihrer Bewegung. Ein leises, ungläubiges Keuchen entrang sich ihren Lippen.

Hinter dem fremden Mann erschien jetzt auch endlich Doktor Mugiwara im Zimmer. Er hatte einen tadelnden Blick aufgesetzt.

"Ich habe Sie gewarnt, hier einfach reinzuplatzen! Ist Ihnen eigentlich klar, dass Sie unter Umständen mehr kaputt machen als retten??? Ich habe Ihnen doch groß und breit erklärt, in welcher komplizierten Situation sich Ihr..."

Weiter kam er nicht. Die Frau ruckte mit dem Kopf in seine Richtung und patzte ihn trotzig an:

"Und ich habe Ihnen erklärt, dass ich nicht warten kann, den Jungen zu sehen! Das ist mein Recht, verdammt noch mal! Außer uns hat der Kleine niemanden mehr! Und jetzt halten Sie gefälligst den Rand!"

Doktor Mugiwara schnappte empört nach Luft, doch das interessierte die Frau schon lange nicht mehr. Während sich ihr Mann eine Entschuldigung und eine Ausrede für ihr Verhalten nach der andren einfallen ließ, wandte sie sich Mamoru wieder zu. Ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. Sie gab sich Mühe, ein entwaffnendes Lächeln aufzusetzen, was ihr aber sichtlich schwer fiel, wenn die Gefühle so in ihrem Innersten tobten. Ihre Stimme war leise und sanft, als sie erklärte:

"Mamoru ... ich bin Deine Tante Kioku! Und das dort..." Sie zeigte auf ihren Ehemann, der immer noch mit Händen und Füßen versuchte, den Doktor zu beruhigen. "...ist Dein Onkel Seigi. Kommen wir Dir nicht zumindest ein bisschen bekannt vor?"

Der Junge zögerte lange und dachte angestrengt nach. Doch erfolglos. Er wusste einfach nicht, wonach er in seinem Gedächtnis suchen musste. Er schüttelte sachte seinen Kopf.

"Großer Himmel", wisperte Kioku tonlos. Sie legte sich erschrocken ihre Hand an den Mund. "Dann ist es also wahr... Ich kann es immer noch nicht glauben."

Seigi hatte den Doktor inzwischen abgewimmelt und trat nun ebenso an das Bett. Er setzte ein sanftes Lächeln auf. Doch er wirkte unbeschreiblich müde dabei. Dicke, schwarze Ränder lagen unter seinen Augen und er sah ganz allgemein nicht wirklich gesund aus. Es war immerhin gerade mal einige Tage her, dass er erfahren hatte, dass sein einziger Bruder gestorben war, der dann auch noch seine eigene Frau mit in den Tod genommen hatte. Doch Seigi versuchte, für seinen Neffen stark zu sein. Mamoru spürte es irgendwo tief in sich, auch wenn er es nicht verstand. Wie konnte dieser fremde Mann sich so viel aus ihm machen? Sie kannten sich doch gar nicht...

Mamoru hatte gehofft, irgend etwas in sich zu finden. Hoffnung. Erkennen. Das Gefühl, zu einander zu gehören. Das Empfinden der Familienbande.

Da war nichts.

Absolut nichts.

"Mamoru", sprach er nun leise, nach einigen Sekunden des Schweigens. "Ich bin Dein Onkel Seigi. Dein Vater war mein älterer Bruder. Ich habe vor ein paar Jahren eine Arbeit in Amerika aufgenommen. Als Deine Tante Kioku und ich aus Japan weggezogen sind, warst Du noch ein ganz kleines Kind. Auch unter anderen Umständen hätte es mich ehrlich gesagt sogar verwundert, wenn Du Dich an uns erinnern könntest. Wir haben uns in dieser Zeit leider nur selten gemeldet, und jetzt bereue ich das zutiefst. Ich hätte Dich gerne näher kennen gelernt... Aber das können wir jetzt alles nachholen. Wir drei, wir werden eine Familie sein..."

Mamoru sah ihn verständnislos an.

"Was ... heißt das?"

"Du wirst bei uns leben", erklärte der Onkel weiter. "Den Papierkram haben wir schon in die Wege geleitet, auch, wenn es in dieser kurzen Zeit recht problematisch ist. Ich denke, dass wir großartig mit einander zurecht kommen werden."

Mamoru legte den Kopf schief.

"Ich ziehe nach Amerika?"

Seigi lachte leise auf. Es klang weniger amüsiert als umso mehr einfach nur müde.

"Nein. Im Gegenteil: Wir beide ziehen gerade wieder hier her nach Japan zurück. Weißt Du, wir wären gerne schon viel früher gekommen, aber das ging so schnell beim besten Willen nicht. Aber inzwischen ist der Umzug schon in vollem Gange. Wir haben eine Wohnung in Tokyo gefunden und einen Arbeitsplatz konnte ich hier auch organisieren. Er gehört immer noch zur selben Firma, und glücklicherweise konnte man mich schnell hier her vermitteln. Aber lass das alles mal nicht Deine Sorge sein. Du solltest Dich jetzt nur darauf konzentrieren, wieder gesund zu werden ... und vielleicht schon bald Dein Gedächtnis zurück zu erlangen."

"Ich finde auch, dass Du inzwischen ziemlich gut aussiehst", meinte Kioku. "Ich habe von Deinen Verletzungen gehört. Aber die Verbände sind ja jetzt schon runter..."

"Nicht ganz", unterbrach Mamoru und zog den rechten Ärmel seines Schlafanzuges hoch, unter dem ein weißer Verband zum Vorschein kam, der sich beinahe über den ganzen Unterarm erstreckte.

"Die Wunden sind tief", erklärte Doktor Mugiwara in etwas schärferem Ton, als es vielleicht nötig gewesen wäre. Er war wohl immer noch gekränkt. "Die Narben werden sich wohl lange halten. Vielleicht ewig."

"Sie...", zischte Kioku in seine Richtung und hob drohend den Finger. "...Sie haben wirklich das Taktgefühl eines Randkamels beim Furzen! Haben Sie schon mal etwas davon gehört, dass man nicht so negativ reden und denken soll in Gegenwart eines Patienten? Noch dazu in Gegenwart eines Sechsjährigen, der gerade die schlimmste Zeit seines Lebens..."

Sie unterbrach sich selbst und sah Mamoru erschrocken an.

"Oh, tut mir Leid... Ich wollte Dich nicht daran..."

"Schon gut", winkte er leise ab. "Vergiss es." Damit krempelte er seinen Ärmel wieder herunter.

Nun wandte sich Seigi wieder an seinen Neffen:

"Sag ... warst Du eigentlich ... auf der Beerdigung?"

"Be- ... Beerdigung? ...Nein."

"Der Patient", so erklärte der Doktor patzig mit vor der Brust verschränkten Armen, "war nicht in der geeigneten, physischen Konstitution. Und selbst, wenn er das gewesen wäre, dann hätte es sein können, dass sein psychischer Zustand..."

Doch Kioku ließ ihn wieder nicht ausreden. Zornig spie sie ihm ihre Worte entgegen:

"Dieser Junge hat seine Eltern verloren! Er – wie jeder andere Mensch auf diesem Planeten – hätte das Recht gehabt, sich ein letztes Mal von ihnen zu verabschieden und sich geistig mit seiner Situation auseinander zu setzen, Sie hirnverbrannter Vollidiot! Haben Sie je darüber nachgedacht, wie die andere Seite der Medaille aussieht? Wie der Patient die Sache sehen könnte?"

"Ich konnte nicht zulassen, dass er bei so einer Anstrengung erst recht einen körperlichen und geistigen Kollaps erleidet!", bellte der Arzt.

"Bitte... Ruhe..." Seigi hob Einhalt gebietend seine Arme. "Kein Streit vor dem Kind, ich darf doch sehr bitten!"

Die Augen von Doktor Mugiwara funkelten kampflustig auf.

"In dieser Sache ist das letzte Wort noch nicht gesprochen!", prophezeite er. "Ihre Worte werden noch ein Nachspiel haben! Ich werde jetzt Pfleger holen, die Sie auf der Stelle hier raus werfen. Und wenn Sie sich in Zukunft nicht im Ton mäßigen, werden Sie es bereuen!"

Und so kam es dann auch.

Im Verlauf der weiteren Tage hielt sich Doktor Mugiwara in respektvollem – oder eher: trotzigem? – Abstand zu Tante Kioku. Somit hatte sie also gar keine weitere Chance, ihr Temperament ganz auszuspielen. Was möglicherweise auch ganz gesund war. Seigi wollte das lieber nicht testen.

Und dann irgendwann kam der Tag, an dem Mamoru aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Kioku und Seigi fuhren mit ihm zu ihrer neuen Wohnung. Einige der Möbel und Kartons standen auch jetzt noch in ihrem ehemaligen Zuhause in Boston in den USA, doch die wichtigsten Dinge waren da. Einige Räume waren schon fertig tapeziert und möbliert, andere noch nicht. Mit Mamorus Zimmer hatten sie noch gewartet, damit er selbst mitentscheiden konnte, wie es auszusehen hatte.

Er streifte durch die fremde Wohnung, besah sich die Einrichtung, warf einen Blick in die Kartons und stöberte in alten Fotoalben herum. Einige Teile des Mobiliars stammte nicht aus der Bostoner Wohnung, sondern aus dem Zuhause, in dem Mamoru sechs Jahre lang mit seinen Eltern gelebt hatte. Beispielsweise die Kleidung, die er trug, hatten ihm seine Tante und sein Onkel aus dieser alten Wohnung mitgebracht. Sie war ihm ebenso wenig bekannt vorgekommen wie der Rest.

In einem der Pappschachteln fand er ein Stofftier, einen silbergrauen Wolf. Er sah noch ganz neu aus und sein Fell war weich. An seinem Hals hing ein Papierzettelchen, das links und rechts von einer Schnur gehalten wurde und wohl wie ein Hundehalsband aussehen sollte. Eine krakelige Kinderhandschrift darauf besagte, dass der Name des Tieres <Ôkami-haha> lautete. Mamoru gab sich damit zufrieden und akzeptierte dies als Name. Diese Wölfin war von nun an sein liebstes Spielzeug. Denn es war das Letzte, was er in seinem alten Leben von seinen Eltern bekommen hatte. Das, und...

Er griff in seine Hosentasche und förderte den Ring zutage, den ihm seine Mutter im Wagenwrack überreicht hatte. Seine zerschlissene Kleidung war im Krankenhaus weggeworfen worden, aber zum Glück hatte man vorher sorgfältig seine Taschen durchsucht und ihm das Schmuckstück ausgehändigt.

Seigi sah den Ring und zog hörbar die Luft ein.

"Das ... ist...", stammelte er.

Mamoru sah ihn nicht an, als er erwiderte:

"Mama hat ihn mir geschenkt ... glaube ich. Ich bin mir da nicht so ganz sicher. Ich habe nur einzelne Bilder in meinem Kopf, aber sie sehen so dunkel und verschwommen aus; und immer, wenn ich mich darauf konzentrieren will, ist es so, als könne ich mich auch daran plötzlich nicht mehr erinnern."

Er hob den Blick.

"Ich weiß gar nichts mehr. Ich kann mich nicht erinnern, wie meine Eltern aussahen, und wie ihre Stimmen klangen, und wie sie gerochen haben, und wie sie mit mir umgegangen sind. Ich weiß gar nichts mehr."

Mit tiefer Trauer im Blick starrte Seigi seinen Neffen an. Dann ging er zu ihm hin, umarmte ihn fest und hob ihn hoch. Er begann, von Keibi und Megami zu erzählen und suchte alte Fotoalben heraus. Und dort sah Mamoru zum ersten Mal in seinem neuen Dasein, wie seine Eltern überhaupt ausgesehen hatten. Er suchte in den Bildern vor allem den Ring, denn der war im Augenblick das Einzige, woran er sich orientieren konnte – der einzige Anhaltspunkt, den er überhaupt noch besaß.

Als Seigi und Kioku später den Film aus einer Kamera aus Keibis und Megamis Wohnung entwickeln ließen, kam darauf zum Vorschein, dass Ôkami-haha tatsächlich ein Geschenk war, das Mamorus Eltern ihm gemacht hatten – an dem Tag, als der Unfall geschehen war. An seinem sechsten Geburtstag. Dem Tag seines Schicksals.
 

Erschöpft seufzend beendete Mamoru seine Erzählung. Er hielt die Arme noch immer hinter seinem Nacken verschränkt, auch wenn ihm in dieser Position allmählich die Schultern wehtaten. Aber gemütlicher ging es auf dem harten Untergrund der Ladefläche des Pick-Ups nun mal nicht. Trotz der Wolldecke als Unterlage.

Sein Blick streifte in die Ferne. Das hatte er schon die ganze Zeit getan, während er Elyzabeth von der schwersten Zeit seines Lebens berichtet hatte, aber erst jetzt, wo er sich nicht mehr auf seine Worte konzentrieren musste, sah er den Sternenhimmel wieder bewusster an.

Inzwischen war es richtig kalt geworden. Mamoru störte sich daran kaum, obwohl er sonst die Kälte immer sehr hasste. Nur Elyzabeth hatte es auf der Decke nicht mehr ausgehalten und war darunter gekrabbelt und nun drückte sie sich nah an Mamoru, wobei sie ein leichtes Bibbern unterdrückte.

Doch die Kälte hatte nicht nur Schlechtes an sich. Je kälter es wurde, umso strahlender und funkelnder erschien der Himmel über ihnen. Vor kurzer Zeit erst war der Mond aufgegangen. Ein abnehmender Halbmond – ganz genau so, wie in der Nacht, als das Auto mit Mamoru und seinen Eltern die Klippe hinuntergestürzt war. Und auch diesmal sah er so unglaublich riesig aus, wie er sich über den Horizont schob und allmählich weiter und weiter den Himmel erklomm. Es war ein beeindruckendes Schauspiel der Natur und der Lichter.

Mamoru kam es so vor, als habe er eine Ewigkeit damit verbracht, Elyzabeth von dem bisschen zu erzählen, an das er sich von seinem Unfall noch erinnern konnte. Das meiste, was er noch wusste, hatte er sich zusammengereimt oder die Rettungskräfte hatten es ihm erzählt. Alles, was er wirklich mit Sicherheit erzählen konnte, waren die Geschehnisse danach. Das Einzige, was er dabei verschwiegen hatte, war die Sache mit Fiore. Es war seltsam, aber irgendwie zweifelte Mamoru an seiner Existenz. Er konnte sich gut an ihn erinnern, aber im Laufe der Jahre war er zu dem Schluss gekommen, dass er sich den kleinen, einsamen Außerirdischen nur eingebildet hatte. Ein Junge mit spitzen Ohren und einer grünen Haut, der ebenso alt und ebenso einsam gewesen war wie Mamoru selbst, und der ohne Raumschiff durch das All fliegen konnte ... das war doch blödsinnig. Wohl nichts weiter als die Ausgeburt seiner Fantasie – erschaffen, um sich selbst nicht mehr so einsam und verlassen zu fühlen. Zwar mit einer täuschend realen Wirkung, aber bekanntlich war die Fantasie eines Sechsjährigen eben sehr ausgereift. Zumal, wenn man bedachte, in welcher misslichen Situation er sich damals befunden hatte.

Andererseits war Mamoru immerhin der Herr und Krieger der Erde, verfügte über einen der mächtigsten Kristalle dieses Planeten und kämpfte gegen ein ganzes Königreich von wahrscheinlich Jahrtausende alten Monstern und Dämonen ... dagegen war ein außerirdischer Freund sogar noch richtiggehend etwas Normales!

Nach langer Zeit des Stillschweigens hob Mamoru endlich wieder seine Stimme an:

"Es tut mir Leid, dass ich Dich so lange mit meiner Lebensgeschichte gelangweilt habe, Elyzabeth. Ich hätte mich wirklich kürzer fassen können."

"Nein", sagte sie leise. Sie lächelte sanft. "Ganz im Gegenteil. Ich könnte Dir noch stundenlang zuhören. Es liegt mir sehr viel daran, jedes Detail Deines Lebens zu erfahren. Und ich freue mich über alle Maßen, dass Du Dich mir so anvertraust. Es ... zeigt mir, dass ... ich in Deinen Augen vertrauenswürdig bin. Und das ist eine überaus kostbare Entdeckung für mich."

"Eine ... überaus ... kostbare Entdeckung?", fragte Mamoru verunsichert nach. "Wie darf ich das denn verstehen?"

Er blickte leicht irritiert in ihre Richtung. Es war eigenartig ... das Mondlicht war eigentlich zu schwach, Farben erkennen zu lassen. Immerhin sah Mamoru nun endlich wieder die Konturen seiner Umgebung deutlicher und die Prärie war nicht mehr ganz so schwarz und tiefenlos, als ob man Tinte darüber ausgeschüttet hätte. Seine unmittelbare Umgebung konnte er sogar sehr gut erkennen, wenn auch nur in verschwommenen Grauabstufungen. Aber dennoch schien es ihm so, als würde er auch jetzt wieder Ellys grüne Augen mit einem deutlichen, leuchtenden, bläulichen Schimmer sehen. Aber nur kurz. Doch das war unmöglich. Wahrscheinlich hatte sich der Mond in ihren Pupillen gespiegelt. Mamoru war heute wirklich nicht ganz bei sich.

"Na ja", erklärte sie nun endlich, "ich mag es wirklich gerne, in Deiner Nähe zu sein. Ich fühle mich einfach irgendwie wohl dabei. Du hast ... diese besondere Ausstrahlung an Dir, die ich nicht näher zu beschreiben vermag. Wenn ... Du bei mir bist ... dann ... bin ich ... glücklich. So glücklich wie sonst nie. Ich kann das gar nicht erklären. Es ist so, als ob ... so wie ... wie..."

Mamoru sah sie aus großen Augen an. Und dann lächelte er sanft. Er erhob seinen Oberkörper von der Ladefläche, rutschte um ein paar Zentimeter näher an sie heran und wisperte tonlos:

"...wie Zauberei?"

Sie lächelte schüchtern. Doch in ihren Augen stand ein Glanz, der den funkelnden Sternen am Himmel Konkurrenz machte. Sie nickte ihm bejahend in einer zarten Bewegung zu.

Eine große Ruhe und Sicherheit überkamen Mamoru. In ihm breitete sich ein warmes Kribbeln aus. Er wusste einfach genau, was er zu tun hatte.

"Dann ergeht es Dir ja genau wie mir", erklärte er – und legte sanft seine Lippen auf die ihren.

Das Gefühl war berauschend.

Kein anderes Wort konnte die Situation so gut beschreiben wie dieses. Es war, als existierten nur diese beiden Körper – Mamorus eigener, und der von Elyzabeth – und sonst nichts. Alles war egal geworden. Der kalte Wind war egal geworden. Die harte Unterlage, zu der die Ladefläche des etwas älteren Wagens geworden war, war egal geworden. Die gesamte Welt um die beiden herum schien zu existieren aufgehört zu haben. Alles, was noch zählte, war die elektrisierende – ja, fast schon energetische – Berührung ihrer Lippen. Pure Hitze strömte von einem Körper in den anderen. Es konnte Einbildung sein, aber es schien Mamoru fast so, als könnten ihrer beider Körper von innen heraus aufleuchten und hell strahlen; heller noch als das Licht des gewaltig groß erscheinenden Halbmondes dort drüben knapp über dem Horizont.

Beide klammerten sich an einander, als wollten sie sich in Ewigkeiten noch nicht loslassen. Das Gefühl von Zufriedenheit, von tief empfundenem Vertrauen, aber auch von Neugierde auf mehr wuchs bei beiden in die Unendlichkeit und trieb sie voran, das Spiel ihrer Lippen mehr und mehr zu vertiefen.

Aus den Sekunden wurden Minuten, in denen sie ihre Körper fest an einander pressten und ihre Lippen sich um nichts in der Welt von einander lösen wollten. Als sie sich dann doch wieder trennten, um keuchend frischen Sauerstoff in ihre Lungen zu ziehen, da sahen sie sich an. In ihren Augen glitzerten Lebenslichter, die alles, was der Sternenhimmel an Pracht aufweisen konnte, bei weitem übertrafen.

Mamoru lehnte seinen Rücken gegen die Führerkabine des Wagens, legte die Wolldecke über Elyzabeth, die halb auf ihm lag und ihren Kopf an seine Brust lehnte, und schlang dann seine Arme um sie. Es bedurfte keiner weiteren Worte zwischen den beiden. Sie lagen einfach da, genossen die Nähe zu einander, lauschten der leisen Musik, die noch immer aus dem Radio durch die offen stehenden Türen des Wagens hindurch drang, sahen in den Himmel und bestaunten das helle Glitzern der Sterne. Es war ein unglaublich schönes Empfinden des Friedens und der Ruhe.

Irgendwann nach zwei Uhr morgens – der Mond war schon ein gutes Stück weiter aufgegangen und wirkte inzwischen irgendwie nicht mehr ganz so groß – machten sich die beiden nun doch auf. Die Decke wurde wieder auf den Rücksitzen der großen Doppelkabine verstaut, die Abdeckplane über der Ladefläche befestigt, und Mamoru klemmte sich wieder hinters Steuer, um Elyzabeth nach Hause zu fahren. Er parkte den Wagen am äußersten Rand des Hofes der Mustang-Ranch, weil er nicht wusste, ob das Motorengeräusch nicht vielleicht irgendwen wecken konnte. Er stieg aus und begleitete seine Freundin den Rest des Weges bis zur Haustüre.

"Was wird jetzt aus Terra?", fragte er so ganz nebenbei. In all der Zeit hatte er schon längst wieder vergessen, dass Elly ja eigentlich auf der Suche nach ihm war.

Sie winkte ab.

"Er ist immerhin ein Wolf, vergiss das nicht. Er wird schon auf sich aufpassen können. Oder vielleicht liegt er schon längst hinten im Garten und schläft tief. Ich weiß es nicht. Er wird schon wieder auftauchen."

"Auch wieder wahr", antwortete er. Beide blieben stehen.

Auch ohne, dass sie nur ein Wort sagte, wusste Mamoru, was sie dachte. Ihr Wunsch stand ihr unübersehbar in den Augen geschrieben. Er lächelte sanft, beugte sich zu ihr runter, legte die Arme um sie und drückte ihr einen sanften Kuss auf. Sie erwiderte ihn mit aus tiefster Seele empfundener Freude. Endlose Sekunden verstrichen, in denen sie ihre Lippen einfach nicht von seinen lösen wollte.

Doch auch dieser Kuss fand irgendwann ein Ende.

"Endlich", flüsterte das Mädchen glücklich, "das habe ich mir so lange gewünscht."

"Ich war blind", erklärte Mamoru. Er lächelte, aber in seinem Gesicht stand eine Spur von Enttäuschung geschrieben, die er sich selbst gegenüber empfand. "Ich hätte es viel früher bemerken müssen..."

"War es denn so offensichtlich?", fragte sie schüchtern nach.

"Also ... eigentlich...", stammelte er, "...vielleicht. Ja. Jetzt, im Nachhinein betrachtet, gab es da schon Dinge, die mir hätten auffallen müssen. Weißt Du ... vor gar nicht mal so langer Zeit ... da gab es ... in meinem Leben ... dieses Mädchen..."

Sie unterbrach ihn:

"Hast Du Empfindungen für sie?"

Sie sah ihn ernst und erwartungsvoll an. Er lächelte sanft und schüttelte den Kopf.

"Schon lange nicht mehr."

"Dann ist doch alles in Ordnung!", strahlte sie. "Jetzt bin ich in Deinem Leben. Das ist alles, was für mich zählt. Egal, was in entfernter Vergangenheit gewesen ist, es ist unwichtig geworden. Wir beide haben eine gemeinsame Zukunft, und alles andere interessiert mich nicht!"

Mamoru schmunzelte amüsiert.

"Dann hoffe ich mal, dass Du damit Recht hast ... ich würde es mir jedenfalls wünschen... Ich liebe Dich."

Sie strahlte überglücklich. "Und ich liebe Dich auch – mehr, als Du Dir vorstellen kannst!"

Noch ein letztes Mal küsste er sie.

"Gute Nacht. Schlafe gut, Elyzabeth."

"Elly", korrigierte sie schüchtern.

"Was? Aber ich dachte, Du magst es nicht, wenn..."

"Du bekommst eine Sondergenehmigung, mich so zu nennen", erklärte sie.

"Wenn Du es so wünschst, dann gerne", erwiderte er lächelnd. "Dann also gute Nacht, Elly. Hab süße Träume."

"Das wünsche ich Dir auch", wisperte sie. Ihr glückliches Lächeln weckte wieder dieses ganz besondere, warme Kribbeln in seinem Bauch. "Gute Nacht!"

Sie winkte ihm zu, öffnete dann die Haustür, schenkte ihm noch ein Lächeln zum Abschied und verschwand im Haus.

Auch er hob die Hand um zu winken. Dann kehrte er um und ging zu seinem Wagen zurück. Oder vielmehr: Er schwebte dort hin, schon beinahe wie von Wolke sieben getragen. Er setzte sich hinters Lenkrad, wendete den Wagen und fuhr zurück in Richtung SilverStar-Ranch. Er war noch nicht ganz dort angekommen, da wich das sanfte Lächeln aus seinem Gesicht und machte einem Ausdruck purer Sorge Platz.

Was sollte er nur tun, um sein Problem mit der unstillbaren Gier des Goldenen Kristalls aus der Welt zu schaffen?

Er wusste nicht, ob ihm seine Tante sein Handeln je wieder zu verzeihen vermochte. Er konnte sich nur gut vorstellen, dass sie die Welt nicht mehr verstand. Was mochte sie wohl von ihm denken? Sie hatte immerhin keine Ahnung. Nicht vom Goldenen Kristall, nicht von den Monstern und Dämonen, nicht von den Sailorkriegern und nicht von dem Schattenwesen. Das alles hatte mit einander zu tun. Auch, wenn Mamoru noch nicht verstand, wie. Doch das war im Augenblick zweitrangig.

Wichtig war nur, dass er Tante Kioku irgendwie davon überzeugte, dass er nicht bösartig war oder ihr hatte Schaden zufügen wollen. Nur wie sollte er das anstellen?

Doch so sehr er sich das Gehirn zermarterte, ihm kam einfach keine Idee.

Er fuhr auf den Hof der SilverStar-Ranch ein und das Erste, was ihm auffiel, waren die Fenster des unteren Stockwerkes, die zum Wohnzimmer gehörten. Sie waren noch immer voll erleuchtet. Mamoru fragte sich, ob sie womöglich inzwischen Onkel Seigi angerufen und sich bei ihm ausgesprochen hatte. Er parkte das Auto in der Garage, überquerte den Hof, schlich sich an eines der Fenster heran und riskierte einen Blick hindurch.

Kioku hockte eingesunken auf einem Sessel und vergrub das Gesicht in ihren Händen. So, als habe sie die ganze Zeit über ununterbrochen geweint. Mamoru fühlte sich richtiggehend schäbig, dass er weggelaufen war und sich mit anderen Dingen ablenken wollte, anstatt hier zu bleiben und die Sache wie ein Mann zu klären. Doch dann kam ihm wieder in den Sinn, mit welcher Wut und schier nackter Hysterie sie ihn aus ihrer Wohnung gejagt hatte. Nein, er hätte nicht bleiben können. Es hätte nichts gegeben, das er für sie hätte tun können. Und auch jetzt konnte er nichts tun. Seine Tante brauchte einfach Zeit für sich, um die Geschehnisse zu verdauen. Er konnte höchstens in ein paar Stunden, nach etwas Schlaf und viel Zeit zum Nachdenken, wieder zu ihr gehen und dann versuchen, ein klärendes Gespräch in Gang zu bringen. Das war seine einzig verbliebene Hoffnung.

Er schlich sich in seine Wohnung und legte sich schlafen. Was ihm allerdings nicht sonderlich leicht fiel. Er drehte sich lange hin und her und konnte kein Auge zu machen, da seine Gedanken sich wieder und wieder abwechselnd um Elly und um seine Tante Kioku drehten. Aber irgendwann fand er doch noch seinen Schlaf.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von: abgemeldet
2008-11-04T07:42:40+00:00 04.11.2008 08:42
Jetzt hab ich doch tatsächlich nur noch ein kapitel zum lesen... was mach ich dann nur ab morgen... *verzweifelt ist*
was hat mamo da nur angestellt? ich bezweifel ja irgendwie, dass seine tante ihm das verzeihen wird... ist das dann sein beweggrund, wieder nach japan zurückzukehren? dabei ist er ja grad so glücklich mit elly...
aber das mit dem schattenwesen versteh ich auch schon wieder nicht... mir war dann fast so, als wäre er fiore und im nächsten moment hab ich die idee wieder abgetan! ^^ bin gespannt, was da noch rauskommt...

ich setz mich heut dann mal an das letzte kapü! *schnief*
Von: abgemeldet
2007-08-25T19:54:38+00:00 25.08.2007 21:54
Hallo finde deine FF sehr interessant, ich hoffe dass du endlich weiter schreibst. Habe es in 2 Tagen und 2 Nächten verschlungen und immer erwartet, dass endlich Sailor Moon erscheint.
Du hast ziemlich viel geschrieben und ich hoffe das du dich zusammen raspelst und weiter so treu schreibst.

Von: abgemeldet
2007-03-17T21:53:51+00:00 17.03.2007 22:53
Hi, ich habs endlich geschafft deine FF bis hierher durchzulesen! Sie ist wirklich gut und ich habe innerhalb von ein paar Tagen ganze Kapitel verschluckt.

Jetzt wollte ich Dich fragen ob du noch vor hast daran weiter zu schreiben, weil ich gesehen habe, dass du dieses Kapitel schon vor langem hochgeladen hast?

Liebe Grüße, Nimasha


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