Harbingers Of War
Irgendjemand schnarchte.
Nach beinahe drei gemeinsamen Jahren wusste Tetsurou, dass es Kai war. Es war zu leise für Inuoka, außerdem tuschelte der noch in seiner Ecke mit Shibayama und, dem viel zu lauten Flüstern nach zu urteilen, Yamamoto. Yaku war wieder aufgestanden, nachdem Karasunos Vize-Captain ihn zu einem kleinen Beisammensitzen eingeladen hatte, und unter Kenmas Bettdeckenrand verriet ein schmaler Rand aus Licht, dass er sich lieber mit unschlagbaren Endbossen herumschlug, als zu schlafen.
Tetsurou war hellwach.
Es war das letzte Trainingscamp des Jahres.
Es war das letzte Trainingscamp.
Von draußen fiel silbriges Mondlicht in den Raum.
Letztes Jahr hatten die Drittklässler spontan eine irrsinnige Mutprobe aus dem Boden gestampft. Waren nachts verkleidet mit lächerlichen Masken und Bettlaken durch die Schlafräume gehetzt und hatten die jüngeren Teilnehmer nach einem langen Abend voller Gruselgeschichten über den halben Schulhof gejagt. Tetsurou hatte es unglaublich lustig gefunden, zumal er wenig empfindlich auf Horror war, Yaku dafür umso mehr, und Kenma sich nach wenigen Minuten im hinterletzten Schrank versteckt hatte. Am Ende hatte er die Drittklässler damit fast zu Tode erschreckt, als er völlig unerwartet sein Versteck verließ, den Kopf gesenkt, das Haar noch schwarz, und nicht nur Yamamoto hatte ihn einen Moment lang mit dem Geistermädchen Sadako verwechselt.
Es hatte sie alle ungemein befriedigt, dass das Kreischen der Drittklässler danach Ubugawa und Shinzen, die sich üblicherweise an dem Blödsinn nicht beteiligten, aus dem Schlaf gerissen hatte.
Vorletztes Jahr hatten sie simple Wettkämpfe veranstaltet – Eierlaufen, auf Händen gehen, Pantomime und andere Blödeleien, wobei das Verliererteam immer ein paar Yen hatte abdrücken müssen. Letztlich hatten sie von der gesamten Summe am nächsten Morgen, bevor sich ihre Wege zum letzten Mal getrennt hatten, Süßigkeiten für alle Teilnehmer gekauft, also hatte es nicht einmal einen wirklichen Verlierer gegeben.
Es war ein Ritual, über das Tetsurou sich keine Gedanken gemacht hatte, zu beschäftigt mit der Frühlingsmeisterschaft, zu beschäftigt mit dem Training, mit dem Besserwerden und mit seinem Team. Aber jetzt, wo er hier im Dunkeln lag und nichts anderes zu tun hatte, erinnerte er sich unweigerlich an diese dummen Höhepunkte der letzten Trainingscamp-Jahre, daran, dass sie die alten Anekdoten gern noch ab und zu auspackten, um darüber zu lachen, und er fragte sich, wieso sie nicht früher darüber nachgedacht hatten, was sie ihren Kouhais hinterlassen würden an Geschichten, wenn sie erst weg waren.
Es war nicht wirklich Sentimentalität, die die Frage aufbrachte. Es war schlicht der Gedanke, dass Tetsurou natürlich über sein Hiersein hinaus Gesprächsthema bleiben wollte. Eine Legende. Die letzten und vorletzten Drittklässler hatten auch von den alten Aktionen erzählt, die ihre eigenen Senpais einmal organisiert hatten, aber irgendwann waren sie wieder versumpft, die Geschichten. Weil sie nicht interessant genug gewesen waren. Tetsurou erinnerte sich auch nicht mehr daran. Wenn er etwas aufziehen würde, er würde dafür sorgen, dass es ewig legendär bleiben würde in der Geschichte der Fukuroudani-Trainingsgemeinschaft.
Es musste etwas sein, das man nicht mehr vergessen konnte, weil es mitreißend war, und atemberaubend, und weil es genug Gesprächsstoff lieferte, dass das zukünftige Team Nekoma noch in zehn und zwanzig Jahren darüber reden würde, was für eine großartige Aktion das Team vor Jahren einmal zum Ende ihrer Trainingscamp-Saison gerissen hatte.
Es musste–
Tetsurou setzte sich ruckartig auf seinem Futon auf, seine goldenen Augen glühten unheilverkündend in der Dunkelheit, weit aufgerissen in einer jähen Erkenntnis.
„Krieg.“
Innerhalb der nächsten fünf Minuten hatte er sein halbes Team aufgescheucht. Kai weigerte sich schlaftrunken, mit dem Kommentar, er wolle Yakus Zorn nicht auf sich ziehen – „Das war doch schon immer mehr dein Job, Kuroo. Ich kann ihn dir nicht wegnehmen.“ –, und Kenma würdigte Tetsurous Einladung zum besten Trainingscamp-Abschluss seines Lebens nicht einmal mit einem halben Blick, als er ein monotones „Nein“ in sich hineinmurmelte, gefolgt von einem „Ihr werdet Ärger kriegen“. (Würden sie nicht.) Fukunaga schwieg ihn ganz einfach aus.
Mit seiner neuen Armee im Schlepptau verließ er das Schlafzimmer, vor allem deshalb, weil Kai weiterschlafen und Kenma seine Ruhe haben wollte. Sie machten sich in der Mensa breit, die um diese Uhrzeit natürlich völlig verlassen war. Zwei Tische zusammengeschoben, um etwas mehr Platz zu haben, saßen sie schließlich zusammen, ihre erste Bewaffnung begutachtend. Inuoka und Shibayama hatten Wasserbomben in Hülle und Fülle mitgebracht, weil sie gehofft hatten, damit in ihrer freien Zeit der Hitze kontern zu können. Die Überreste, die nach mehreren Tagen Trainingscamp nun übrig waren, verteilten sich über den ganzen Tisch und wurden von den beiden Erstklässlern enthusiastisch in zwei Hälften aufgeteilt – im Krieg und in der Liebe mochte alles erlaubt sein, aber Tetsurou fände es unglaublich langweilig, mit einem zu großen Vorteil anzufangen. Es machte keinen Spaß, Bokuto zu besiegen, wenn der von vornherein keine Chance hatte.
Er würde auch so untergehen.
„Wir sind fertig, Kuroo-San!“, verkündeten Inuoka und Shibayama nach kurzer Zeit in einem leicht versetzten Chor, beide bis über beide Ohren strahlend. Zwei bunte Haufen aus Ballons befanden sich auf dem Tisch.
Ihr Timing war perfekt, denn im beinahe gleichen Moment kamen Lev und Yamamoto aus der Küche, beide ebenfalls breit grinsend.
„Wir haben etwas gefunden, Kuroo-San!“, verkündete Lev stolz und lautstark. Er hielt eine angebrochene Packung Strohhalme in der Hand. „Spuckröhrchen!“ Zusätzlich hatte er noch kleinere Beutelchen und Tüten bei sich, wenn Tetsurou es richtig erkannte.
Auch Yamamoto grinste. Er trug einige Pakete Mehl in den Armen, die er mit einem zufriedenen Ächzen auf den Tisch fallen ließ.
„Mehr gibt die Küche nicht her“, berichtete er. Tetsurou fand, das war mehr als genug.
„Gut, damit ist hier Schluss. Lev, Yamamoto, packt jeweils die Hälfte von dem Zeug in eine Tasche. Eine nehmt ihr mit, die andere lasst hier. Sammelt euch draußen vor Sporthalle Zwei, ich komme gleich zu euch. Wie bereits erwähnt: Die Küche, Essbereich und Toiletten sind tabu.“
Tetsurou mochte es, Unruhe zu stiften, aber er sah, dass es Grenzen gab. Und die waren eindeutig da, wo ihr Blödsinn das tägliche Leben einschränken würde. Er wollte keinen Ärger mit den Mädchen, weil sie nicht mehr in Frieden Frühstück machen konnten, und er wollte keinen Ärger mit Ubugawa oder Shinzen, die nachts nicht mehr aufs Klo konnten, weil der Fußboden und die Waschbecken bemehlt waren. Oder von schlimmerem Dreck befallen. Dass eigentlich die Flure selbst damit auch keine kluge Idee waren, war Tetsurou allerdings egal; sie mussten sich eben bewegen können! Und über ein bisschen Dreck im Flur konnte man bequem drübersteigen, aber völlig versaute Sanitäranlagen oder Kochutensilien und Speisesäle waren eben weit weniger erträglich. (Und mühseliger zu putzen.)
Mit einem breiten Grinsen schulterte er die zweite Tasche schließlich.
„Wir sehen uns in zehn Minuten, Jungs.“
Es wurde Zeit, eine Kriegserklärung auszusprechen.
In Fukuroudanis Schlafraum herrschte Stille. Abgesehen von diversem Geschnarche, natürlich. Akaashis Futon war leer, ganz wie Tetsurou es erwartet hatte. Karasunos Vize-Captain hatte durchklingen lassen, dass Akaashi ebenfalls zu ihrem nächtlichen Kaffeekränzchen kommen würde. (Zugegeben, wäre das nicht so gewesen, Tetsurou hätte sich zweimal überlegt, hier aufzuschlagen. Akaashi war gefährlich.)
Mit einem Grinsen trat er zu Bokuto hinüber. Sanft wecken war nicht sein Ding, also bekam der Kerl einfach grob einen Fuß in die Seite gedrückt. Bokuto verkraftete das schon.
„ORYAAAAAAAAA?!“
Mit einem Schlag war er wach und aufgerichtet, sein Blick hetzte verwirrt hin und her, bis er schließlich irgendwann bemerkte, dass jemand vor ihm stand und langsam den Kopf hob. Grinsend hob Tetsurou die Hand zum Gruß, in der sein Handy als Taschenlampenersatz lag.
„Yo, Bokuto~ Ich bin hier, um dir den Krieg zu erklären“, verkündete er grinsend, ließ die Tasche mit dem ersten Kriegsstartkapital auf Bokutos Schoß fallen, wo sie mit einem dumpfen Aufprall und einem „Umpf!“ von Bokuto landete. Verwirrt sah er zu Tetsurou auf, die großen Augen eulenhaft weit aufgerissen, wobei das ungestylte, herunterhängende Haar dem üblichen Federviehlook stark entgegenwirkte. Er schien überhaupt nicht zu begreifen, was hier abging.
„Oya?“
Tetsurou lachte – gackerte – und ging in die Hocke, um halbwegs auf einer Augenhöhe zu sein.
„Oya oya. Erinnerst du dich noch an letztes Jahr? Die Mutprobe?“
Verwirrung wich ziemlich bald Erkenntnis und auf Bokutos Gesicht machte sich eine vorsichtige Vorahnung breit. Er blinzelte, blickte zwischen der Tasche auf seinem Schoß und Tetsurou hin und her, dann wurden seine Augen noch größer und sein Mund verzog sich zu einem breiten, zähnebleckenden Grinsen.
„Krieg.“
Tetsurou nickte.
„Krieg. Totaler Krieg, Bokuto. Keine Regeln – Im Krieg und in der Liebe ist schließlich alles erlaubt!“
„HEY HEY HEY! Wir machen euch fertig, Kätzchen!!!“ – „Fufufu… versuch das mal, Federvieh.“
Tetsurou flüchtete, ehe Fukuroudanis Team auf ihn losgehen konnte, weil er ihren Captain auf dumme Gedanken gebracht hatte – und dazu, sie wachzubrüllen. Außerdem hatte er eine Schlacht vorzubereiten, und das passierte bekanntlich nicht über Nacht! Gut. In diesem Falle schon. Trotzdem galt es einiges zu erledigen.
Kurz hinter der Tür blieb er aber noch einmal stehen, wandte sich zu Bokuto um, der inzwischen schon dabei war, seinem Team lautstark zu erklären, dass sie in den Krieg ziehen würden. Den unbegeisterten Lauten nach zu urteilen, die von einem Großteil der Gruppe kamen, schien kaum jemand wirklich angetan von der Idee zu sein.
„Oi! Bokuto! Die Schlacht beginnt um Mitternacht!“
Erst, als er wieder zu seinem eigenen Team aufschloss, wurde Tetsurou bewusst, dass sie weder ein Schlachtfeld ausgemacht hatten, noch Siegeskonditionen.
Na, das würde es spannender machen.
„Ah! Kuroo-San! Während du weg warst, haben wir überlegt – wäre es nicht besser, wenn wir mehr Leute hätten?“
Tetsurou blinzelte, zuckte dann die Schultern. Er sah Inuoka und sein erwartungsvolles Grinsen eher weniger überzeugt an. Bisher war diese Tradition immer etwas zwischen Fukuroudani und Nekoma gewesen. Klar, ab und zu war versucht worden, Ubugawa und Shinzen einzubeziehen, aber die hatten meist reichlich wenig Interesse gezeigt. Er zweifelte daran, dass das groß anders werden würde dieses Mal.
„Wo hernehmen, wenn nicht stehlen?“ – „Karasuno“, war Yamamotos Antwort. Er schlug sich mit der flachen Hand auf die Brust, in seinem Blick loderte ein leidenschaftliches Feuer, „Noya-San und Ryuu werden uns helfen!“
Karasuno.
Tetsurous Gesicht verzog sich zu einem bösartigen Grinsen. Natürlich! Es gab keine Regel gegen team-fremde Unterstützung, nicht wahr? Und Tsukki würde sich sicher riesig freuen, wenn Tetsurou nun zu ihm lief und ihn vom Schlafen abhielt. Nicht. Aber das war Tetsurou ziemlich egal; der biestige Brillenträger brauchte ab und zu einfach ein bisschen kameradschaftlichen Spaß, sonst wurde er ja noch verbissener! Es würde ihm gut tun. Und es würde das Team stärken.
„Ich geh deine Freunde holen, Yamamoto.“
Und dann würde er Tsukki mitbringen, ob der nun freiwillig kam oder nicht.
***
Konoha Akinori seufzte zentnerschwer, während Bokutos „Hey hey hey!“ und übermütiges Gelächter ihm endgültig jede Hoffnung nahmen, dass er in dieser Nacht noch einmal ins Bett kommen würde. Komi war längst eingestimmt in die laute Euphorie, und selbst Onaga hatte sich anstecken lassen. Dummer, naiver kleiner Erstklässler.
Er seufzte noch einmal, versuchte irgendwie, all das Geschrei und alles „Woah“ und „Bämm“ und „Hey hey hey“ zu ignorieren und rieb sich genervt über die Nasenwurzel. Neben ihm saß Saru völlig unbekümmert da, spielte mit einem Strohhalm und grinste – oder grinste auch nicht, bei dessen Gesicht war sich Akinori einfach nie sicher, ob er sich gerade wirklich amüsierte. Ein Blick in verschlafene, dunkelgraue Augen zeigte allerdings ein Funkeln, das Akinori das unglückliche Gefühl gab, gemeinsam mit Washio der einzige noch klardenkende Mensch im Raum – ihrer glorreichen Basis – zu sein.
Nicht klardenkend genug, um Akaashi zurückzuholen. Er hatte auch seinen Stolz.