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Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil

Das Tagebuch eines Gesuchten
von

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Vogelgesang

Der Zuchtmeister war nicht begeistert, als ich ohne Schüssel wieder kam und erklärte, die Hausmutter wolle sie bringen lassen, aber er stellte keine Fragen, sondern wies mich lediglich an, mit einem Besen den Schmutz zusammen zu kehren. Ich tat gelangweilt, was mir aufgetragen worden war und fegte im Flur mal hin und mal her, ziemlich lieblos. Und jedes Mal, wenn der Meister an mir vorbei kam, schien es, als sei ich keinen einzigen Schritt weiter. Das Wasser wurde von einem der Heimkinder gebracht, das schnell die Flucht ergriff, als der Zuchtmeister es entgegen nahm. Ich konnte es nachvollziehen. Das Jammern und Weinen der Irren hallte bis zu mir in den langen Flur und es klang so, wie man sich die Hölle vorstellte. Eher tadelnd entriss mir der Meister dann den Besen, ehe es weiter ging in den nächsten Raum. Neben dem Tollzimmer, rechts davon, war mir bereits eine weitere und sehr alte Tür aufgefallen. Dahinter lag ein zweiter Raum, aufgebaut wie der erste, jedoch war er vollkommen leer.

„Das ist das Tollzimmer der männlichen Irren.“, erklärte mir der Zuchtmeister, als wir eintraten. Erstaunt sah ich nach oben. Die Decke war eingebrochen. Schwere, hölzerne Stützbalken reichten zu uns herunter und man konnte in das darüber liegende Zimmer sehen. Holzbetten und die feuchte Decke darüber, wirbelnder Staub und Spinnenweben. „Die Decke ist herunter gekommen, da oben ist ein Teil des Kinderheimes. Wir haben Geld für die Reparatur beantragt, aber vor dem Herbst wird das wohl nichts. Deswegen sind die Tollen alle in einem Raum untergebracht, statt getrennt.“ Ich lies meinen Blick durch das Zimmer schweifen. Nun, so ganz ohne Insassen, sah es riesig aus, fast geräumig. Aber es roch sehr streng. Auf dem Boden waren verkrustete Schichten, an den Wänden große, dunkle Schimmelflecken. Ich ahnte böses, als er die Schüssel auf den Boden stellte. Dann hielt er mir ein Stück Stoff entgegen. „Na dann? Frohes Gelingen. Ich bringe dir regelmäßig neues Wasser.“

Noch nie habe ich mich so schlecht gefühlt. Als er die Tür grinsend schloss und ich allein im Zimmer stand, den provisorischen Lappen in der Hand, auf eingetrockneten Exkrementen stehend, stieg mehr als nur Übelkeit in mir auf. Ich hockte mich hin und tauchte zögernd den Lappen ins Nass hinein, dann versuchte ich meinem Auftrag zu folgen.

Ich fühlte mich gedemütigt, es war Ekel erregend. So sehr ich mich auch bemühte, den Boden nicht mit meinen Händen oder Knien zu berühren, als ich den Lappen ins Wasser tauchen und auswringen musste würgte ich. Ich wünschte mir, bei den Tollen arbeiten zu können. Alles würde ich lieber tun, als ihre Ausscheidungen weg zu wischen. Zudem waren sie so vertrocknet, es kostete immense Kraft, bis zum Boden darunter vorzudringen.

Fünf Stunden lang tat ich meine Arbeit und immer wieder kam der Meister zu mir hoch, um neues Wasser zu bringen. Er kritisierte jeden meiner Schritte. Öfters musste ich irgendwo erneut wischen, kratzen und schaben. Ich fand einen Holzsplitter, einen recht großen, mit dem ich die Ritzen der Dielen reinigen konnte aber schon nach wenigen Minuten war er völlig kaputt. Auf Anfrage nach einem Messer oder Löffel kam nur: „Wozu? Du hast doch Finger.“, und das mit einem so widerwärtigen Grinsen, dass ich mich beherrschen musste, ihn nicht lautstark zu verwünschen.

Als ich dann endlich fertig war, fiel es mir schwer aufzustehen. Ich hatte das Gefühl, mein Rücken hatte sich verzogen, wie die alte Tür im Lager und nun könne ich nie wieder gerade stehen. Zudem kam, dass ich immer noch stechende, regelmäßige Schmerzen unter der linken Brust hatte – das Geschwulst von den Brombeeren, so vermutete ich.

Irgendwann gab es das „Essenszeichen“. Die Hausmutter stand fluchend und schreiend auf dem Hof, donnerte mit einer Kelle auf einen Metallkessel ein und brüllte immer wieder: „Essen! Essen, los, Essen!“

Erst war ich unsicher, ob das für alle galt oder nur die Wachen, doch ein Blick aus dem Gitterfenster ließ mich Charles und Pitt sehen. Ich war erleichtert, mehr als das und warf den Lappen ins Wasser, dass es nur so spritzte.

Das Essen wurde auf dem Hof verteilt und jeder konnte scheinbar dorthin, wo er wollte, um es zu verspeisen. Es gab Brei mit etwas Brot, für die Wachen ein Stückchen Fleisch obendrauf. Ich nahm die Schüssel dankbar entgegen und aß noch im Stehen, ohne mir einen Platz zu suchen. Der alte Esel bekam auch eine Schüssel und lachte darüber, wie sehr ich es herunter schlang. „Pass auf, sonst verschluckst du noch deine Zunge, Kleiner.“ Doch ich hörte gar nicht zu, sondern ließ mir Nachschlag geben.

Alles in allem war meine Arbeit dort zwar dreckig und nicht gerade beneidenswert, aber es gab Essen und – wenn man sich durchsetzen konnte – einen Schlafplatz. Ohne Frage ging es mir besser, als den anderen, das musste einfach so sein. Ich konnte mich frei bewegen, den Himmel sehen, frische Luft schnappen und es gab Menschen, mit denen ich reden konnte. Die im Gefängnis waren mit großer Wahrscheinlichkeit den ganzen Tag über – und auch nachts – nur in ihrer Zelle und konnten, wenn sie Glück hatten, durch das Kellerfenster hinaus sehen. Ich stellte es mir dunkel und kalt vor, mit Ratten die an einem nagten.

Nach dem Essen ging es weiter, doch es störte mich kaum noch, dass ich alles anfassen musste. Ich beschloss einfach ein letztes Mal nach Wasser zu fragen, wenn ich fertig war und dann so zu tun, als würde ich wischen, um mich dann, wenn der Zuchtmeister gegangen war, in der Schüssel zu waschen.

Am Abend gab es erneut etwas zu essen, jedoch weitaus weniger. Man teilte lediglich die Reste des Mittags auf. Wenn man sich also den Bauch voll schlagen wollte, dann musste man das zum Mittagessen tun. Eine Regelung, an die ich mich jeden Tag halten würde, im Gegensatz zu den anderen. Es gab Tage, da aß ich zwei oder drei Portionen und mein Magen schien sich daran zu gewöhnen, denn ich ging nie hungrig zu Bett. Nach dem Essen hatte ich frei. Mein Rücken schmerzte ungemein und meine Finger waren rötlich, als würden sie sich gegen den Schmutz wehren. Der Ausschlag von den Fesseln schien schlimmer zu werden.

Charles und Pitt waren nicht da. Wo sie steckten, wusste ich nicht, aber ich nutzte es aus und legte mich ins untere Bett. Ich war so erschöpft, ich schlief sofort ein, gar nicht darüber nachdenkend, was passieren würde, wenn Charles mich dort erwischte. Es war so egal. Hauptsache war nur, dass ich schlafen konnte.

Als ich dann am Morgen erwachte, da der Zuchtmeister gegen die Tür donnerte, war ich noch immer allein. Müde rappelte ich mich hoch und sah zu, wie der Zuchtmeister eintrat. Sein Blick verriet, dass er mehr als nur mich erwartet hatte. Fragen tat er jedoch nicht nach ihnen. Stattdessen wollte er wissen:

„Wie geht es deinen Händen?“, ich war noch völlig neben mir und verwirrt sah ich ihn an, ehe ich verstand, was er wollte. Die Punkte waren noch da, aber sie waren weitaus weniger geworden. Zufrieden nickte er. „Sieht doch ganz gut aus.“

„Mein Rücken leidet mehr, als meine Hände.“, murmelte ich verschlafen.

Der Zuchtmeister lachte laut. „Sind das all deine Sorgen?“

„Es geht.“, verschlafen fuhr ich mir durchs Haar. Der Zopf an meinem Hinterkopf war aufgegangen und meine wenigen, längeren Haaren waren nun völlig Zaus. „Meine Milz schmerzt ebenso und ich denke oft an einen Freund, der unten im Kerker sitzt. In Anbetracht der Tatsache, dass ich ihn wohl nie wieder sehe, ist es schon recht entmutigend, Herr.“

Der Meister hörte mir gar nicht zu, sondern sah sich um, als würde er im Zimmer eine Spur von den beiden anderen finden. Dann brummte er leise. Scheinbar hatte er nachgedacht und seinen Gedanken nun abgeschlossen. „Wie auch immer, du Wasserfall: An die Arbeit, na los.“, er drehte um und ging hinaus. Verwirrt starrte ich den Mann an. Seit ich in diesem Armenhaus fest saß, musste ich mir ununterbrochen anhören, wie sehr ich reden würde. Dabei kam es mir gar nicht viel vor. Natürlich hatte ich im Kloster weitaus weniger gesprochen – es war ja auch ein Kloster – dennoch erschien es mir eher normal.

Schlurfend folgte ich ihm und als wir uns dem Tollzimmer näherten, stöhnte ich leise auf.

Der Zuchtmeister ignorierte es und klopfte mir auf die Schulter. „Du wirst heute etwas Einfaches machen.“

„Und was?“, ich war bemüht, meine Stimme nicht entnervt klingen zu lassen. Mein Rücken schmerzte, mein Kopf dröhnte und meine Finger waren gereizt und juckten. Ich fürchtete, mir irgendeine Krankheit geholt zu haben – abgesehen von meiner sicher bereits völlig geschwollenen Milz, wenn die denn anschwellen konnte.

Ich war ein Wrack, zumindest fühlte ich mich so. Sah er das denn nicht? Meine Motivation vom Vortag war wie weg geblasen.

„Wir müssen die Nägel der Tollen kürzen.“, erklärte er stattdessen und überreichte mir schmunzelnd eine Zange. „Wir haben viele Neue bekommen, seit O’Hagans Reisen und wir müssen ihnen die Nägel ausreißen, ehe sie uns damit die Augen auskratzen.“

„Aus…reißen?“, wiederholte ich stockend. Mit einem Mal war ich wach. „Mit…?“, zögernd nahm ich die Zange entgegen.

„Soll ich dich ins Gefängnis bringen? Ist dir das lieber?“

„N-Nein. Muss das denn sein? Können wir sie nicht einfach schneiden? Oder feilen?“

„Jede Woche aufs Neue? Sei nicht albern. Na los, bereite dich schon mal darauf vor. Ich hole Charles und Pitt. Die drücken sich wieder, die Idioten. Aber sie werden sehen, was sie davon haben.“

Er drehte ab und ging den Flur hinunter. Ich starrte ihm nach, dann schluckte ich schwer einen dicken Kloß in meinem Hals runter. Die Zange lag rostig und an manchen Stellen schwarz in meinen Händen. Mein Magen zog sich zusammen und verkrampfte schmerzhaft, als ich sie öffnete und wieder schloss. Ohne es zu merken bekreuzigte ich mich und sah zur Tür. Meinte der Zuchtmeister das ernst? Und wie aus dem Nichts kam mir das ‚Ja.’ In den Sinn. Als würden die Tollen wissen, was ihnen bevor stand, begann hinter der Tür ein lautes Wehklagen. Natürlich wurden sie nur wach durch die Sonne, aber das erleichterte mich nicht im Geringsten.

Es dauerte, bis der Zuchtmeister zurückkam. Ich versank in absurden Gedanken. In Wünschen wie jene, dass er nicht zurückkam, mich vergessen hätte oder es selber machen wollte und Ideen weg zu laufen, ganz gleich, ob man mich erschießen würde. Gleichzeitig sagte eine Stimme in mir, dass es nicht so schlimm war, wie ich es mir ausmalte. Es ging schließlich nur um Tolle, nicht um Menschen. Und Kais Hinterkopf war mit Sicherheit ein viel schlimmerer Anblick gewesen. Ich redete mir diese unbarmherzige Vorgehensweise sogar so stark zu Recht, dass ich begann es zu rechtfertigen. Diese Irren würden mich nur angreifen, sie hatten das verdient. Der Zuchtmeister hatte das sicher nicht umsonst gesagt und wenn sie wirklich der Meinung waren, andere verletzen zu dürfen, dann war diese Strafe durchaus gerechtfertigt. Ja, sie sollten sogar dankbar sein, dass wir sie vor ihren spitzen Fingern schützen wollten!

Nach etwa einer halben Stunde kehrte der Zuchtmeister zurück. Charles und Pitt folgten ihm, mit gesenkten Köpfen und blutigen Nasen.

Ich schwieg, aber man sah ihnen ihren Unmut an. Düstere Blicke, verhasstes Zähne Knirschen und leises, kaum verständliches Murmeln sagten mehr aus, als ein offener Fluch. Es ging mir noch schlechter, als mir klar wurde, dass sogar so ein Kaliber wie Charles sich vor dieser Arbeit drücken wollte.

Der Zuchtmeister schloss auf und die Übelkeit überwältigte uns fast. Jeder von uns dreien würgte auf, doch diesmal gab es keine Rücksicht. Man drängte uns hinein und die Tür fiel ins Schloss. „Eine Stunde!“, war die einzige Anweisung.

Also standen wir da, zu dritt, links der kleine Charles, in der Mitte ich und rechts der riesige Pitt. Pitt hielt den Riemen des Meisters in der Hand, um uns zu verteidigen, ich die Zange.

Meine Knie wurden weich, als mir klar wurde, welche Aufgabe mir erteilt worden war.

„Bastard…!“, knurrte Charles hasserfüllt. „Soll der Mistkerl den Dreck doch selber machen?!“

Die Tollen sahen uns an. Ich wusste, dass sie verrückt waren. Dennoch schien es mir, sie wussten ganz genau, was jetzt kam. Ihre Augen hafteten an uns oder starrten wirr woandershin und jene Blicke, die mich trafen, zeigten Angst oder ansteigende Panik, Hoffnungslosigkeit oder Verzweiflung. Fast, als wären sie bei Verstand... Aber das war natürlich unmöglich der Fall.

„Nun, er ist eben nicht doof.“, gab Pitt hervor und kratzte sich den blonden Kopf. „Nicht doof.“

„Nicht doof, nicht doof, darum geht es nicht!“, fuhr Charles ihn an, sofort wieder stinksauer. „Ein Idiot ist er! Lässt uns jedes Mal diese Scheiß Drecksarbeit machen!“

Ich zwang mich, die Verrückten nicht anzusehen und konzentrierte mich auf die Männer neben mir. „Charles?“, er sah mich an, als würde er mich umbringen wollen. „Charles, wollen wir nicht tauschen? Ich bin größer als du und es fällt mir leichter, die Tollen fest zu hal-…“

„Du nennst mich Zwerg?!“, schrie er wütend.

Ich hob abwehrend die Hände und wich einen Schritt zurück. Ich wollte alles, aber gewiss keine Prügelei auf einem solchen Fußboden! Zudem spürte und hörte man, dass unser Streit die Tollen nervös machte.

„Nein, nein, ich sagte nur, dass du Kleiner bist und-…“

„Du verfluchter Hosenscheißer!“, begann er zu schreien wie am Spieß. Ich nahm wahr, wie die Menschen um uns herum zusammen zuckten und sich klein machten. Als Charles vorsprang wich ich erneut zurück, ein wenig hinter Pitt und er tobte und fluchte. Pitt wusste gar nicht, wie ihm geschah. Sein Geist war scheinbar zu langsam dafür. Jedenfalls gab er beruhigende Worte von sich, die Charles nur umso mehr aufregten. Das Gute war, er hielt den Kleinen fest, so dass ich Abstand nehmen konnte. Ich wollte diese Zange nicht gebrauchen, auf keinen Fall. Aber was sollte ich tun? Charles regte sich zu schnell auf, er hörte nicht zu. Sobald das Wort ‚klein’ auch nur erwähnt wurde, reagierte er mit seinem Komplex darauf und drehte durch.

Stocken.

Mir fiel auf, was ich gedacht hatte: Das ‚Wort klein’. Und ich dachte an den Tag zuvor. An die Hausmutter, an meine Bemerkung und an Black und Vater Antonius. An die Macht, die Worte haben konnten, wenn man sie gut benutzte. Man konnte mit Worten Leute beeinflussen und manipulieren. Kämpfe konnte man kampflos gewinnen. Konnte man Menschen auch leiten?

„Charles.“, begann ich eindringlich und unheimlich demütig. „Bitte, verzeih mir, so war es nicht gemeint, so glaub mir doch!“

„So glaub mir doch?!“, schrie er und zappelte in Pitts Griff. „Dir ziehe ich die Ohren lang du verfluchter Scheißkerl! Wie war es denn dann gemeint, hä?! Hä?!“

„Es ist nur, du bist viel stärker als ich.“, ich fuhr mir durchs Haar, fast ein wenig unbeholfen und beugte mich ein winziges Stückchen. Ich folgte den Bewegungen und Gesten von Pitt. Dass ich nicht zu meiner vollen Größe vor ihm stand schien ihn zu beeinflussen, denn mit einem Ruck riss er sich los und sein Hemd zurecht, ging aber nicht auf mich los. Ein Zeichen, dass es funktionierte.

„Pass auf, was du sagst, kapiert?!“

Ich nickte demütig und entschuldigend. „Natürlich Charles, kapiert. Es tut mir leid.“

„Gib schon her!“, es machte den Zwerg aggressiv, dass ich so demütig war und das war gut. denn seine Aggressivität war anders, als sonst. Oberflächlich, autoritär und nicht aus Wut und Zorn. Er entriss mir die Zange und spuckte auf den Boden. „Waschlappen seid ihr!“, spielte er sich auf. „Alle beide!“

Ich schwieg betreten und sah zu Boden, als würde ich mich schämen. Ich gab ihm bewusst mehr Freiraum, damit er sich aufplustern konnte wie ein alter Hahn. Und er genoss es. Ohne es zu merken, hatte ich ihm meine schlechten Karten alle zugespielt. Nun musste ich nur aufpassen, dass ich entschied, wo die Grenzen waren und nicht er. Ansonsten käme ich aus dieser kriecherischen Position nicht mehr heraus und ich wollte auf keinen Fall ein zweiter Pitt werden.

Während er unbeholfen im Raum auf und ab ging und nach unserem ersten ‚Kunden’ suchte, erinnerte ich mich an die Worte des Zuchtmeisters.

„Leute wie dich, die gelehrt sind und Menschen wie Pitt, Charles oder solche Idioten ausnutzen, die mag ich noch weniger. Die find ich am schlimmsten.“

War ich so jemand? Hatte er Recht damit gehabt? Ich hatte mich unwohl gefühlt, als er das gesagt hatte, aber nicht angesprochen. Doch wenn es nichts mit mir zu tun hatte, wieso erinnerte ich mich nun daran?

Charles hatte eine geeignete Person gefunden. Ein junger Mann um die zwanzig, verdreckt und in einem langen Leinenhemd. Er wehrte sich nicht, sondern ließ sich aus dem Haufen ziehen und zu uns schieben.

„Hier, der erste.“, brummte Charles dabei.

Ich stand da und wusste weder ein noch aus, doch das musste ich nicht, denn scheinbar wussten die zwei bescheid. Pitt drückte den jungen Mann auf die Knie, dann kniete er sich hinter ihn und hakte seine Arme unter seine Achselhöhlen nach vorne, nachdem er ihm den Lederriemen in den Mund gesteckt hatte.

„Halt seinen Arm fest!“, befahl Charles mir. Ich schluckte schwer und ließ mich ebenfalls nach unten sinken. Unsicher tat ich, wie befohlen und umklammerte seinen rechten Arm. Der Junge starrte uns verängstigt an, dann die Zange. Als er begriff, was ihm blühte, war es bereits zu spät. Er zappelte und wehrte sich, doch er hatte keine Chance. Seine Schreie gingen unter, wurden zu Wimmern und dann wieder zu Schreien. Ich schloss die Augen. Meine gesamte Konzentration galt nur dem Festhalten, nur dem Arm. So ging es immer weiter. Nach dem Mann kam eine Frau, nach der Frau ein weiterer Mann und ab und an ein Kind oder eine andere Frau. Mir fiel auf, dass viele rothaarig waren, Hexen. Es waren nicht viele, die wir behandelten, aber es waren genug um mich nervlich in den Ruin zu treiben. Foltermeister mussten herzlose Wesen sein oder ein Herz aus Stein besitzen. Ich zerbrach schon daran, ihnen Nägel herauszureißen – beziehungsweise, nur dabei zu helfen. Mit Erschauern merkte ich, dass es mir von Mal zu Mal leichter fiel. Ich begann mich daran zu gewöhnen und das machte mir solche Angst, dass ich mir nur umso mehr wünschte, dass wir endlich enden konnten. Manche von ihnen sprachen, bettelten, flehten, andere gaben nur verrückte Laute von sich oder reagierten nur, wenn es gerade geschah. Es war schrecklich und wirkte so fantastisch, dass ich mich fühlte, wie in einem Albtraum.

Als die Tür aufgeschlossen wurde, ließ ich die Frau zwischen uns einfach los. Sie nutzte die Chance und schlug wild um sich, hysterisch weinend und schreiend. Pitt fiel rücklings nach hinten, sie auf ihm und ehe wir uns versahen, flüchtete sie laut wimmernde Menge zurück.

Charles verfluchte mich und schlug mich dafür, aber das war mir gleich. Der Zuchtmeister war da, es war vorbei, die Arbeit war getan.

Zitternd stand ich auf. Egal wie viel Mühe ich mir gab, ich schaffte es nicht kalt zu sein.

„Wie viele?“, fragte er nur und nahm uns die Zange und den Riemen ab.

„Zehn oder Elf.“, brummte Charles.

„Nicht viele.“, der Zuchtmeister war unzufrieden, aber mehr sagte er nicht. „Erstmal Pause, helft beim Essen.“

Charles spuckte aus, aber ich glaube, er tat nur so stark. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ihn all dies hier kalt ließ. Bei Pitt schon, er war dumm. Aber bei Charles nicht. Als ich den beiden hinaus folgen wollte, schob der Zuchtmeister mich jedoch zurück.

„Du nicht.“

„Was? Wieso nicht?“

„Du bleibst hier.“, er nickte hinter mich. „Du hast die letzte versaut. Dafür sammelst du die Nägel und Hautfetzen ein. Ich will nicht, dass hier noch mehr Ratten kommen. Und morgen früh schiebst du den Dreck zusammen, hier hat sich schon wieder viel zu viel gesammelt.“

„Was?!“, ich starrte ihn an, als wäre er verrückt geworden. „Ich soll was?!“

„Du hast es verstanden. Na los.“, ich kam mir vor, als würde ich vor Wilkinson stehen. Doch es half nichts. Ich musste tun, was er sagte und er hatte Recht: Ich hatte die letzte versaut.

Ich könnte meine Redekunst an ihm erproben, aber der Zuchtmeister war nicht der Charakter dafür. Er hörte nicht zu, er ging einfach. Bei jemandem wie ihm musste man höher stehen oder eine Basis dafür geschaffen haben und das hatte ich nicht - Noch nicht.

Als ich mich umdrehte, schloss man die Tür ab und ich war allein unter endlos vielen Augen. Sie sahen mich an, heimtückisch, ängstlich, müde, erschöpft, schmerzerfüllt, weinend, lächelnd, grinsend, wahnsinnig und fragend. Alles war vertreten und änderte sich fast sekündlich. Es herrschte Totenstille. Wie immer, wenn der Meister persönlich vorbei kam. Und nun, wo ich alleine hier war, herrschte scheinbar Verwunderung.

Doch etwas war anders, etwas war nicht still. Ich bemerkte es erst nicht und hielt es für eines dieser typischen Pfeiflieder, die man manchmal im Ohr hatte. Nur langsam dann erkannte ich eine Art Melodie, eine Stimme und ein Summen.

Jemand summte. Ich ging einen Schritt auf den blutbesprenkelten Boden zu und lauschte. Die Musik lockte mich an, wie die Musik eines Zirkus’, wenn die Kinder hinter her rannten.

Eine Frau war diejenige, die dieses Lied von sich gab. Sie saß in der hintersten Ecke, wie alle in einem Nachthemd und mit kurzem Haar, wobei ihres aber bereits wieder etwas nachgewachsen war. Es war golden, schimmerte jedoch manchmal rötlich und ließ ihre Haut unheimlich weiß strahlen. Im Licht des Fensters wirkte sie fast wie ein Engel ohne Flügel und ich war unglaublich fasziniert von ihr. Als man merkte, dass die Folter vorbei war, schenkte man mir kaum noch Beachtung. Leises Winseln begann, einige flüsterten leise mit sich selbst oder wippten auf und ab. Ich nahm es nicht wahr, ich sah nur sie an.

Wie sie da saß, die Beine angezogen, das Hemd darüber gestülpt, die Arme darum geschlungen und mit wunderschönen, strahlend grünen Augen.

Ohne es zu merken war ich immer näher gegangen und stand nun fast unmittelbar vor ihr. Erst jetzt verstummte sie und sah mich an. Ihr Blick war seltsam, weder unfreundlich, noch freundlich. Ihre Augen waren einfach nur da, ohne Ausdruck, aber zugleich nicht ausdruckslos. Einfach nicht deutbar, als würde es dafür noch kein Wort geben.

„Verzeiht, mein Prinz, ich habe die Nachtigall schon wieder zu viel gefüttert.“, flüsterte sie heiser. Ich nickte, warum auch immer. All das wirkte so unreal, als wäre ich ganz woanders. Es hatte etwas Mystisches, etwas Vertrauliches und zugleich Fremdes. „Das macht nichts.“ Ich spürte, dass da etwas war, dass sie anders war. Etwas zog mich an, aber ich verstand nicht, was. Als sie antwortete strich sie über ihre Knie, die unter ihrem Nachthemd waren. Die Frau hatte schlanke Finger, wenngleich auch verunstaltete und sie verrieten mir, dass sie unheimlich jung war. Jünger, als ihr gegerbtes Gesicht voller Schmutz, blauer Flecken und verkrustetem Blut es zeigen mochte.

„Das ist gut. Denn wenn man Küken zu viel füttert, sterben sie irgendwann.“

Ich stellte den Kopf schief, als könnte ich sie dann besser verstehen. Immernoch musterte ich sie und versuchte mir vorzustellen, wie sie wohl ohne all den Dreck aussehen mochte.

„Mein Prinz.“, die Frau lächelte, fast, als hätte jemand einen Witz gemacht. „Küken wissen nicht, wann sie satt sind. Das müssen die Eltern für sie entscheiden. Deswegen. Ach, mein Prinz, mein Prinz…“, sie seufzte. Einige Sekunden sagte sie nichts mehr und ich dachte, sie wäre in Gedanken woanders, doch dann schmunzelte sie nur erneut: „Bei Kuckuckskindern weiß man das nicht so recht. Oder, mein Prinz? Also, wer die Eltern sind?“

„Doch.“; grinste ich. „Man weiß doch, dass es ein Kuckuckskind ist, also müssen Vater und Mutter Kuckucks sein. Oder heißt es Kukucke?“

Nun lachte sie. Es klang wie eine Glocke, nur leiser und sanfter. In einem solchen Raum zu lachen erschien unheimlich verquer, so dass ich grinsen musste, obwohl ich es eigentlich fast schon wieder traurig fand. „Recht hat er, das hat er wohl.“

„Sullivan?!“, unterbrach uns eine Stimme. Ich zuckte zusammen, ebenso wie sie. Aber anders, als die Fremde, machte ich mich nicht klein und schloss meine Ohren, sondern drehte mich nur herum.

„Ja, Herr?“

Der Zuchtmeister war finster, fast wütend. „Komm raus, sofort! Habe ich dir nicht gesagt halte dich fern von ihr?! Und deine Arbeit?! Ignorierst du mich, du vermaledeiter Hund?!“

„Nein, ich-…“

„Raus, sage ich! Oder soll ich abschließen?! Ich sollte dich hier verrecken lassen, du verfluchter-...!“

Als ich den Raum verließ und er wütend die Tür zu knallte, hörte ich, wie das Schloss knackte. Erst ein Mal, dann zwei Mal, dann ein drittes Mal. Er schob mich mürrisch den Gang entlang, sehr grob und schmerzhaft. Hinter uns erklangen Wehklagen und Jammern, wie zuvor.

Das und eine wunderschöne, gesummte Melodie…



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Momachita
2013-03-22T10:57:13+00:00 22.03.2013 11:57
Ausreißen.
Alles in mir hat sich zusammengezogen, sag ich dir, alles, als ich das gelesen habe.
Mir geht sowas ja immer durch Mark und Bein... wenn ich sowas nur höre oder lese, hab ich immer das Gefühl, dass mir das gleich auch passiert.
Für 'nen kurzen Moment hab ich gedacht "Nee, du liest nicht weiter..."

Ich bin dir sehr dankbar, dass du das nicht haarklein beschrieben hast. Die blutigen Hautfetzen und Zehennägel, die Son eigentlich noch wegräumen sollte, haben mir dann aber auch echt gereicht.

Diese Frau... ich weiß nicht, was ich von der Stelle mit ihr halten soll. Sie wirkt so unwirklich (sowohl die Frau, als auch die gesamte Szene mit ihr). ein bisschen zu Hollywood-Klischeehaft...
Wer ist sie? Hmm... das gibt mir echt zu denken.
Und warum so eine Person in die Geschichte einbauen... Vor allem noch, an so einem Ort.
Das erste mal, dass ich mich so richtig wundere über die Entwicklung der Geschichte. Ob das nun ein gutes oder ein schlechtes Wundern ist, werd ich noch sehen, wenn ich weitergelesen habe.


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