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Selbstwiderspruch

von

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Entgegen der Vernunft

„Kommst du mit rein?“
 

„Ne, da braucht ihr mich nicht. Ich rufe in der Zwischenzeit Hiyori an und versichere mich, dass sie sich auch gut um Sorata kümmert.“ In den letzten Tagen hatte Kirishima seinen Umgang ausschließlich auf ihn begrenzt und sich aus allen Angelegenheiten, die mit Takano zu tun hatten, rausgehalten. Yokozawa wusste, dass auch dies wieder eine glatte Lüge war und Hiyori sich seit Langem von ganz allein mit größter Fürsorge um den Kater kümmerte, aber er konnte Kirishima verstehen. Yokozawa sah es als eine Art vornehme Notlüge an, nichts, das er seinem Partner nicht nachsehen konnte. Immerhin war er es gewesen, der ihn damals von Takano weg und aus diesem emotionalen Abgrund geholt hatte. Es war Kirishima, der ihn nach Takanos barscher Abfuhr wieder aufgebaut und ihm geholfen hatte, über seine seit Jahren unerwiderte Liebe hinwegzukommen. Es war Kirishima gewesen, der ihn in jener Nacht aufgefangen hatte, der für ihn hierher gekommen war und nicht einen Moment von seiner Seite gewichen war. Der ihm gezeigt hatte, dass er zu seinem Wort stand. Dass er für jemanden‚ der so viel seelischen Ballast mit sich herum trug, der richtige Partner war, dass er ihn bedingungslos annahm und niemals verlangte, dass er seine Gefühle für Takano vergessen sollte, dass er diese Gefühle wie einen Schatz bewahren konnte und sollte. Sie waren zu wertvoll, um sie zu leugnen, das hatte Kirishima ihm klar gemacht – und Yokozawa war ihm dafür dankbar. Letztendlich waren genau dieses Verständnis und die Geduld des Mannes der Grund dafür, dass sie sich so nahegekommen waren.
 

Doch trotz aller Nachsicht und allem Verständnis, es wäre dreist, von Kirishima zu verlangen, sich mit der Situation ebenso auseinanderzusetzen, wie der Knirps und er es jetzt machen mussten; der Termin mit dem Arzt, in dem jener sie über alle notwendigen Anschlusstermine und Nachbehandlungen aufklären würde, die Takano einzuhalten hatte. Und das nur, weil Takano nicht auf sie hören hatte wollen und alles daran setzte, schnellstmöglich entlassen zu werden. Onodera und er hatten nicht viel Wahl gehabt und kurzerhand darauf bestanden, dabei mit einbezogen zu werden. Die Sturheit und fehlende Einsicht ihres Freundes waren ihnen beiden bekannt, es war also nötig, dass Takano jemanden an seiner Seite hatte, der vernünftige Entscheidungen treffen konnte. Obwohl Takano eigentlich gut auf sich aufpassen konnte, hatte Yokozawa ihn auch anders erlebt, hatte gesehen, was passierte, wenn Takano den Boden unter den Füßen verlor. Und im Moment wusste Yokozawa nicht, wie stabil besagter Untergrund war.
 

Der Frischling und er würden Takano gemeinsam im Blick behalten.
 

Und Kirishima ihn, das hatte der Ältere klar und deutlich verlauten lassen, kurz bevor sie sich hier eingefunden hatten. Yokozawa spürte das warme, kribbelnde Gefühl, das sich in seiner Brust ausbreitete. Wie könnte er sich jemals bei Kirishima revanchieren und ihm all das zurückgeben?
 

„Unsinn! Sie kümmert sich um Sorata bestimmt besser, als ihr Vater es je könnte.“, neckte er den Älteren und schmunzelte, als sein Partner das Gesicht verzog und die Lippen schürzte „Wie kannst du nur so grausam sein!“ Kirishima war viel zu leicht aufzuziehen, wenn es um seine Vorbildfunktion als Vater ging. Yokozawas Schmunzeln wandelte sich mehr und mehr in ein breites Lächeln, er war wirklich froh, dass sein Partner hergekommen war. „Grüß Hiyo von mir und sag ihr, dass wir bald wieder da sind.“
 

„Mach ich.“ Kirishima winkte ihnen noch mit dem Handy in der Hand, bevor er sich entspannten Schrittes auf den Weg nach draußen machte.
 

Sorata? Das war doch Takanos Katze, auf die Yokozawa Acht gab… ? Dann hatte er richtig verstanden, was Kirishima ihm im Auto gesagt hatte. Verstohlen lugte Onodera zu dem großgewachsenen Mann neben sich, der noch immer seinem Gesprächspartner nachsah.
 

„Ist was?!“, raunte Yokozawa ihn verstimmt an und Onodera konnte den Rotschimmer auf dessen Wangen sehen. Onodera war verblüfft, wie schnell sich Yokozawas Laune, nein, dessen ganzen Aura, so schlagartig ändern konnte. Aber zu verdenken war es ihm nicht.
 

„N-nein…“
 

Nicht, dass die Atmosphäre zwischen ihnen nicht schon immer gelinde gesagt angespannt gewesen war, doch die letzten Tage hatten dem Ganzen ein völlig neues Paar Schuhe angezogen. Wenigstens einen kleinen Tropfen der Befriedigung hatte das Schicksal ihm gegönnt: Yokozawa war allem Anschein nach mit der Situation genauso unglücklich und überrannt wie er.
 

Angefangen hatte es in jener Nacht im Flur des Krankenhauses, als er sich sicher war, Yokozawa notfalls gewaltsam aus dem Weg zu schieben – woher auch immer er in diesem Moment den Mut dazu genommen hatte. Natürlich hatte Yokozawa dies nicht ungestraft einfach so hingenommen und ihn mit eiskalten Blicken auf seinen Platz verwiesen. Denn völlig egal, auf welcher Ebene sie es betrachteten, Yokozawa war ihm überlegen. Er war der Ranghöhere in der Redaktion und er war Takanos bester Freund. Er war ihm damals der treue Begleiter gewesen, der ihn nicht im Stich gelassen hatte, ganz egal wie tief Takano auch gesunken war.
 

Und er? Er war der Frischling in der Abteilung und, wie der Zufall es so wollte, der neue Nachbar. Der, der Takano damals das Herz gebrochen hatte und nach zehn Jahren einfach so wie aus dem Nichts wieder aufgetaucht war. Zehn Jahre, die für sie beide so qualvoll und geprägt von Einsamkeit und Verzweiflung gewesen waren. Wie hätte er gegen Yokozawa ankommen können, was für Argumente hätte er schon gehabt?
 

Ein bitteres Lächeln schlich sich auf Onoderas Züge. Er hatte sich vorgenommen, nicht mehr wegzulaufen, bei Takano zu bleiben und endlich reinen Tisch zu machen. Doch was hatte er erwartet? Dass er plötzlich ein völlig neuer, anderer Mensch war und Takano so behandelte, wie er es verdient hatte? So, wie er selbst es eigentlich schon die ganze Zeit tun wollte?
 

In jener Nacht war er an Takanos Bett eingeschlafen, hatte dessen Hände gehalten und gehofft, dass es ihm einfach nur bald wieder gut gehen würde, dass Takano diesen Alptraum überstehen würde.
 

Und da es nicht die Krankenschwestern gewesen waren, die ihn in dieser Nacht aus dem Schlaf gerissen und aus dem Zimmer gebeten hatten, sondern Takano selbst ihn am nächsten Morgen geweckt hatte, musste er wohl die ganze Nacht bei ihm gesessen haben. Die Schwestern hatten Mitleid mit ihm gehabt und ihn sogar noch zugedeckt, als sie das Licht gelöscht hatten.
 

Nun… mit Yokozawa hatten sie diese Nachsicht nicht gehabt. Und Yokozawa mit ihm seither erst recht nicht. Sie hatten ihn zuvor nicht Takano sehen lassen und ihn auch in jener Nacht höflich, aber bestimmt auf die Besuchszeit verwiesen. Onodera konnte nicht anders, als sich dafür schlecht zu fühlen. Es war Yokozawa gewesen, der zuerst am Krankenhaus angekommen war, der die ganze Zeit in diesem Gang gewartet hatte und vor Sorge fast erstickt wäre. Er hatte ihn doch gesehen, wie er da saß… wie gebrochen Yokozawa gewirkt hatte. Er war egoistisch gewesen, hatte nur darauf bestanden Takano zu sehen und an Yokozawa gar nicht mehr gedacht.
 

Es war erst am nächsten Morgen gewesen, als Yokozawa endlich die Gelegenheit bekommen hatte, nach seinem Freund zu sehen. Doch wie das Schicksal es gewollt hatte, war auch dies nicht so verlaufen, wie sie es sich vorgestellt hatten.
 

Onodera hatte gerade mal genug Zeit gehabt, um zu begreifen, dass es Takano selbst war, der ihn geweckt hatte, da wurde er auch schon freundlich auf den Wartebereich verwiesen - immerhin hatten die Ärzte und Schwestern noch allerhand mit ihrem neuen Patienten vor. Auch sie hatten dem Frieden noch nicht so ganz getraut. Dass Takano diesen Unfall in erster Linie überlebt und dann auch noch so glimpflich überstanden hatte, grenzte an ein Wunder – und das sah man für gewöhnlich nicht jeden Tag.
 

Onodera hatte die Chance genutzt, sich das Gesicht zu waschen, in der Hoffnung, dass das eiskalte Wasser seine Augenringe klären und die Erschöpfung hinfort spülen würde. Mit mäßigem Erfolg, wie er empfand. Anschließend hatte sein Weg in die Cafeteria geführt, hätten Kaffee und Zucker das ausgleichen sollen, was das kalte Wasser nicht geschafft hatte. Und dennoch hatten sich all seine Bewegungen schwerfällig, träge angefühlt.
 

Er hätte sich doch freuen sollen, immerhin ging es Takano gut. Er war wach, er hatte mit ihm geredet.
 

Aber genau das war der Punkt gewesen. Wieder einmal war es Takano, der das Wort ergriffen hatte. Es war Takano, der mit ihm gesprochen hatte. Und ihm waren wie immer die Worte im Hals stecken geblieben. Er war so überwältigt von der Situation gewesen, dass seine Gedanken sich überschlagen hatten und er einfach kein Wort über die Lippen bringen konnte. Auf seiner Zunge hatte sich einfach kein Laut bilden wollen.
 

Also hatte er den kleinen Geschenkeladen aufgesucht, hoffend, dass er etwas finden würde, mit dem er sich ausdrücken konnte. Etwas, das Takano eine Freude bereiten würde. Etwas, das seine Nervosität verstecken würde. Vielleicht hätte sich auf diese Weise der Kloß in seiner Kehle hinunterwürgen lassen.
 

Was musste Takano von ihm denken? Dass er ihm nichts zu sagen hatte? Er hatte ihm doch so viel zu sagen! Bedrückt war er zurück zu Takanos Zimmer gelaufen, ohne den geringsten Plan, wie er mit der Situation umgehen sollen. Er hatte nur ganz leise geklopft, da er Takano nicht wecken wollte, falls er wieder eingeschlafen war.
 

Mit eben diesem Gedanken hatte er auf keine Antwort gewartet, vorsichtig die Tür aufgezogen, den Raum betreten und es im gleichen Moment bereut.
 

Das Bild vor seinen Augen hatte ihn für einen Moment die Müdigkeit und Erschöpfung gänzlich ausblenden lassen. Für einen Moment war alles weg, leer. In diesem einen Moment hatte er sich so fehlplatziert gefühlt, wie damals an seinem ersten Arbeitstag im Marukawa Verlag – wenn nicht sogar schlimmer. Und es war auch offensichtlich, dass er im Moment nicht hier sein sollte. Mit der Schokolade und den Magazinen, die er für Takano gekauft hatte, in seiner Hand, stand er einfach nur da und wusste, dass er diesen Moment nicht hätte unterbrechen sollen. Dass er nicht hätte dort sein sollen.
 

Eigentlich hatte er im ersten Augenblick nur Yokozawas Rücken gesehen, der ihm die Sicht auf denjenigen nahm, den er eigentlich erwartet hatte. Yokozawas breiten Rücken, bedeckt von einem legeren Shirt, das die Sehnen- und Muskelstränge des Bären nur erahnen ließ. Erst dann hatte er erkannt was für einen unsäglich sensiblen Augenblick er gestört hatte. Yokozawas Arme, die sich fast verzweifelt um Takano schlangen, ihn an sich zogen, die langen, dünnen Finger in Takanos dunklem Haar, die ihn festhielten, nicht losließen. Yokozawas Gesicht eng an Takanos Halsbeuge, die Mischung aus Schmerz und Erleichterung auf seinen Zügen und ein so schmerzlicher Ausdruck in seinen Augen, dass selbst Onodera das Leid fühlen konnte, das den Bären seit gestern heimgesucht hatte. Yokozawa hatte in diesem einen Moment seine eigenen Abgründe, seine Verletzlichkeit preisgegeben.
 

Und Takano, der nach Kräften seine Hand an die Schulter des Mannes gelegt hatte, die Fingerspitzen, um nicht abzurutschen, in den Stoff gekrallt. Er hatte sich dem Halt, dem Schutz, den Yokozawas Arme ihm geboten hatten hingegeben, die Wange dicht an das dunkle Haar des Mannes geschmiegt und die Verängstigung, den Schock und die Erkenntnis, in Sicherheit zu sein auf seinen feinen blassen Zügen. Er hatte die Schwäche und Hilflosigkeit, die er fühlte und der er so wehrlos ausgesetzt war, offenbart, umrahmt von Blutergüssen und Verbänden.
 

Bis zu den Moment in dem er ihn gesehen hatte. Wie er dastand und sie stumm anstarrte. Verloren und fehl am Platz.
 

Onodera konnte nicht sagen, wie lange er wirklich dastand, bis sein Gehirn endlich wieder Signale an seine Glieder schicken und er sich in Bewegung setzen konnte. Raus aus diesem Raum, raus aus dieser Situation und weg von den beiden.
 

Takano hatte ihm im Nachhinein immer wieder versichert, dass es nicht das war, wonach es ausgesehen hatte. Doch das war gar nicht nötig gewesen. Er hatte es nicht in den falschen Hals bekommen. Es war genau das gewesen, wonach es auch ausgesehen hatte.
 

Er hatte einen Mann gesehen, der eine seiner wichtigsten Personen in den Arm nahm. Jemanden, der beinahe das, was ihm mitunter am meisten bedeutete, verloren hätte. Der seiner Erleichterung Ausdruck verlieh, sich nicht zurückhielt. Der seine Gefühle klar zeigen konnte. Dass Takano ihm wichtig war, dass sein Leben einen unbeschreiblichen Wert hatte. Yokozawa hatte in diesem Moment Takano einfach nur gezeigt, wie wichtig, wie lebensnotwendig dieser für ihn war. Wie froh er war.
 

Und Takano hatte das bekommen, was er so sehr gebraucht hatte, nachdem das Leben sich von seiner wohl erschütterndsten, brutalsten Seite gezeigt hatte. Zärtlichkeit, Wärme, Trost und vor allem Geborgenheit. Jemanden, der ihn in den Arm nahm und ihn für einen Moment vor der Welt schützte.
 

Es hatte Onodera einen Stich versetzt, die beiden Männer so zu sehen. Ja, er war eifersüchtig gewesen, aber nicht in dem Sinne, den Takano vermutete. Nicht im Geringsten, er wusste um Takanos Gefühle, er wusste, dass jedes einzelne seiner Worte wahr war. Niemals hätte er an ihm gezweifelt. Er war eifersüchtig auf Yokozawa gewesen. Es hatte ihn geschmerzt zu sehen, wie Yokozawa Takano mit einer Selbstverständlichkeit das geben konnte, wozu er selbst nicht in der Lage war. Wie selbstverständlich dessen Handlungen und Worte waren, wie einfach es ihm fiel.
 

Er war eifersüchtig auf das, was sie hatten – etwas, das er nicht über sich brachte. Wenn er genauer darüber nachdachte… eifersüchtig war vielleicht nicht das richtige Wort dafür.
 

Er beneidete Yokozawa.
 

Erst recht, wenn er bedachte, dass er noch immer nicht wirklich mit Takano hatte sprechen können. All die letzten Tage nicht. Es war nicht so, dass er gar nichts rausgebracht hatte, dass er Takano nicht geantwortet hatte – das hatte er – aber nie waren sie in solchen Momenten allein gewesen. Entweder waren es die Ärzte, die Schwestern oder Yokozawa, die die Stille füllten.
 

Sobald er mit Takano allein war, spürte er diesen harten, schweren Kloß in seinem Hals, der so groß war, dass nichts an ihm vorbeikam. Und dann war da noch dieser Druck auf seiner Brust, der ihm in diesen Momenten das Atmen so immens erschwerte.
 

Also hatte er, wenn überhaupt, immer nur wortkarg reagiert und versucht, die Provokationen Takanos so gut wie möglich zu ignorieren.
 

Und, nicht zu vergessen, das Gezanke, dass sie alle drei immer wieder hatten. Es drehte sich um ein und dasselbe Thema und auch, wenn er es nicht erwartet hätte, er und Yokozawa verfolgten das gleiche Ziel: Takano zur Vernunft zu bringen.
 

Was am Anfang jedoch nur in Bemerkungen Platz gefunden hatte, wurde zu einem so frequenten und unvermeidbaren Thema, das sie nun beide wider Willen hierher geführt hatte. Weder er selbst noch Yokozawa verspürten die Lust, sich gemeinsam in dem kleinen Besprechungsraum einzufinden. Erst recht nicht, da es um ein Thema ging, das sie beide so vehement versucht hatten, Takano auszureden.
 

Takano, der ihnen seit Tagen damit in den Ohren lag, das Krankenhaus zu verlassen und nach Hause zu fahren. Tests hätten sie zur Genüge durchgeführt, recht viel mehr gäbe es nicht zu beobachten, im Bett liegen könne er auch zuhause. Dabei handelte es sich doch nur um ein paar weitere Tage. Ein paar wenige Tage, die seinen Verletzungen Zeit geben würden zu heilen. Die ihn dazu zwangen, im Bett zu bleiben.
 

Onodera wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Yokozawa seine Position auf dem Stuhl wechselte und nach einem Blick auf seine Uhr schlechtgelaunt die Arme vor der Brust verschränkte.
 

Yokozawa war genervt, malmend biss er die Zähne aufeinander, verspannte den Kiefer. Was sollte das? Takano musste doch einsehen, dass es nach so einem Unfall in seinem Zustand unklug war, die Dinge zu überstürzen. Er sollte sich ausruhen und nicht in der Gegend herumgeistern. Als ob er sich zuhause ausruhen würde! Er konnte dessen Faxgerät direkt vor sich sehen, wie sich Takano die Arbeit nach Hause schicken ließ, Anrufe tätigte und sich selbst keinen Gefallen tat. Als er sich damals bei einer im Vergleich harmlosen Grippe nicht schonen wollte, hatte er gehofft, dass sein Freund zumindest seine Grenzen kennen würde.
 

Doch das tat er nicht. So viel stand nun fest.
 

Aus diesem Grund hatten sie beschlossen, alle Informationen seitens des Doktors einzuholen, die sie Für Takanos weitere Behandlung benötigen würden – ihr sturer Freund hätte sie freiwillig bestimmt nicht eingeweiht. Yokozawa konnte die Argumentation und Starrsinnigkeit lebhaft vor seinem inneren Auge beobachten und schon allein die Vorstellung daran frustrierte ihn.
 

Und genau deswegen durfte Takano nichts von diesem Termin erfahren, sonst würden sie schneller vor die Tür gesetzt werden, als ihnen lieb wäre.
 

„Du wirst ihn keine Sekunde aus den Augen lassen, hast du verstanden?“
 

„… Ja“, aus den Augenwinkeln lugte er zu Onodera, beobachtete, wie er nahezu verkrampft auf dem Stuhl saß und stoisch die Tischplatte fixierte. Einen selbstbewussten Eindruck machte er auf ihn noch immer nicht, das hatte sich seit ihrer ersten Begegnung nicht geändert.
 

„Und lass ihn bloß keine Dummheiten machen.“
 

„W-werde ich nicht.“ Diese unsichere, verklemmte Art, die der Kleine an sich hatte, machte ihn wütend. Mit einer solchen Haltung hätte er nicht die geringste Chance, sich gegen Takano durchzusetzen und letztendlich würde sein Freund machen, wonach ihm der Sinn stand. Außerdem hatte er schon die ganzen letzten Tage kaum einen Ton herausbekommen, wenn sie bei Takano waren. Zumindest nicht in den Momenten, in denen er dabei gewesen war.
 

„Schaffst du das überhaupt?“
 

„Ich werde mir Mühe geben!“, sagte er kleinlaut. Am liebsten hätte Onodera Yokozawa Kontra gegeben, ihn darauf hingewiesen, dass er doch genau deswegen hier war und man es ihm nicht noch einmal wie einem kleinen Kind extra sagen musste. Natürlich würde er Takano keinen Moment aus den Augen lassen, natürlich würde er auf ihn Acht geben und natürlich wollte er, dass es Takano gut ging. Deswegen saßen sie doch nun hier in diesem Zimmer, weil sie beide das gleiche Ziel verfolgten. Für einen Moment dachte Onodera sich, dass Yokozawa nicht fair mit ihm war. Doch fast zeitgleich wurde ihm bitter bewusst, dass Yokozawa jeden Grund hatte, an ihm zu zweifeln. In den letzten Tagen hatte er sich wirklich nicht für die Aufgabe des sorgenden Freundes qualifiziert. Er hatte kein Wort mit Takano wechseln können und vor Yokozawa konnte er sich auch nicht selbstbewusst zeigen – erst recht nicht, wenn Takano dabei war. Viel mehr musste Takano ihn sogar in Schutz nehmen. Die Enge, die ihn fast zerdrückte und die Schnur um seine Kehle hatten ihn immer wieder verstummen lassen und ihn bitteren Endes auch auf Abstand gehalten. Ein paar Mal hatten seine Lippen versucht, die Worte zu formen, doch kein Ton hatte seinen Mund verlassen. Dabei hätte er Takano auch gerne mal gezeigt, wie wichtig er ihm war, wie sehr er sich freute, ihn nicht verloren zu haben.
 

Doch wenigstens bei der Diskussion um Takanos Entlassung hatten seine Stimmbänder ihn nicht im Stich gelassen.
 

„Bitte?! Mühe? Wie lange willst du noch so unentschlossen dahin eiern?!“, schnappte Yokozawa.
 

Er hatte keine Lust sich mit Yokozawa zu streiten. Es würde zu nichts führen und viel Wahl hatten sie beide nicht. Er meinte es ernst, dass er sich Mühe geben würde und mehr konnte er ohnehin nicht tun. Yokozawa musste doch genauso gut wie er wissen, dass jegliches Diskutieren bei Takano ab einem gewissen Punkt nichts mehr brachte. Und wenn er sich recht erinnerte, dann hatte Takano damals Yokozawa rausgeworfen und nach Hause geschickt als er das letzte Mal krank war. Und auch, wenn er den Vorfall mit gemischten Gefühlen betrachtete, Onodera würde wetten, dass ihm das nicht passierte. Vermutlich war das jedoch kein Punkt, den er jetzt vorbringen sollte. Die Wogen glätten würde er damit ganz sicher nicht.
 

Er fühlte sich ausgelaugt, erschöpft und vor allem rastlos. Seit Tagen brachen die Dinge nur so auf ihn herein und raubten ihm den Schlaf. Erst diese Sache mit seinem Vater, die er nicht so recht zuzuordnen wusste, dann dieses schlechte Gewissen gegenüber Takano und dann noch dieser schreckliche Unfall. Er fühlte sich pausenlos unter Druck gesetzt, gestresst. Er wusste nicht, wie er mit Takano umgehen sollte und sein Verhältnis zu Yokozawa erschwerte die Situation zunehmend. Er hatte keine Möglichkeit, dem Ganzen zu entfliehen, nicht einmal für einen kurzen Augenblick. Überall waren Takano, Yokozawa und dieses erdrückende Krankenhaus. Wenn er doch nur einen kurzen Augenblick der Ruhe ganz für sich allein hätte…
 

Mit Erleichterung nahm Onodera ein Geräusch hinter sich wahr, als sich die Tür öffnete und dann mit einem gedämpften Klacken schloss.
 

„Entschuldigen Sie, ich wurde aufgehalten“, eilig schritt der Arzt an ihnen vorbei, nickte zum Gruß und ließ sich hinter seinem Schreibtisch auf dem Stuhl nieder. Sein Blick wanderte über die Arbeitsfläche, als er seine Unterlagen suchte und sich in der Menge an Dokumenten zu orientieren versuchte.
 

„Danke, dass Sie sich extra die Zeit genommen haben!“ Onodera betrachtete den älteren Herren vor sich, der ihnen als Antwort nur zunickte. Doktor Taro Hakamada war der leitende Oberarzt. Hinter der dunkel umrahmten Brille, die er sich, in Gedanken versunken, auf den Nasenrücken setzte, blickten zwei dunkle Iriden auf die Unterlagen, die er zur Hand genommen hatte. Seine üppige Statur, die weißen Haare, die vollen Wangen, die bereits von Falten durchzogen waren, ließen ihn zwar alt wirken, doch seine wachen Augen und flinken Bewegungen zeugten davon, dass nur sein Erscheinungsbild, weder aber seinen Geist noch seine Agilität über die Jahre gealtert waren. Onodera mochte ihn, er war ihnen allen in den letzten Tagen immer herzlich und freundlich entgegengekommen und hatte sich immer Zeit genommen. Er war menschlich. Sein Wille, sich um seine Patienten zu kümmern und sie zu schützen, hatte Onodera bereits in jener Nacht hautnah mitbekommen. Ebenso wie dessen Güte und Verständnis für seine Patienten und deren Angehörige.
 

Nur wünschte der junge Redakteur sich, Doktor Hakamada wäre mit seinem Verständnis für Takanos Entlassungswünsche etwas bescheidener.
 

„Wo haben wir ihn denn, Masamune Takano…“, ein Blatt nach dem anderen wanderte auf den kleinen Stapel aus Unterlagen bis er gefunden hatte, wonach er suchte. „Ach hier. Da ist er ja.“ Kurz schwieg er, las sich die Informationen durch, die er dann auch gleich wieder zur Seite legte. Als er sich ihnen zuwandte und den Blick auf sie richtete, stützte er sich nachdenklich mit gefalteten Händen auf dem Tisch ab.
 

„Nun, wie ich höre möchte ihr Freund frühzeitig entlassen werden.“
 

„Können Sie ihn nicht irgendwie davon abbringen?“, Yokozawa klang ernsthaft besorgt und für gewöhnlich würde er nicht um Hilfe bitten. Aber sie hatten schon alles versucht, Takano wollte einfach nicht auf sie hören. Aber vielleicht könnte ein Arzt ihn umstimmen – und wenn nicht der Chefarzt, wer dann?
 

„Ich habe mit Takano-san gesprochen, ihm die Situation geschildert und auch meine Empfehlung abgegeben. Ich kann Ihre Bedenken und Ihre Sorge gut verstehen, aber ich kann keinen erwachsenen Mann gegen seinen Willen hierbehalten, der geistig gesund und zurechnungsfähig ist.“
 

Mit einem Grummeln lehnte der Bär sich gegen die Lehne seines Stuhls, sein Verdruss war ihm deutlich anzusehen. Onodera fühlte mit ihm, ihnen waren die Hände gebunden; aber eine wirkliche Überraschung war das nicht.
 

„Meine Herren, ich kann nicht oft genug wiederholen, dass Takano-sans Zustand einem wahren Wunder gleichkommt. Er hatte unglaubliches Glück, wenn man sich das Ausmaß des Unfalls vor Augen führt und dass der Unfallgegner auch noch ein größeres Fahrzeug war. Einen solchen Aufprall so glimpflich zu überstehen und dann nach ein paar Tagen wieder so gut wie auf den Beinen zu sein, ist erstaunlich. Vor allem, wenn man bedenkt, dass er nicht angeschnallt war, ist dies-“
 

„Was?!“ Synchron unterbrachen sie ihr Gegenüber, der sie völlig überrumpelt betrachtete. Beide hatten sich ruckartig aufgesetzt und wirkten so überrascht und fassungslos über das Gesagte, dass der Doktor sich entschied, kurz zu schweigen.
 

Keiner von beiden wollte seinen Ohren trauen. Was hatte er da gesagt? Ihre volle Aufmerksamkeit richtete sich mit allen Sinnen auf den Chefarzt. Es hatte ihnen aus Wut und Fassungslosigkeit die Sprache verschlagen.
 

Was hatte er da gesagt? Hatte er das wirklich gesagt?
 

„Könnten Sie das bitte noch einmal wiederholen?“ Yokozawa starrte den Doktor ungläubig an, er musste es noch einmal hören, um sicherzugehen, sich nicht verhört zu haben.
 

Doch Onodera hatte das eine Mal gereicht, ein weiteres Mal musste er Doktor Hakamadas Worte nicht hören. Er hatte sie klar und deutlich verstanden, nur glauben konnte er sie nicht.
 

In seinem Inneren wüteten seine Gefühle und er kämpfte damit, das Chaos in seinem Kopf zu besänftigen. Nicht angeschnallt?!
 

Ohne die Antwort des Chefarztes abzuwarten war er abrupt aufgestanden und aus dem Zimmer gestürmt.
 

Was hatte sich Takano dabei gedacht?
 

Ausgerechnet Takano, der nicht müde wurde, ihm zu erzählen, dass er auf sich aufpassen musste. Der Takano, der ihn einst im Krankenhaus abgeholt und eigentlich sein ganzes Privatleben völlig auf den Kopf gestellt und ihm seither keine Ruhe mehr gelassen hatte, der ihn zwang mit ihm zu essen und die Dreistigkeit besessen hatte, ihn ins Bett schicken zu wollen. Damit er mehr auf sich selbst achtete, regelmäßig aß, ausreichend schlief und was ihm nicht noch alles eingefallen war!
 

Aber offensichtlich war es demselben Takano wichtiger, sich vorrangig in fremde Angelegenheiten einzumischen, als sich um seine eigenen zu kümmern.
 

Onodera schnaubte. Dieser Unfall hätte ganz anders ausgehen können, Doktor Hakamada hatte Recht gehabt, er hatte Glück gehabt. Nur Glück. Je mehr Onodera darüber nachdachte, desto mehr fachte es seine Wut an.
 

Mit schnellen großen Schritten eilte er die Gänge entlang, seine Hände hatten sich zu Fäusten geballt, seine Fingernägel bohrten sich in die Haut.
 

Onodera war so wütend, dass er keinen ruhigen, klaren Gedanken fassen konnte. Seine Gefühle übermannten ihn, als wäre das Gefäß, in dem sie zusammengepfercht wurden, geplatzt. Und jetzt strömten sie aus, um mit Gewalt nachzuholen, was ihnen die ganze Zeit verwehrt worden war.
 

An seinem Ziel angelangt, riss er ungestüm die Tür auf, wie weggefegt waren seine Bedenken und seine Zurückhaltung.
 

„Was hast du dir dabei gedacht?!“, er spürte, wie sich der Strick, der sich seit dem Unfall um seine Kehle geschnürt hatte, lockerte und schlagartig das Gefühl des Erstickens gewichen war, Luft in seine Lungen strömte. Der Knoten in seiner Brust hatte sich gelöst und ebnete all seiner Wut, seinem Zorn und diesem Chaos in ihm den Weg nach draußen.
 

„Dir hätte dabei sonst was passieren können! Du hättest draufgehen können! Du, der mir immer Moralpredigten hält, dass ich nicht auf mich aufpassen würde! Ausgerechnet du! Der große Masamune Takano, der immer das letzte Wort behalten muss!“ Onodera merkte, wie sich die Luft, die so frei in seine Lungen floss, die Worte, die nur so aus ihm heraussprudelten und der Druck auf seiner Brust wandelten. Wie der Widerstand in ihm brach und alles, wirklich alles über ihn hereinbrach. In ihm wallten all die Gefühle auf, die er seit Tagen in sich gefressen und unterdrückt hatte, um irgendwie weitermachen zu können, um nicht zusammenzubrechen. Er spürte, wie ihn das Chaos, das in ihm tobte und all die Emotionen, mit denen er nicht umzugehen wusste, überrannten. Wie seine Augen brannten und sein Brustkorb sich plötzlich schmerzhaft zusammenzog und die Luft aus seinen Lungen presste, als ihn ein so heftiges Schluchzen durchfuhr, das selbst seine Knie drohten nachzugeben.
 

„Nicht angeschnallt!“, er spie die Worte geradezu aus, der Hohn und die Fassungslosigkeit, die in jeder Silbe mitschwangen, waren unüberhörbar. „Was hast du dir dabei gedacht?! Ist dir dein Leben etwa nichts wert? Was sollte das?“, seine Stimme hörte sich selbst in seinen eigenen Ohren erstickt an, das Sprechen fiel ihm mit jeder Sekunde schwerer. Die Erleichterung, die er für einen Moment gespürt hatte, die ihn beflügelt und ihm Kraft gegeben hatte, war gewichen. Überrannt von einem Schwall aus Frust, Wut, Verzweiflung, Angst und so vielem, das Onodera nicht benennen konnte, fühlte sich seine Brust wie zum Zerreißen gespannt an. Das Atmen fiel ihm schwer, seine Schultern bebten mit jedem weiteren Schluchzen, das er mit aller Macht zu unterdrücken versuchte.
 

„Bist du doof?!“, er benutzte genau die Worte, mit denen Takano ihn so oft angefahren hatte, wann immer er die Dinge unnötig verkompliziert und er ihren gemeinsamen Umgang so unsäglich erschwert hatte. Heiße Tränen liefen seine Wangen hinab und benetzten die Haut, er versuchte sein Gesicht und die Scham, die er fühlte, hinter seinen Händen zu verstecken.
 

„Onodera…“
 

„Halt die Klappe! Ich meine… Was hast du dir dabei gedacht? Fast wärst du… du hättest dabei ums Leben kommen können! Du hättest… du hättest sterben können!“, er hatte das Gefühl zu ersticken und schnappte unkontrolliert nach Luft, als ihn heftige Schluchzer fast krampfartig durchfuhren und seinen ganzen Körper zum Beben brachten. „Jetzt wo ich… wo ich… ich... jetzt wo ich dich…“, doch weiter kam er nicht, er hatte keine Kraft mehr, sein Schluchzen zu unterdrücken. Wie ein Erdbeben schüttelte es seinen zierlichen Körper. Verloren stand er im Raum, rang nach Luft und spürte die Tränen, die von seinem Gesicht tropften.
 

Er hatte das letzte bisschen Kraft, das ihn so mühsam zusammengehalten hatte, gänzlich verbraucht. Müde sanken seine Hände an seinen Seiten herunter, gaben seine nassen Wangen und die tränengefluteten Augen frei. Er hatte einfach nicht mehr an sich halten können, es war einfach so aus ihm herausgesprudelt und er hatte nicht einmal mehr die Energie sein Gesicht zu verdecken und seine Tränen vor Takano zu verstecken.
 

„Onodera…“, Takano, völlig überwältigt von Onoderas plötzlichem Gefühlsausbruch, sah ihn aus weit aufgerissenen Augen an. „Hey…“, weder wusste er, was er sagen, noch was er machen sollte. Er wusste nicht einmal so recht, was gerade passiert war. Nichtsdestotrotz wehrte sich alles in ihm, Onodera, seinen Onodera, so allein und verloren mitten im Raum stehen zu lassen.
 

„Onodera, komm her.“ Doch der Jüngere reagierte nicht, er stand einfach nur da, tränenüberströmt und von seinen Emotionen überwältigt. Onodera wirkte geschlagen, als hätte er einen Kampf verloren – einen Kampf gegen sich selbst. Seine grünen Augen waren auf ihn fixiert, aber so sehr, wie er weinte, bezweifelte Takano, dass der Jüngere irgendetwas erkennen konnte.
 

„Ritsu… mach schon, komm her“, Takanos Stimme war ruhig und sanft, seine Arme nach Onodera ausgestreckt, bereit ihn aufzunehmen, fest einzuschließen und alles daran zu setzen, ihn nicht auseinander fallen zu lassen. Denn genau so wirkte der Jüngere gerade, als wäre er kurz davor, zu zerbrechen.
 

Takano überlegte, ob er aufstehen und Onodera zu sich ziehen sollte. Nicht, dass er es nicht konnte, aber er hatte das ungute Gefühl, dass Onodera in seinen Armen zusammensacken und es ihm dann unmöglich sein würde, ihn aufzufangen. Wenn er doch nur reagieren würde, doch er stand einfach nur da und weinte bitterlich. Ihn so zu sehen quälte ihn, sein Herz fühlte sich an, als ob es in Fetzen gerissen wurde.
 

Er hatte bereits nach der Decke gegriffen, um diese zurückzuschlagen, als Onodera sich endlich regte. Zaghaft setzte der Jüngere einen Fuß vor den anderen, näherte sich ihm zögerlich. Und dennoch dauerte Takano das alles zu lange, er wollte ihn nicht so aufgelöst und schutzlos sehen. Er gehörte zu ihm und dort sollte er jetzt auch sein, bei ihm – und zwar so nah, wie nur irgendwie möglich.
 

Takano hatte sich nach vorne gelehnt und den Jüngeren gepackt und aufs Bett gezogen, als dieser für ihn endlich in Reichweite war. Onodera hatte sich nicht gewehrt und sich von ihm einfach vorwärts ziehen lassen, bis er stolpernd auf das Bett und ihm entgegengefallen war. Zwar war seine Landung unsanft und Takano konnte nicht leugnen, dass ihn bei dessen Aufprall ein stechender Schmerz durchzuckte, doch das war ihm tausend Mal lieber, als Onodera weiterhin so verloren im Raum stehen zu sehen.
 

Fest zog er ihn an sich, legte seine Arme um ihn und hielt ihn gedrückt, als seine Finger durch sein nussbraunes Haar fuhren, ihm die feinen Strähnen aus dem Gesicht schoben und den Blick auf dessen grüne Seelenspiegel freigaben. Noch immer quollen unzählige Tränen aus den sonst so lebhaften Augen und der zierliche Körper bebte unaufhörlich in seinen Armen. Er spürte, wie verzweifelt Onodera nach Luft rang und immer noch weit davon entfernt war, sich zu beruhigen.
 

„Du machst Sachen…“, mit sanfter Gewalt drückte er Onoderas Kopf an seine Brust und streichelte mit dem Daumen über seine Schläfe, während er mit der freien Hand bedächtig Onoderas Rücken auf und ab fuhr, in der Hoffnung ihn beruhigen zu können. Liebevoll küsste er seinen Scheitel, bevor er behutsam sein Kinn auf das Haar bettete.
 

Du musst gerade reden, schoss es Onodera durch den Kopf. Doch er schwieg, wusste er, wie seine Stimme ihn kolossal im Stich lassen und er bestenfalls ein paar krächzende Laute zustande bringen würde. Er hatte aufgehört gegen die Tränen und all die Gefühle anzukämpfen, die wie eine Armee über ihn hereingefallen waren. Es war, als wäre mit einem Schlag jegliche Kraft aus ihm gewichen, als würde er unter sich selbst begraben werden und unter all diesem Gewicht kaum mehr Luft bekommen.
 

Takanos Nähe fühlte sich so gut an, er wollte sich ganz von seiner Wärme umhüllen lassen, sie ganz in sich aufnehmen. Als könnte er ihn vor all dem beschützen, dem er sich so erbarmungslos ausgeliefert fühlte. Er brauchte Takano, brauchte seine großen Hände, die ihn liebkosten, die Arme, die ihn festhielten. Er nahm Takanos starken beständigen Herzschlag an seiner Wange wahr, als der Ältere ihn an sich drückte und endlich konnte er sich entspannen und an ihn lehnen. Onodera hatte sich so sehr nach dieser Nähe gesehnt, seine Berührungen zu spüren, seinen Geruch in sich aufzunehmen und Takanos sanfte Stimme zu hören.
 

Er hatte Takano so schrecklich vermisst und brauchte ihn so sehr. Die letzten Tage war das Einzige, das er gefühlt hatte, dieser Druck gewesen, der ihn gezwungen hatte, alle seine Emotionen, die ihn zu überfluten drohten, tief in sich zu verschließen. Weil es ihn fast umgebracht hatte, als er von Takanos Unfall erfuhr, weil er vor Angst fast erstickt wäre und weil es in diesem Moment nichts Schlimmeres gegeben hatte, als in seiner eigenen Haut zu stecken. Weil ihn der Schmerz fast innerlich zerfressen hätte.
 

Weil er Takano vielleicht nie wiedergesehen hätte.
 

Seinen Takano, der ihn nach zehn Jahren noch immer lieben konnte, der so um ihn kämpfte. Der Mensch, der ihm immer und immer wieder zeigte, wie wertvoll und wie wichtig er für ihn war. Sein Takano, der ihm so hartnäckig sagte, wie sehr er ihn liebte, wie er sich nach ihm sehnte, mit ihm zusammen sein wollte und dass er sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen wollte. Dass er es nicht ertragen würde, ihn noch einmal zu verlieren.
 

Onodera rang nach Luft und versuchte, sein Gesicht in Takanos Hemd zu verstecken, während sich seine Finger verzweifelt in den Stoff krallten. Er wollte Takano nicht verlieren, er durfte es nicht! Und dennoch, nie war er auf dessen Gefühle eingegangen, nie hatte er Takano eine Antwort gegeben. Immer hatte er geschwiegen, vom Thema abgelenkt und ihn damit allein gelassen. Er hatte es nicht verdient, dass Takano jederzeit für ihn da war, dass er ihn liebte. Und dennoch sehnte er sich nach nichts anderem als Takanos Nähe. Nichts wollte er mehr, als bei Takano zu sein.
 

„Ich“, er schluckte, versuchte seine Kehle und Lungen von der Schwere, die auf ihm lastete, zu verdrängen, um wieder frei atmen zu können, „Ich... Takano, ich…“, Onodera spürte, wie sich Takanos Umarmung verstärkte, ihn so fest hielt, dass er sich fast nicht mehr bewegen konnte. Es beruhigte ihn.
 

„Schon gut.“
 

„Ich… ich brauche dich auch.“
 

Dieser Dummkopf, dachte sich Takano im Stillen, doch insgeheim spürte er in sich das Feuerwerk aus Gefühlen, das Onoderas Worte in ihm ausgelöst hatten. Sein Gesicht wanderte an Onoderas Kopf hinunter, bis seine Lippen die des anderen fanden. Er küsste ihn erst sanft, doch wurde schnell immer verlangender, spürte Onoderas erhitzte Wangen und den leicht salzigen Geschmack der Tränen. Seine Sehnsucht nach dessen Nähe wurde dadurch nur umso mehr angefacht. Fordernd bewegte er seine Lippen gegen die des Jüngeren und ließ ihn durch seine unmissverständliche Begierde spüren, dass er ihn nie wieder gehen lassen würde. Takano konnte die Emotionen, die ihn wie eine gewaltige Welle mit sich rissen, nicht in Worte fassen und ließ sich einfach von ihnen tragen. Er küsste Onodera so unnachgiebig, nahm dessen Geruch in sich auf, schmeckte ihn und fühlte jede noch so kleine Berührung ihrer Körper. Als sich seine Lippen etwas öffneten, nutzte er sogleich die Gelegenheit, um mit seiner Zunge in die warme feuchte Mundhöhle vorzudringen und sie zu erkunden. Er hatte von Onodera ganz und gar Besitz ergriffen und ließ erst von ihm ab, als er aus Luftnot gezwungen war sich von ihm zu lösen.

„Ma…sa-…Takano…“, er spürte den hastigen Atem des jungen Redakteurs auf seinem Gesicht. Sanft hauchte er ihm einen weiteren Kuss auf den Mundwinkel als er mit den Fingern durch das weiche Haar strich und Onodera mit seinen dunklen Iriden musterte.
 

Es waren Onoderas leuchtend grüne Augen, die ihm sagten, dass sich sein inneres Chaos zu legen schien. Zwei Smaragde, die wie auch sonst eine so bunte Mischung aus Gefühlen reflektierten. Er konnte so viel in ihnen erkennen, Onoderas Dickköpfigkeit, seine Scham, die über das gesamte Antlitz des Jüngeren strahlte, die Erleichterung und das unglaublich große Herz, das in Onoderas Brust schlug. Doch ganz anders als sonst, zeigten sie nicht mehr den Widerwillen, die Abwehr gegen ihn. Im Gegenteil, Takano konnte seit so langer Zeit, nach über zehn Jahren, endlich wieder Onoderas bedingungslose Hingabe und Zuneigung sehen und auch spüren. Etwas, auf das er so lange gewartet und nach dem er sich so sehr verzehrt hatte, dass es ihn innerlich fast aufgefressen hätte.

„Ich liebe dich, Ritsu.“ Wisperte er gegen seine Lippen und beobachtete, wie sich eine weitere Träne aus Onoderas Augen löste. Er hoffte inständig, es würde die letzte sein. Zärtlich fing er das salzige Nass mit den Fingern ab, bevor er ihn wieder liebevoll an sich drückte und augenblicklich spüren konnte, wie sich Onodera an seine Brust schmiegte. Ritsus Nähe war wie Balsam auf seinem zerrütteten Gemüt.
 

Er seufzte im Stillen. Manchmal wünschte er sich, in Onoderas Kopf schauen zu können. Nein, eigentlich wünschte er sich das sogar immer. Damit er endlich herausfinden konnte, was für Gedanken den Jüngeren umtrieben, was ihm gefiel und was nicht. All die Dinge, die er ihm nicht sagte, die Dinge, über die sie es nicht schafften zu sprechen. Und warum Onodera ihm einfach nicht sagen konnte, dass auch er ihn liebte. All das würde er nur zu gerne wissen. Dann könnte er aus dem Weg schaffen, was Onodera die Distanz zwischen ihnen wahren ließ. Es war für ihn offensichtlich, dass irgendetwas Onodera umtrieb, etwas, das ihn immer wieder zwang, auf Abstand zu gehen.
 

Takano erinnerte sich daran, wie er nach dem Unfall im Krankenhaus zu sich gekommen war. Es waren das schonungslose, nahezu unerträgliche Pochen in seinem Kopf und das leise Rascheln des rauen Stoffes an seinem Kopf gewesen, die ihn geweckt hatten. Sein Körper hatte sich schwer angefühlt, auf seinen Gliedern spürte er diesen stumpfen Druck und nur langsam sickerte es zu ihm durch, dass dieses pulsierende Pochen nicht nur in seinem Kopf, sondern überall in seinem Körper gewesen war. Obwohl ihm all dies ungewohnt vorkam, hatte es doch einige Momente und letztendlich den Versuch, sich zu bewegen gebraucht, bis er realisiert hatte, dass irgendetwas definitiv nicht stimmte. Wie ein Blitz hatte ihn der Schmerz durchzogen, seine Bewegung jäh gestoppt und dieses unangenehme stechende Prickeln in seinen Gliedmaßen ausgelöst.
 

Als er vorsichtig die Augen geöffnet und sich seine Sicht allmählich geklärt hatte, hatte er im Licht der Dämmerung seine Umgebung gemustert; die weißen sterilen Wände, die grauen Fließen, die Geräte um ihn herum und die blanken Laken, in denen er lag. An seiner Seite herabblickend konnte mehrere Verbände sowie die Nadel in seinem Arm erkennen. Doch erst als er den feinen Schlauch, der mit der Kanüle in seinem Unterarm verbunden war, verfolgte und den transparenten Beutel mit Flüssigkeit sah, begriff er endlich, dass er sich in einem Krankenhaus befinden musste.
 

Der Unfall.
 

Kraftlos hatte versucht, trotz des Dröhnens in seinem Schädel einen klaren Gedanken zu fassen. Er erinnerte sich zwar an den Unfall, aber es war ihm schwergefallen, die Details in seinem Gedächtnis abzurufen. Seine Augen waren starr auf die Decke über ihm gerichtet, sein Blick in die Ferne gerückt. Er hatte beschlossen, für den Moment nicht über den Unfall nachzudenken, da er sich ohnehin nicht konzentrieren konnte und er es auch gar nicht gewollt hatte. Er war sich sicher, dass die Realität früh genug über ihn hereinbrechen würde. Also hatte er sich der Mischung aus Taubheit und dem Gefühl tausend quälender Nadelstiche in seinem Körper hingegeben und die Zeit verstreichen lassen. An Schlaf war nicht zu denken gewesen, blitzten doch immer wieder Bruchstücke des Vortages vor seinem inneren Auge auf.
 

Die Sonne war lange aufgegangen, als Takano durch eine Regung an seiner Seite unerwartet aus seiner Trance gerissen wurde. Mühsam hatte er sich vorgebeugt, um Blick auf die Stelle zu erhaschen, an der er die Bewegung wahrgenommen hatte.

Takano hatte seinen Augen nicht getraut, als Onodera in seinem Sichtfeld aufgetaucht war. War er etwa schon die ganze Zeit über da gewesen?

Er hatte den jungen Mann gemustert, der in einer sitzend-liegenden Haltung am Rande des Bettes schlief, den Oberkörper auf den weißen Stoff gebettet. Sein Gesicht war blass, die Ringe unter dessen Augen tief. Dem Schmerz zum Trotz hatte Takano es riskieren und die schlanke Gestalt an seiner Seite berühren wollen, als ihm die angenehme Wärme von Onoderas Hand an der seinen aufgefallen war.

Er wusste noch genau, wie erleichtert er sich in diesem Moment gefühlt hatte, als wäre ein Teil der Last von ihm abgefallen. Weil er nicht allein war, weil Onodera an seiner Seite war. Weil er ihn nicht verlassen hatte und einzig diese Tatsache hatte für einen Moment den qualvollen Schmerz in seinen Gliedern zu übertönen vermocht.

Sachte hatte er seinen Namen gerufen und den Kontakt ihrer Hände genutzt, um ihn zu wecken. Takano wollte Onoderas Gesicht sehen, mit ihm reden, seine Stimme hören und seine Wärme spüren. Er hatte nicht an diesen Unfall denken wollen ohne Onodera nahe bei sich zu haben, sich an ihn lehnen und von ihm Kraft zu schöpfen zu können.
 

Doch entgegen seiner Erwartung eines allmählich aufwachenden Onoderas, war er ruckartig in die Höhe gefahren und Takano hatte unverzüglich den beißenden Schmerz gespürt, als seine Muskeln sich vor Schreck anspannten. Das Überraschungsmoment und der Schmerz, der so plötzlich seinen ganzen Körper durchzuckt hatte, waren wie der letzte noch fehlende Auslöser gewesen, um die Lawine in seinem Inneren loszutreten.

Wie aus dem Nichts waren all seine Erinnerungen wie eine eiskalte Masse über ihn hereingebrochen. Das Dröhnen in seinem Kopf war synchron unerträglich geworden und da war nichts, was ihn aus dieser Lage hätte befreien können. Hilfesuchend hatte er nach Onoderas Hand gegriffen, als er ihn der Schock über die Geschehnisse und der Schmerz mit einer Wucht traf, die ihm qualvoll die Luft aus seinen Lungen presste.
 

Wie ein erschrockenes Reh hatte Onodera ihn aus zwei weit aufgerissenen und dunkel umrandeten Augen angesehen. Er hatte beobachten können, wie es in Onoderas Kopf arbeitete, wie sich Verwirrung, Unglaube, Angst und ein Hauch Erleichterung in dessen Ausdruck mischten, während seine Iriden sich nicht von ihm abwenden konnten. Onoderas Lippen hatten sich zwar bewegt – gezittert - doch letzten Endes hatte er kein Wort zustande gebracht und ihn einfach nur bestürzt angesehen. Damit hatte sicher keiner von ihnen gerechnet.

Doch noch bevor einer von ihnen hätte reagieren können, noch bevor sie überhaupt die Chance auf einen gemeinsamen Moment gehabt hatten, waren der Arzt, sowie zwei Schwestern hereingekommen und hatten Onodera aus dem Zimmer gebeten.
 

Es waren die Worte des Arztes gewesen, die trockenen und ebenso eindringlichen Details des Unfalls und seiner zahlreichen Verletzungen, die ihn endgültig in die Realität zurückgeholt hatten. Takano hatte mit jedem weiteren Wort des Mediziners gespürt, wie Onoderas Wärme mehr und mehr aus seiner Hand wich und die Stabilität, die ihm dessen Anwesenheit gegeben hatte, in sich zusammenfiel. Er hatte sich nur schutzlos ausgeliefert und verloren gefühlt, als wäre er im freien Fall und nichts würde ihn halten. Das ohrenbetäubende Kreischen des Metalls, der brutale Stoß, der seinen Körper erfasst hatte und das Gefühl den Boden unter den Füßen zu verlieren, das alles war mit einem Schlag so lebendig und ungestüm auf ihn eingeprasselt, dass er nichts anderes mehr mitbekommen hatte.

Und dann war da plötzlich Yokozawa, der ihn aufgefangen und fest in seine Arme geschlossen hatte. Der ihm den Schutz gegeben hatte, der für ihn in diesem Moment so essenziell gewesen war. Es hatte sich angefühlt, als wäre Yokozawa seine letzte Rettung gewesen und dankbar hatte er sich von dem großgewachsenen Mann auffangen und in den Arm nehmen lassen.
 

Es war nur ein ungutes unbeschreibbares Gefühl das Takano dazu veranlasst hatte, seine Augen wieder zu öffnen. Doch kaum dass er den Blick gehoben hatte, wurden all seine Gedanken beiseite gedrängt und ihn überkam die Erinnerung der berstenden Scheibe und des gleich darauffolgenden schneidenden, brennenden Schmerzes.
 

Onodera war direkt vor ihnen gestanden, hatte sie beobachtet.
 

Der Schmerz der scharfen, auf ihn einprasselnden Kristalle, die seine Haut zerfetzten und vor denen er nicht hatte fliehen können zwang sich in seinem Inneren penetrant in den Vordergrund, als er geradewegs in Onoderas entgleiste Züge blickte. Für einen Moment war die Zeit stillgestanden. Takano hatte es erklären wollen, hatte mit ihm reden wollen, doch noch bevor er überhaupt die Gelegenheit bekommen hatte zu reagieren, war Onodera bereits wieder verschwunden. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag.
 

Es war ihm schwergefallen, das wilde Durcheinander, das in seinem Inneren gewütet hatte, zu ordnen. Da waren Erinnerungen in seinem Kopf, die so greifbar und schmerzhaft waren, die Verletzungen des Unfalls und sein seelisches Leid, die Angst, Onodera enttäuscht zu haben.

Dabei hatte er einzig und allein in Onoderas Armen sein und ausschließlich dessen Nähe spüren wollen – nicht Yokozawas. Quälend langsam war diese Erkenntnis in sein Bewusstsein gesickert.

Und obwohl er sich hätte ausruhen sollen, hatte ihm das Thema keine Ruhe gelassen. Auch nicht, als Onodera später zurückgekommen war und ihm schweigend Gesellschaft geleistet hatte. Mit deutlich zu viel Abstand hatte er sich auf den kleinen Hocker gesetzt und beteuert, dass alles in Ordnung wäre und dann war es auch schon ganz genau so gelaufen, wie sonst auch. Onodera hatte betreten zu Boden geblickt und sie hatten sich, wie so oft, angeschwiegen, obwohl es tausende von Dingen gab, über die sie hätten reden können. Wenn Onodera doch wenigstens die Nähe, seine Nähe, nicht so gescheut hätte. Doch Takano hatte die Kraft gefehlt etwas aktiv dagegen zu unternehmen. Er war zu erschöpft gewesen, sodass er die meiste Zeit geschlafen hatte.
 

Rückblickend betrachtet war dieser Tag eine einzige Katastrophe gewesen. Zwar fühlte er sich unendlich dankbar gegenüber Onodera und Yokozawa, die die ganze Zeit über an seiner Seite gewesen waren - Takano wollte sich nicht ausmalen, wie er das überstanden hätte, hätte er nicht seine Familie um sich gehabt - doch schlimmer hätte der Tag damals gar nicht mehr laufen können, da war er sich sicher.
 

Zu seinem Verdruss, waren die darauffolgenden Tage nicht anders verlaufen. Yokozawa hatte einen unerwartet ausgeprägten Beschützerinstinkt an den Tag gelegt, war leicht reizbar gewesen und hatte sich übermäßig um alles gesorgt. Manchmal hatte er sich wie ein kleines Kind gefühlt, das bevormundet wurde. Doch er hatte ihn machen lassen, er konnte sich vorstellen, wie sehr sein Freund innerlich mit der Situation zu kämpfen hatte – vor allem, wenn Dinge aus dessen Kontrolle gerieten. Früher hatte er Yokozawas Drang, Dinge zu entscheiden, zu beeinflussen und zu kontrollieren als typische Macke ihrer gesamten Vertriebsabteilung abgestempelt. Aber er hatte gesehen, wie sehr Yokozawa diese ganze Sache mitgenommen hatte, von ihm selbst ganz zu schweigen.
 

Onodera hatte sein distanziertes und gedrücktes Verhalten beibehalten. Es war völlig unmöglich gewesen, mit ihm zu reden, Blickkontakt aufzubauen oder ihn gar zu berühren. Seine Verletzungen hatten es ihm vor allem anfangs völlig unmöglich gemacht, dem Jüngeren nahezukommen, da sein Bewegungsspielraum zu stark eingeschränkt war. Und obwohl Onodera die ganze Zeit bei ihm war, konnte Takano spüren, dass sich Onodera emotional immer weiter vor ihm zurückzog.

Takano hatte sich unermüdlich Gedanken über den jungen Redakteur gemacht. Weder hatte er einschätzen können, wie Onodera mit dem Unfall umging, noch was die etwas prekäre Situation mit Yokozawa in ihm ausgelöst hatte. Wenn er doch nur mit ihm gesprochen hätte!

Wie gerne hätte Takano ihm unmissverständlich klar gemacht, dass er ausschließlich bei ihm sein wollte, dass das mit Yokozawa nichts zu bedeuten hatte. Diese Option war ihm jedoch verwehrt geblieben, also hatte er sich wohl oder übel damit zufriedengeben müssen Onodera wenigstens um sich zu haben.
 

Doch wie sich gerade herausgestellt hatte, waren all seine Bedenken und sein Unbehagen, das er bezüglich Onoderas Verfassung seit dem Unfall verspürt hatte, berechtigt gewesen und die Person, die er so sehr über alles liebte, lag nun völlig aufgelöst in seinen Armen. Es nervte ihn mindestens genau so sehr, wie es ihn freute.

Er war aus allen Wolken gefallen, als Onodera so unverhofft hier hereingeplatzt war und entgegen seiner sonst zurückhaltenden Art seine Gefühle lautstark und tränenreich kundgetan hatte. Er hatte beobachten können, wie Onodera selbst damit überfordert gewesen war, wie es ihn überrannt und er jegliche Kontrolle darüber, was als Nächstes passierte, verloren hatte.

Ihn so zu sehen war unerträglich gewesen. Es hatte Takano einen Stich versetzt, Onoderas Verwundbarkeit auf so grausame Art mitansehen zu müssen und gleichzeitig zu wissen, dass er der Grund dafür war. Erst in diesem Moment war ihm bewusst geworden, wie sehr der Jüngere die letzten Tage gelitten haben musste, als er all diese Emotionen im Stillen mit sich herumgetragen hatte, ohne seine Last mit jemandem zu teilen. Stattdessen hatte der Dummkopf die Distanz zu ihm gewahrt und kein Wort über die Lippen gebracht.

Doch wie hätte er jetzt wütend auf in sein können? Es hatte ihn zu sehr aus der Bahn geworfen, den zierlichen Körper in seinen Armen zu spüren, wie er bebte und nach Luft rang, Onoderas heiße Tränen, die nicht versiegten und die gepeinigten Laute, die über seine Lippen kamen.
 

Doch nichtsdestotrotz waren da auch noch diese ganz anderen Gefühle, die zweite Seite der Medaille. Takano wusste, dass er sich selbst dafür verurteilen und schämen sollte, denn alles daran war falsch. Aber so sehr es ihn auch schmerzte, Onodera so zu erleben, so sehr erfreute ihn auch der vehemente Zusammenbruch. All die Emotionen zu sehen, die so ehrlich und intensiv waren und Onodera den Boden unter den Füßen entrissen hatten, hatte ihn glücklich gemacht. Weil es Ausdruck seiner Zuneigung für ihn war. Onoderas Panik und Verzweiflung, ihn verlieren und nicht bei ihm sein zu können, ebenso wie sein zitternder Körper, der in seinen Armen Zuflucht und Schutz gesucht hatte, lösten in ihm, zusammen mit all den negativen Empfindungen, eine so angenehme Wärme aus, die ihn nur noch lächeln und ein Empfinden von Glück zurück ließ. Nüchtern betrachtet wusste Takano, dass das falsch und absolut verwerflich war. Dass er sich nicht über so etwas freuen sollte. Doch zum ersten Mal hatte Onodera seine Gefühle für ihn so offen und ehrlich gezeigt, dass ihnen keine Worte der Welt gerecht werden konnten. Er hatte ihm in gewisser Weise gezeigt, dass er seine Liebe doch erwiderte, dass er bei ihm sein und ihn unter keinen Umständen verlieren wollte.

Als er ihm dann auch noch gesagt hatte, dass er ihn brauchte, war es um ihn geschehen. Fast wäre er über ihn hergefallen, hatte er ihn in vollen Zügen lieben und ihn spüren lassen wollen, wie glücklich er war. Nur waren sie leider noch immer in einem Krankenhaus…
 

Takano spürte, wie das Beben des Jüngeren abebbte, sich seine Atmung normalisierte und auch dessen Hitze abklang. Onodera beruhigte sich und das war auch gut so. Behutsam strich Takano ihm den Rücken entlang und bettete erneut seinen Kopf auf dem nussbraunen Haarschopf und genoss die Zweisamkeit, die sie hatten. Endlich, er hatte so lange darauf warten müssen.
 

In seinem Kopf ließ er Onoderas Gefühlsausbruch Revue passieren, immer und immer wieder. Er hatte etwas gesagt, das sich Takano einfach nicht erklären konnte und je länger er darüber nachdachte, desto weniger konnte er dem Drang widerstehen, seiner Neugierde zu beruhigen. Ihn beschlich das Gefühl, dass er dem Jüngeren unbedingt auf den Zahn fühlen sollte.
 

Während er wie in Trance Onoderas Rücken ununterbrochen weiter entlangstrich, wandte er sich mit ruhiger, gesenkter Stimme an den Jüngeren. Er wollte so beiläufig wie möglich klingen.

„Sag mal, wie kommst du da eigentlich drauf? Nicht angeschnallt?“

Takano wartete beharrlich ab, konnte spüren, wie Onoderas Rücken sich unter seiner Hand verspannte und er seine Antwort hinauszögerte. Kurz wurde es still im Raum und keiner von ihnen sagte etwas, doch Takano hatte Zeit. Um die Antwort würde der junge Redakteur gewiss nicht herumkommen. Aber vor allem beschlich ihn die Vorahnung, dass er gleich ziemlich genervt sein würde.

Das Ganze war ihm bereits verdächtig vorgekommen, als Yokozawa und Onodera sein Zimmer zuvor gemeinsam mit einer schwammigen Ausrede verlassen hatte. Sie hatten doch nicht wirklich geglaubt ihm etwas vormachen zu können? Er hatte einen Unfall erlitten und nicht seinen Verstand verloren.

Leise hörte er, wie der Jüngere etwas Unverständliches gegen sein Hemd murmelte.
 

„Huh? Was hast du gesagt?“, die zierliche Gestalt in seinen Armen hatte sich in der Zwischenzeit zur Salzsäule verwandelt.

„… Doktor Hakamada.“

„Eeeehhh?!“, skeptisch hob er eine Augenbraue. Diese Beiden konnte man keinen Augenblick allein lassen! Wenn sie etwas mit dem Arzt besprechen wollten, dann konnten sie das auch mit ihm gemeinsam machen, oder nicht?

Doch Takano brauchte darauf keine Antwort. Immerhin war es schwer, geheime Abmachungen hinter seinem Rücken zu treffen, wenn er doch mitten im Raum saß.

„N-na ja…“, begann Onodera stotternd, „…weil… na weil…“, Takano musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass Onodera mit ertappter Miene und seinem nervösen Lächeln verzweifelt nach einer guten Erklärung suchte, „w-weil wir uns Sorgen machen und du ja entlassen werden willst und weil… na ja, weil wir d-das am liebsten verhindern wollten.“

„Wie bitte?! Und wieso weiß ich davon nichts?“, entfuhr es ihm genervt. Er spürte wie Onodera unter seiner Hand zusammenzuckte. Der Jüngere war so nervös gewesen, dass er in seiner Erklärung immer schneller und hastiger wurde und seine letzten Worte letztendlich gerade noch so laut über die Lippen gebracht hatte, dass er sie fast nicht gehört hatte.

Doch ihm war auch das kleine Wörtchen ‚wir‘ in Onoderas Ausführungen nicht entgangen. Natürlich hatte Yokozawa es nicht gut sein lassen können… Takano konnte nicht leugnen, dass es ihn ärgerte.
 

Grimmig brummte er vor sich hin, ihm war klar, dass das kleine zu Stein erstarrte Häufchen Elend in seinen Armen ihm darauf keine Antwort geben würde. Angespannt hatte Onodera sich stattdessen verstärkt an ihn gelehnt, das Gesicht weiter dem hellen Stoff seines Oberteils zugedreht und es ihm somit unmöglich gemacht, ihn anzusehen.

Onodera und Yokozawa waren wirklich eine eigene Hausnummer. Takano fragte sich, inwieweit er die Sorge der beiden tolerieren sollte – nichtsdestotrotz waren sie seine Familie und als solche hatte er ihnen auch Zugeständnisse einräumen wollen. Aber seine Entlassung verhindern?! Er hatte gedacht, die Diskussion darüber wäre bereits beendet. Doch vermutlich hätte er Yokozawa besser kennen müssen. Yokozawa mit seiner forschen und bevormundenden Art war bestimmt die treibende Kraft bei diesem Plan gewesen.
 

Innerlich seufzte er. Sie machten sich wohl immer noch Sorgen, und zwar mehr, als er angenommen hatte. Takano hatte gehofft, dass sich ihre Bedenken über die Tage gelegt hatten. Er merkte, wie er innerlich nachgab und sein Zorn genauso schnell verflog, wie er gekommen war. Wenn er ehrlich mit sich war, dann war er kein Stück besser und gewiss auch nicht einfach in der Handhabung. Er erinnerte sich an all die Male, in denen er sich Onodera nahezu aufgezwungen hatte, nur, um ihm zu zeigen, wie sehr er ihn liebte, er hätte von Anfang an die Reihenfolge einhalten sollen. Und Onodera… er senkte den Blick auf das nussbraune Haar und sah innerlich die Bilder und Szenen in seinem Kopf aufblitzen, in denen Onodera sich jedes Mal vehement gegen ihn gewehrt hatte oder ihm gar aus dem Weg gegangen war. Nur, um ihn letztendlich doch gewähren zu lassen.
 

Ergeben schnaufte er und grummelte genervt, als er daran dachte, wohin ihn Onoderas Starrköpfigkeit schon wieder gebracht hatte – wohin sie sie beide gebracht hatte.
 

„Gut, meinetwegen. Wenn es dich glücklich macht, lasse ich mich eben nicht vorzeitig entlassen.“
 


 

~~~
 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Sooo, endlich wieder ein bisschen TakanoxRitsu – wie fandet ihr es?
An diesem Teil der Ff saß ich ziemlich lange, weil es mir unglaublich wichtig war, die einzelnen Charaktere und ihre Gefühle anschaulich und nachvollziehbar rüberzubringen. Ob das geklappt hat, könnt allerdings nur ihr mir sagen! ;)

Es würde mich wirklich brennend interessieren, wie euch die Ff gefällt – erkennt ihr die Charaktere wieder und kommen die Gefühle gut rüber?

Lasst mir doch bitte kurz eure Meinung in einem Review da! :)

Liebe Grüße,
Eure Komori Komplett anzeigen

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