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Skater Love

von

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Gebrochenes Schweigen

Karyu seufzte leise und drehte den Kopf zur Seite, sodass ich sein Gesicht im Dämmerlicht des aufziehenden Morgens erkennen konnte. Seine Wimpern zeichneten dunkle Halbmonde unter seine Augen und ich fragte mich, warum mir nie aufgefallen war, wie lang sie waren. Vermutlich, weil ich dann hätte zugeben müssen, dass er mir gefiel. Seine hohen Wangenknochen, die Lippen, die sich viel zu leicht zu einem anziehenden Schmollen formen konnten. Der Schwung seiner Brauen, die harsche Linie seines Kiefers. Nun jedoch, in der Stille meines Schlafzimmers, konnte ich diese Gedanken zulassen. Ich unterdrückte den Drang, die Haarsträhne fortzuwischen, die sich quer über seine Stirn gelegt hatte und ihn sicher kitzeln würde, wäre er nicht so tief in seinen Träumen versunken. Ich wusste, dass es nicht richtig von mir war, ihn zu mustern, wenn er nicht die Möglichkeit hatte, meinen Blicken auszuweichen. Es war mir so klar, wie mir klar gewesen war, dass ich ein Idiot war, seinen Vorschlag früher am Abend nicht ausgeschlagen zu haben. Aber ich konnte nun ebenso wenig dagegen tun, wie ich seinem Drängen hatte widerstehen können. Natürlich hatte mir mein Nacken noch immer wehgetan und die Aussicht darauf, eine weitere Nacht auf meiner Couch zu verbringen, war alles andere als erstrebenswert gewesen. Was war also die bessere Alternative? Eine unruhige Nacht mit Verspannungen und nur wenig Schlaf oder eine, in der ich erneut kein Auge zutat, weil Karyu keine zehn Zentimeter von mir entfernt lag? Ich war seit Stunden dabei, die Antwort darauf am eigenen Leib zu spüren. Mein Herz flatterte jedes Mal, wenn er sich bewegte oder ein kleiner Laut seinen Lippen entkam. Mein Körper war gespannt wie eine Bogensehne und zwischendurch stockte mir immer wieder der Atem, wenn sich die Erkenntnis in den Vordergrund drängte, dass es nur eine knappe Bewegung meiner Hand bedurfte, um ihn berühren zu können.

 

Ich verstand mich selbst nicht mehr. Tausende Male hatte ich meinen Freund in der Vergangenheit schlafen gesehen. So etwas war nicht zu vermeiden, wenn man während einer Tour auf engstem Raum zusammenlebte. Und selbst als unsere Band längst nicht mehr aktiv war, hatte es Gelegenheiten gegeben, zu denen Karyu in meiner Gegenwart eingenickt war, weil die Erschöpfung zu groß oder sein Alkoholpegel zu hoch gewesen waren. Was war nun anders? Warum war seine bloße Präsenz wie ein Gewittersturm, der mir die Haare zu Berge stehen und meinen Körper vor Spannung vibrieren ließ? Natürlich kannte ich die Antwort, schließlich war ich weder naiv noch ein Idiot, aber es war so ungerecht. Ich wollte nicht fühlen, was ich fühlte, weil ich nicht wollte, dass sich etwas zwischen uns änderte.

 

Für die Zeit, die es dauerte, einen bemüht ruhigen Atemzug zu nehmen, schloss ich die Augen. Karyus Gesicht ließ mich selbst in der Dunkelheit hinter meinen Lidern nicht allein, denn wieder sah ich ihn vor mir, wie er mich vor Stunden angesehen hatte. Einen Schimmer der Besorgnis in den großen Augen, die Lippen im Kontrast dazu zu einem schmalen Strich zusammengepresst, der mehr als jedes Wort deutlich machte, dass er keines meiner Argumente gelten lassen würde.

 

„Warum bist du nur immer so stur?“, hatte er mich gefragt und sich übers Gesicht gerieben. „Du tust gerade so, als hätten wir uns noch nie ein Bett geteilt. Ist doch besser, als die Verspannung in deinem Nacken noch schlimmer zu machen, oder? Wenn ich schnarche, darfst du mich auch treten.“ Er hatte mich angelächelt, wie er es immer tat, wenn er wusste, dass er im Recht und ich im Unrecht war. Ich hatte nicht anders gekonnt, als ihn weiterhin stumm anzusehen, während sich meine Gedanken immer schneller und schneller zu drehen schienen. Ich hatte noch nie so sehr bedauert, mir keinen Gäste-Futon gekauft zu haben, wie in diesem Augenblick.

„Na gut, ich versteh schon.“ Karyus Seufzen war ein lebendiges Ding gewesen, das mit aller Macht an meiner Widerstandskraft gezerrt hatte. „Ich pack nur schnell meine Sachen und bin dann weg.“

 

Obwohl er mir den Rücken zugekehrt hatte, war ich mir sicher gewesen, dass sich zur Besorgnis in seinem Blick ein berechnender Funke gesellt hatte. Ihm musste klargewesen sein, was diese Aussage in mir auslösen würde. Wie hätte ich ihn gehen lassen können, wo ich wusste, dass er krank und seine Wohnung seit zwei Tagen unbeheizt war? Es war unfair von ihm gewesen, mich so zu manipulieren, und dennoch hatte ich nicht anders gekonnt, als nachzugeben. Schließlich hätte ich ihm nur schlecht erklären können, dass ich es nicht ertragen würde, eine ganze Nacht neben ihm im selben Bett zu liegen, ohne ihm doch die Wahrheit zu sagen. Eine Wahrheit, mit der ich noch immer haderte und die ich nur langsam zu akzeptieren begann. Alles, was ich hätte sagen können, jede Schwindelei oder ausgewachsene Lüge, hätte ihn auf die ein oder andere Art verletzt.

 

Ich presste die Lippen fest aufeinander, um den gequälten Laut nicht freizulassen, der sich in meinen Stimmbändern festgesetzt hatte. Langsam öffnete ich die Augen wieder und stellte mich dem Dilemma, das für den Moment meine Realität war.

Ich hätte längst aufstehen und gehen können. Karyu schlief so fest, dass er mein Verschwinden sicher nicht bemerkt hätte. Aber nein, lieber lag ich die ganze Nacht wach, weil ich wusste, dass er mich durchschaut hätte, hätte ich auf dem Sofa geschlafen. Ich war ein miserabler Lügner und er erstaunlich scharfsinnig, wenn er es darauf anlegte. Stellte sich also nur die Frage, weshalb ich jetzt nicht aufstand? Gut, es war noch früh und ich hundemüde, aber hatte ich nicht bereits festgestellt, dass ich in Karyus Gegenwart ohnehin kein Auge zutun würde? Vermutlich war es an der Zeit, mir einzugestehen, dass ich es trotz der Anspannung, des Herzrasens und diesem unsäglichen Verlangen, ihn berühren zu wollen, dennoch genoss, in seiner Nähe zu sein. Am liebsten hätte ich mir die Haare gerauft, wenn ich nicht hätte befürchten müssen, ihn damit aufzuwecken.

 

Kaum hatte ich das gedacht, bewegte sich Karyu neben mir und ich erstarrte. Statt jedoch aufzuwachen, seufzte er nur leise, bevor sich seine Lippen teilten und ein langes Ausatmen freiließen, das seine verstopfte Nase aufgehalten zu haben schien. Unwillkürlich musste ich schmunzeln, bevor meine Blicke seine Lippen fanden, als wären sie magnetisch von ihnen angezogen worden. Ich wusste, wie sich diese Lippen anfühlten. Diesmal genügte es nicht, nur die Augen zu schließen. Stattdessen drehte ich mich so leise wie möglich zur Seite, weg von der Versuchung, die Karyu für mich war. Aber die Erinnerungen ließen mich nicht los, drängten sich mir auf, bis ich sie zulassen musste.

 

Es war Jahre her, ein anderes Leben beinahe. Wir waren erschöpft von der Show gewesen, die wir gegeben hatten, und dennoch zu aufgedreht, um schlafen zu können. Ich erinnerte mich nicht mehr, in welcher Stadt das Konzert gewesen war oder in welchem Hotel wir abgestiegen waren. Selbst die Erinnerung an das Zimmer war nicht mehr als ein verschwommener Schemen. Dafür wusste ich noch genau, wie es sich angefühlt hatte, als Karyu sich über mich geschoben hatte. Wie ich tiefer in die weiche Matratze gesunken war, seine Wärme und sein angenehmes Gewicht auf mir gespürt hatte. Seine Lippen waren warm, ein wenig rau gewesen und hatten den Geschmack von Whiskey-Cola und Zigaretten mit sich gebracht. Als nüchtern hätte man uns sicher nicht bezeichnen können, dennoch konnte ich bis heute nicht mit Bestimmtheit sagen, ob ich wirklich allein dem Alkohol die Schuld für unsere Sorglosigkeit in jener Nacht geben konnte. Es war nur ein Kuss gewesen, der jedoch so leidenschaftlich und innig gewesen war, dass er mir schier die Sinne vernebelt hatte. Irgendwann waren wir eingeschlafen, komplett bekleidet, aber in den Armen des jeweils anderen.

 

Der nächste Morgen war weniger unangenehm gewesen, als er hätte sein können oder zumindest hatte ich mir das immer eingeredet. Wir hatten den Kuss und unser eigenwilliges Schlafarrangement mit keinem Wort erwähnt. Ich war nach Hause zu meiner damaligen Freundin gefahren und Karyu? Er hatte zu jener Zeit so viele Liebschaften gehabt, dass er sicher nie einen Gedanken daran verschwendet hatte. Und um ehrlich zu sein, war es mir ganz recht gewesen, mich nicht weiter damit befassen zu müssen. Wir waren so jung gewesen, hatten so vieles erreichen wollen, dass mir erst in letzter Zeit bewusst geworden war, dass ich mit meinem Schweigen womöglich etwas sehr Wertvolles im Keim erstickt hatte.

 

Mein Magen verkrampfte sich, Kälte kroch meine Beine empor und ich fühlte mich auf einmal schrecklich einsam. Wieso konnten diese Gefühle nicht wieder verschwinden? Sie hatten mich jahrelang in Ruhe gelassen, warum begannen sie nun, mich so zu quälen? Ich musste einen Laut von mir gegeben haben, ohne es selbst zu bemerken, denn plötzlich bewegte sich die Matratze hinter mir und eine warme Hand legte sich auf meine Schulter.

 

„Ist dir kalt?“, wisperte Karyu so leise, als würde er mich nicht wecken wollen, sollte ich noch schlafen. Einen Herzschlag lang war ich versucht, ihm nicht zu antworten und tatsächlich den Schlafenden zu mimen, entschied mich dann aber dagegen. Ich atmete lang gezogen aus, bevor ich mich auf den Rücken drehte, um ihn ansehen zu können.

 

„Ein wenig“, gab ich zu, obwohl es in meinem Schlafzimmer weder kalt noch meine Bettdecke sonderlich dünn war. Die Kälte kam von innen, ob jedoch mein Schlafmangel oder meine Emotionen daran schuld waren, hätte ich nicht sagen können. Ich versuchte mich an einem kleinen Lächeln. „Ich hab schlecht geschlafen, vermutlich liegt es daran.“

 

„Du siehst eher so aus, als hättest du kein Auge zugemacht“, murmelte Karyu und wirkte dabei, als hätte er etwas laut ausgesprochen, was er lieber für sich behalten hätte. Sein Blick war plötzlich zerknirscht und keinen Moment später verließ eine Entschuldigung seinen Mund. „Ich hab dich sicher wachgehalten. Dumme Erkältung.“ Er drehte sich weg, lag nun auch auf dem Rücken und schien irgendetwas an der Zimmerdecke enorm spannend zu finden. Unwillkürlich hoben sich meine Mundwinkel. Ich hätte damit rechnen müssen, dass sich Karyu wieder einmal die Schuld an Dingen gab, die er nicht beeinflussen konnte.

 

„Dummkopf“, schnaubte ich und stippte ihm gegen die verstopfte Nase. „Wenn du mir nicht all die Gedanken geschickt hast, die mir im Kopf herumgespukt sind, bist du wohl kaum an meinem schlechten Schlaf schuld.“

 

„Sicher? Oder sagst du das nur, damit ich kein schlechtes Gewissen haben muss?“

 

„Als würde ich eine Chance auslassen, dir ein schlechtes Gewissen zu machen.“ Trotz der vielen Überlegungen, die mich bis eben gequält hatten, weitete sich mein Lächeln zu einem ausgewachsenen Grinsen. „Aber anlügen kann ich dich dann doch nicht.“

 

Karyu drehte den Kopf zur Seite, sodass ich sein Augenrollen deutlich erkennen konnte.

„Warum hab ich überhaupt gefragt.“

 

„Das frag ich mich auch.“

Plötzlich streckte Karyu einen Arm zur Seite aus und legte ihn auf meinem Kissen knapp über meinem Kopf ab. Fragend schaute ich ihn an, bekam aber selbst nach mehreren verstrichenen Sekunden keine Antwort.

„Was wird das, wenn es fertig ist?“

 

„Ich dachte mir, so wäre es weniger direkt, als wenn ich dich frage, ob ich dich wärmen soll.“

 

„Wärmen?“, wiederholte ich dümmlich, weil mir mit einem Mal sämtliches Vokabular verloren gegangen zu sein schien. Karyu zuckte die Schultern, was in seiner aktuellen Liegeposition ziemlich ulkig aussah. Für einen irrwitzigen Moment war ich der festen Überzeugung, er war zum Gedankenleser geworden und hatte meine Denkspiralen der letzten Stunden live und in Farbe miterlebt. Oder waren mir meine Gefühle so deutlich anzusehen? Mit einem Mal wurde mir die Absurdität meiner Vermutungen und Situation derart bewusst, dass mir ein schnaubendes Lachen über die Lippen kam. Karyu hob den Kopf und seine rechte Braue gleichermaßen, nur dass Letztere unter seinen Ponyfransen verschwand.

 

„Ehm, Zero? Hab ich den Witz verpasst oder ist der nur in deinem Kopf?“

 

„Glaub mir, du willst nicht wissen, was in meinem Kopf vor sich geht.“

 

„Bist du dir da sicher?“ Sein Blick war auf einmal so intensiv, dass ich meine Augen abwenden musste.

 

„Sehr, dieses Chaos will ich niemandem antun. Mir eigentlich auch nicht, aber mich fragt ja keiner.“

 

„Willst du mir davon erzählen?“

 

„Nein.“

 

„Okay.“

 

„Steht deine Einladung noch?“ Ich suchte seinen Blick und deutete vage zwischen uns.

 

„Ich hab mich nicht bewegt, oder?“

 

„Nein, hast du nicht.“ Trotz meiner anhaltenden Verwirrung hielt sich das Schmunzeln wacker auf meinen Lippen, während ich näher an Karyu heran rutschte und meinen Kopf gegen seinen Brustkorb lehnte.

 

„Darf ich?“, fragte er, bevor ich eine zögerliche Berührung an meinen Schulterblättern spürte. Ich nickte nur, froh darüber, dass er in dieser Position die Röte nicht erkennen würde, die mir in die Wangen stieg. Zu meinem eigenen Erstaunen begann mein Körper sich jedoch zu entspannen, kaum hatte Karyu damit begonnen, ruhig und gleichmäßig über meinen Rücken zu streicheln. Und warm war er auch noch, was mich erst jetzt bemerken ließ, wie kalt mir tatsächlich gewesen war. Ich erschauerte leicht, schüttelte jedoch nur den Kopf, als er fragend brummte. Warum brachte ich mich selbst nur immer wieder in solche Situationen? Ich sank noch mehr gegen ihn, als sich auch die letzte Verspannung in mir verflüchtigte, als hätte es sie nie gegeben. Karyu lehnte den Kopf gegen meinen und für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, einen Druck auf meinem Scheitel zu spüren, der mit viel Fantasie ein Kuss hätte sein können. Ich wusste, wie absurd diese Vorstellung war, aber mein Herz machte dennoch einen freudigen Sprung, bevor es ruhig und gleichmäßig weiter schlug.

Vielleicht war die Antwort auf meine Frage eine ganz simple. Ich brachte mich in solche Situationen, weil ich Karyu nahe sein wollte … und weil er sie mir immer wieder so freimütig anbot.

 

Lange Minuten blieb es still zwischen uns und hätten sich Karyus Hände nicht noch immer ruhig und gleichmäßig bewegt, hätte ich geschworen, er wäre wieder eingeschlafen. So jedoch drängte sich mehr und mehr die Vermutung auf, dass ich nicht der Einzige war, der den Moment genoss.

„Was tun wir hier eigentlich?“

 

„Mh? Wie meinst du das?“

 

„Na so, wie ich es gesagt habe.“

 

Karyu schwieg und hatte sogar seine angenehmen Streicheleinheiten aufgegeben, nur um seinen Halt um meine Schultern kurz zu verstärken. Ob er nicht wollte, dass ich mich von ihm löste? Irgendwie eine schmeichelhafte Vorstellung. Dann jedoch entspannte er sich wieder, als wäre er zu einem stummen Entschluss gekommen.

„Wir tun das, was sich gerade richtig anfühlt, oder siehst du das anders?“

 

„Nein“, ich lächelte. Seine Antwort sagte mir nichts und alles zugleich, aber das war in Ordnung. Gerade schien sehr viel für mich in Ordnung zu sein, besonders, als er erneut damit begann, seine langen Finger über meinen Nacken wandern zu lassen. Meine Lider wurden mit jedem verstreichenden Atemzug, jedem kräftigen Herzschlag unter mir schwerer, bis es schlichtweg zu anstrengend wurde, sie noch länger offenzuhalten. Wozu auch? Ich hatte die ganze Nacht Zeit gehabt, über alles nachzudenken, und war dennoch zu keiner eindeutigen Erkenntnis gelangt. Nun würde ich das tun, was sich gerade richtig anfühlte, wie Karyu es so schön ausgedrückt hatte.

 

~*~

 

Ich hätte nicht gedacht, doch noch so fest einzuschlafen, aber da war ich nun. Stunden später und erholter, als ich jedes Recht hatte zu sein. Einziger Wermutstropfen und der Grund für ein ungutes Gefühl in der Magengegend war die Tatsache, dass ich allein in meinem Bett lag. Von Karyu war nichts zu sehen und die Matratze neben mir kalt.

 

Verdammt, es war also doch keine gute Idee gewesen, meiner Sehnsucht nach seiner Nähe nachzugeben. Als hätte ich es nicht gewusst. Ich biss mir auf die Unterlippe und rollte mich aus dem Bett. Ich würde den Teufel tun und mich jetzt hier verstecken wie ein Feigling. Ungehalten zog ich mir meine Klamotten vom Vortag über, fuhr mir kurz durch die Haare und öffnete das Fenster einen kleinen Spalt, um frische Luft hereinzulassen. Wenn ich etwas falschgemacht hatte, würde ich jetzt eben die Konsequenzen tragen.

 

Wie ein Soldat auf dem Weg zur Front verließ ich mit kerzengeradem Rücken mein Schlafzimmer und erstarrte, kaum war die Tür hinter mir zugefallen. Im gesamten Appartement roch es nach Kaffee, Glühwein und irgendeinem süßen Gebäck, was mir das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Kurz fragte ich mich, wie ich diesen Duft bislang nicht hatte bemerken können, schüttelte dann aber den Kopf. Ich war gerade erst aufgewacht, da konnte mir so ein Detail schon mal entgehen. Aus Richtung des Wohnzimmers hörte ich Weihnachtslieder und leises Klappern, was mich vermuten ließ, Karyu dort zu finden. Ich kniff die Augen kurz zusammen, um das surreale Gefühl abzuschütteln, das mehr und mehr Besitz von mir ergreifen wollte. Da hatte ich gedacht, meinen Freund womöglich vergrault zu haben oder mich zumindest für meine Anhänglichkeit erklären zu müssen, und nun so etwas.

 

Deutlich langsamer ging ich auf die Wohnzimmertür zu und schob sie zögerlich auf. Obwohl es erst früher Nachmittag war, war die Welt vor den Fenstern dunkel, grau und ungemütlich, ganz anders als die Stimmung im Raum, den ich gerade ungläubig betrat. Dadurch, dass Karyu sich so unerwartet bei mir einquartiert hatte, war ich in den letzten Tagen nicht dazugekommen, die ganze Weihnachtsdekoration zu verteilen, die ich mir zurechtgelegt hatte. Die Kiste hatte die ganze Zeit in einer Ecke des Wohnzimmers gestanden, wo mein Freund sie entdeckt und sich bedient haben musste. Gerade befestigte er eine Lichterkette an der Kommode neben meinem Fernseher, die ich sonst immer am Fensterbrett montierte. Aber ich musste zugeben, dass sie sich dort auch echt gut machte. Noch schien er mich nicht bemerkt zu haben, trat gerade einen Schritt zurück, um sein Werk zu mustern, als ihn ein unschöner Hustenanfall packte.

 

„Mensch Karyu, du sollst dich doch ausruhen und nicht Innenausstatter spielen.“ Besorgt trat ich auf ihn zu und drückte mitfühlend seine Schulter.

 

„Oh, du bist wach?“ Ein weiterer Huster unterbrach ihn, bevor er fast unwirsch tief durchatmete. „Dieser dämliche Husten. Ich bin extra aufgestanden, um dich nicht zu wecken, und jetzt war ich wohl doch zu laut.“

 

„Quatsch.“ Energisch schüttelte ich den Kopf, um Karyus aufziehende Gewissensbisse gleich wieder im Keim zu ersticken. „Ich bin aufgewacht, weil ich genug geschlafen habe“, stellte ich klar, während mir innerlich ein halbes Gebirge vom Herzen gefallen war. Ich hatte Karyu also nicht vergrault. „Aber was stellst du hier eigentlich alles an?“ Noch einmal ließ ich meinen Blick schweifen, entdeckte immer wieder neue dezente Weihnachtsornamente, so wie ich sie mochte. Kein Wunder, schließlich waren es meine Dekoartikel, an denen Karyu sich bedient hatte. Allerdings war es etwas völlig anderes, wenn nicht ich selbst es war, der sich die passenden Plätze dafür aussuchte. „Sieht schön aus“, gab ich schließlich zu, während ich Karyu nachdrücklich zum Sofa dirigierte.

 

„Ehrlich? Gefällt es dir?“

 

„Tut es.“ Ich nickte und sah dann erst, was sich alles auf dem kleinen Wohnzimmertisch tummelte. „Wow! Kein Wunder, dass es hier wie auf einem Weihnachtsmarkt riecht. Hast du die Waffeln selbst gemacht?“ Ein wenig skeptisch wanderte eine meiner Augenbrauen nach oben und die leichte Röte auf Karyus Wangen ließ mich vermuten, dass er tatsächlich nicht auf einmal zum Meisterbäcker geworden war. Denn, obwohl die Waffeln frisch rochen und so aussahen, als wären sie noch warm, wirkten sie doch zu perfekt, um selbst gebacken zu sein.

 

„Die hab ich liefern lassen. Alles andere wäre auf Kosten deiner Küche gegangen.“

 

Ich lachte, weil ich gerade genau dasselbe gedacht hatte, und setzte mich neben ihn.

„Eine schöne Idee“, lobte ich, „und danke fürs Schmücken.“

 

„Gerne“, murmelte er, beinahe etwas verlegen wirkend. „Eigentlich hatte ich für heute eine Karte für den Weihnachtsmarkt, aber bei dem Wetter hab ich darauf ehrlich gesagt keine Lust.“

 

„Du bist auch eindeutig noch nicht fit genug, um draußen herumzulaufen.“

 

„Ja, das auch.“ Karyu winkte ab, als wäre seine Erkältung nicht der eigentliche Grund für seine Planänderung. Na, wenn er meinte. „Auf jeden Fall hab ich mir gedacht, wenn ich also schon nicht auf den Markt gehen kann, bringe ich halt etwas weihnachtliches Flair zu uns.“

 

„Das ist dir auf jeden Fall gelungen.“

 

„Mh“, machte er, rieb sich über die Nase, bevor er mich nachdenklich musterte.

 

„Was denn?“

 

„Du bist zwar gerade erst aufgestanden und Waffeln sind nicht wirklich ein Frühstück, aber willst du vielleicht schon eine? Ich hab Hunger.“

 

„Klar, so spät, wie es schon ist, kann ich auch Waffeln frühstücken.“ Ich grinste, legte zwei Gebäckstücke auf je einen Teller und reichte Karyu einen von ihnen. „Mit dem Glühwein warte ich aber noch, bis ich was im Magen habe.“

 

„Besser ist das.“

 

Ich brummte angetan, als ich den ersten Bissen probiert hatte. Himmel, schmeckte das gut. Ich wollte gar nicht wissen, wie teuer das alles gewesen war. Aber so, wie mich Karyu gerade anstrahlte, nachdem ich meine Feststellung mit ihm geteilt hatte, war es für ihn wohl jeden Yen wert gewesen. Ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Magen aus, das nichts mit dem Kaffee zu tun hatte, von dem ich gerade einen Schluck getrunken hatte. Ich erlag zwar nicht der Illusion, dass sich Karyu ausschließlich wegen mir so viel Mühe gemacht hatte, aber er hatte dies hier auch für mich getan.

 

„Irgendwie …“, murmelte ich und brach ab, als ich mir nicht sicher war, ob ich wirklich aussprechen wollte, was mir gerade im Kopf herumspukte.

 

„Mh? Was denn?“

 

„Das hier …“ Ich machte eine vage Handbewegung, die den ganzen Raum umfasste. „Das fühlt sich gerade alles so unwirklich an.“ Karyu erwiderte meinen Blick schweigend, was mir den Mut gab, weiterzusprechen. „Ich meine, so mit dir hier zu sitzen, die Waffeln und alles … das ist irgendwie … schön.“

 

Karyu lächelte und wandte großmütig den Blick ab, als ich spürte, wie mir die Hitze in die Wangen stieg.

„Schön“, wiederholte er, ein feines Lächeln auf den Lippen, bevor er sich gegen die Sofakissen lehnte und offenbar schwer mit seiner Waffel beschäftigt war.

 

„Du hast heute also nichts weiter vor?“, fragte ich irgendwann, als unser Schweigen begann, mir unangenehm zu werden. „Obwohl Weihnachten ist?“

 

„Nein, hab ich nicht. Wir haben ja schon festgestellt, dass ich noch immer nicht wieder auf der Höhe bin. Was sollte ich also großartig geplant haben?“

 

„Ja~“, machte ich lang gezogen, weil mir gerade keine bessere Reaktion einfallen wollte. Verdammt, ich hatte gehofft, er würde etwas freimütiger mit seiner Antwort sein. „Und … du wolltest wirklich ganz allein auf den Weihnachtsmarkt gehen?“

 

„Klar. Ist doch besser, als allein zu Hause rumzusitzen.“

Das Stück Waffel in meinem Mund schien gerade mit jedem Bissen mehr zu werden, während sich mein Magen verknotete. Schwer schluckte ich, Karyus Blicken derweilen stur ausweichend, und starrte meine Finger an. Allein. Dieses kleine Wort hallte in meinen Ohren wider und verstärkte den Tumult nur noch, der erneut in meinem Inneren herrschte. Nicht, dass ich wirklich davon ausgegangen war, dass Karyu gerade in einer Beziehung war, von der ich nur nichts wusste, aber er wäre auch nicht der Erste gewesen, der ein romantisches Weihnachtsdinner nutzte, um zarte Bande zu knüpfen.

„Und du? Gehst du heute noch weg?“

 

„Mh?“ Ich war so überrascht von seiner Gegenfrage, dass ich den Kopf hob, nur um sogleich mit seinem durchdringenden Blick konfrontiert zu werden. „Ich?“

 

„Nein, der andere Bassist neben dir.“

 

„Haha.“ Karyu schien mein Augenrollen sehr amüsant zu finden, denn seine Mundwinkel hoben sich, bis ein breites Grinsen seine Lippen zierte. Diese Lippen. Dieser Mund. Ich konnte meine Augen nicht von ihm lassen. Ein hohes Pfeifen in meinen Ohren machte mich taub für die Geräusche meiner Umgebung, als ich traumwandlerisch langsam eine Hand hob. Zögerlich legte ich sie gegen Karyus Wange, dessen Grinsen sich zu einem verblüfften Lächeln gewandelt hatte.

 

„Zero?“ Ich sah meinen Namen mehr, als dass ich ihn hörte, während ich meinen Blick wieder und wieder zwischen Karyus Augen und seinen Lippen hin und her wandern ließ.

 

„Ich würde zu gern wissen, ob sich deine Lippen noch immer so anfühlen wie damals.“ Nur das harsche Einatmen meines Freundes war der Beweis, dass ich die Worte tatsächlich ausgesprochen hatte, statt sie nur zu denken. Doch noch bevor ich einen Rückzieher machen konnte, schob sich eine deutlich größere Hand über die meine und hielt mich mit sanftem Nachdruck an Ort und Stelle.

 

„Du erinnerst dich also.“

 

 

tbc …



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