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Erinnerst du dich?

von

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Kapitel 2

-„Ich hab euch gerade gefragt, wo wir hinfahren“, wiederholte ich als ich von Antonio mitgezerrt wurde.
 

-„Ich hab's dir doch schon gesagt, wir fahren nach Hause, Lovino“, antwortete er ohne meine Hand loszulassen.
 

„Da steht mein Auto“, zeigte uns Heracles, der gemächlich voranschritt. Die aufgehende Sonne schien mir direkt in die Augen als wir den Flughafen verließen.
 

Ich weigerte mich mitzukommen. Zwar hatte ich Antonio versprochen, mich im Flugzeug zu benehmen, aber dass das auch nach unserer Ankunft in Neapel so bleibt, war nie die Rede gewesen. Wenn schon, dann war es seine Schuld, weil er mir keine überzeugenden ehrlichen und verständlichen Antworten gab, sondern mich einfach nur bat, ihm zu folgen und zu vertrauen, ihm, einem Mann den ich nicht einmal kannte. Ich hatte nun genug von der ganzen Hetzerei, das was ich wollte, waren Antworten und ich wollte sie sofort.
 

-„Giacomo, attenzione!“ („Giacomo, Vorsicht!“)
 

Ich drehte mich um. Häh? Woher kam dieser laute Schrei und wieso half keiner der Frau, die ihn ausgestoßen hatte?
 

-„Mamma, mi sono fato male al giocchio.“ („Mama, ich hab mir am Knie weh getan.“)
 

-„Filippa, no prendete el coltello!“ („Filippa, nimm das Messer nicht in die Hand!“)
 

-„Stefano, mi fai male!“ („Stefano, das tut weh!“)
 

Diese Schreie waren in meinem Kopf. Wehklagen, Hilferufe, Geschrei voller Verlust, Wut, Zorn und … Schmerzen. Schmerzen, die mich überfluteten, die ich so empfand, als wären es meine eigenen.
 

Mit all meiner Willenskraft befreite ich meine Hand aus Antonios Griff und versuchte, die abertausend Stimmen, die mich schier in den Wahnsinn trieben, zu besänftigen, indem ich mir die Ohren zuhielt.
 

-„Das tut weh“, wisperte ich. Nach und nach gaben meine Beine nach bis ich schließlich auf den Asphalt stürzte. Ganz fest schloss ich die Augen, versuchte, mich zu beruhigen, aber es war unmöglich. „Das tut weh, das tut so weh“, wiederholte ich ohne Ende.
 

Es fühlte sich so an, als würde ich tausend Mal erschossen, eine Million Mal aufgeschnitten, als würden meine Knochen sich zersplittern, als würde ich verbrannt, erstickt und so hart verprügelt wie noch nie zuvor in meinem Leben …
 

Warme Hände brachten mich wieder in die Realität zurück. Als ich die Augen öffnete, entdeckte ich, dass es Antonio war, der mir sanft die Wange streichelte und in seinen Armen hielt. Instinktiv umschlang ich seinen Hals und verbarg mein Gesicht an seiner Brust.
 

-„Ganz ruhig, Lovino“, hörte ich seine Stimme aus der Ferne.
 

Mühevoll hob ich den Kopf zu ihm hoch. Antonio blickte mich mit unendlicher Besorgnis an, zwang sich aber zu einem Lächeln.
 

Sein Lächeln war das Letzte, was ich sah bevor ich endgültig das Bewusstsein verlor.
 

~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ *
 

Das Erste, was ich beim Aufwachen wahrnahm, war das unglaublich weiche Bett, in dem ich lag. Man merkte, dass die Laken aus hochwertiger Baumwolle gemacht wurden, sie ließen keine Wärme entweichen. Ich nahm mir das feuchte Tuch von der Stirn und unternahm einen Versuch, die Augen aufzumachen, obwohl es aufgrund der Dunkelheit im Zimmer egal war, ob sie nun offen waren oder nicht.
 

-„Wo bin ich?“, war mein einziger zusammenhängender Gedanke. Ich fühlte mich benebelt, mein Kopf schmerzte und glühte, aber dennoch konnte ich nicht einfach liegenbleiben und gar nichts tun, also stand ich auf, der Boden kalt unter meinen Füßen.
 

Tastend suchte ich die Wände nach einem Lichtschalter oder der Tür ab und stieß dabei mehrmals mit den zahlreichen Möbeln im Zimmer zusammen, beginnend mit dem Schrank, dann mit dem Schreibtisch und schließlich mit einigen Regalen (ich wusste, dass es Regale waren, da durch den Zusammenstoß ein Buch aus einem der oberen Regalbretter fiel und zwar genau auf meinen Fuß.).
 

Endlich fand ich die Tür, die sich genau neben dem Bett befand. Durch das Vorantasten an der Wand hatte ich unnötigerweise das gesamte Zimmer abgelaufen.
 

Ich öffnete die Tür und sofort verbrannte die Sonne mein Gehirn, sie folterte und blendete mich mit ihrem intensiven Licht. Ich blinzelte einige Male, doch da meine Augen sich kaum öffenen ließen, beschloss ich, sie geschlossen zu halten bis sie sich an die Helligkeit gewöhnten. Genau in diesem Moment erreichten Stimmen aus der Ferne mein Gehör.
 

-„Also ist alles in Ordnung?“
 

-„Ja, alle seine Knochen sind einwandfrei verheilt, genau so, wie man es von einer Nation erwartet. Alle Finger- und Zehenknochen sind wieder an ihrer ursprünglichen Position, siehst du? Das Schienbein und das Wadenbein sind wieder vollständig und mit den Hüftknochen scheint er auch keine Probleme zu haben.“
 

-„Und was ist mit der Lunge, dem Magen, dem Darm?“
 

-„Alles gut, Spanien, er hat keine inneren Blutungen und die Organe sind auch in Ordnung. Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen.“
 

-„Gott sei Dank“. Ich hörte einen lauten Schlag. „Aber was ist eigentlich mit ihm los? Warum kann er sich an nichts mehr erinnern?“
 

-„Genau das versuchte ich gerade herauszufinden.“
 

In diesem Moment beschloss ich, die Augen zu öffnen und mich an den Ort zu begeben, wo die Stimmen herkamen, blieb aber angesichts des riesigen Flures aus grau-braunem Stein verwundert stehen. Auf beiden Seiten fanden sich Türen aus dunklem Holz, die Wände geschmückt mit verschiedenen Landschaftsgemälden und menschlichen Skulpturen.
 

Als Nächstes fand ich heraus, dass es die zweite Tür von rechts mit der Skulptur einer sehr schlanken Frau daneben war, von wo aus das Gespräch zu hören war. Ich öffnete sie ohne auf eine Erlaubnis zum Betreten zu warten. Wenn es mich schon erstaunt hatte, mich mitten in einem antiken Steinhaus voller Dekorationsgegenständen von unschätzbarem Wert zu befinden, brachte mich der jetzige Anblick nun völlig durcheinander. Ich stand in einem kleinen Raum, dessen Wände einzig und allein mit den Röntgenaufnahmen meines Körpers zugepflastert waren. (Ich wusste es, weil zwei davon einen liegenden Körper mit einer kleinen Locke in Originalgröße zeigten.) Die Röntgenaufnahmen reichten von den kleinen Fußknochen bis zu Bildern des Schädels aus verschiedenen Blickwinkeln. Mitten in diesem seltsamen Raum standen Antonio und Heracles an eine Art Scanner gelehnt und blickten mich verblüfft an.
 

-„Lovino! Soll ich dir ein Glas Wasser bringen? Oder einen Keks, einen Saft oder vielleicht eine Tomate …?“, fragte er sich mir nähernd und hielt mich fest, damit ich nicht umfiel.
 

-„Mir geht’s gut, du Idiot.“ Warum machte er sich nur solche Mühe mit mir?
 

-„Warum bist du auf? Mit der Dosis, die ich dir verabreicht habe, solltest du eigentlich erst in ein paar Stunden in der Lage sein, aufzustehen.“
 

Also, dieser Heracles hatte nun wirklich nichts mehr mit dem ruhigen und unterwürfigen Mann gemein, den ich im Flughafen kennengelernt hatte. Jetzt stand er vor mir in einem weißen Kittel, mit weit geöffneten Augen und einer Taschenlampe in der Hand, mit der er mich beim Näherkommen blendete.
 

-„Griechenland ist mit Ausnahme von China eine der ältesten Nationen der Welt“, erklärte mir Antonio ohne mich loszulassen. „Sein ganzes Leben lang hat er damit verbracht, den menschlichen Körper und den der Länder zu studieren und kennt sich perfekt mit beiden aus.“
 

-„Moment mal, Moment …“, sagte ich und schob das Lämpchen von mir weg. „Du bist Griechenland?“
 

-„Ja, und jetzt nicht bewegen.“
 

Aber wie konnte er Griechenland sein? Kapierte denn Niemand hier, dass das LÄNDER und wir MENSCHEN waren? Kannte denn Keiner auf dieser Welt den Unterschied zwischen den beiden Begriffen?
 

Grie-, ich meine, Heracles runzelte die Stirn und betrachtete konzentriert eine Scanneraufnahme meines Gehirns.
 

-„Die Ergebnisse der Gehirntomographie sind eindeutig, Spanien.“ Er zeigte uns die Aufnahmen. „Romanos Erinnerung sind immer noch da, in der linken Gehirnhälfte, aber sie scheinen ausgeschaltet zu sein, zu schlafen. Ich weiß nicht, ob es von dem Zusammenstoß herrührt oder dass er nach drei Minuten wieder ins Leben zurückgekehrt ist, aber so ist die Lage.“
 

-„Kann man da gar nichts machen?“, fragte Antonio verängstigt. Ich war so getroffen, dass ich kein Wort herausbrachte.
 

-„Na ja, … wir könnten da etwas ausprobieren. Hast du alles mitgebracht, worum ich dich gebeten hab?“
 

-„Ja.“ Antonio rannte aus dem Zimmer um fünf Sekunden später mit einem seltsamen abgenutzten roten Buch wiederzukommen.
 

-„Gut, öffne eine Seite, egal welche“, bat ihn Heracles.
 

Als er Antonio zögern sah, entriss er ihm das Buch und übergab es mir. Nervös machte ich es auf, mehr oder weniger genau in der Mitte. Zu meiner Überraschung handelte es sich um ein Fotoalbum. Auf jeder Seite gab es zwei Fotos, auf der linken konnte man ganz deutlich einen Sonnenuntergang durch ein Gebirge erkennen und eine Person, die unter einem Baum lag. Das Bild darunter zeigte ein Tomatenfeld von einer beeindruckenden Größe, Antonio und ich mittendrin. Er gab mir glücklich lächelnd ein Stück Tomate zu essen. Ich blickte ihn wütend an und versuchte, mich unter dem riesigen Strohhut zu verstecken.
 

Auf der rechten Seite sah man eine Schneelandschaft. Antonio war gerade dabei, mich mit einem Schneeball zu bewerfen, der mir genau ins Gesicht flog und zu Boden warf. Er lachte sich tot, und ich fand es lustig, mich mit vor Wut aufgeblähten Wangen zu sehen. Und auf dem letzten Bild … das letzte war ein Schock für mich. Wir beide auf einem Platz voller feiernder Leute. Ich versuchte mir aus irgendeinem Grund, Trauben in den Mund zu stopfen und Antonio küsste mir mit einer sehr spöttischen Geste die Wange. Aber das … das war nicht das Schlimmste. Im Hintergrund konnte man die Gestalt einer riesigen Uhr perfekt erkennen. Sie zeigte Mitternacht an und war mit den Worten „Frohes Neues Jahr 1992“ geschmückt.
 

Plötzlich kamen die Kopfschmerzen, die mich am Ausgang des Flughafens gequält haben, mit voller Wucht zurück. Einzelne Erinnerungen kamen und gingen durch mein Gedächtnis, ohne Sinn, ohne den geringsten Zusammenhang. Sie überhäuften und erstickten mich dermaßen, dass ich sogar vergaß wie man atmete.
 

-„Es reicht jetzt“, hörte ich Antonios Stimme im Hintergrund. Sekunden später nahmen mir ein Paar Hände das Album rasch ab und umarmten mich von hinten.
 

-„Interessant“, murmelte Heracles und beobachtete mich aufmerksam mit diesen grünen Augen, die so sehr denen von Antonio glichen, aber gleichzeitig ganz anders waren. „Ist dir etwas eingefallen?“
 

-„Ja … nein … in Wirklichkeit hab ich keine Ahnung“, stammelte ich, Antonio von mir wegstoßend. „Mir sind mehrere Dinge eingefallen, aber alles ist immer noch sehr verworren. Es ist so, als würden diese Erinnerungen keinen Sinn ergeben.
 

-„Das hab ich befürchtet“, sagte Heracles während er Antonio das Album zurückgab. „Romanos Gedächtnis ist intakt und seine Erinnerungen immer noch anwesend, aber sie schlafen. Indem wir ihm mehrere Fotos von seiner Vergangenheit gezeigt haben, haben wir sie aufgeweckt.“
 

-„Also ist alles gelöst, richtig?“, fragte Antonio freudig.
 

-„So einfach ist das nicht.“ Heracles begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. „So wie Romano gesagt hat, sind diese Erinnerungen in seinem Gedächtnis verworren, was mich darauf hinweist, dass es nicht möglich ist, ihm diese Fotos zu zeigen und dann abzuwarten, was passiert. Wir müssen es so machen, dass Romano sich chronologisch an alles erinnert, von seiner Geburt bis zu diesem Zeitpunkt, damit seine Erinnerungen richtig miteinander verbunden sind.“
 

-„Was willst du damit sagen?“, fragte ich, was ihn innehalten ließ.
 

-„Mmm, es ist nur eine Theorie … keine Ahnung, ob es klappt, aber ich denke, wir sollten dir deine Geschichte erzählen, deine eigene Geschichte, damit die Erinnerungen nach und nach zurückkehren.“
 

-„Und wie machen wir das?“, hakte Antonio beunruhigt nach.
 

-„Tut mir leid, Spanien, aber ich glaube, wir müssen Italien anrufen.“
 

Daraufhin verstummte Antonio, er wurde bleich und schien kurz vor einer Ohnmacht zu stehen.
 

-„Nein, bitte nicht, Heracles, ruf Feliciano nicht an. Ich will ihm keine Sorgen bereiten.“
 

-„Bedaure, Spanien, aber er ist der Einzige, der Romanos Kindheit kennt. Wenn wir irgendwo anfangen wollen, dann mit Italien.“
 

Antonio seufzte und umklammerte mit aller Kraft das Fotoalbum.
 

-„Gut, ruf Feliciano an.“
 

Und während Heracles im Flur telefonierte, ging ich auf Antonio zu und fragte ihn:
 

-„Wer ist Feliciano?“
 

-„Dein entzückendes Brüderchen“, antwortete er lächelnd.
 

~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ *
 

Nach dem Gespräch mit diesem Feliciano informierte Heracles uns, dass dieser in etwa drei Stunden erscheinen würde. „Obwohl, mit der Fahrgeschwindigkeit der Italiener werden es wohl eher weniger als zwei sein“, fügte er hinzu und zog sich den Kittel aus. Es war so, als wäre ein Schalter umgelegt worden: sobald er ihn auf den Garderobenständer gehängt hatte, kehrten sofort die Schläfrigkeit und die Müdigkeit zu ihm zurück, also verabschiedete er sich von uns und ging ins Wohnzimmer um dort ein Nickerchen auf dem Sofa zu machen.
 

Antonio sah mich etwas unbehaglich an, ohne zu wissen, was er sagen sollte. Dann kam ihm die glorreiche Idee, mich im Haus herumzuführen und zu schauen, ob es mir irgendwelche Erinnerungen zurückbrachte. Es nützte nichts, er war mir völlig unbekannt, dieser erd-und lachsfarben dekorierte Ort mit seinen hohen steinernen Decken, den hölzernen Türen, langen Korridoren, dem Wohnzimmer mit rustikalen Möbeln und schließlich einer mit den modernsten Küchengeräten ausgestatteten Küche.
 

-„Du hast sicherlich Hunger, soll ich dir was kochen?“
 

Obwohl ich den Kopf schüttelte, konnte Antonio dem Drang nicht widerstehen, mir ein Omelette auf französische Art mit viel geschmolzenem Käse zu machen (ihm zufolge hatte er das Rezept von einem gewissen Francis) und ihn mir mit einer Stange Brot und einem Glas Orangensaft zu servieren.
 

-„Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich Heracles gebeten hatte, einzukaufen, da ich keine Sekunde lang von deiner Seite weichen konnte.“
 

Ich begann, das Essen in mich hineinzuschaufeln, wobei ich so tat, als hätte ich diese unglaublich peinlichen Worte nicht gehört.
 

-„Sag mal, ist dir schon etwas eingefallen?“, fragte er und setzte sich neben mich.
 

-„Etwas … ein bisschen.“
 

-„Erinnerst du dich an Neujahr 1992?“
 

-„Ein wenig. Beim Ansehen des Fotos fiel mir wieder ein, dass es sehr kalt war und dass die Leute viel Lärm machten. Du hast mich gezwungen, die zwölf Weintrauben in mich reinzustopfen, stimmt's?“

[Anmerkung: Silvesterbrauch in Spanien: zu jedem der zwölf Glockenschläge an Mitternacht isst man eine Traube.]
 

-„Ja, und du hast alle aufgegessen.“ Er lächelte. „Sonst noch was?“
 

-„Nein, darüber hinaus ist alles sehr verschwommen.“ Ich nahm einen Bissen von diesem verdammt leckeren Omelette. „Antonio, kann ich dich was fragen?“
 

-„Si-Sicher“, antwortete er plötzlich sehr nervös werdend.
 

-„Sind wir wirklich Länder, jetzt im Ernst?“
 

Antonio sah mich verwirrt an. Schließlich lachte er.
 

-„Genau das habe ich versucht, dir die ganze Zeit zu erklären.“ Liebevoll strich er mir durchs Haar. „Gut, ich gehe jetzt noch etwas einkaufen, wir haben fast nichts mehr zu essen. Schon seit fast fünf Monaten haben wir dieses Haus nicht mehr verlassen, stell dir mal vor. Und du, ruh dich aus, Lovino.“
 

Und mit diesen Worten verließ er das Haus.
 

Als das Omelette aufgegessen war, machte ich mich daran, noch eine Runde durchs Haus zu drehen. Es war komisch, denn es kam mir bekannt vor, obwohl ich mir ganz sicher war, noch nie in meinem Leben hier gewesen zu sein. Instinktiv wusste ich, wo sich das Badezimmer befand und kannte auch den Standort der Tomaten im Garten hinter dem Haus. Da diese in sehr schlechtem Zustand waren und ich sowieso nichts Besseres zu tun hatte, beschloss ich, mich um sie zu kümmern. Also nahm ich einen Mantel und das Gartenwerkzeug mit, das in einer Art Garage lag, und machte mich an die Arbeit. Ich wusste nicht, wieviel Zeit ich damit verbrachte, die Pflanzen zurechtzuschneiden, Unkraut zu beseitigen und Erde wegzutragen um sie mit Sauerstoff zu versetzen, aber als ich fertig war, war ich so durchgeschwitzt, als ob ich einen Marathon gelaufen wäre. Sicherlich würde ich mir eine Lungenentzündung holen.
 

-„Fratello?“ (Bruder?)
 

Ich drehte mich um und kam mir vor, als würde ich in einen Ganzkörperspiegel blicken. Der Junge, der vor mir stand, hatte diesselbe Körpergröße wie ich, diesselben Gesichtszüge, diesselben bernsteinfarbenen Augen … , die im Moment ganz rot vor lauter Weinen waren. Sein Haar war ein wenig heller als meins, glaubte ich, aber was alles Andere anging, waren wir nahezu identisch.
 

-„Fratello! Cosa ti è succeso?“ (Bruder! Was ist mit dir passiert?), fragte er und begann, erneut zu weinen und mich ganz fest mit seinen schwachen Armen an sich zu drücken. „È certo? Non mi riconosci?“ (Ist das wahr? Erkennst du mich nicht?)
 

„Eh … Scusi.“ (Tut mir leid.)
 

Und erneut fing er an zu weinen und in einem sehr schnellen Italienisch zu plappern. Was konnte ich da sonst tun, als zu versuchen, ihn zu trösten? Ich legte ihm meine Hand auf den Kopf mit allem Drum und Dran! Sogar auf den Rücken klopfte ich ihm!
 

-„Italien, versuch, Romano nicht zu überlasten“, sagte Heracles, der gerade in der Tür aufgetaucht war.
 

-„Aber, aber, aber ...“
 

-„Kommt rein, ihr zwei“, bat er uns und trat zur Seite. So gut es ging, (der Junge hing immer noch wie eine Klette an mir) nahm ich meinen Mantel ab und hängte ihn an den Türknauf. Wir betraten das Wohnzimmer und setzten uns auf das Sofa.
 

-„Gut, Italien. Wie du schon weißt, hat Romano sein Gedächtnis verloren, also brauchen wir dich, damit er es wiedererlangt.“
 

-„Was kann ich für ihn tun?“, fragte Feliciano in dem Versuch, seine Tränen zurückzuhalten.
 

-„Ganz ruhig, Italien“, sagte Heracles ein Gähnen unterdrückend. „Du musst nur versuchen, dein Gedächtnis anzustrengen. Du kennst Romano von klein auf, nicht wahr? Weißt du noch, was deine erste Erinnerung an ihn war?“
 

Feliciano dachte scharf nach. Es schien ihm sehr viel Mühe abzuverlangen, da er seine Fäuste an die Knie drückte und die Augen fest zukniff. Vor lauter Anstrengung fiel ihm ein Tropfen Schweiß von der Stirn als er dann schließlich die Augen auf einem Schlag öffnete mit einem Gesicht voller unbeschreiblichen Glücks.
 

-„Ja, ich weiß es wieder!“ Er machte es sich bequem und sah mich an. Dann nahm er meine Hände um meine Aufmerksamkeit zu erregen. „Es war im Jahr 476. Ich weiß noch, das Erste, was ich damals sah, war ein riesiger, stiller, grüner und dichter Wald. Die Erde in meinem Rücken tat mir weh und ich begann, aufgebracht zu weinen. Ich war weder in der Lage, mich auf die Beine zu stellen, noch zu sprechen oder auf mich selbst aufzupassen …“
 

-„Also nicht anders als jetzt“, hörte ich Heracles kommentieren.
 

Aber Feliciano fuhr fort mit seiner Erzählung, als ob er nichts gehört hätte.
 

-„Dann nahm mich eine Wölfin mit silbrigem Fell und Augen so schwarz wie die Nacht auf. Sie gab mir Wärme und beschützte mich. Ich schlief in ihrem Fell ein und als ich die Augen öffnete, fand ich mich in einem großen Palast wieder, und zwar in einem ziemlich geräumigen Zimmer voller Holzspielzeuge und einem enormen Bett.
 

Auf dem Bett warst du, Lovino.
 

Du warst so winzig, du konntest dich kaum aufrecht halten, geschweige denn auch nur ein Wort von dir geben, aber dein Blick war fast immer dermaßen ausdrucksvoll, dass ich in ihm deine starke Besorgnis ablesen konnte.
 

So gut es ging, stellte ich mich hin und schaffte es irgendwie auf das Bett zu klettern, in dem ich einen Mann von etwa 40 Jahren liegen sah. Er wirkte ziemlich krank, Schweiß lief ihm die Stirn hinunter und er zitterte vor Kälte. Er schien in Sekunden zu altern.
 

-„Bist du der Andere?“, fragte er zwischen Wehklagen.
 

Da ich noch nicht sprechen konnte, antwortete ich nicht, aber ich verstand, was er mir sagen wollte und nickte.
 

-„Ich bin so froh, euch noch kennengelernt zu haben.“ Bitterlich weinend versuchte er, sich aufrecht hinzusetzen. „Zwillinge, was sagt man dazu! Wenn ich daran denke, dass ich so etwas Schönes erschaffen habe...“ Er lächelte, versuchte, sich fröhlich zu zeigen. „Hey, Jungs, soll ich euch eine Geschichte erzählen?“
 

Du nähertest dich ihm und nahmst seine Hand während ich mich an ihn schmiegte und aufmerksam lauschte. Wir wussten beide nicht, um wen es sich bei diesem Mann handelte, also bewunderten wie ihn im Stillen.
 

-„Alles begann vor über tausend Jahren. Zwei Männer, Romulus und Remus, Zwillinge wie ihr, erschufen die größte Stadt, die man sich vorstellen konnte. Sie war prachtvoll, voller Harmonie und Frieden, deshalb beschlossen sie, diese Stadt zum Anfang eines Imperiums zu machen, damit dieser Glanz auch auf andere Städte abfiel. Damals wurde ich geboren, das Römische Reich, das größte, das es je gegeben hat und jemals geben wird. Ich war so prächtig, dass die beiden Brüder sich um mich stritten, da jeder mich für sich allein haben wollte. Schließlich brachte Romulus Remus um und verschaffte sich die Kontrolle über das ganze Gebiet.“
 

Wir schauten den Mann verwundert an. Dieser verstummte einen Augenblick um wieder zu Atem zu kommen, dann richtete er seinen glasigen Blick wieder auf uns.
 

-„Eigentlich sollte ich so kleinen Kindern wie euch keine solchen Geschichten erzählen, aber ...“ Er hustete und hielt sich ein Taschentuch vor den Mund, das sich rot färbte. „ … aber ich kann nicht von euch gehen ohne euch meinen größten Wunsch gesagt zu haben. Ich wünsche, dass ihr aufeinander aufpasst und euch niemals Schmerzen zufügt. Mehr will ich nicht.“ Die grünlichen Augen verfinsterten sich. „Und ich würde euch noch gerne Namen geben.“
 

Der Mann nahm mich in die Arme und kitzelte mir die Seiten, was mich in brüllendes Gelächter ausbrechen ließ.
 

-„Du … du bist Feliciano“, verkündete er, dann setzte er mich wieder neben sich und streichelte meine Wangen mit sehr kalten Händen. „Du wirst Feliciano heißen, da ich weiß, dass dein Leben voller Glück sein wird. Sei glücklich, Feliciano.“
 

Ich nickte, ohne richtig zu verstehen, was er mir damit sagen wollte. Dann richtete er seinen Blick wieder auf dich. Du versuchtest, gelassen zu erscheinen, aber einzelne Tränen entflohen deinen Augen, die er mit dem Handrücken wegwischte.
 

-„Und du … du bist Lovino, weil du so weich wie Schafsfell bist ...“ Du hast geschnaubt und seine Hand von deinem Gesicht geschoben. Er lachte kraftlos. „Und außerdem wirst du Lovino heißen, weil ich weiß, dass du die wahre Liebe finden wirst. Liebe, mein geliebter Lovino.“
 

Dann begann der Mann, schwach zu zittern, Lichtstrahlen kamen aus seinem Körper und ließen ihn nach und nach verschwinden.
 

-„Ver-Vergesst mich nicht … Vergesst niemals eure Vergangenheit, eure Wurzeln … Vergesst Opa Rom nicht, hört ihr?“
 

Wir versuchten beide, Opa Rom zu umarmen, doch in diesem Moment löste er sich endgültig auf und ließ uns in diesem seltsamen Zimmer alleine zurück.
 

-„Opa Rom ...“, sagtest du und ich fing an zu weinen. Du hast mich umarmt und getröstet wie du nur konntest, bis wir beide schließlich erschöpft vom vielen Weinen einschliefen, auf demselben Bett, auf dem wir Opa Rom zum ersten und letzten Mal gesehen haben.
 

Beide schauten mich so an, als würden sie von mir eine Bewegung, einen Kommentar oder wenigstens einen Atemzug erwarten. Doch mein Blick war abwesend, in die Leere gerichtet, als ich versuchte, die von Feliciano so eindringlich erzählte Geschichte, vor meinem geistigen Auge wieder aufleben zu lassen.
 

-„Und, Romano? Erinnerst du dich an irgendetwas?“ Heracles versuchte, mich mit dieser Frage aus meiner Versunkenheit zu befreien.
 

Meine Antwort war unmissverständlich, einschneidend, sogar brutal.
 

-„Nein.“



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