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Skater Love

von

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Hartnäckige Erinnerungen

Wie lange ich in der Küche stand und eine Doktorarbeit aus der Zubereitung der Hühnersuppe machte, hätte ich hinterher nicht sagen können. Wie sollte ich aber auch produktiv und zeiteffizient sein, wenn mir Tausende Gedanken durch den Kopf gingen? Doch das Schlimmste war das trügerische Gefühl, beobachtet zu werden, denn immer, wenn ich mich vom Herd abwandte und zur Tür sah, war da nichts. Alles Einbildung und das nur, weil ich wusste, dass Karyu in meinem Schlafzimmer war. Himmel, allein dieser Gedanke hatte das Potenzial, in eine Richtung abzudriften, die mir ganz und gar nicht guttun würde.

 

Blinzelnd riss ich mich für den Moment von meinen Überlegungen los und befüllte eine kleine Schale mit Suppe, die ich ins Wohnzimmer trug. Wieder schweifte mein Blick zum Fenster, folgte ich der Flugbahn einer einzelnen Schneeflocke, bis sie aus meinem Sichtfeld verschwand. Mit einem leisen Schnauben wandte ich mich ab, setzte mich aufs Sofa und tauchte den Löffel in die heiße Suppe. Pustend steckte ich mir den ersten Bissen in den Mund und schluckte, ohne wirklich etwas zu schmecken. Mechanisch wiederholte ich diesen Vorgang ein ums andere Mal, bis mir mein eigenes Verhalten so dermaßen auf die Nerven ging, dass ich den Löffel mit mehr Wucht, als es angemessen gewesen wäre, beiseitelegte.

 

„Das kann doch einfach nicht wahr sein“, knurrte ich, rieb mir übers Gesicht und ließ mich zur Seite aufs Sofa kippen. Warum konnte ich nicht aufhören, über den gestrigen Tag nachzudenken? Geschlagen schloss ich die Augen, als sich die ungebetenen Erinnerungen zu beinahe greifbaren Bildern formten.

 

Ich wusste nicht mehr, wann mir Karyu davon erzählt hatte, dass er schon ewig nicht mehr Schlittschuhlaufen gegangen war, weil er niemanden hatte, der mitkommen würde. Und allein machte es angeblich keinen Spaß. Vermutlich war das irgendwann im Sommer gewesen, als das Konzept eines eiskalten Dezembertages so weit von meinem Begreifen entfernt war, dass ich leichtsinnigerweise angeboten hatte, ihn zu begleiten. Und statt den Anstand zu besitzen und mein dahergeredetes Versprechen zu vergessen, hatte mich Karyu natürlich beim Wort genommen und es eingefordert, sobald sich die Gelegenheit dafür geboten hatte. Wie hätte ich also ablehnen können, als er mich gestern vom Studio abgeholt und auf die Eisbahn verschleppt hatte? Das Schlimme daran war eigentlich nur, dass ich wirklich Lust darauf gehabt hatte, Zeit mit ihm zu verbringen. Wir hatten uns Wochen nicht gesehen, waren beide zu beschäftigt gewesen, und die Aussicht auf ein paar Stunden in seiner Gegenwart hatte sich verdammt gut angehört. Ein leises Seufzen kam mir über die Lippen, während ich spürte, wie meine Glieder schwer und ich schläfrig wurde. Mist, ich sollte wirklich nicht einschlafen, ich hatte noch so viel zu erledigen, aber mein Körper schien den Schlaf nachholen zu wollen, den er in der Nacht nicht bekommen hatte.

 

~*~ ein Tag zuvor ~*~

 

„Woher wusstest du, dass ich heute nichts anderes vorhabe?“ Ich schaute aus dem Seitenfenster von Karyus Wagen, während wir auf den Parkplatz der Eisbahn rollten.

‚Glück muss man haben‘, dachte ich im Stillen, als wir gleich neben dem Haupteingang einen Stellplatz fanden.

 

„Du hast einen sehr auskunftsfreudigen Kollegen.“

 

„Tsukasa?“

 

„Wer sonst.“ Wir lachten, bevor meine rechte Braue skeptisch nach oben wanderte und ich die Frage stellte, die mir schon eine ganze Weile im Kopf herumspukte.

 

„Aber wieso hast du mir nicht einfach schon früher Bescheid gesagt, statt mich heute damit so zu überfallen? Schließlich hätte ich trotzdem etwas vorhaben können, von dem ich Tsukasa nichts erzählt habe.“

 

„Das Risiko musste ich eingehen, immerhin wollte ich dir gar nicht erst die Gelegenheit geben, mich zu versetzen.“

 

„So, so. Dachtest du denn, ich würde absagen?“

 

„Sagen wir es so, der Gedanke ist mir in den Sinn gekommen.“ Karyu grinste mich an und wirkte in diesem Moment einmal mehr wie ein zu groß geratener Lausebengel.

 

„Ich überlege ernsthaft, dir das übel zu nehmen.“

 

„Ach nö, lass mal, ist doch viel zu viel Aufwand.“ Holla, so schlagfertig kannte ich den Großen gar nicht. Ich konnte mir ein kurzes Auflachen nicht verkneifen, was Karyus Grinsen nur noch breiter werden ließ. „Außerdem, sieh dich mal um.“ Er schaltete den Motor ab und strahlte mich dann derart erwartungsfroh an, als hätte sich soeben sein größter Wunsch erfüllt. „Es scheint richtig wenig los zu sein, das wird toll.“

 

„Na, mal sehen, ob du auch noch so enthusiastisch bist, wenn du einige Male das Eis geküsst hast.“

 

„Sei nicht immer so pessimistisch, wie schwer kann das schon sein?“

 

„Pass auf, dass dich deine Worte nicht in deinen nichtvorhandenen Hintern beißen.“ Ich grinste mit der Zunge im Mundwinkel und stieg aus, bevor sich Karyu erneut beschweren konnte. Das letzte Mal, als ich auf dem Eis stand, war ich noch ein Teenager gewesen. Ich bezweifelte daher, dass ich mich überhaupt auf den Beinen würde halten können. Aber irgendwie war Karyus gute Laune ansteckend. Zusätzlich stieg mir der Duft heißen Glühweins in die Nase, kaum hatte er die Tür zur Eisbahn aufgedrückt.

 

„Uh, Glühwein“, stellte ich also grinsend fest, „der Nachmittag ist gerettet.“

 

„Ich hab dich aber nicht mitgenommen, damit du dich abschießen kannst.“

 

„Wer redet denn hier von abschießen?“ Ich schnaubte und reckte spielerisch empört die Nase nach oben, bevor ich Karyu von der Seite her anschielte, als mir etwas auffiel. „Hast du nicht etwas vergessen?“

 

„Ich? Nö. Was denn?“

 

„Deine Jacke?“

 

„Oh.“ Karyu sah an sich herab, als wäre ihm tatsächlich gerade erst aufgefallen, dass er hier nur in einem Pullover herumstand. Und das im Winter. „Ach, das passt schon so. Immerhin werde ich gleich meine Runden drehen und kann mich ohne Jacke besser bewegen.“

 

„Du wirst dich erkälten,.“

 

„Nee, so kalt ist es heute nicht.“

 

Während unserer kleinen Diskussion hatten wir die Eisbahn betreten und ich konnte über Karyus Uneinsichtigkeit nur seicht mit dem Kopf schütteln. Allerdings unterließ ich es, weiter auf ihn einzureden, immerhin war er alt genug und würde schon wissen, was er tat.

 

„Hoffentlich haben sie anständige Schlittschuhe im Verleih und nicht nur die komplett weichen, ausgetretenen Dinger“, flüsterte ich das Thema wechselnd, als ich die Reihen an zu verleihenden Schlittschuhen sah, die hinter dem Kassenhäuschen im Eingangsbereich ausgestellt waren.

 

„Die Auswahl ist zumindest nicht schlecht, würde ich sagen“, wisperte Karyu zurück, schenkte dem pickelgesichtigen Teenager hinter der Plexiglasscheibe ein breites Lächeln und verlangte zwei Tickets und unsere Schlittschuhe. In meinem Magen begann es eigenartig zu kribbeln, als er einen Teil seiner Errungenschaften an mich weiterreichte und den Weg zum Umkleidebereich einschlug. Einen Atemzug lang schaute ich nur seiner hochgewachsenen Gestalt hinterher, bevor ein Ruck durch mich ging und ich ihm folgte. Was war das bitte gewesen? Es hatte in der Vergangenheit tausend Gelegenheiten gegeben, zu denen Karyu für mich oder ich für ihn bezahlt hatte, da war dies jetzt auch nichts Besonderes, oder? Ich schüttelte den Kopf, um diese dummen Gedanken loszuwerden, und natürlich musste mein Freund das mitbekommen.

 

„Ist alles in Ordnung?“

 

„Ja, ja“, murmelte ich, vermied jedoch seinen Blick und hockte mich stattdessen auf eine der Holzbänke. Gut, dass Schlittschuhe anzuziehen eine Kunst für sich war und mich ausreichend von weiteren, unpassenden Grübeleien ablenkte. Tatsächlich brauchte ich mehrere Anläufe, bis die Schuhe fest genug an meinen Füßen saßen, dass ich nicht umknicken konnte, aber nicht so fest, dass sie mir die Blutzufuhr abschnürten. Erst, als ich mich erhob und ein paar wacklige Schritte auf den Kufen wagte, fiel mir wieder ein, dass ich hier nicht allein war. Ein schneller Blick zeigte mir, dass Karyu längst fertig war und mich die ganze Zeit über gemustert haben musste.

 

„Warum sagst du denn nichts?“, moserte ich und hoffte, dass er die aufsteigende Hitze in meinen Wangen nicht sehen würde, während ich auf ihn zustapfte.

 

„Du sahst so konzentriert aus, da wollte ich dich nicht stören.“

 

„Aha.“ Ich schnaubte leise, bevor ich dem Großen in den Bauch pikste. „Sicher, dass du deine Schlittschuhe fest genug gebunden hast? Wenn du in den Dingern umknickst, ist meist mehr kaputt.“

 

„Ich denke schon.“ Demonstrativ wackelte Karyu auf den Kufen hin und her, bis auf seine Knie bewegte sich jedoch nichts.

 

„Sieht gut aus.“ Ich schenkte ihm ein Lächeln, von dem ich nicht hätte sagen können, wo es so plötzlich herkam, und ging voraus zur Eisbahn. Wie wir schon vermutet hatten, war wirklich nicht viel los. Einige Schulkinder zogen ihre Bahnen, genau wie Eltern, die ihre meist sehr jungen Kinder an den Händen hielten.

 

„Oh, das nenn ich Glück. Hier ist ja wirklich kaum etwas los.“ Karyu klatschte zweimal in die Hände, was sich dank seiner Wollhandschuhe ziemlich dumpf anhörte und ihn nur noch mehr wie ein übergroßes Kind wirken ließ. Ich spürte, wie mein Lächeln sanfter wurde, und wandte mich schleunigst ab. Himmel, ich brauchte eine Ablenkung – dringend!

 

„Ha!“, rief ich etwas zu begeistert aus, als ich meine Rettung entdeckte. „Da drüben ist der Glühwein-Stand.“ Ehrlich erfreut deutete ich in die Richtung und wollte mich schon dorthin in Bewegung setzen, als sich eine Hand um die meine schloss.

 

„Nichts da. Erst drehst du ein paar Runden mit mir.“

 

„Muss ich?“

 

„Oh, ja.“

 

Sehnsüchtig warf ich der kleinen Bude einen letzten Blick zu, bevor ich mich in mein Schicksal ergab. Und um ehrlich zu sein, entschädigte mich Karyus freudiges Lächeln für so einiges, als ich ihm ohne weitere Widerworte folgte. Allerdings war ‚Runden drehen‘ etwas zu zuversichtlich von ihm gedacht gewesen, denn kaum hatten wir unsere Füße auf der Eisfläche, konnte er sich nur mittels eines beherzten Griffs an die Bande von einem Sturz abhalten. Bei mir sah es nicht viel besser aus, nur war ich so schlau gewesen, die Hand gar nicht erst von dem sicheren Halt der Begrenzung zu lösen. Theoretisch wusste ich noch, wie ich Schwung holen musste, wie ich meine Füße platzieren musste, um anzuhalten, und sogar, wie das mit dem Rückwärtslaufen mal funktioniert hatte. Die Betonung lag allerdings auf hatte, denn im Moment scheiterte definitiv alles an meinem mangelnden Gleichgewichtssinn.

 

Ich war so sehr damit beschäftigt, einen Fuß vor den anderen zu setzen und mich an der Bande entlang zu hangeln, dass ich erstaunt den Kopf hob, als ich unerwartet meinen Namen von vorne hörte.

 

„Zero, schau mal!“ Kaum hatte ich Karyu meine volle Aufmerksamkeit geschenkt, der es tatsächlich geschafft hatte, ohne Stütze einige Meter vor mich zu fahren, kam der Große ins Straucheln und landete auf seinem Hosenboden.

 

„Ugh, autsch.“

 

„Mist“, entkam es mir halb besorgt, halb lachend und ich bemühte mich, so schnell es ging an seine Seite zu gelangen. „Hast du dir wehgetan?“

 

„Nein, alles in Ordnung. Nur mein Stolz hat einen Kratzer.“

 

Ich lachte, während ich überlegte, ob es eine gute Idee war, Karyu meine Hand hinzuhalten.

„Ich glaube, deinen Stolz hast du vorhin gegen die Schlittschuhe eingetauscht.“ Stirnrunzelnd beobachtete ich seine rudernden Versuche, wieder auf die Beine zu kommen, bevor ich mir einen Ruck gab und ihm meine Rechte anbot. „Hier.“ Ich machte O-Beine, damit die Zacken meiner Kufen Halt im Eis finden würden, und wedelte mit meiner Hand vor seinem Gesicht herum. „Nun zieh dich schon hoch.“

 

„Sicher?“

 

Karyus Versuche in allen Ehren, aber ohne meine Hilfe würde er vermutlich den Rest des Nachmittags mit seinem Hintern auf dem Eis verbringen.

„Sicher.“

Ich stemmte mich so gut es ging gegen das Eis und zog, während mein Freund langsam wieder auf die Beine kam. Hoffentlich gab es hier keine Überwachungskameras oder übereifrige Eltern, die während des Versuchs die Erfolge ihrer Kleinen zu filmen, Karyu und mich auch vor die Linse bekamen. Ich sah uns schon als den Lacher bei der nächsten Familienfeier.

„Geschafft“, keuchte ich, als wir tatsächlich beide wieder senkrecht standen, und sah nach oben. Karyu war mir so nah, dass ich seinen vor Anstrengung schneller gewordenen Atem auf meinem Gesicht spüren konnte und zu allem Überfluss hatte ich vergessen, seine Hand wieder loszulassen. Letzteres holte ich schleunigst nach, bevor ich mich räuspernd meinte: „Versuch, beim nächsten Mal in der Nähe der Bande hinzufallen, dann kommst du allein wieder auf die Beine.“

 

„Och, warum denn? Das hat doch auch so gut geklappt mit uns beiden.“

 

‚… mit uns beiden‘, hallte es in meinen Ohren nach, als würden mich diese drei kleinen Worte verhöhnen wollen. Wüsste ich es nicht besser, hätte ich behauptet, Karyu hatte das mit vollster Absicht gesagt. Ich biss die Zähne zusammen, um keinen schnippischen Kommentar von mir zu geben, und ließ den Blick in die Ferne schweifen.

 

„Tut mir leid, aber ich werde dir als dein persönlicher Auf-die-Beine-Helfer nicht länger zur Verfügung stehen“, entschied ich, als mir der Glühweinstand so einladend ins Blickfeld stach.

 

„Wie? Aber warum denn nicht?“

 

„Weil ich genau noch eine halbe Runde versuchen werde, nicht selbst aufs Maul zu fallen, und mir dann einen Glühwein hole.“

 

„Dein Ernst?“

 

„Mein voller Ernst.“

 

„Spielverderber.“

 

Ich machte Karyu eine lange Nase, bevor ich mich tapsend und rutschend von ihm entfernte. Es war besser so. Würde ich noch einmal in eine Situation wie gerade eben geraten, wüsste ich wirklich nicht, was passieren würde. Und jede Möglichkeit erschien mir gerade schlimmer als die nächste. Himmel, was war denn heute nur in mich gefahren? Die Aussicht auf ein wenig Alkohol klang besser als je zuvor. Nicht zu viel verstand sich, aber gerade so viel, um dieses unberechenbare Gefühl in mir zum Schweigen zu bringen.

 

Trotz meines indirekten Vorsatzes, auf dem schnellsten Wege vom Eis zu kommen, warf ich den einen oder anderen Blick über die Schulter hinter mich. Natürlich nur, um sicherzustellen, dass sich Karyu nicht erneut in eine Situation gebracht hatte, aus der er sich alleine nicht würde befreien können, und nicht, um ihn zu mustern. Nie nicht. Eines musste man ihm allerdings lassen, wenn er einen Moment hatte, in dem er sich ohne zu Wackeln auf dem Eis halten konnte, machte er in Schlittschuhen eine echt gute Figur. Durch die Kufen unter seinen Füßen wirkten seine Beine kilometerlang und irgendwie schienen sie ihm dabei zu helfen, endlich einmal nicht wie ein Fragezeichen gekrümmt dazustehen. Ich blinzelte, als ein kleines Mädchen mit einem höllischen Tempo an mir vorbeizischte und mich dermaßen erschreckte, dass ich beinahe selbst das Eis küsste. Mist, ich sollte mich nicht noch länger von meiner Mission abhalten lassen - es waren nur noch ein paar Meter.

 

Endlich wieder sicheren, weil nicht eisigen Boden unter meinen Kufen, atmete ich erleichtert aus und stapfte zu der kleinen Bude hinüber, die mich mit ihrem würzigen Duft schon die ganze Zeit über lockte. Aber apropos locken, auch während des Wartens in der erstaunlich langen Schlange der Durstigen konnte ich den Blick nicht von Karyu lassen. Das einzig Gute an dieser Situation war vermutlich nur, das er immer, wenn ich drohte, ins Schwärmen zu verfallen, einen ungelenken Ausfallschritt machte oder erneut auf dem Eis landete. Ich hielt mir die Hand vor den Mund, als er gerade wieder wie der sterbende Schwan höchstpersönlich vor sich hin schlitterte und spielte ernsthaft mit dem Gedanken, ihn gewaltsam in Sicherheit zu bringen. Aber trotz seiner wiederholten Misserfolge hatte ich ihn schon eine ganze Weile nicht mehr so gelöst und guter Laune erlebt. Es war schön, ihn so zu sehen, stellte ich fest und fühlte eine eigenartige Wärme in mir aufsteigen.

 

„Was kann ich Ihnen anbieten?“ Die etwas kratzige Stimme der alten Dame hinter dem Holzverschlag riss mich aus meinen Gedanken und mit Erstaunen bemerkte ich, dass ich bereits an der Reihe war. Karyu war wirklich die geborene Ablenkung.

 

„Oh … einen Glühwein, bitte. Oder … machen Sie bitte zwei draus.“

 

„Sehr gern.“

 

Keine zwei Minuten später wärmte ich meine Finger an den beiden Pappbechern, die mir die alte Dame überreicht hatte. Vorsichtig balancierte ich meine Errungenschaft zur Absperrung hinüber und stellte die Becher auf der Bande ab. Karyu war gerade am anderen Ende der Bahn angekommen und blickte just in dem Moment in meine Richtung. Ich winkte ihm, deutete auf die beiden Becher und machte ihm mit Handzeichen klar, dass er seinen kleinen Hintern hierher bewegen sollte. Während mein Freund also langsam nähergerutscht kam, trank ich einen ersten, vorsichtigen Schluck und versuchte, mich auf etwas anderes als ihn zu konzentrieren. Wie wäre es zum Beispiel mit dem Pärchen dort, die Hand in Hand ihre Runden drehten? Oder das junge Mädchen, das sich an einer Drehung versuchte? Die Knirpse, vielleicht im Kindergartenalter, sahen auch niedlich aus in ihren Schneeanzügen und mit den winzigen Kufen an den Füßen.

 

„Hey.“ Mit einem lauten Krachen nutzte Karyu die Bande als Bremse und krallte sich fest, um einen stabilen Stand zu bekommen. Ich tat so, als hätte ich ihn nicht die ganze Zeit über aus dem Augenwinkel beobachtet und schaute ihn gespielt überrascht an.

 

„Schon hier? Und das ohne gebrochene Knochen? Ich bin beeindruckt.“

 

„Siehst du mal.“ Er strahlte mich an und meine verräterischen Mundwinkel spiegelten seine Geste, bevor ich sie daran hindern konnte.

 

„Hier“, brummte ich also, bevor ich mich noch komplett zum Klops machte, und deutete auf den Becher, der nicht schon zur Hälfte geleert war. „Wärm dich zwischendurch wenigstens auf, wenn du schon ohne Jacke hier herumfährst.“

 

„Oh, danke!“ Seine Begeisterung, die er erneut zutage legte, war ansteckend und als er mich fragte, ob ich nicht doch wieder aufs Eis kommen wollte, hätte ich allein deswegen beinahe zugesagt. Glücklicherweise schien ich jedoch noch so etwas wie einen Selbsterhaltungstrieb zu haben, auch wenn ich trotzdem nicht wusste, wie ich den Nachmittag überstehen sollte.

 

~*~ zurück in der Gegenwart ~*~

 

 Leises Klappern und gelegentliches Schniefen holte mich langsam aus meinem sehr lebendigen Traum. Blinzelnd öffnete ich die Augen und stellte mit Erstaunen fest, dass es vor den Fenstern bereits zu Dämmern begann. Himmel, hatte ich wirklich den kompletten Nachmittag verschlafen?

 

„Sorry, ich wollte dich nicht wecken.“ Eine leise, noch immer kratzige Stimme neben mir ließ mich den Kopf heben und direkt in ein Paar große, braune Augen blicken. Mist. Ich zuckte tatsächlich zusammen, obwohl natürlich niemand anderer als Karyu vor dem niedrigen Wohnzimmertisch kniete und bedächtig einen Teller Suppe aß.

 

„Karyu“, entkam es mir dennoch überflüssigerweise. „Warum bist du nicht im Bett?“

 

„Ich hatte Hunger.“ Er deutete auf die Schale mit Suppe, die noch halb gefüllt und seicht dampfend vor ihm stand und ich spürte, wie das schlechte Gewissen in mir hochsteigen wollte. Hatte ich ihm nicht etwas zu Essen bringen wollen? Stattdessen war ich eingeschlafen und hatte zu allem Überfluss auch noch von ihm geträumt. Hitze stieg mir in die Wangen, als ich mich an meine eigenen Gedanken ihn betreffend zurückerinnerte, und machte mich schleunigst daran, auf die Beine zu kommen.

 

„Tut mir leid, ich wollte echt nicht einschlafen. Kann ich dir was zu trinken bringen? Einen Tee? Setz dich wenigstens aufs Sofa …“ Ich fuhr mir durch die Haare und versuchte, den eigenartigen Blick zu ignorieren, den mein Freund mir gerade zuwarf. Wenigstens stand er langsam auf und setzte sich auf die Couch, wie ich es ihm angeboten hatte. „Gut, dann mach ich dir jetzt deinen Tee und, mh, eine Wärmflasche? Du siehst noch immer so verfroren aus.“

 

„Zero?“

 

„Ja?“

 

„Warum bist du eigentlich so nervös? Du tust gerade so, als wäre ich ein Staatsgast und nicht nur der olle Karyu, der sich einfach frech bei dir einquartiert hat.“

 

„Ich …“ Ich erstarrte in jeder Bewegung und konnte ihn nur aus geweiteten Augen anstarren. „Ich …“

 

„Du könntest dich neben mich setzen und mir Gesellschaft leisten?“ Karyus Lächeln hatte etwas Hoffnungsvolles, auch wenn ich ihm unterstellen wollte, dass er mich mit Absicht in Verlegenheit gebracht hatte. „Wir könnten einen Film ansehen? Ich kann gerade sowieso nicht mehr schlafen.“

 

„O... Okay“, murmelte ich und ließ mich langsam auf das Polster neben ihn sinken. Doch noch bevor ich komplett saß, redete mein Mund drauflos, der sich anders als ich noch nicht in sein Schicksal fügen wollte. „Willst du nicht doch etwas zu trinken?“

 

„Ich bin versorgt, danke.“

 

Bitte, Götter, erlöst mich. Konnte ich mich vor ihm noch mehr zum Idioten machen? Am liebsten hätte ich mir die Haare gerauft, murmelte stattdessen jedoch nur ein leises „Gut“ und setzte mich. Mechanisch griff ich nach der Fernbedienung und begann, durch die Kanäle zu schalten, bis Karyu bei einem Beitrag über Weihnachtstraditionen aus aller Welt verlauten ließ, dass er die Sendung gern sehen würde. Mir sollte es recht sein, mit ihm an meiner Seite würde ich von dem Programm ohnehin nichts mitbekommen.

 

Nach ein paar Minuten, in denen ich mich wie versteinert gefühlt und kaum zu atmen gewagt hatte, begann die Sendung jedoch langsam mein Interesse zu wecken. Glück musste man haben, andernfalls wäre ich neben Karyu jämmerlich an einem Aneurysma krepiert. Gefühle waren noch nie meine Stärke gewesen, ich konnte mit ihnen nicht umgehen, und damit, was ich für meinen Freund zu empfinden begann, kam ich erst recht nicht klar. Könnte nicht wieder alles so sein wie früher? Als ich mir nichts dabei gedacht hatte, so nah neben ihm zu sitzen, dass ich seine Körperwärme spüren konnte. Und als ich mir noch nichts dabei gedacht hatte, wenn er sich, wie jetzt gerade, gegen meine Seite lehnte. Mein Herzschlag setzte für einige Sekunden aus, bevor er in doppelter Geschwindigkeit davongaloppierte.

 

„Karyu?“

 

„Mh?“

 

„Was machst du da?“

 

„Kuscheln.“

 

„Aha … und warum?“

 

„Weil ich krank bin. Da brauch ich Körperkontakt, weißt du doch.“

 

Ob man an emotionaler Überforderung sterben konnte? Karyu schien es darauf anzusetzen, es heute noch herauszufinden.

 

 

tbc …



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  -Pharao-Atemu-
2024-05-09T20:27:12+00:00 09.05.2024 22:27
Armer Zero XD
Einfach so an einem Herzschaden elendig zu grunde gegangen, weil sein Freund kuscheln wollte. XD


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