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Erinnerst du dich?

von

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Kapitel 1

Dunkelheit.

Sie umhüllte mich, sie zog mich zu sich, bis ich sowohl den Sinn für die Wirklichkeit und die Orientation als auch die Kontrolle über meine Bewegungen verlor. Genau so wie mein Sehvermögen, mein Gehör, meinen Geruchssinn … ich nahm nichts wahr. Nichts außer einem unendlichen Fall, der mich immer tiefer zog und erdrückte.

Und dann, eine Stimme.
 

-„Lovi … Lovi ...“
 

Es war so schön, diese Stimme zu hören. Ich wollte näher ran, wollte wissen wo sie herkam, ich wollte mich einfach nur an etwas klammern um hier rauszukommen.
 

-„Bitte, wach auf, Lovi …“
 

„Wer bist du? Was willst du?“, hätte ich gefragt, wenn ich sprechen könnte. Aber ich konnte nichts Anderes tun, als in dieser Leere zu treiben auf der verzweifelten Suche nach dem Ursprung dieser Stimme.
 

Nach und nach näherte ich mich meinem Ziel. Alles wurde greifbarer, stabiler und sehr viel schmerzhafter. Mein Kopf schien regelrecht zu explodieren und ein Teil meines Gesichtes war vollständig gequetscht, genauso wie meine Arme, mein Oberkörper, mein Bein … einfach alles. So viel Schmerz auf einmal zu spüren war wie Folter, aber ich musste alles Mögliche tun, um dieser Dunkelheit zu entkommen, die mich langsam verrückt machte.
 

Ich kam vorwärts, die Kopfschmerzen brachten mich um, und doch machte ich weiter, die Schmerzen so unerträglich, dass ich Lust hatte, zu schreien. Ich kam voran, immer weiter und weiter und weiter …
 

-„Lovi, Lovi, Lovi … LOVI!“, schrie ein Mann an meiner Seite auf. Ich spürte eine Hand, die meine fest drückte. Sie war eiskalt.
 

-„Das verstehe ich nicht, er war doch klinisch tot … “, sagte eine Frau. Als Nächstes merkte ich, wie Finger sich meiner Halsschlagader näherten und zudrücken. Durch sie konnte ich meinen eigenen Herzschlag spüren.
 

-„Lovi? Lovi, hörst du mich?“, fragte die erste Stimme.
 

Ich versuchte, ein Auge zu öffnen, aber das grelle Licht blendete mich. Ich stöhnte vor Schmerzen und probierte, mir die Augen mit den Händen zuzuhalten, bemerkte aber, dass meine Arme unbeweglich waren und schmerzten.
 

-„Er ist aufgewacht!“, rief der Mann, der die ganze Zeit meine Hand gehalten hatte.
 

Ich hatte mir nicht die ganze Mühe mit dem Aufwachen gemacht um dann hier wieder mit geschlossenen Augen dazuliegen und wie ein Idiot zu warten, also riss ich mich zusammen und zählte: trè, due, uno … Schlagartig öffnete ich die Augen, obwohl das Licht sie mir regelrecht verbrannte. Noch bevor ich erkennen konnte, wo ich mich überhaupt befand, nahm ich auch schon wahr, wie mich starke Arme umschlangen und erdrückten.
 

-„Was glaubst du was du da eigentlich machst?“, fragte ich und schob ihn weg. Meine Stimme war sehr rau, mein Mund trocken.
 

Der Kerl schaute mich überrascht an. Während mein Blick immer klarer wurde, sah ich, dass er hochgewachsen war, angenehme Gesichtszüge, schwarze Haare und golden schimmernde Augen von einem sehr dunklen Grün hatte. Wäre da nicht sein tränenüberströmtes Gesicht und die rotgeweinten Augen, hätte man ihn durchaus für attraktiv halten können.
 

Er lachte und wischte sich die Tränen mit seinen Hemdsärmeln weg.
 

-„Tut mir Leid, ich weiß zwar, dass du nicht gerne in der Öffentlichkeit umarmt wirst, aber ich konnte mich einfach nicht beherrschen.“
 

Er lächelte glücklich und zu meinem Erstaunen fühlte ich wie mein Magen sich zusammenzog.
 

-„Wo … Wo bin ich?“, fragte ich in dem Versuch, mich zu beruhigen.
 

-„Du bist im Krankenhaus Infanta Sofía“, erklärte mir eine Frau, die an der anderen Seite des Bettes stand, in dem ich lag. Sie war ein wenig kleiner als der Mann, hatte hüftlange schwarze Haare und blaue Augen, die mich ungläubig anstarrten. Ihre Hände waren in den Taschen ihres knielangen weißen Kittels verborgen. „Ein Auto hat dich auf der Gran Vía, der Hauptstraße, überfahren und man brachte dich hierher. Du hast viel Glück gehabt.“
 

Ich versuchte, mich aufzurichten, sah aber sofort, dass das keine gute Idee war. In meinem Kopf begann sich alles zu drehen und ich hatte den schrecklichen Drang, mich zu übergeben. Augenblicke später erfasste ich die Situation, in der ich steckte. Ich lag in einem weißen Bett, mit bandagierten Armen und einem hochgehobenen rechten Bein. Einige Verbände zerquetschten mein Gehirn und machten es mir unmöglich klar zu denken.
 

-„Lovi! Nicht bewegen ...“
 

Der Mann versuchte, mich sanft an der Schulter festzuhalten, aber ich wich ihm aus. Meine Schulter schmerzte schrecklich, doch ich wollte nicht zulassen, dass mich dieser Perversling berührte.
 

-„Fass mich nicht an!“, schrie ich mit aller Kraft und versuchte, die Situation zu verstehen. Das blaue Auto, das von links kam und der Schock, daran konnte ich mich genau erinnern, aber was war vorher? Was machte ich in der Gran Vía? Und nicht nur das, was war die Gran Vía überhaupt? Und wer waren all diese Leute? Warum machten sie sich solche Sorgen um mich?
 

Und ich? Wer, zum Teufel, war ich?
 

-„Ich bin verwirrt ...“, gab ich schließlich zu.
 

-„Das ist normal nach so einem Unfall wie diesem ...“, fing die Ärztin an, aber ich unterbrach sie.
 

-„Wirst du endlich aufhören, meine Hand zu halten?“, fragte ich den Kerl, der mich keine Sekunde lang losgelassen hatte. „Wer, zur Hölle, bist du?“
 

Er schien so erstaunt, dass er sogar von meiner Hand abließ und vom Stuhl aufstand.
 

-„Lovi? Ich bin's, Antonio!“
 

-„Antonio?“
 

-„Ja, Antonio. Antonio Fernández Carriedo.“
 

-„Wer?“, fragte ich verwirrt. Kannte ich etwa Jemanden mit diesem Namen?
 

Antonio (wenn er denn wirklich so hieß) öffnete und schloss den Mund ein paar Mal. Er war überrascht und …. erschrocken?
 

-„Lovi, mach keine Scherze.“
 

Ich blickte ihn gleichmütig an.
 

-„Lovi? Ich bin's, Antonio! Du weißt schon, Spanien, dein Boss, der, der die ganze Zeit auf dich Acht gegeben hat.“
 

Boss Spanien? Was war das denn für ein Blödsinn?
 

-„Romano! Romano! Erkennst du mich denn nicht? Erinnerst du dich nicht an mich? Und an Feliciano, an Ludwig, an Francis? Weißt du noch, wie sehr du Francis hasst? Und an Arthur, Alfred, Gilbert?“
 

-„Ich glaube, er hat Amnesie“, sagte die Ärztin und richtete ein sehr helles Licht auf meine Augen. Ich blinzelte unruhig, ich konnte meinen Blick nicht von Antonio abwenden, der immer verzweifelter wurde. Die bereits getrockneten Tränen begannen wieder zu fließen, er zitterte wie Espenlaub.
 

-„Sie gehen jetzt besser, Sie regen den Patienten zu sehr auf.“
 

-„NEIN!“
 

Antonio nahm meine Hand und begann sie zu küssen. Warum fühlte ich mich so, als würde mein Herz bei seinem Anblick auseinanderbrechen?
 

-„Erinnerst du dich wie wir uns kennengelernt haben? An die Tomaten? An die Abende unter dem Olivenbaum? Erinnerst du dich wenigstens an ...“
 

-„Sicherheitsdienst ...“
 

Wie aus dem Nichts erschienen zwei gefährlich aussehende Polizisten und zerrten Antonio aus dem Zimmer.

Ich schaute die Ärztin an, die gerade einige seltsame Papiere mit willkürlich steigenden und fallenden Linien betrachtete.
 

-„Frau Doktor? Wer ist er?“
 

-„Das weiß ich nicht, auf der Kontaktliste deines Handys stand er an erster Stelle“, erklärte sie mit ruhiger Stimme.
 

-„Verstehe ...“, sagte ich. Ich fühlte mich seltsam niedergeschlagen.
 

~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ *
 

Es war schon spät, über drei Uhr morgens. Seit Antonio mein Zimmer verlassen hatte sind schon Stunden vergangen, aber ich konnte nicht aufhören, an ihn zu denken. An seine grünen Augen, an die Verzweiflung, die von seinen Worten Besitz genommen hatte, an seine Hand auf meiner, an die Wärme seiner Umarmung …
 

Ich schüttelte den Kopf, ich war so verwirrt. Obwohl ich mich weder daran erinnern konnte wer ich war noch wo ich wohnte oder wer meine Eltern waren, konnte an nichts Anderes mehr denken als an sein trauriges Lächeln.
 

Argh! Warum war alles so schwer zu verstehen? Ich wusste nichts über mein Leben und mir wollte keiner erklären, was eigentlich los war, ich bekam nicht einmal Hilfe beim Erinnern!
 

Ich sah mir noch einmal die Gegenstände an, die mir Doktor Hernández gegeben hatte um mir das Erinnern zu erleichtern, aber nichts davon gab mir auch den kleinsten Hinweis: ein paar Kaugummis, ein Schlüsselbund, ein Handy ohne Akku und ein kleines Kästchen bedeckt mit einem glänzenden Papier. Nichts Interessantes. Ich wusste lediglich meinen Namen dank des Personalausweises in meinem Geldbeutel. Neben meinem Namen befand sich ein schreckliches Foto von mir mit einer fürchterlichen Grimasse, die wohl ein Lächeln darstellen sollte.
 

Geboren in: Bagnoli

Provinz: Neapel, Italien

Eltern: unbekannt

Adresse: Calle Arlabán, Madrid, Gebäude 5, Wohnung Nr.3

Geburtsdatum: unbekannt
 

Wieso hatte ich kein Geburtsdatum? Das hatte doch keinen Sinn, obwohl … vielleicht war ich ja Waise und deshalb wusste auch keiner den Namen meiner Eltern oder wann ich geboren war. Ein echt trauriger Gedanke .. nein, nein. Ich musste realistisch sein.
 

In meinem Geldbeutel befand sich außerdem noch eine seltsame Karte, die mich ein wenig durcheinanderbrachte. Darauf war das gleiche Foto wie auf der ersten, aber mit ganz anderen Angaben.
 

Menschlicher Name: Lovino Vargas

Kategorie: A+

Nation: Süditalien

Kontinent: Europa

Geschlecht: männlich

Entstehungsdatum: 476 nach Christus

Größe: 1,70 m

Gewicht: 63 kg

Merkmale: braune Augen, dunkles Haar

Blutgruppe: 0+

Identifikation: 4184.16
 

Und nach diesen wirklich höchst absurden Informationen kamen noch ein paar schwarze kleine Flecken, die wohl wahrscheinlich meine Fingerabdrücke waren.
 

Ich wurde immer verwirrter. Was hatte es mit all diesen merkwürdigen Angaben auf sich? Und wozu brauchte ich so eine spezielle Karte überhaupt? Darauf stand: Vereinigte Nationen. Vielleicht war ich italienischer Botschafler in Spanien oder sowas in der Art, auch wenn das nicht erklärte, wozu diese Karte da war, die einen Magnetstreifen und eine optische Ablesevorrichtung zu haben schien.
 

Jedenfalls rief es nichts in mir wach, ich konnte mich nicht einmal daran erinnern, diese Objekte jemals gesehen oder geschweige denn, sie benutzt zu haben.
 

Ich wollte mich gerade daranmachen, das glänzende Kästchen zu öffnen als ich ganz deutlich hörte wie die Tür zu meinem Zimmer sich öffnete und wieder schloss. Ich spannte mich an.
 

-„Wer ist da?“, murmelte ich Furchtlosigkeit vortäuschend. „Ich rufe … die Krankenschwestern .. und ich kann Taekwondo … du hast keine Chance gegen mich ...“ Ich wusste, ich würde anfangen, wie ein Irrer zu kreischen falls er sich mir näherte, aber so könnte ich wenigstens ein wenig Zeit gewinnen.
 

Ich fuhr erschrocken in die Höhe als ich gewahr wurde wie Jemand sich lautlos neben mich stellte. Aus den Schatten heraus erschien eine Hand, die mir den Mund zuhielt.
 

-„Psst“, wies mich Antonio an und stellte sich ins Licht damit ich ihn erkannte. „Ruhig, ich bin's.“
 

-„Ws mcht du hr, Bstard?“
 

„Was machst du hier, Bastard“, wollte ich sagen, aber Antonio drückte seine Hand noch stärker auf meinen Mund um mich zum Schweigen zu bringen. Mit der freien Hand nahm er meine Kleidung und all die Sachen, die auf meinem Bett lagen.
 

-„Komm, wir haben nicht viel Zeit“, sagte er und hob mich zu meiner Überraschung hoch. Noch immer die Hand auf meinem Mund, verließ er mit mir das Zimmer. Ich wehrte mich nach Leibeskräften, versuchte, ihn zu treten oder sogar zu verletzen,a ber die Bandagen schränkten meine Bewegungen ein und dieses Arschloch war auch noch verdammt stark.
 

Antonio stieg die Treppen so schnell hinunter als hätten seine Füße Flügel und trug mich zum Krankenhausausgang, wobei wir zu meinem Unglück Niemandem über den Weg liefen. Er öffnete eine Autotür, setzte mich in den Wagen und warf meine Sachen hinterher. Noch bevor ich dagegen protestieren konnte, schloss er die Tür wieder und rannte zur anderen um ebenfalls einzusteigen. Er startete den Motor und das Krankenhaus lag schon bald hinter uns.
 

-„Eine Entführung!“, schrie ich angsterfüllt. Ich probierte, die Tür zu öffnen und auf selbstmörderische Weise rauszuspringen, aber Antonio reagierte rasch und betätigte den automatischen Schließmechanismus.
 

-„Lass mich hier raus, Bastard!“
 

-„Heracles wartet auf uns, mach dir keine Sorgen ...“
 

-„Ich soll mir keine Sorgen machen? Du bist gerade dabei, mich zu entführen! Wer ist Heracles? Wer bist du? Was ist hier eigentlich los?“
 

Antonio seufzte mit sehr ernster Miene und trat aufs Gaspedal.
 

-„Mach die Bandagen ab.“
 

-„Was? Ich hab mehrere gebrochene Knochen, du Idiot! Morgen wollten sie mir das Bein und die Arme eingipsen und du ...“
 

-„Lovino, um Gottes Willen, bitte mach das, worum ich dich gebeten habe!“, schrie Antonio mich an, was mich verstummen ließ. Ich fixierte ihn. Er sah ernst und beunruhigt aus, außerdem hatte er kleine Fältchen um die Augenlider, die wohl aus der Besorgnis entstanden sind. Mit viel zu viel Kraft umklammerte er das Lenkrad. Keinen Augenblick lang schaute er mir ins Gesicht.
 

Mit angehaltenem Atem und starkem Herzklopfen machte ich mich daran, die Verbände, die mich wie eine Mumie aussehen ließen, nach und nach abzunehmen. Um nicht vor den sicher noch kommenden Schmerzen zu schreien, biss ich mir auf die Lippe, aber zu meiner Überraschung sah ich, dass ich meine Arme ganz normal bewegen konnte, so als wären sie nie gebrochen gewesen. Dasselbe auch mit meinem Bein.
 

-„Tut mir leid, ich wollte dir keine Angst machen“, entschuldigte sich Antonio. „Aber ich weiß wie dickköpfig du bist und dass du nicht auf Andere hörst. Ich wollte nur, dass du es selbst ausprobierst und dich davon überzeugst.“
 

-„Aber wie ist das möglich? Wie konnten sie so schnell heilen?“, fragte ich verwundert nach als ich sah, dass ich all meine Finger bewegen konnte und auch die Bewegungen meines Beins unter Kontrolle hatte.
 

-„So sind wir eben“, antwortete Antonio mit einem bezaubernden Lächeln.
 

-„Wer?“
 

-„Die Nationen“, sprach er weiter und drehte den Kopf einen Augenblick zur Seite um mir zuzuzwinkern.
 

-„Was? Wie … die Nationen? Was meinst du damit?“
 

-„Wir sind Länder, Romano“, erklärte er mir mit unendlicher Geduld. „Wir werden geboren wenn unsere Nation entsteht, sterben wenn auch sie stirbt, fühlen das, was unsere Einwohner fühlen und reden das, was unsere Einwohner reden. Wir leben wegen und für unser Land.“
 

-„Aber wie?“, fragte ich verängstigt als ich hörte was er mir da enthüllte.
 

-„Niemand weiß das mit Sicherheit. Ich weiß nur, dass wir geboren werden um auf unser Land aufzupassen, um darüber zu wachen Wir leben unter den Menschen ohne vollständig Jemand der Ihren zu sein, ohne es zuzulassen, dass sie von unserer Herkunft erfahren.“
 

Ich öffnete den Mund ein paar Mal um so etwas zu sagen wie „Was für ein Unsinn soll das denn sein?“ oder „Was, zur Hölle, hast du eigentlich geraucht, du Idiot?“ oder aber „Denkst du etwa, ich wäre so blöd und würde diesen Quatsch für bare Münze nehmen?“, aber ich hatte es immer noch vor Augen. Wie meine Hand sich perfekt bewegen ließ, obwohl ich doch mit eigenen Augen die Röntgenaufnahme gesehen hatte, auf der mindestens sechs gebrochene und fünf gesplitterte Knochen dargestellt waren.
 

-„Deshalb bist du bei diesem Unfall auch nicht gestorben“, erklärte Antonio während er in eine Ausfahrt einbog. „Weil wir nicht durch Menschenhand sondern nur durch andere Länder sterben können. Das heißt, wir sterben, wenn andere Länder sich unseres einverleiben.“
 

-„Das ist sehr schwierig zu verstehen.“
 

Von all den Informationen wurde mir schwindelig. Ich hielt mir den Kopf um wieder klar denken zu können wobei mir auffiel, dass ich immer noch einen turbanartigen Verband trug. Vorsichtig nahm ich ihn ab und achtete dabei, die Schwellung, die mir der Aufprall bestimmt beschert hatte, nicht zu streifen. Aber wie Antonio es mir erklärt hatte, befand sich auf meinem Kopf nichts außer getrocknetem Blut und kleinen Quetschungen.
 

Erschöpft seufzte ich. Da ich sowieso keine andere Erklärung für meine schnelle Heilung hatte, blieb mir nichts Anderes übrig als Antonios Worten Glauben zu schenken.

Wenigstens für den Moment.
 

-„Wo fahren wir jetzt hin?“, fragte ich.
 

-„Nach Hause, Lovino“, sagte Antonio und nahm eine Ausfahrt namens „Flughafen“. „Wir fliegen nach Neapel.“
 

~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ *
 

Jetzt war ich mir wirklich sicher, dass es sich um eine Entführung handelte. Warum sonst hätte er mich in aller Herrgottsfrühe aus dem Krankenhaus geholt ohne Jemanden auch nur ein Sterbenswörtchen zu sagen um mich dann AUSGERECHNET nach Italien bringen zu wollen? (Vergessen wir nicht, dass Italien die Wiege der Mafia ist.) Ganz sicher werden sie mir dort die Brust aufschneiden und dann all meine Organe zu einem geringen Preis verkaufen. Oder sie werden mich foltern. Oder zur Prostitution zwingen …
 

Ich war mir nur einer Sache sicher: ich musste hier raus. Ich musste entkommen bevor man mich noch umbrachte. Aber wie? Ich befand mich mitten auf der Autobahn, halb nackt und ohne einen Ort, wo ich hinkönnte. Gut, sobald wir am Flughafen parkten, könnte ich loslaufen, irgendeinen Polizisten finden und ihm das Ganze erklären. Man würde mir glauben, vermute ich mal, immerhin hatte ich immer noch das Bändchen vom Krankenhaus um mein Handgelenk und na ja, ich trug auch einen Krankenhauskittel, also würde es keinerlei Probleme geben.
 

Aber nichts kam so wie geplant. Sobald wir anhielten (meine Hand lag bereits auf dem Türgriff), sagte Antonio:
 

-„Zieh dich um.“
 

-„Was?“
 

-„Du sollst dich umziehen. Wir haben wenig Zeit, das Flugzeug startet in zwei Stunden.“
 

-„Aber soll ich mich umziehen wenn du dabei bist? Verdammter Perversling ...“
 

-„Ich schau nicht hin, versprochen. Aber mach schnell.“
 

Langsam zog ich mir meine Sachen über ohne dabei Antonio aus den Augen zu lassen, der scheinbar konzentriert seine Autoschlüssel betrachtete. Als ich mir endlich mein Hemd und den Mantel übergestreift hatte, versuchte ich, die Tür zu öffnen und hinauszustürmen, aber dieser Mistkerl Antonio hat die Autotüren noch nicht aufgeschlossen.
 

-„Wirst du sie endlich öffnen oder was?“
 

-„Ja, werde ich, nur die Ruhe.“
 

Antonio öffnete die Tür und … ich nahm ihn nicht mehr wahr. Ich war frei, frei wie ein Kolibri im Felde, frei wie ein Hirsch im Wald, frei wie ein vom Wind hochgewehtes Papier, frei und …
 

… ich hatte keine Schuhe an.
 

Noch dämlicher konnte es nicht sein! Es war Winter und ich hatte keine Schuhe! Meine Füße werden einfrieren! Ich hüpfte ein paar Mal auf und ab um wieder warm zu werden, aber es nützte nichts, es war eiskalt, ich würde alle meine Zehen verlieren! Wieviel Grad hatten wir überhaupt? Fünfzehn unter dem Gefrierpunkt? Wie konnte es nur so kalt sein?
 

-„Suchst du etwa die hier?“, ertönte eine Stimme hinter meinem Rücken, eine, die ich leider zu gut kannte. Ich drehte mich um und begegnete Antonios dämlichem Grinsen. Er hielt meine Schuhe mit einer Hand hoch. „Ich denke, die könntest du für deine Flucht sehr gut brauchen.“
 

-„Gib her!“ Ich stürzte mich auf ihn, aber da er deutlich größer war als ich, kam ich nichtmal an die Schnürsenkel ran.
 

-„Nur, wenn du mir versprichst, nicht wieder wegzulaufen. Du kommst mit zum Flughafen, wir werden einen ruhigen Flug haben und gesund und munter in Italien ankommen.“
 

-„Und woher soll ich wissen, dass du mich nicht hintergehst? Verdammt, wie kann ich sicher sein, dass du mich nicht umbringst oder verkaufst oder ...“
 

-„Vertrau mir einfach. Ich werde dir nichts Schlimmes tun, darauf gebe ich dir mein Wort. Ich verspreche dir, ich werde dir im Flugzeug alles erklären, aber nur wenn du mitkommst. Außerdem ...“ Mit einem perversen Grinsen zeigte er mir die Schuhe. „... hast du gar keine andere Wahl, denke ich.“
 

Da hatte er Recht.
 

-„Okay, okay. Aber gib sie mir endlich.“
 

In diesem Moment hätte ich meine Seele für ein Paar Armani-Schuhe verkauft.
 

~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ *
 

-„Mariano! Das kann doch nicht wahr sein!“, rief Antonio während er sich den Sitzgurt im Flugzeug anlegte. „Ich muss in dringender Angelegenheit nach Italien … nein, ich kann es dir nicht erklären … ich weiß, es ist kein passender Moment … ich tue alles was ich kann, versprochen! Aber ich muss wirklich dorthin! Mariano, hör auf zu schimpfen … ich weiß, Spanien steckt in einer Krise, klar weiß ich das, aber ich … tja, du wolltest ja nicht auf meinen Vorschlag eingehen, mehr Tomatenfelder zu errichten! Was soll ich denn sonst tun? Eine dumme Idee? Was willst du damit sagen?“
 

-„Mein Herr, wir heben gleich ab, bitte schalten Sie Ihr Handy aus“, bat ihn eine Stewardess.
 

-„Mariano, ich muss auflegen … ich muss auflegen! Das ist alles ganz einfach, atme tief durch und lass dir von der Vizepräsidentin Soraya helfen, die ist die Einzige, die etwas zu wissen scheint … ja, sicher, ich komme ganz schnell zurück … Bis später, Mariano.“
 

Ich schaute ihn fragend an.
 

-„Das war mein Präsident. Er ist neu im Amt, der Arme, und scheint ein wenig Angst davor zu haben, was auf ihn zukommt.“
 

Ich knurrte, das war der einzige Laut, den ich in den letzten zwei Stunden von mir gegeben hatte. Da war ich nun, bereit, in den sicheren Tod zu gehen mit meinen glänzenden schwarzen wertvollen Armani-Schuhen, die ich schon seit dem Betreten des Flughafens ohne Ende verfluchte. Antonio hatte meine Hand gehalten, damit ich nicht weglief. (Er hatte doch schon mein Wort, was wollte er denn noch?!) Gut, wenn ich schon heute sterben würde, dann wenigstens mit meinen kostbaren Schuhen.
 

-„Verehrte Damen und Herren Passagiere, hier spricht Ihr Pilot. Die Besatzung von Spanair heißt sie herzlich willkommen ...“
 

Mir fiel auf wie Antonio sich neben mir immer mehr verkrampfte. Er schloss ganz fest die Augen und begann, mit verschränkten Fingern zu beten: Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme …
 

-„Hey, was machst du da?“, fragte ich ihn beunruhigt als ich sah, dass er immer bleicher wurde und immer stärker schwitzte.
 

-„N-Nichts ...“, sagte Antonio und versuchte zu schlucken. Das Flugzeug setzte sich in Bewegung, was ihm einen kleinen Schrei entlockte, den ich sehr lustig fand. Wenn ich heute sterbe, dann würde ich mich daran erinnern, wie lächerlich er mir in diesem Moment erschien. „Es ist nur, haha, … ich hab ein wenig … Flugangst.“
 

Danach wirkte er irgendwie abwesend, was mich wirklich erschreckte. Mit fest geschlossenem Mund und in den Sitz gekrallten Händen saß er da und starrte einen festen Punkt auf dem Boden an. Er war so wehrlos. Plötzlich verließ mich der Drang, um Hilfe zu schreien und zu erklären, dass ich gerade von diesem Mann entführt wurde, nein, ich hob unbewusst die Hand und legte sie ein paar Millimeter entfernt zu der Seinen.
 

-„Aber was mache ich denn da!“, wies ich mich zurecht. Ich zog meine Hand wieder zurück und sah mir die Morgendämmerung aus dem Fenster an.
 

~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ *
 

Sobald wir aus dem Flugzeug ausgestiegen sind und unsere Koffer geholt haben (beide waren identisch, weiß und mit einem seltsamen Tomatenmuster verziert), sahen wir auch schon einen Mann am Ausgang stehen, der uns gemächlich grüßte. Er war weiß gekleidet und trug eine Katze (ja, eine Katze) im Arm, hatte dunkles Haar und grüne Augen, die denen von Antonio ähnelten, aber nicht so glänzten und viel verschlafener waren.
 

-„Hallo, Heracles!“ Der Idiot schien sich von seinem stillen Leiden im Flugzeug vollständig erholt zu haben.
 

-„Du hast mich aufgeweckt“, bekam er als Begrüßung.
 

-„Ja, das tut mir sehr leid, aber ...“
 

-„Romano?“, fragte der Mann den Blick auf mich richtend. „Geht's dir gut? Spanien hat mir gesagt, du hättest dein Gedächtnis verloren ...“
 

Die Wahrheit ist, dass mich der Kerl schon ein wenig beeindruckte, vor allem durch seinen gleichmütigen Gesichtsausdruck, mit dem er mich genauestens untersuchte.
 

-„Gehen wir“, bat uns Antonio. „Wir fallen zu sehr auf.“
 

-„Ja … es ist schon alles vorbereitet.“ Heracles gähnte so, als ob er noch nie in seinem Leben geschlafen hätte.
 

-„Mach dir keine Sorgen, ich fahre.“
 

-„Wohin fahren wir? Wer ist er?“
 

„Was habt ihr Trottel mit mir vor?“, dachte ich und versuchte, Mut vorzutäuschen.
 

Es gefiel mir gar nicht, dass ich von Keinem der beiden eine Antwort erhielt.



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