Moving In Slow Motion
„Euer Plan ist idiotisch.“
Es waren die ersten Worte, die Tsukki überhaupt sagte, seit Tetsurou ihn aus Karasunos Schlafsaal entführt hatte. Sehr zu seiner Freude war Tsukki nur halb so widerspenstig gewesen, wie er befürchtet hatte. Die Aussicht darauf, Bokuto eins reinzuwürgen war aber auch einfach zu attraktiv, nicht wahr?
Seit sie sich mit ihrer Ausrüstung in den Umkleiden von Sporthalle Zwei verschanzt hatten, war ungefähr eine halbe Stunde vergangen, in der Tetsurou nur grinsend verfolgt hatte, wie sein Team versuchte, einen Schlachtplan zu entwerfen, und Tsukki von Minute zu Minute genervter geworden war – was Tetsurou nur noch mehr hatte grinsen lassen, denn es war einfach offensichtlich, dass Tsukki, genau wie Tetsurou selbst, gar nicht angetan war von der fehlenden Realisierbarkeit und Tauglichkeit der ganzen Diskussion.
„Eh?“, kam es verdutzt von den Erstklässlern, ungefähr im gleichen Moment, in dem Karasunos Libero völlig empört regelrecht auf die Bank sprang, die sie als Tischersatz benutzten.
„Tsukishimaaaaaaaaa! Was soll das denn heißen?!“
Während Inuoka und Shibayama vorsichtig auf Abstand gingen, zuckte Tsukki nicht einmal mit der Wimper. Er rückte seine Brille zurecht, ohne sich daran zu stören, dass Noyas Gesicht fast schon auf seinem klebte, und hatte dabei noch die Unverschämtheit, absolut demonstrativ auf den Jungen hinabzusehen. Tetsurou musste sich ein Lachen verkneifen.
„Idiotisch. Unsinnig. Nicht realisierbar. Nur ein Haufen Schwachköpfe und Kleinkinder könnten auf so etwas kommen.“
Er hob vielsagend die Augenbrauen, ein pseudo-unschuldiges Grinsen auf den Lippen – und du bist beides davon, las Tetsurou in seinem Blick. Noya knurrte, Tanaka und Yamamoto gesellten sich zu dem Winzling, beide ihre albernen Imitationen eines bedrohlichen Gesichtsausdrucks zur Schau stellend.
„Hey hey hey, was hast du da gesagt?!“ – „Nimm das wieder zurück, hey!“
Aaaah. Wie schön es doch wäre, wäre Yakkun– nein. Wäre es nicht. Tetsurou seufzte, packte den Irokesen und den Mönchsschädel bei den Krägen und zog sie wieder zurück. Noya überließ er sich selbst, einerseits, weil seine Erfahrung mit kleinwüchsigen Liberos ihm dazu riet, und andererseits, weil der Junge so winzig war, dass er ohnehin nicht viel Schaden anrichten konnte.
„Beruhigt euch mal wieder~ Lasst Tsukki doch erstmal erklären, was er eigentlich will.“
Er warf einen mahnenden Blick in die Runde, damit wirklich Ruhe einkehrte. Yamamoto sah aus, als wolle er widersprechen, ließ es bei einem zweiten Blick wohlweislich aber doch lieber sein, Tanaka orientierte sich scheinbar an ihm und Noya schnaubte noch einmal empört, warf sich aber auch zurück auf seinen Platz am Umkleideboden. (Keine wirklich komfortable Kommandozentrale, aber der Raum war tauglich genug und weit genug weg von den Schlafzimmern, dass Tetsurou darauf spekulierte, dass das Federvieh sich hier erst einmal nicht blicken lassen würde. Er kannte Bokuto. Entweder, er würde einfach gleich im Schlafraum von Fukuroudani bleiben, weil er sein ganzes Team zum Mitziehen zwang, oder er würde sich an einem der strategisch dümmsten Orte überhaupt verschanzen.)
„Also, Tsukki?“
Der Blick, der Tetsurou zuflog war alles andere als herzlich, aber das hinderte ihn nicht daran, weiter bei dem Spitznamen zu bleiben. Würde es Tsukki wirklich stören, würde er vielleicht darüber nachdenken, aber so?
„Angefangen damit – wie wollt ihr alle“, er brach ab, warf einen Blick auf den Gefrierbeutel voller Wasserbomben, die noch ungefüllt und harmlos auf der Bank lagen.
„Einhundertdreiundachtzig“, ergänzte Shibayama mit einem fast vorsichtigen Lächeln. Tsukki nickte nur abwesend in seine Richtung, ehe er fortfuhr (Shibayama strahlte erleichtert und tauschte einen begeisterten Blick mit Inuoka): „Wasserbomben gefüllt durch die Gegend schleppen?“ – „Das ist einfach.“
Lev grinste, sein typisches, breites Grinsen. Tetsurou ahnte schon, dass da nun eine Dummheit kommen würde, und in Gedenken an all die blauen Flecken, die Lev sich gerade sparte, war er wirklich wieder froh, dass Yaku ganz weit von ihnen entfernt war.
„Wir sind alle sehr groß und kräftig, abgesehen von Shibayama und Nishinoya-San, also sollten wir s–“
Er kam nicht weiter, bevor Noya mit einem empörten Ausruf auf seinem Rücken hing. Der Zorn der kleinen Leute. Immer wieder gruselig mit anzusehen. Tetsurou machte sich eine mentale Notiz, Yaku irgendwann einmal darauf anzusprechen, ob Größenkomplexe in der Jobbeschreibung eines Libero standen, wenn er ihn mal wirklich, wirklich ärgern wollte. Und einen guten Fluchtweg hatte. (Shibayama bestätigte aber schon die Ausnahme der Regel. Der Junge war viel zu lieb und harmlos.)
„Tsukishima-Kun hat Recht“, kommentierte Shibayama nachdenklich. Er ignorierte den Tumult völlig, der von Lev und Noya ausging. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Yamamoto und Tanaka da ebenfalls mitmischten, aber nachdem keiner von ihnen wirklich eine Bereicherung im Organisationsbereich war, war es Tetsurou auch ziemlich egal. Lieber grinste er Shibayama zu, als sich dem Knäuel an Gliedmaßen zu widmen, das in seinem Augenwinkel über den Boden rollte.
„Wir brauchen also–“ – „–einen Platz, wo wir die fertigen Bomben lagern können, der aber gut zugänglich ist, richtig?“
Inuoka und Shibayama klatschten grinsend ab. Tsukki nickte knapp und Tetsurou lehnte sich zurück, während Inuoka und Shibayama im Grunde nun alleine weiterdiskutierten, wie sie das Wasserbombendilemma lösen konnten. Tsukki beteiligte sich nicht, was ihn kein bisschen wunderte, und Tetsurou nutzte die Tatsache, dass die beiden Erstklässler schon gut alleine klarkommen würden, dafür aus, wieder ein Auge auf die Unruhestifter zu werfen. Inzwischen hatten sie Lev zu Boden gerungen und Noya gackerte triumphal vor sich hin, während Tanaka irgendetwas davon dozierte, dass wahre Größe doch von innen kam und „Noya-San sowieso der männlichste und coolste von allen ist!“ – „Ryuu!“, war die ergriffene Antwort und Tetsurou sah doch lieber wieder weg, bevor die beiden sich noch heulend in die Arme fielen.
„Ein Wunder, dass du das täglich aushältst, Tsukki.“
Er bekam nur einen unbeeindruckten Blick, so als wollte Tsukki sagen das ist noch nicht einmal das Schlimmste.
Zehn Minuten später war das Problem mit den Wasserbomben unter Kontrolle und so gelöst, dass sie mehrere kleine Munitionslager an strategisch günstigen Orten aufstellen würden. Die erste Wahl war die Sporthalle, in der Kuroo, Tsukki und die Eulen ihr abendliches Privattraining abgehalten hatten. Ein zweites Lager würde im Eingangsbereich der Schule seinen Platz finden, versteckt in den Schuhfächern. Ein drittes Lager mitten auf dem Gelände, auf halbem Weg zwischen Sporthallen und Schuleingang, und das letzte Lager in einem leeren Klassenraum, den sie noch finden mussten, und der idealerweise möglichst weit entfernt lag von Yakus Kaffeekränzchen und den Schlafräumen. Tetsurou wollte schließlich vermeiden, dass irgendwelche Spaßbremsen ihnen ihre Freude zu früh nahmen. Zusätzlich natürlich die Einschränkung weg von Toiletten und Essbereich, so gut es ging, und damit war ihr Schlachtfeld schon auf ein recht gut überschaubares Gebiet reduziert.
Tetsurou spekulierte darauf, dass die Eulen selbst keine größere taktische Überlegung zum Schlachtfeld anstellten, und damit idealerweise einfach in all die Ecken gelockt werden konnten, in denen Tetsurou sie gerne hätte. Er wusste niemanden im Fukuroudani-Team, der allzu viel taktische Genialität zeigte – außer Akaashi, und der war netterweise ja nicht dabei.
„Außerdem können wir nicht einfach aufmarschieren und einen Überraschungsangriff starten, wenn wir keine Ahnung haben, wo das feindliche Team sich befindet“, fuhr Tsukki schließlich fort. Seine Worte wurden mit Unverständnis begrüßt – „Aber natürlich. Es ist auch immer noch ein Überraschungsangriff, wenn wir alle davon überrascht sind, uns zu treffen!“, argumentierte Noya, und die Tatsache, dass er das vollkommen ernst meinte, sorgte dafür, dass Tetsurou beinah umfiel vor ersticktem Lachen.
„Und es ist langweilig, nur zu warten, bis sie uns finden“, fügte Lev noch hinzu, belehrend den Finger erhoben, „Angriff ist bekanntlich die beste Verteidigung.“
Und im Volleyball ist Verteidigung der beste Angriff, Dummkopf.
„Informationsbeschaffung!“, warf Inuoka in den Raum, und sofort nickte Shibayama wild, „Genau! Spione! Wir brauchen eben jemanden, der für uns herausfindet, wo der Feind ist. Dann können wir einen Überraschungsangriff starten – oder zumindest unsere Truppen so stationieren, dass wir einen Vorteil haben.“ – „Also müssen wir zuerst einmal Truppen aufteilen, Yuuki!“ – „Ah! Aber… – genau! Wir brauchen einen Spähtrupp! Und es wäre vielleicht hilfreich, eine Artillerie zu haben. Also ein paar Leute, die sich gleich auf die schweren Geschütze spezialisieren. Die verstecken sich mit ein paar Wasserbomben aus dem nächsten Vorratslager an strategisch günstigen Punkten und machen die Eulen ordentlich nass! Die Fußsoldaten sorgen eben dafür, dass Fukuroudani uns auch wirklich ins Netz geht, und–“ – „Fallen“, hauchte Inuoka ehrfürchtig, seine Augen leuchteten. Die beiden Erstklässler tauschten einen überwältigten Blick, ehe sie im Chor ausriefen: „So cool!“
„Den Spähtrupp könnt ihr mir überlassen!“, verkündete Lev selbstüberzeugt, „Als Nekomas Ass bin ich am besten dafür geeignet!“ – „WAS SAGST DU DA?! Ich zeig dir, wie ein richtiges Ass das macht, du Bohnenstange!“
„Tora, gib’s ihm! Woah – du musst total in den Spähtrupp, um Kiyoko-San zu beschützen!!!“
„Noya-San…“
„Und wir müssen Handynummern austauschen, damit wir auch in Kontakt bleiben können!“
„Wir brauchen coole Code-Namen, wie in diesen krassen Action-Filmen, Noya-San!“ – „Ryuu! Du bist so genial!“
Tetsurou warf einen amüsierten Blick in Tsukkis Richtung. Tsukki sah weit weniger amüsiert aus; sein Blick changierte zwischen gelangweilt und angepisst.
„Lass sie spähen. Das wird genauso katastrophal wie alles andere, was sie anpacken.“
Tetsurou gab Tsukki im Stillen Recht, amüsiert grinsend. Den Spähtrupp brauchten sie sowieso nur zu Beginn der Schlacht, danach konnte die Infanterie wohl genauso gut übernehmen. Und zumindest Inuoka und Shibayama traute er auch zu, zu funktionieren, so wie die beiden sich da gerade reinsteigerten. Aber was das anging…
„Yamamoto und Lev machen die Späher, okay. Die Infanterie übernehmen Noya-Kun, Tanaka, Shibayama und Inuoka. Die Artillerie machen Tsukki und ich. Einwände?“
„Nicht wirklich, aber was ist eine Infant– Infanterei?“ – „Ryuu! Das hatten wir letztens in Geschichte! Das ist – ehm – ha! Ich hab die Erklärung verschlafen!“
„Infanterie“, korrigierte Tsukki herablassend gelangweilt, „Fußsoldaten. Artillerie, schwere Geschütze, in unserem Fallen das Wasserbombenkommando. Unsere Infanterie wird mit jeweils zehn gefüllten Wasserbomben, Spuckrohren samt vorgeknüllter Munition und Mehlbomben ausgestattet. Alle weitere Bewaffnung müsst ihr euch selbst zusammensuchen – Tafelschwämme, Kreide, Besen.“
Er zuckte die Schultern, immer noch typisch desinteressiert, doch in seinen Augen funkelte ein heimliches, unheilvolles Licht. Er rückte die Brille zurecht, die Spiegelung seiner Brillengläser ließ ihn gleich noch ein bisschen gefährlicher aussehen.
„Nachdem die Artillerie zuerst ohnehin nicht viel zu tun haben wird, werden wir das Fallenstellen übernehmen.“
Tetsurou kam aus dem Grinsen gar nicht mehr heraus. Er wusste schon, wieso er Tsukki mochte.
Bis alle Papierkügelchen gerollt und in handlichen kleinen Gefrierbeuteln verpackt waren, die Mehlpackungen in sinnvolle Portionen aufgeteilt, dass man sie dem Feind nur noch ins Gesicht werfen musste, und die Wasserbomben gefüllt und versteckt waren bis auf die, die tatsächlich als Standardbewaffnung bei Spähtrupp und Infanterie unterkamen, war es schon kurz vor Zwölf. Es wurden Handynummern getauscht, Codenamen vergeben, und schließlich trennte sich Team Nekoma (und Krähenanhang).
Die Schule war dunkel. Mit ihren Handys in den Händen, statt große Lampen einzuschalten, machten sie sich auf den Weg. Tetsurou sah seinen Jungs hinterher, bis die Dunkelheit ihre mickrigen Lichtquellen verschluckte, dann wandte er sich mit einem raubtierhaften Grinsen an Tsukki.
Sie hatten Großes vor.
Sehr Großes.
***
„–und dann werden wir Kuroo zeigen, was mit aufmüpfigen Straßenkatzen passiert!“, beendete Bokuto die Ausführung seines großen Plans. Er erntete bewundernde Rufe und ein heimliches Schnauben von Saru, das dank seinem Grinsemund immer noch viel zu amüsiert aussah. Akinori sah zweifelnd auf die Wasserbomben, die sie bereits gefüllt hatten und die zwei der drei Waschbecken blockierten. Bokuto war der festen Überzeugung, dass hier ihre beste Basis war, denn:
„Kuroo wird niemals darauf kommen, dass wir uns im Klo verschanzen, hey hey hey!“ – „Bokuto ist wirklich ein Genie~!“, hatte Komi lachend verkündet. Akinori fürchtete, dass er es genauso ernst meinte, wie Bokuto es nahm.
Er hatte ein ganz mieses Gefühl bei der ganzen Sache. Ein ganz mieses, nasses Gefühl. Ihre Gegner hatten schließlich auch Wasserbomben.
„Wir brauchen Schilde“, beschloss er.
Sein einziger Trost war, dass er nicht mit Bokuto in einer Gruppe sein würde. Komi war schon schlimm, aber bei Komi hatten sie zumindest eine Chance, unauffällig in Feindesgebiet vorzudringen. Bei Bokuto?
Eher nicht.