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Dornröschen...

von

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Kapitel ZWEI
 


 

…hat keine gute Fee.
 

Die Wohnung konnte durchaus als hübsch bezeichnet werden. Obwohl sie wohl eher als äußerst spartanisch durchging. Mit dem nötigsten möbliert und ohne dekorativen Schnickschnack wirkte sie wie das komplette Gegenstück zu unserem Einfamilienhaus. Anna und meine Mutter legte stets großen Wert auf die richtige Dekoration der Wohnräume - Marko ganz offensichtlich eher nicht.
 

Seufzend arbeitete ich mich mit meinen Krücken zurück in den Flur. Vielleicht schaffte ich es sogar durch die Wohnungstür sobald Marko nur einen Augenblick unachtsam schien.

Auf der einen Seite beglückte mich das Ende meines Krankenhausaufenthalts, doch diese Wohnung – Fahrstuhl hin oder her - vergraulte mich auf eine seltsame Weise.
 

Unter angestrengtem ätzen versuchte ich mich auf den Beinen zu halten und mich im selben Moment meinem Parka zu entledigen, gewiss kein einfaches Unterfangen. Zumindest nicht wenn man die Krücken benötigte um überhaupt auf den Beinen zu bleiben, denn meine aktuelle Muskulatur war lächerlich. „Komm, lass mich dir helfen Noah“ als Marko mir behilflich sein wollte und nach meinem Parka griff, zog ich den Arm zurück und brummte ein leises „Ne, ich schaff das schon. Bin ja nicht behindert“. Eigentlich fiel ich momentan schon mit meinen beiden lästigen Krücken in diese Sparte – mal ganz abgesehen von meinen Problemen beim Laufen und allgemeinen Gestikulieren. Wenigstens blieb mein Sprachzentrum von dem vergangenen Unfall verschont. Die letzten Monate quälten mich schon genug ohne auch noch stotternd und brabbelnd wie ein neugeborenes kommunizieren musste. Mein erster Erfolg war die Abgabe des Rollstuhles, obwohl, selbstständiges Essen und Trinken auch zu meinen liebsten Highlights zählte. Die Krücken empfand ich zwar als lästig und störend, doch anderweitig wäre mir eine Fortbewegung so ziemlich unmöglich.
 

„Tut mir leid…“ Marko wirkte wie ein getretener Hundewelpe und ich rang mit meiner Beharrlichkeit um mich nicht sofort zu entschuldigen. Mit gesenktem Blick streifte Marko sich seine Jacke ab, schlüpfte aus den Schuhen und verschwand mit meiner Reisetasche aus dem Flur. Home Sweet Home –oder so ähnlich. Vor meinem Unfall lebten meine Mutter, Marko, Anna und ich noch in einem kleinen Haus am Stadtrand. Doch bereits kurz nach dem ich mein Bewusstsein zurück erlangte bemerkte ich die Veränderung. Die Veränderung zwischen meiner Mutter und Marko. Sie versuchten sich natürlich zu erklären, redeten sich um Kopf und Kragen, doch sie vergaßen, ich war keine fünf mehr. Ganz im Gegenteil. Ich wusste was eine Trennung bedeutete und das stets beide Parteien daran die Schuld trugen. Ob man es einsehen wollte oder nicht. Um Gottes willen, es war ja bei weitem nicht so als wäre ich seit meinem Unfall zurückgeblieben, die Bedeutung einer Beziehungspause und getrennten Wohnungen war mir nicht sonderlich fremd. Auch wenn es mir an diesem Tag unmöglich erschien das lähmende Gefühl, die Trauer und die Wut darüber zu verbergen. Vielleicht tat ich beiden mit meinem vergangenen Wutanfall sogar Unrecht, denn ich hatte mich nicht in ihr Liebesleben einzumischen.
 

Die Beiden hatten es immerhin auch nicht einfach und während Marko sich nach meinem Unfall vor meiner Mutter zurückzog, vergrub Marianne ihre Sorgen in der Arbeit. Für Marko hatte es die Trennung von meiner Mutter zur Folge, während meine Mutter befördert wurde und nun öfters als geplant in der Weltgeschichte umherflog – zum Leidwesen aller. Nicht dass es sie zu einer schlechten Mutter machte, sie verarbeitete Stress einfach auf eine andere Weise. Nur, dass ich im Gegenteil zu Anna und Marko dieses Verhalten bereits aus der Zeit kannte in der mein Vater starb. Also mein biologischer Vater. Marko war gar kein so schlechter Ersatzvater, auch wenn ich es nicht so durchblicken ließ.
 

„Noah, kommst du. Ich will dir dein Zimmer zeigen, bevor Anna nachhause kommt und dich wieder in Beschlag nimmt“ riss Markos Stimme mich aus meinen Gedanken. Markos brauner Haarschopf erschien in meinem Sichtfeld und sein Blick sagte bereits alles. Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte er mir entgegen und vermutlich stellte er sich in Gedanken die Frage ob ich meine Jacke wirklich jemals allein ausgezogen bekam. Brummend lehnte ich mich gegen die Tür, stellte meine Krücken beiseite und zerrte mir den Parka von den Schultern „Ja einen Moment noch…“.

Mein Stolz verbot mir nicht unbedingt Hilfe entgegenzunehmen, doch nach monatelanger Rehabilitation wollte ich so viel wie möglich alleine tun. Angefangen dabei mich meiner Jacke eigenhändig zu entledigen. Vermutlich verstand Marko nicht wie erniedrigend einige Momente in den vergangenen Wochen für mich waren – woher sollte er auch. Eine Zeitlang schaffte ich es nicht allein auf Toilette, musste von einer völlig mir fremden Person geduscht oder gebadet werden. Ganz zu Beginn konnte ich nicht einmal den Löffel anheben und wurde gefüttert wie ein Kleinkind. Dann gab es Wochen in denen ich unglaubliche Fortschritte machte und wiederum andere Tage die mich in den Wahnsinn trieben, da überhaupt nichts passierte.
 

Mit grimmiger Miene streckte ich mich um den Kleiderhaken zu erreichen – erfolglos. Allerdings hielt mich diese Tatsache nicht davon ab Marko grob anzumachen als er mir zur Hilfe eilen wollte „Ich habe gesagt ich schaffe das alleine man“. Und tatsächlich, es gelang mir den Parka zumindest unten auf die Kommode zu bugsieren. „Das ist ästhetisch…“ erklärte ich dem hochgewachsenen Mann, griff meine Krücken und arbeitete mich an Marko vorbei ins Wohnzimmer.

Ein langgezogenes „Okay“ ertönte und Marko folgte mir ohne Wiederworte ins Wohnzimmer. Wenigstens begann er jetzt keine unsinnige Diskussion über mein Verhalten und „wohin Jacken denn nun wirklich gehören“ – meine Mutter würde es zumindest versuchen.
 

„Also ich wusste nicht wie du dein Zimmer gerne hättest“ begann Marko und tätschelte mir beim Vorbeigehen die Schulter. Trotz größter Anstrengung konnte ich die Perfektion eines genervten Augenaufschlags nicht verhindern. Jetzt einmal im Ernst, als hätte ich die Möglichkeit gehabt während meines komatösen Zustandes meinen Geschmack für die zukünftige Inneneinrichtung zu verändern. Marko wendete sich immer wieder nervös zu mir um „Daher dachte ich darüber nach es deiner Schwester zu überlassen, immerhin sollte sie dich ein ganzes Stück besser kennen als ich“
 

„Moment“ schnaufend blieb ich unter dem Klappern meiner Krücken stehen „Du wolltest ernsthaft einer Zehnjährigen die Zimmereinrichtung eines Sechzehnjährigen überlassen?“. Meinte Marko diese mehr als nur grausame Idee wirklich ernst? Erlitt er während meiner Abwesenheit ebenfalls einen Schlag auf den Kopf? Oder konnte man es einfach unter einem spontanen Einfall von geistiger Umnachtung abhacken?
 

„Also erstens bist du mittlerweile neunzehn und deine Schwester dreizehn“ er wirkte verunsichert „Zweitens habe ich diesen Einfall ja nur in Betracht gezogen um ihn dann doch wieder zu verwerfen und jemand anderes zu fragen“. Mein Blick nahm einen Hauch von Misstrauen an „Und wen, wenn ich fragen darf?“. Bildete ich mir Markos aufkeimende Unsicherheit nur ein?

„Ähm…Jan“ es wurde still, meine Augen haftete an meinem Stiefvater und ich fühlte das entfachte Brodeln in meiner Magengegend. Für ein tiefen entspanntes Zusammenleben, sollte Marko den Namen Jan nicht ganz so häufig in den Mund nehmen.

„Aha. Der also. Wie? Per Webcam“ angestrengt kämpfte ich meinen Tobsuchtsanfall herunter. Viel zu ungerecht wirkte es für mich, sollte ich Marko mit meinen Krücken erschlagen, da ich bei dem Namen „Jan“ kotzen könnte.
 

Zur Erläuterung. Jan war mein erster Freund. Genaugenommen mein erster fester Freund auf naiver sexueller Basis. Ihr wisst schon, die eine Person mit der man so langsam beginnt die unbekannte Welt des „Im Bett räkeln“ zu erforschen. Der Mensch mit dem es nicht nur bei harmlosen Küsschen und ein wenig Streicheln bleibt. Für mich persönlich, der größte Fehler meines Leben! Zumindest wusste ich bereits sehr früh, dass ich Mädchen zwar mochte, aber so wirklich nichts mit ihnen anzufangen wusste – zumindest nicht auf der sexuellen Ebene. Ganz im Gegenteil zu meinen eigenen Artgenossen die jedem Rock sabbernd hinterher watschelten. Nein, ich sabberte eher dem oben erwähnten Jan hinterher. Neu in unserer Klasse und mein Prinz Charming. Schon früh musste ich mir eingestehen: Ich galt als absolut unzurechnungsfähig sobald ich ihm irgendwo begegnete. Doch Fortuna stellte sich eisern auf meine Seite. Denn aufgrund von akuter Dummheit und vielleicht dem einen oder anderen Bier glaubte ich Gott zu sein und erklärte ihm vor allen Anwesenden meine unsterbliche Liebe – singend. Jan nahm meinen grandiosen und dennoch viel zu peinlichen Auftritt allerdings mit einer gewaltigen Portion Humor. Noch bevor ich die Möglichkeit erhielt schreien davon zu rennen, ging Jan vor mir auf die Knie und rief laut: „Ich will!“.
 

Lange Rede, kurzer Sinn. Von diesem Tage an zählten wir als das bekannteste homosexuelle Paar an der Schule. Tja, bis zu meinem Unfall. Als es soweit war mich nicht mehr für meine Existenz zu schämen fragte ich meine Schwester nach Jan. Ich hätte einfach nicht fragen sollen. Er hielt fast das komplette restliche Schuljahr aus, kam mich scheinbar regelmäßig besuchen und erkundigte sich stets wie es mir ging. Bis zu seinem Schulabschluss. Meine Schwester hatte es nur durch Zufall erfahren. Jan war für sein Abitur weggezogen – ohne ein Wort zu sagen.

Vielleicht war ich auch einfach zu egoistisch und deshalb wütend auf ihn, doch ich hätte zumindest einen Abschiedsbrief oder eine E-Mail erwartet, rein für den Fall meines unerwarteten Erwachens. Was ja wirklich passierte. Für mich gab es keine jahrelange Trennung, ganz im Gegenteil. Meine Gefühle für Jan bekamen nicht die Zeit sich von ihm zu entwöhnen. Ich wachte auf um zu erfahren, dass mein Freund sich von mir trennte– ohne ein Wort. Er war ein Scheißkerl oder ich einfach nur ein Egoist. Wer konnte das schon so genau sagen.
 

„Schau dir das Zimmer erst einmal an bevor du herummeckerst“ versuchte Marko mich aus der miesen Stimmung herauszuholen und schnaufend gab ich nach „Okay, hinter welcher Tür versteckt sich mein neues Heiligtum?“. Marko deutete auf die Tür gleich rechts „Aber warte kurz“. Er drückte sich an mir vorbei und blieb mit der Hand auf der Klinke stehen. Sein Gesicht zierte ein breites Lächeln, beinahe als wäre er ein kleiner Junge welcher jeden Moment seine Weihnachtsgeschenke bekam.

„Okay, okay. Stelle dich hier hin und mache deine Augen zu. Los, schau nicht so. Mach schon“ forderte mein Stiefvater mich auf. Mit grimmigem Gesichtsausdruck kam ich der Bitte nach. Wenigstens verlangte von mir nicht mit geschlossenen Augen in mein Zimmer zu hinken.

„Sind sie zu“ ein Windhauch zeigte mir, dass Marko wild vor meinem Gesicht herumwedelte. „Ja-ha. Jetzt mach endlich man“.

„Schon gut“ ein Klicken ertönte, gefolgt von dem leisen Knarren der Tür „So jetzt kannst du aufmachen“.

Wie befohlen öffnete ich meine Augen. Vor mir erstreckte sich ein scheinbar völlig normales Zimmer, definitiv kein Grund solch ein riesigen Tamtam zu veranstalten.

„Nett“ brummte ich und arbeitete mich mit meinen Rücken in das Zimmer vor. Es wirkte geräumig, besaß zwei große Fenster und scheinbar einen kleinen Balkon. Ein großer weißer Kleiderschrank nahm beinahe die komplette rechte Wand ein, daneben hatte man ein Bücherregal hineingequetscht. Ich erkannte sogar einige der Bücher wieder. Die Wand blieb Weiß, doch die Vorhänge, die Bettwäsche und der runde Teppich, welcher seinen Platz auf dem hellen Laminat fand, waren tief blau.
 

„Ja, wirklich nett“ Enttäuschung machte sich auf Markos Gesicht breit „Nein Marko. Ich meine es ernst. Es sieht wirklich gut aus, das Blau gefällt mir besonders“. Und schon gab es in der Mimik meines Vaters ein Wechselbad der Gefühle. Ziel erreicht, der alte Herr wirkte glücklich.
 

Als meine Augen zum Schreibtisch wanderten, geriet ich ins Trudeln und näherte mich dem hölzernen Ungetüm wackelig „Das sind nicht meine alten Schuldbücher“. Mein Blick glitt zurück zu Marko. Er stand Schulterzuckend an der Tür und seine Freude schien just in diesem Augenblick zu verpuffen „Na ja, deine Mutter und ich haben darüber nachgedacht ob du deinen Schulabschluss nicht an einer Abendschule nachholen magst. Aber das lass uns lieber ganz in Ruhe besprechen. Nicht jetzt zwischen Tür und Angel“.
 

„Aha. Und da es noch keine entschiedene Sache ist habt ihr auch bereits die passenden Schulbücher hier zu liegen?“ ätzte ich in Markos Richtung, wendete mein Gesicht schnaufend ab. Scheiß drauf ob Marko happy war oder nicht.
 

„Noah bitte. Nicht jetzt. Lass es uns besprechen, wenn Marianne morgen kommt“
 

„Ein Scheiß werde ich mit euch besprechen. Vielleicht habe ich das zu entscheiden und nicht ihr!“
 

„Noah...“
 

„Nein. Nicht Noah. Darf ich dich daran erinnern, ich bin jetzt neunzehn. Volljährig. Ihr könnt mir gar nichts!“ auf der einen Seite wusste ich wie unnötig mein Wutausbruch war, auf der anderen Seite schien ich ihn kaum zurückhalten zu können.
 

„Ja vielleicht. Nur benimmst du dich dafür überhaupt nicht erwachsen, sondern eher wie ein kleines Kind“ damit verschwand er aus meinem neuen Zimmer, allerdings nicht ohne die Tür einmal laut ins Schloss fallen zu lassen – ich zuckte erschrocken zusammen. Scheinbar konnten auch Erwachsene mit Türen knallen. Wer benahm sich jetzt bitteschön wie ein Kind?
 

Fluchend ließ ich mich auf mein neues Bett fallen, schmiss die Krücken von mir. Meine Beine schmerzten, sie waren es nicht gewohnt an so einem langen Stück in Gebrauch zu sein. Stöhnend verzog ich das Gesicht uns massierte meine Oberschenkel durch den festen Stoff der Jeans. Ich hasste mein Leben. Selbst die Koordination meiner Arme ließ mich hin und wieder noch im Stich. Ich konnte nicht verstehen wie die Beiden jetzt bereits darüber nachdenken konnten mich zurück auf eine Schule zu schicken, wenn ich körperlich noch nicht einmal ansatzweise Alltagstauglich war. Zumindest in meinen Augen. Ich wollte mich mit den Krücken nicht durch die Öffentlichkeit kämpfen, oder in meiner neuen Klasse der Krüppel sein.
 

Mühsam robbte ich mich in die Mitte des Bettes und legte mich auf den Rücken. Im Normalfall – soweit wie ich mich erinnern konnte – habe ich eigentlich stets sehr gerne auf der Seite gelegen, eingerollt wenn möglich. Nun konnte ich es nicht mehr. Die Wahrscheinlichkeit alleine aus der Position wieder herauszukommen war äußerst gering.
 

Also noch einmal. Getrennte Eltern, kein Freund mehr, eine Schwester mitten in der Pubertät und Krücken. Home Sweet Home. Hätten sie die Medikamente doch bloß nie abgesetzt. Ich fand mein Leben bereits jetzt zum Erbrechen toll.
 

~
 

Ich erwachte durch das leise dudeln des Radios und durch etwas Schweres was scheinbar daran arbeitete mir meinen Arm abzuschnüren. Ganz zu schweigen von den fremden Haaren welche unablässig in meinem Gesicht herumkritzelten „Anna“ brummte ich und wackelte mit meinem Arm soweit wie es mir möglich war.
 

„Gibt Ruhe du bissiger Yorkshire. Wenn du mit mir nicht kuscheln möchtest muss ich dich halt dazu zwingen sobald zu wehrlos bist. Außerdem sahst du so süß aus als du geschlafen hast“ murmelte meine kleine Schwester und klang äußerst verschlafen. Nannte man das in ihrem Fall bereits Bruder-Komplex?
 

„Du bist schwer Anna…“ versuchte ich es erneut und schob sie mit meiner freien Hand ein Stück weg. Worauf hin sie mir ihre Hand ins Gesicht drückte „Gib Ruhe hab ich gesagt“.
 

„Du bist unmöglich Anna. Lass mich weiterschlafen“
 

„Du meinst wohl eher: In Ruhe weiter schmollen. Daddy hat mir von eurem Streit erzählt“
 

„Wir hatten keinen Streit, nur eine Meinungsverschiedenheit“
 

„So nennt man es also, wenn man seinen Daddy an den Abgrund der Verzweiflung treibt. Hättest du mir mal früher sagen müssen“ Anna richtete sich ein wenig auf, stützte sich mit ihren Armen auf meinem Brustkorb ab und starrte nachdenklich zu mir hinab „Seit du wieder wach bist erinnerst du mich stark an einen tollwütigen Hund. Du warst doch früher nie so explosiv“.
 

Vermutlich hatte Anna bei ihrer Feststellung sogar Recht. So streitlustig war ich eigentlich noch nie. Meine jüngere Schwester seufzte theatralisch „Du bist so eine Diva geworden Noah“.

Noch bevor ich meinen Mund öffnen konnte um eine lautstarke Beschwerde von mir zu geben wurde ich von einer mir bekannten Stimme unterbrochen:
 

„Und hier sind wir wieder bei eurem Gute Laune Radio. Es ist Sechzehn Uhr, das Wetter ist traumhaft und wird die nächsten Tage mit frühlingshaften Achtzehngrad weitergehen. Auf Regen muss niemand hoffen, lieber sollten wir die freie Zeit dafür nutzen im aufkeimenden Sonnenlicht zu baden“.
 

Wie bereits unzählige Male kämpfte sich ein Brummen aus meiner Kehle „Anna. Mach den Mist aus. Ich kann den Idioten nicht ertragen“. Felix, der Muntermacher im Gute Laune Radio. Nur leider löste er nicht unbedingt gute Laune bei mir aus. Ganz im Gegenteil.
 

„In der nächsten Stunde werden wir euch mit neuen und auch alten Tophits versorgen. Wem ein Lied fehlt, einfach anrufen und euren Wunschsong verlangen. Ihr fordert, wir liefern. Warm, heiß und womöglich auch romantisch“.
 

Anna kicherte „Ich finde ihn toll. Außerdem sieht er wirklich gut aus“. Ihre blauen Augen starrten mir belustigt entgegen und ich zog die Stirn kraus „Er sieht gut aus? Wie willst du das beurteilen, der Typ ist doppelt so alt wie du“.
 

„Aber nun zu einem anderen Thema meine werten Zuhörer und Zuhörerinnen“ begann Felix mit theatralisch gesenkter Stimme „Wie ihr bereits wisst habe ich mich unsterblich verliebt“. Ich konnte nicht anders als die Augen zu verdrehen. Musste man sein Privatleben in der Öffentlichkeit so breittreten? Erneut ertönte ein kindisches Kichern meiner jüngeren Schwester. War sie zwölf oder doch eher zweieinhalb?
 

„Vor langer Zeit verlor ich meinen Traummann aus den Augen“ so typisch, nicht nur sein Liebesleben der ganzen Welt offenbaren. Nein, er musste scheinbar sein homosexuelles Liebesleben der gesamten Welt eröffnen.

„Mein Dornröschen ist wie ihr wisst aus dem Krankenhaus entlassen worden, doch gewisse Umstände zwingen uns voneinander fernzubleiben. Im Krankenhaus konnte ich ihn wenigstens besuchen und in seiner Nähe sein. Doch jetzt weiß er nicht einmal mehr von meiner Existenz“. Felix seufzte herzzerreißend, doch ich konnte nur spottend Schnauben. So ein Trottel.
 

„Aber ich werde nicht aufgeben. Ich werde warten bis ich ihn wiederfinde. Denn du begegnest in deinem Leben nur einmal deinem Prinz Charming und meiner bist nun einmal du Noah Bram“.
 

Wäre ich körperlich dazu in der Lage gewesen, dann wäre ich vermutlich entsetzt in eine kerzengerade Sitzposition aufgeschreckt. Doch anstatt diesem Drang nachzugeben starrte ich mit weit aufgerissenen Augen meine Schwester an. „Der ist ja verdammt mutig“ ihr Gesicht zierte ein breites Grinsen. Sie wusste davon. Sie wusste, dass mich scheinbar irgendein geisteskranker Irrer im Schlaf beobachtet hatte und meinen Namen gepaart mit seiner naiven Vorstellung von der großen Liebe im Radio preisgab?
 

„Er war so süß und total oft da um dich zu besuchen. Da deine Freunde immerhin nicht sonderlich häufig zu Besuch kamen, dachte ich es wäre doch eigentlich absolut in Ordnung“ erklärte mir Anna freudestrahlend und hätte sie ihren Kopf nicht immer noch auf meinem Arm würde ich just in diesem Moment versuchen sie zu erdrosseln – mit meinen eigenen Händen.
 

Also hatte ich nicht nur mit meiner verflossenen Liebe, meinem nicht vorhandenen Freundeskreis, der Trennung meiner Eltern und einer gestörten minderjährigen Schwester zu kämpfen. Nein, irgendein mir unbekannter Irrer schickte mir durchs Radio Liebeserklärungen. Sprich unsere ganze Region kannte diesen Sender und nun auch meinen Namen.

Nun gab es nur noch eine Möglichkeit. Ich würde dieses Zimmer niemals mehr verlassen. Aber gut, wenn meine Schwester nicht die Freundlichkeit besaß mir aufzuhelfen würde ich dieses Zimmer womöglich wirklich niemals mehr verlassen.



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