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Die Legende vom Avatar

von

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Es war bereits spät geworden, als sich Kenai endlich dazu aufraffen konnte nach Hause zu gehen. Er fühlte sich noch immer ein wenig benebelt und Nukas Worte wollten ihm nicht mehr aus dem Sinn. Er war verwirrt. Die Nachricht, dass seine Mutter und viele andere auch bei einem Überfall ums Leben gekommen waren, bedrückte ihn, doch es wog nicht so schwer wie die Bilder neuer Welten, die ihn erfüllten. Sein Vater hatte ihn nie belogen. Er hatte ihm nur gesagt, dass seine Mutter bei seiner Geburt gestorben war und nach dem, was er nun wusste, stimmte das auch. Nur die Umstände hatte man ihm verschwiegen. Konnte er seinem Vater etwa deswegen böse sein? Nein, irgendwie nicht. Harun war ein wundervoller Vater. Er konnte ihm einfach nichts vorwerfen und er wollte es auch nicht, obwohl er bestimmt Gründe dafür finden konnte wenn er nur wollte.

So tief in Gedanken versunken, wie Kenai durch die eisigen Straßen seines Dorfes schlich, bemerkte er nicht was um ihn herum vor sich ging. Nichts war so wie es hätte sein sollen. Die Sonne verschwand langsam am Horizont und flutete das Eis in goldenes Licht. Kinder hätten zu dieser Zeit auf der Straße spielen sollen, doch von ihnen war nichts zu sehen. Aufgeregte Erwachsene hatten sich zu Minigruppen zusammengerottet und diskutierten hitzig miteinander, anstatt, wie üblich, gemeinsam auf dem Dorfplatz zu sitzen und den Tag mit Geschichten und Musik ausklingen zu lassen. Das einzige Gesprächsthema schien Nuka zu sein.

Plötzlich wurde Kenai von einem harten Wasserstrahl zu Boden geschleudert, welches sofort zu Eis gefror. „Hey!“

„Hab ich dich!“, erklang eine Stimme ganz in seiner Nähe triumphierend. Eine Mädchen beugte sich über ihn. Ihre wasserblauen Augen waren zu vorwurfsvollen Schlitzen verengt, während sie streng ihre Hände in die Hüften stemmte. Ihr dunkelbraunes Haar wehte im strammen Wind, der von der Eiswüste herüberwehte.

„Kaija!“, stieß Kenai überrascht hervor. Er konzentrierte sich, sammelte seine Kräfte und im nächsten Moment schmolz das Eis zu Wasser. Sofort war er wieder auf den Beinen. „Was sollte das?“

„Weißt du, dass ich dich schon seit Stunden suche? Dich und Atka? Meister Kohei sucht euch schon den ganzen Tag. Ihr seid nicht zum Training erschienen.“

„Oh.“ Das hatte Kenai vollkommen vergessen. Meister Kohei war ein älterer Mann mit schneeweißem Haar, schneeweißem Bart, tiefen Falten im Gesicht, einem Blick, bei dem man sich ständig fragte was man nun schon wieder angestellt hatte und einem ständigem Geruch nach faulem Fisch, den er einfach nicht mehr los wurde. Er war ein versehentliches Opfer eines heimtückischen Anschlages geworden, wie er selbst behauptete. In Wirklichkeit war er einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Kenai und die alte Granni hatten nicht wissen können, dass er gerade unter dem Fenster gestanden hatte, als sie gleich mehrere Körbe fauliger Fischreste entsorgt hatten. Wirklich nicht. Seit dem Tag roch der Wasserbändiger nicht nur ziemlich streng, er hatte auch noch die dazu passende Laune, die er gerne an seinem Lieblingsschüler ausließ. „Das ist schlecht.“

Kaija grinste hämisch. „Oh ja, das ist es. Ihr seid so was von erledigt. Ich habe ihn noch nie so übellaunig gesehen. Wirklich. Wenn er dich findet, bist du so gut wie tot.“ Mitleidig legte sie ihm einen Arm um die Schulter. „Deswegen bin ich ja hier. Ich wollte dich was etwas fragen … Kann ich deine Flöte und deine Schildkröte haben, wenn es hart auf hart kommt? Bitte!“ Flehend sah sie ihn an. Die Augen groß und rund, mit schimmernden Tränen, so herzzerreißend wie sonst der süßeste Blick von Babyrobben. Kenai schnürte es die Kehle zu. Ihm wurde warm. Seine Wangen brannten, während er in diese flehenden Augen blickte, so tief, so schön … Sofort stieß er sie von sich. „Auf gar keinen Fall“, krächzte er mit heiserer Stimme.

„Ach komm schon. Du kannst dir doch jeder Zeit eine neue schnitzen!“, protestierte Kaija. „Was ist denn schon groß dabei? Komm schon. Bitte! Zumindest die Flöte.“

„Auf gar keinen Fall!“ Er liebte seine Flöte! Es war der erste Gegenstand, den er je geschnitzt hatte und der auch funktionierte! Und die kleine Tonschildkröte würde er niemals hergeben. Als Kind war sie sein Lieblingsspielzeug gewesen und obwohl er längst aus dem Alter dafür raus war, so hing doch immer noch sein ganzes Herzblut an ihr. Seine Mutter hatte sie für ihn anfertigen lassen, kurz bevor er geboren worden war und sein Vater hatte sie liebevoll bemalt. „Niemals!“

Etwas verblüfft sah Kaija ihn an. „Was ist denn los mit dir?“ Solch ein Ausbruch von Kenai war höchst ungewöhnlich. „Ich habe doch nur einen Scherz gemacht. Kein Grund, sich so aufzuregen. Du bist ja heute genauso überspannt wie die anderen.“

Kenai nuschelte ein halbherziges „Entschuldigung“. Er wollte gehen, doch bereits nach zwei Schritten blieb er stehen. Das goldene Sonnenlicht war verschwunden, nur noch ein kleiner, goldener Schimmer am Ende des Meeres kündete vom Ende des Tages. Die ersten Sterne funkelten am dunklen Horizont. War es dort draußen, an den Orten, von denen ihm Nuka erzählt hatte, auch später Abend? Oder ging dort die Sonne jetzt erst auf, während sie bei ihnen unterging? Irgendwohin musste die Sonne ja verschwinden. „Kaija?“, fragte er nachdenklich, ohne sich jedoch zu ihr umzudrehen. „Hast du dich je gefragt, was dort draußen ist? Hinter dem Meer?“

Skeptisch hob Kaija eine Augenbraue. „Bist du sicher, dass es dir gut geht? Du benimmst dich irgendwie merkwürdig. Aber bitte. Dort draußen sieht es bestimmt so aus wie hier. Was sollte dort denn schon großartig anders sein?“ Etwas besorgt trat sie neben ihn. Sie standen auf einer Brücke, nicht allzu weit über dem Meeresspiegel, von wo aus man einen wunderschönen Blick auf den Ozean hatte. „Bis heute dachte ich, dass dort draußen nichts ist, nur das weite Meer“, gestand sie ihm, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten. „Bis heute hat mich das nicht großartig interessiert, wenn ich ehrlich bin.“

„Mich auch nicht.“ Keiner der Kinder hatte je einen Grund gehabt anders zu denken. Natürlich hatten viele wissen wollen, wie es hinter dem Horizont aussehen würde, doch für jeden von ihnen hatte es in ihrer Vorstellung dort so ausgesehen wie der Ort, an dem sie aufgewachsen waren. Und warum auch nicht? Sie kannten ja nichts anderes. Doch das hatte sich geändert. Wenn auch nur die Hälfte von dem stimmte, was Nuka ihm erzählte hatte, gab es dort draußen kein Eis, sondern Erde, Bäume und echte Wunder. Brennende Erde, wachsende Bäume, Menschen, die fliegen konnten! „Ich würde es gerne sehen“, flüsterte er so leise, dass nur er es hören konnte.

Als er endlich nach Hause kam, wartete sein Vater bereits auf ihn. „Kenai! Na endlich! Warum kommst du erst so spät?“ Ein Blick auf seinen Sohn genügte, um bei ihm sämtliche Alarmglocken läuten zu lassen. Harun stand auf. „Was ist los, Kenai?“ Er seufzte resigniert und beantwortete die Frage gleich selbst. „Du hast die Geschichte über Nuka gehört, oder?“

„Ja, habe ich. Ich habe auch mit ihm gesprochen.“

„Oh … Nun, das war nicht das, was ich wollte.“ Die Situation war ihm sichtlich unangenehm, doch Kenai lächelte.

„Keine Sorge, Vater. Ich bin nicht böse. Und Nuka ist es auch nicht. Er ist nur ein wenig enttäuscht, sonst nichts. Er will noch vor Morgengrauen abreisen.“

„Gut! Das … das ist gut.“ Unschlüssig beobachtete Harun, wie Kenai sein dickes Fell auszog, es achtlos in eine Ecke warf und er sich an den Tisch setzte, wo bereits eine saftige Fleischsuppe auf ihn wartete. „Kenai …“

„Hast du keinen Hunger?“, kam ihm der Junge zuvor, der fragend zu ihm aufsah.

Harun sah ihn an, dann lächelte er und setzte sich ihm gegenüber. „Natürlich habe ich das! Ich bin schon halb verhungert!“

„Wettessen?“

„Wettessen!“ Und sofort schlugen sie sich die Mägen voll. Sie sprachen kein Wort mehr über das, was an diesem Tag geschehen war. Erst als sich Kenai in seine warmen Felle gekuschelt hatte und sein Vater sich ebenfalls zu Bett begeben wollte, wurde das Thema noch einmal aufgegriffen.

„Kenai?“, fragte Harun in die Dunkelheit hinein. „Bist du noch wach?“

„Ja“, kam eine gegähnte Antwort.

„Wenn du über das reden willst, was heute passiert ist … kannst du jeder Zeit zu mir kommen.“

„Ich weiß. Keine Sorge. Mir geht es gut.“ Mit diesen Worten zog Kenai sein Fell über den Kopf, doch dann, nach kurzem Zögern, schlug er es zur Seite und richtete sich auf. „Nein, halt … Vielleicht doch.“ Er zögerte, nicht wissend wie er das, was er sagen wollte, beschreiben sollte. Schließlich tippte er sich mit den Fingern auf die Brust. „Kennst du … Kennst du das Gefühl, wenn es hier zieht? Genau hier? Als … Ich weiß nicht … Als würde dich irgendetwas rufen. Du versuchst es zu ignorieren, doch je mehr du es versuchst, desto stärker wird es. Als … als wärst du angeleint und jemand zieht an deiner Leine, immer stärker und stärker, bis aus dem Ziehen ein reißen wird. Kennst du das?“ Hoffnungsvoll sah er seinen Vater an, wartete auf eine Antwort, doch Harun schwieg. Sein besorgter, und doch nachdenklicher Blick ruhte auf seinem Sohn, so als würde er nicht wissen, wie er darauf antworten sollte. Schließlich schüttelte er den Kopf.

„Nein. Das Gefühl kenne ich nicht.“

„Oh … Na ja … Wahrscheinlich ist es nur Einbildung.“ Damit rollte sich Kenai zusammen, zog das Fell wieder über seinen Kopf und tat, als würde er schlafen. Er konnte hören, wie sich sein Vater irgendwann auch zur Ruhe legte, doch es schien endlos lange zu dauern, bis er endlich leise zu schnarchen begann. Vorsichtig zog Kenai sein Fell vom Kopf. Es war dunkel. Nur schwaches Mondlicht, welches durch die wenigen Fenster fiel, erhellte die Hütte. Draußen war es ruhig. Nichts regte sich. Kenai setzte sich auf, steckte die Hand unter sein Kissen und zog eine kleine Schildkröte hervor. Einen Moment lang betrachtete er sie. Sein Vater hatte ihm gesagt, dass das eine Schildkröte war, doch er hatte noch nie eine lebende gesehen. Ob es sie auch dort draußen gab? Zusammen mit den fliegenden Menschen? Seufzend ließ sich Kenai rücklings wieder auf sein Lager fallen. Die Schildkröte fest an seine Brust gepresst, rollte er sich zur Seite und betrachtete die schemenhaften Umrisse seines Vaters, der ihm den Rücken zugewandt hatte. Eine Weile sah er ihn einfach nur an, dann wurden ihm die Augen schwer. Er rollte sich noch auf den Rücken, dann war er eingeschlafen.
 

Er stand alleine in der Oase der Geister. Es stürmte. Wind zerrte an ihm, riss an seinen Kleidern, an seinen Haaren, versuchte ihn hinfort zuwehen, doch er stand einfach nur da, regungslos wie ein Fels und starrte in den Teich der Geister, wo das Wasser sich nicht rührte. Nur die Karpfen bewegten sich. Unaufhörlich zogen sie ihre Kreise, schienen ihn mit ihren sanften Bewegungen zu hypnotisieren. Doch plötzlich wandten sie sich ihm zu, blickten zu ihm auf, als würden sie etwas von ihm erwarten. Er wollte etwas sagen, doch er konnte sich nicht rühren. Ein seltsamer Klang erfüllte die Luft, ein immer wieder kehrender Chor, der ihn bis in sein Innrestes erschütterte.

„Na Mo A Mi Tuo Fo Shin Di, Na Mo A Mi Tuo Fo Shin Di.“

Die Geister sahen ihn an, sahen durch ihn hindurch, sahen ihm direkt in seine Seele. Ihre Augen leuchteten. Plötzlich brach Finsternis über ihn herein. Er stürzte, Wind fegte an ihm vorbei, wirbelte ihn unkontrolliert herum, bis vor ihm Sterne explodierten.

„Na Mo A Mi Tuo Fo Shin Di, Na Mo A Mi Tuo Fo Shin Di.“

Hunderte, Tausende, Millionen von Sternen explodierten um ihn herum, Funken sprühten, prasselten in aller Pracht auf ihn nieder, schienen ihn zu umhüllen, in ihn einzudringen, ihn zu wärmen. Sie fingen ihn auf, hinderten ihn daran in der endlosen Finsternis zu verschwinden. Unter seinen Füßen leuchtete es. Ein schmaler, silberner Pfad schlängelte sich durch die Schwärze und die explodierenden Sterne. Er wollte ihm folgen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht.

„Na Mo A Mi Tuo Fo Shin Di, Na Mo A Mi Tuo Fo Shin Di.“

Der Pfad verschwand. Die Sterne erloschen. Der Chor verstummte. Er war allein. Vollkommen allein. Doch dann, plötzlich, eine Stimme, so zart, so zärtlich, so voller Liebe, dass sich seine Starre endlich löste.

„Kenai.“

Er drehte sich um. Irgendwo in weiter Ferne funkelte ein Licht, so hell und klar, dass es in seinen Augen schmerzte, doch er war unfähig seinen Blick zu senken, denn direkt vor ihm, in goldenes Licht getaucht, stand eine Frau mit wehendem, schwarzen Haar. Mit Augen, so blau wie der Ozan und mit einem Lächeln, welches gütiger nicht sein konnte. Er hatte diese Frau noch nie gesehen, doch sein Herz wusste wer sie war. „M … Mutter?“

Ihr lächeln wurde breiter, als sie ihre Arme ausbreitete um ihn willkommen zu heißen, doch dann ließ sie sie wieder sinken. Ihr lächeln wandelte sich, wurde traurig. „Du musst gehen, Kenai.“

„Wohin gehen?“

Sie hob ihren Arm und deutete auf etwas hinter seinem Rücken. Er drehte sich um und sein Blick begegnete wieder dem Pfad, der sich ihm offenbarte.

„Na Mo A Mi Tuo Fo Shin Di, Na Mo A Mi Tuo Fo Shin Di.“

„Geh, Kenai. Du musst gehen. Geh!“

Er zögerte. Er wollte nicht gehen, nicht jetzt, nicht, wo er zum ersten Mal seine Mutter sah, doch etwas in ihm zerrte an ihm mit solch einer Kraft, dass er sich der Aufforderung nicht wiedersetzen konnte. Erst stolperte er, doch mit jedem Schritt wurden seine Beine sicherer, bis er schließlich rannte, die Stimme seiner Mutter in den Ohren klingend. „Geh! Du musst gehen. Geh!“ Plötzlich eine Wand, so unmittelbar vor ihm, dass er nicht mehr bremsen konnte. Mit voller Wucht prallte er dagegen, doch anstatt zurückzufallen, explodierte sie in tausende Bilder vor seinem Blick, rasten an ihm vorbei, schienen ihn in ihrer Wucht erschlagen zu wollen.

„Na Mo A Mi Tuo Fo Shin Di, Na Mo A Mi Tuo Fo Shin Di.“

Er sah Orte, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Er sah Wälder. Bäume, soweit das Auge reichte, in strahlenden Farben, doch plötzlich, ohne Vorwarnung, starben sie vor seinem Blick. Im hellen Licht der Sonne glitzerten Flüsse und Seen, so unterschiedlich in ihrer Form und doch alle gleich. Kinder tummelten sich an ihren Ufern, spielten miteinander oder planschten im kühlen Nass, doch dann versickerten sie plötzlich, vertrockneten, bis nichts mehr war außer trockenem Schlamm. In einer Höhle brachte eine Wolfsbärin ihre Jungen zur Welt. In Sekunden sah er sie erwachsen werden. Er sah wie sie spielten, wie sie lernten, wie sie ihrem Leben mit Freude begegneten, doch mit einem Mal gab es kein Wasser mehr, keine Nahrung. Sie verhungerten, verdursteten, einer nach dem anderen, bis niemand mehr von ihnen übrig war. Überall brannte es. Asche regnete auf die graue Welt hinab und verpestete die Luft, die sich dagegen aufzulehnen versuchte und in gewaltigen Stürmen die Erde verwüstete, die unter markerschütterndem Donnern unter der Welt aufbrach und alles unter sich begrub, während gigantische Fluten alles Leben mit sich rissen. Er sah Menschen. Hunderte, Tausende, sie schrien und wandten sich, rissen an ihren Kleidern, zerfetzten sich ihre eigene Haut, vollkommen dem Wahnsinn und der Verzweiflung verfallen.

Er wollte das nicht sehen, doch etwas in ihm zwang ihn dazu sich nicht von ihrem Anblick abzuwenden. Ihm würde übel. Alles drehte sich um ihn, doch egal wie sehr er es auch wollte, die Bilderflut ebbte nicht ab. Er sah die Schönheit, die Schönheit einer Welt die er nicht kannte, doch gleichzeitig zeigte man ihm auch all ihre Grausamkeit, all ihr leid. Er wollte nicht gehen.

„Na Mo A Mi Tuo Fo Shin Di, Na Mo A Mi Tuo Fo Shin Di.“

„Habe keine Angst, Kenai“, erklang die Stimme seiner Mutter. Sie war ganz nah. Er konnte ihre Gegenwart spüren, er konnte fühlen, wie sie ihn von hinten umarmte, wie sie ihn schützend in ihre Arme schloss, doch er konnte sie nicht sehen. „Du brauchst dich nicht zu fürchten.“

„Was sind das für Bilder?“

„Das wirst du nur wissen, wenn du gehst.“

„Aber wenn ich das nicht will?“

„Du willst gehen … und du wirst gehen. Schau hin, Kenai. Schau genau hin und fürchte dich nicht.“

Kenai fürchtete sich, doch er wehrte sich nicht. Immer mehr Bilder fluteten an ihm vorbei, erst schön, dann schrecklich, doch etwas änderte sich. Zuerst wusste er nicht was es war, doch dann, ganz langsam, bemerkte er es. Weit vor ihm, so weit, dass er es kaum erkennen konnte, stand ein Bild. Es bewegte sich nicht. Weder strömte es auf ihn zu, noch wurde es von Gewalt der anderen Bilder verschluckt. Jetzt, wo er es bemerkt hatte, war es ihm unmöglich etwas anderes wahrzunehmen außer diesem einzigen Bild. Er vergaß alles um sich herum, selbst die Gestalt seiner Mutter, die ihre Umarmung vorsichtig löste. Langsam näherte er sich dem Bild, das mit jedem Schritt zu wachsen schien, so lange, bis er direkt vor ihm stand. Helles Licht überflutete ihn, zwang ihn in die Knie zu gehen, doch er wandte seinen Blick nicht ab. Selbst wenn er gewollt hätte, so hätte er es nicht gekonnt. Etwas zwang ihn dazu es anzustarren, obwohl sein Verstand nicht begreifen konnte was es sah. Er konnte nicht mehr atmen. Etwas schnürte ihm die Kehle zu, doch er fürchtete sich nicht. Er starrte es an, bewegungslos, hilflos, allein und doch nicht allein, und doch nicht hilflos. Tränen schimmerten in seinen Augen, seine Hände zitterten. Er kniete da, vor diesen einem Bild, welches sich in seine Seele brannte, kniete nieder vor dem, was sich ihm offenbarte.

„Du musst gehen, Kenai“, flüsterte eine Stimme in sein Ohr. „Du musst.“

Ja, dachte er, unfähig zu sprechen, ich muss gehen.

„Na Mo A Mi Tuo Fo Shin Di, Na Mo A Mi Tuo Fo Shin Di.“

Ich muss gehen.
 

Keuchend schlug Kenai seine Augen auf. Irritiert lag er in seinem Bett, nicht wissend, wo er sich befand. Er hatte etwas geträumt, etwas wichtiges, doch umso mehr er versuchte sich daran zu erinnern, desto schneller zerrannen die Bilder wie Wasser in seinem Geist, bis sie ihm vollständig entronnen waren. Eines blieb jedoch, so bohrend, so drängend, dass er unfähig war es zu ignorieren. Ohne zu zögern erhob er sich von seinem Platz, streckte sich und suchte in der Dunkelheit der Nacht seinen Kleidern. Leise, fast geräuschlos, zog er sich an. Er fühlte sich seltsam. Sein Körper reagierte fast von alleine, als wäre er von seinem Geist getrennt. Etwas rief nach ihm. Er wusste nicht was es war, doch er wusste, dass er dem Ruf folgen musste. Er konnte nicht anders. Sein Körper bewegte sich fast vollkommen alleine, als würde er nicht mehr zu ihm gehören, während sein Geist daneben stand und ihn beobachtete. Kaum hatte er sich angezogen, packte er einige Sachen zusammen von denen er glaubte, sie eines Tages gebrauchen könnte. Noch immer schweigend schnürte er einen Beutel zusammen, warf ihn über seinen Rücken und steckte ein Messer in seinen Gürtel. Er war fertig. Doch so sehr alles in ihm danach drängte, er konnte noch nicht gehen. Sein Blick ruhte auf seinem Vater, der auf dem Rücken lag und leise schnarchte. Ihm wurde das Herz schwer. Er wollte ihn wecken, mit ihm reden, ihm erklären warum er gehen musste, obwohl er selbst nicht genau wusste weshalb, doch er konnte es nicht. Ihm fehlte die Kraft dazu. Er fühlte sich seltsam, als ob sich irgendetwas verändert hätte, ohne es jedoch genau benennen zu können. Aber er hatte es ihm doch gesagt, oder? Er hatte ihm doch gesagt, dass es irgendetwas gab, das nach ihm rief und wenn man gerufen wurde, so musste man diesem Ruf auch folgen. Dennoch fühlte es sich nicht richtig an. „Es tut mir leid, Papa“, sagte er schließlich in die Dunkelheit hinein, „aber ich muss gehen. Ich kann nicht hier bleiben. Aber keine Sorge. Ich komme wieder. Versprochen. Irgendetwas ist da draußen was nach mir ruft und ich werde herausfinden, was es ist. Mach dir keine Sorgen um mich. Ich komme wieder.“ Lächelnd wandte er sich ab, doch noch bevor er den Durchgang erreicht hatte, blieb er stehen. Noch einmal kehrte er um, holte seine Schildkröte, die er zusammen mit seiner Flöte eingepackt hatte, aus seinem Beutel hervor und legte sie feinsäuberlich auf seine zusammengelegten Felle. Wenn sein Vater am Morgen aufwachen würde, würde er einen gewaltigen Schrecken bekommen, das wusste Kenai, doch er hoffte er würde die zurückgelassene Schildkröte als das erkennen, was sie von nun an symbolisieren sollte. Harun wusste, wie sehr er an dieser kleinen Figur hing. Er würde eines Tages zurückkommen und sie holen. „Pass gut auf sie auf, ja? Wenn du mich vermisst, nimm sie in die Hand und denke an mich. Dafür habe ich dein bestes Messer mitgenommen. Sei mir deswegen nicht böse. Ich bringe es dir ja zurück. Versprochen“ Harun murmelte etwas im Schlaf und rollte sich auf die Seite, dem Gesicht dem leeren Platz an seiner Seite zugewandt. Kenai lächelte zum Abschied. „Auf Wiedersehen, Vater.“ Mit diesen Worten verließ er die Hütte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Kupoviech
2012-03-17T08:15:46+00:00 17.03.2012 09:15
>>„Deswegen bin ich ja hier. Ich wollte dich was etwas fragen … Kann ich deine Flöte und deine Schildkröte haben, wenn es hart auf hart kommt? Bitte!“<<
Ich wollte dich etwas fragen…das was ist zu viel.

>>„Auf gar keinen Fall!“ Er liebte seine Flöte! Es war der erste Gegenstand, den er je geschnitzt hatte und der auch funktionierte! Und die kleine Tonschildkröte würde er niemals hergeben. Als Kind war sie sein Lieblingsspielzeug gewesen und obwohl er längst aus dem Alter dafür raus war, so hing doch immer noch sein ganzes Herzblut an ihr. Seine Mutter hatte sie für ihn anfertigen lassen, kurz bevor er geboren worden war und sein Vater hatte sie liebevoll bemalt. „Niemals!“<<

Ich finde diese Stelle sehr schön. Es gibt dem Charakter etwas menschliches uns zeigt wie unschuldig er noch ist. Es zeigt wunderbar auf, dass er kein Kind mehr ist aber auch noch nicht erwachsen.

>>Skeptisch hob Kaija eine Augenbraue. „Bist du sicher, dass es dir gut geht? Du benimmst dich irgendwie merkwürdig. Aber bitte. Dort draußen sieht es bestimmt so aus wie hier. Was sollte dort denn schon großartig anders sein?“ Etwas besorgt trat sie neben ihn. Sie standen auf einer Brücke, nicht allzu weit über dem Meeresspiegel, von wo aus man einen wunderschönen Blick auf den Ozean hatte. „Bis heute dachte ich, dass dort draußen nichts ist, nur das weite Meer“, gestand sie ihm, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten. „Bis heute hat mich das nicht großartig interessiert, wenn ich ehrlich bin.“<<

Diese Szene erinnert mich stark an Sora, Riku und Kairi aus Kingdom Hearts wie die drei hübschen am Strand sitzen und planen in die anderen Welten zu reisen. Sehr gelungen!

>>Ohne zu zögern erhob er sich von seinem Platz, streckte sich und suchte in der Dunkelheit der Nacht seinen Kleidern.<<
Er suchte nach seinen Kleidern. Hier fehlt das nach.

Ah die letzten Sezen ist göttlich. Kenai lässt die Schildkröte zurück und gibt sie seinem Vater. Ein schönes Zeichen fürs erwachsen werden und für den Aufbruch im Leben.

Bisher hat mir dieses Kapitel am Besten gefallen. Es zeigt einmal mehr wie viel talent in dir steckt. ;)


Liebe Grüße

Kupo


Von: abgemeldet
2011-12-05T21:42:37+00:00 05.12.2011 22:42
Hallo,
ich finde es tragisch, dass du bis jetzt noch keinen Kommentar bekommen. Ich hoffe, es genügt dir, von mir zu hören, dass ich begeistert bin. ^^ Dein Schreibstil ist eigentlich über alle Zweifel erhaben, ausdrucksstark, flüssig zu lesen und immer dicht an den entsprechenden Figuren dran. Diese wiederum sind selbst in Nebenrollen gut und stimmig ausgefallen, von Kenais Großmutter mit ihrem flinken Stock bis zu dem kleinen Mädchen (ihr Name fällt mir grad nicht ein), dass für seine Spielzeuge schwärmt. Auch die Idee ist sehr gut, wenn ich auch imho den ersten Avatar für eine Erdbändigerin gehalten hätte (nur so ein Gedanke). Aber das Konzept ist dennoch gelungen, schon allein Kenai eines der späteren Avatar-Relikte zuzuweisen.

Einen kleinen Kritikpunkt hätte ich dennoch anzuführen:
Man merkt relativ spät, dass die Kapitel im Nördlichen Wasserstamm spielen - eigentlich hatte ich bis zur Erwähnung der Geisteroase im 3.Kapitel eher an ein kleines Dorf am Südlichen Wasserstamm gedacht. Diesen Sachverhalt könntest noch ein wenig früher einfügen.
Außerdem wäre gerade das letzte Kapitel mit einigen weiteren Absätzen besser zu lesen, da es doch eine große Vielzahl an Eindrücken enthält.

Mehr fällt mir leider im Moment nicht ein, aber ich freue mich darauf, die nächsten Kapitel zu lesen.

Fermin_Tenava


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