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It's melting away from under my feet

von

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Briefe aus der Vergangenheit

Die Fahrt von Fürstenried nach München dauerte nicht lange. Richard Hornig saß missmutig auf dem Kutschbock und ärgerte sich über sich selbst. "Hätte ich ihm doch nicht diesen Floh mit der Flucht ins Ohr gesetzt! Ich bin doch selbst schuld!" Er fluchte sogar einmal, was eigentlich völlig untypisch für ihn war. Auf halber Strecke zügelte er einmal die Pferde und stieg ab, da er sich Sorgen um Prinz Otto machte. "Wer weiß, was er alleine in der Kutsche macht und zu was er fähig ist!" Er wollte sich gar nicht vorstellen, wie Ludwig reagieren würde, wenn seinem Bruder in seiner Obhut etwas zustoßen würde. Hornig öffnete die Kutschentüre und sah hinein. Otto saß dicht am Fenster, hatte den Kopf an das Glas gelehnt und sah in sich versunken hinaus. Er bemerkte Hornig erst gar nicht, schrak dann aber auf, als er einen Schatten neben sich wahrnahm. Für einen Augenblick sah er den jungen Mann verwirrt an, da er ihn nicht sofort erkannte, beruhigte sich dann aber wieder. "Ist alles in Ordnung, Prinz Otto?" fragte Hornig ihn. Otto nickte lächelnd. "Uns ge-geht eees...gut..." entgegnete er. Hornig sah ihn irritiert an: "Ähm...uns?" Otto deutete auf die ihm gegenüberliegende Sitzbank. "Uns!" Hornig starrte verwirrt auf die leere Bank, als müssten dort gleich weitere Fahrgäste vor seinen Augen erscheinen. Dann begriff er aber: Der Prinz glaubte ganz offensichtlich, dass ihm gegenüber noch weitere Personen saßen. So nickte Hornig nur verlegen lächelnd. "Ich...werde dann wieder nach vorne gehen und weiterfahren... Wir sind bald in München. Dort muss ich etwas erledigen, und dann bringe ich Euch zu Eurem Bruder." Otto nickte abwesend und Hornig seufzte etwas enttäuscht. Er fand es schade, dass man mit Otto allem Anschein nach kein vernünftiges Gespräch führen konnte. So kletterte er zurück auf den Kutschbock und trieb die Pferde an. "Hoffentlich müssen wir nicht lange in München bleiben." dachte er. Er wollte Otto so bald wie möglich bei Ludwig abliefern, um diese große Verantwortung für den Prinzen nicht mehr tragen zu müssen. Andererseits hatte er aber auch schon Angst vor Ludwigs Reaktion, wenn er ihm dessen Bruder bringen würde.
 

Sie kamen gut voran, und schließlich erreichten sie die äußeren Stadtteile von München. Während sie an den ersten Häusern vorbeifuhren, zog Hornig einen Umschlag aus seiner Manteltasche und las aufmerksam den darin enthaltenen Brief. Dieser enthielt die Adresse einer Villa, in die er einziehen sollte, solange er in München weilte. Ludwig wollte ihm einen größtmöglichen Komfort bieten und hatte sich selbst um Richard Hornigs Unterkunft gekümmert. Hornig musste zweimal Passanten nach dem Weg fragen, hielt dann aber vor einem vornehmen Gebäude.
 

Das Haus lag zwar zwischen weiteren Gebäuden dicht gedrängt in einer Straße, die Fassade war jedoch ebenso wie das Geländer des großen Balkons im zweiten Stockwerk mit Stuck verziert. Nachdem er von der Kutsche herabgestiegen war und schon zur Haustüre gehen wollte, öffnete sich diese und ein älterer Herr trat auf ihn zu. "Richard Hornig, nehme ich an?" Hornig nickte. "Mein Name ist Hirtreithner, ich soll ihnen im Auftrag seiner Majestät ihre Unterkunft zeigen, die Sie bewohnen werden, solange Sie hier in München weilen. Wir hatten sie schon eigentlich schon gestern Abend erwartet..." "Die Kutsche hatte einen Schaden und zu allem Überfluss ist der Kutscher auch noch erkrankt." "Oh, ich hoffe, Sie mussten die Nacht nicht in der Kutsche verbringen?" "Nein, nein, ich...ähm...habe eine Unterkunft gefunden." Redete sich Hornig heraus - er wollte auf keinen Fall Schloss Fürstenried erwähnen. "Ich habe noch einen weiteren Gast dabei....Also....Mein...Bruder...Ja, mein Bruder ist mitgekommen. Ich weiß, es ist sicherlich etwas überraschend für Sie..." "Das Haus ist sehr groß und besitzt natürlich genug Räumlichkeiten für zwei Bewohner!" meinte der Mann verständig. "Warten Sie bitte, ich hole geschwind meinen Bruder und das Gepäck..." meinte Hornig erleichtert und eilte zur Kutsche. Nun musste er auch noch lügen! Er stieg zu Otto in die Kutsche und sah ihn bittend an. "Bitte hört mir zu - ich musste Euch als meinen Bruder ausgeben, damit man Euch nicht erkennt. Bitte spielt das Spiel mit! Ich bin Eurer Bruder, ja?! Und Ihr seid nicht Prinz Otto, sondern..." "Luitpold?!" ergänzte Otto kichernd und verdrehte die Augen. "Luitpold, ja..." entgegnete Hornig erleichtert, offensichtlich verstand Otto, was er zu tun hatte. Hornig ließ den Prinzen aussteigen und schloss die Türe hinter ihm, als Otto plötzlich protestierte: "Nicht zuschlagen...vor den anderen!" Kopfschüttelnd sah er Hornig strafend an, öffnete wieder die Kutschentüre und wartete, bis die Mitreisenden, die seiner verwirrten Phantasie entsprangen, von deren Existenz er jedoch völlig überzeugt war, ausgestiegen waren. Hornig seufzte, wartete, bis Otto zufrieden die Türe schloss und griff dann nach den Koffern. Hirtreithner beobachtete sie irritiert aus einiger Entfernung, machte aber keine Bemerkung. Er kam auf sie zu, um Richard Hornig einen Koffer abzunehmen.

Doch dazu kam er nicht - denn plötzlich kam ein Junge um die Ecke gerannt, griff blitzschnell nach einer der Reisetaschen, riss sie Hornig aus der Hand und lief davon. Hornig blieb einen Augenblick perplex stehen, so überraschend kam dieser Diebstahl für ihn. Doch Hirtreithner begriff schneller, was geschehen war und eilte geistesgegenwärtig dem Dieb nach. Für diesen war die Reisetasche doch schwerer als gedacht, und schon nach einigen Metern stolperte er über seine eigenen Füße und fiel zu Boden. Hirtreithner, der für sein Alter noch erstaunlich agil war, hielt den Jungen mit hartem Griff fest, riss ihn nach oben und schleppte das sich heftig wehrende Kind zu Hornig und Otto. "Na da haben wir doch unseren kleinen Verbrecher!" schimpfte er. "Ich werde ihn wohl gleich der Polizei übergeben? Gott sei Dank ist er nicht weit gekommen mit Eurem Gepäck!" meinte er an Hornig gewandt. Dieser betrachtete den Dieb genauer. Es war noch ein Kind, kaum zehn Jahre alt. Es wirkte schwächlich mit seinen dünnen Gliedern und seinem blassen Gesicht, das er von Hornig abwandte. Seine einfachen, kurzen Hosen, die für dieses Wetter eigentlich nicht geeignet waren, sein Hemd und seine Stiefel, unter denen Kniestrümpfe hervorschauten, waren schon abgenutzt und nicht sehr sauber. "Wie alt bist du?" fragte Hornig. Zuerst antwortete der Junge nicht, doch dann schüttelte Hirtreithner ihn und er wurde gesprächiger: "Sieben." murmelte der Junge kaum hörbar. "Und hast du auch einen Namen?" "Johann." "Also Johann, du weißt, dass das, was du da eben getan hast, strafbar ist und wir dich nun eigentlich der Polizei übergeben sollten?" Johanns Gesicht wurde noch blasser und er sah krampfhaft zur Erde. Hornig spürte, dass das Kind Angst hatte, und er bekam Mitleid mit dem doch noch so jungen Dieb. "Aber ich wüsste doch gerne, weshalb du uns bestehlen wolltest. Komm mit uns!" Johann sah Hornig unsicher und ängstlich an. Er versuchte sich loszureißen, doch Hirtreithner hielt ihn fest und sah Hornig fragend an: "Nicht zur Polizei mit dem kriminellen Kind?" "Nein, ich bitte Sie, lassen Sie das Kind mit uns ins Haus gehen..." Hirtreithner verbarg nicht seine Irrititation über Hornigs seltsame Bitte, doch er gehorchte, ließ den Jungen los, nachdem er ihm noch einmal einen wütenden Blick zugeworfen hatte und trug das Gepäck - auch die beinahe gestohlene Reisetasche - ins Haus. "Wenn Sie mir bitte folgen würden." Hornig sah Johann an und deutete ihm an, ihm zu folgen. Und tatsächlich gehorchte das Kind und trottete unsicher hinter Hirtreithner her. Richard Hornig nahm Otto, der das Geschehen allem Anschein nach nicht so recht mitbekommen hatte und lächelnd ins Leere blickte, bei der Hand und zog ihn mit sich.
 

Hirtreithner führte sie in das erste Stockwerk des luxuriös eingerichteten Hauses. Johann sah sich staunend und ehrfürchtig um, was Hornig zum Schmunzeln brachte. Hirtreithner deutete auf eine geöffnete Flügeltüre. "Es wurde eine kleine Tafel für Sie vorbeireitet. Da wir dachten, dass Sie alleine reisen würden, ist nur für Sie gedeckt, aber natürlich erhält Ihr Bruder auch sofort ein Gedeck. Wenn Sie sich setzen möchten, ich bringe Ihr Gepäck in ihre Schlafräume." "Bitte lassen Sie für den Jungen auch aufdecken." sagte Hornig. Hirtreithner sah ungläubig zu dem Kind, meinte aber "Wie Sie wünschen!" und verließ das Zimmer. Hornig schob Prinz Otto auf einen Stuhl und deutete dem irritierten Jungen, sich ebenfalls zu setzen. Schon kam eine junge Frau, nickte den Herren freundlich zu und brachte zwei weitere Gedecke. Daraufhin erschien ein Lakai und brachte eine große Sahnetorte. Johann starrte mit offenem Mund auf die ihm riesig erscheinende Torte - er fühlte sich wie im Paradies. Hornig bemerkte, dass der Junge eine kleines Bündel fest in seinem Schoß umklammert hielt. Als die Bediensteten sich entfernt hatten, fragte er das Kind: "Was hast Du denn da?" Johann presste das Bündel noch fester an sich. "Ein Schachtel..." sagte er leise. "Und was ist denn in dieser Schachtel?" "Das weiß ich nicht." "Das weißt du nicht? Aber sie gehört doch Dir, oder?" "Sie gehört meiner Mama...aber sie hat mir immer gesagt, dass ich sie niemals öffnen dürfe. Aber ich wollte sie doch mitnehmen, damit ich etwas von ihr immer bei mir habe." Erwiderte Johann traurig. "Weiß Deine Mama denn, was Du hier draußen treibst? Dass Du andere Leute bestiehlst?!" fragte Hornig scharf. Johann schüttelte den Kopf und sah auf das Bündel, in dem sich die Schatulle befand. "Meine Mama ist tot." sagte er leise. "Sie ist vor drei Monaten gestorben." Hornig schluckte. "Oh, das...das wusste ich nicht. Bitte entschuldige! Und jetzt wohnst Du bei deinem Vater?" "Ich habe keinen Vater." Johann schüttelte den Kopf. "Ich wohne nirgends.... Ich lebe auf der Straße, weil...Ich bin davon gelaufen, als...als Mama starb. Ich will nicht in so ein Heim!" Ängstlich sah er Hornig an. "Keine Angst, Johann, von mir erfährt niemand etwas." erwiderte Hornig bestürzt. Er empfand nun nur noch großes Mitleid für das Kind. "Aber deine Schachtel stört Dich doch nur beim Essen. Stelle sie doch auf die Kommode, während Du isst, ja?" Zögernd sah Johann von seinem einzigen Besitz zur Kommode, stand dann aber auf und stellte die einfache Holzschatulle darauf. Währenddessen legte Hornig ein Stück Torte auf den Teller des Prinzen, der das Kind lächelnd beobachtete.
 

"Was wolltest Du denn ausgerechnet mit unserem Gepäck?" fragte Hornig und versuchte, den Jungen möglichst finster anzusehen. Johann sah nicht auf und nuschelte leise: "Schauen, ob etwas zu Essen drin ist...oder warme Kleidung." "Offensichtlich ist er nicht wirklich ein Krimineller. Er versucht nur, zu überleben." dachte Hornig und war schon nahe daran, dem Kind zu verzeihen. Er seufzte und schüttelte den Kopf. "Versprichst du, dass du nie wieder auf unredlichem Weg zu Geld zu kommen versuchst?!" Johann nickte eifrig und sah Hornig schuldbewusst an. Dann wanderte sein Blick zum wiederholten Male zu der Torte, und er betrachtete sie mit sehnsüchtigem Blick. Richard Hornig lächelte in sich hinein und schob dem Jungen noch ein Stück Torte auf den Teller. Johann strahlte und machte sich eifrig daran, den Kuchen in seinem Mund verschwinden zu lassen. Dabei sah er einmal fragend von Ottos Kuchenteller, auf dem die Torte noch unberührt lag, zu Otto selbst. "Weshalb essen Sie denn nichts? Schmeckt es Ihnen nicht?" fragte der Junge ungläubig. Otto sah erst Johann, dann seinen Teller mit mattem Blick an. Zögernd griff er nach seiner Gabel, machte aber keine Anstalten zu essen. Da stand Johann auf, nahm Ottos Kuchengabel, nahm damit ein Stückchen des Kuchens und hob es vor Ottos Mund. Der öffnete ihn reflexartig und ließ sich von Johann füttern. Der Junge strahlte Otto an, und dieser musste ebenfalls lächeln. Nun nahm Otto ein Stück Kuchen und fütterte damit das Kind. Beide lachten, und auch Hornig musste lächeln. "Wie heißen Sie denn?" fragte Johann Otto neugierig. Dieser antwortete nicht, sondern sah unsicher auf den Tisch. Doch gerade als Richard Hornig für ihn antworten wollte, sah er Johann an und sagte leise: "Otto!" "Ui, darf ich Sie beim Vornamen nennen?" fragte Johann erstaunt. Otto nickte, schlang die Arme um seinen Oberkörper und sah hinauf zur Decke. Johann strahlte Hornig stolz an und betrachtete dann zufrieden eine Kirsche, die er auf der Gabel aufgespießt vor sein Gesicht hielt.
 

Hornig wollte sich gerade gemütlich zurücklehnen, nachdem er seinen Kuchen gegessen hatte, als die Wanduhr schlug und er zum Zifferblatt hinübersah. Erschrocken sprang er auf: "Oh je, wenn ich heute noch etwas über diesen goldenen Schwan herausfinden will, muss ich mich beeilen." Er warf einen skeptischen Blick zu Otto - er konnte ihn doch nicht alleine lassen. Aber der Junge.... "Johann, kommst du bitte einen Augenblick mit mir?" bat er ihn. Johann nickte und folgte Hornig vor die Tür. Richard kniete sich zu dem Kind herab und sah ihn bittend an: "Johann... Ich muss für einige Zeit fort, da ich einen Auftrag zu erfüllen habe. Ich kann Otto nickt mitnehmen, aber er... er ist sehr krank, weißt du... Er braucht jemanden, der auf ihn aufpasst... Eigentlich möchte ich dir diese große Verantwortung nicht auferlegen...aber...Kann ich dir vertrauen?" Johann sah Hornig einen Augenblick verunsichert an, dann nickte er jedoch eifrig. "Ich schwöre!" Er strahlte bei dem Gedanken, noch etwas in diesem prächtigen Haus bleiben zu können. "Wirklich, wir werden beide brav sein!" Hornig musste leise lachen. "Dass du brav sein wirst, glaube ich dir, aber Otto... Nun gut, ich versuche, so bald wie möglich wieder hier zu sein. Pass bitte auf, dass Otto hier bleibt, ja?! Sprich einfach ganz ruhig mit ihm, aber wundere dich nicht, wenn er nicht immer antwortet. Er bekommt manchmal nicht mit, was um ihn herum vorgeht und lebt in seiner eigenen Traumwelt. Aber wenn doch etwas sein sollte, dann hole die Bediensteten. Aber bitte nur im Notfall, da ich nicht möchte, dass...dass sie mitbekommen, dass es Otto nicht so gut geht." Johann hörte aufmerksam zu, nickte dann eifrig und sah Hornig nach, der die Treppe hinunterging. Beim Hinausgehen dachte Hornig, dass er hoffentlich keinen Fehler gemacht damit begangen zu haben, das Kind alleine mit dem Prinzen zurückzulassen.
 

Johann ging unterdessen zurück zu Otto, setzte sich wieder an den Tisch und aß seinen Kuchen auf. Otto schwieg, aß aber ebenfalls, wenn auch langsam. Nachdem sie zu Ende gegessen hatten, blieb Johann sitzen, schaukelte mit den Beinen und sah Otto erwartungsvoll an. Doch als dieser nicht reagierte, sondern weiterhin gedankenverloren vor sich hin starrte, wurde es dem Kind etwas langweilig. Er wollte sich zu gerne einmal die anderen Zimmer ansehen, soviel Luxus hatte er noch nie gesehen. Zuerst traute er sich nicht so recht, doch schließlich stand er auf, und ging, sich neugierig umsehend, langsam aus dem Raum. Otto blieb am Tisch sitzen und starrte vor sich hin. Als er schließlich ziellos seinen Blick durch das Zimmer schweifen ließ, erregte die Schatulle mit Johanns einzigen persönlichen Gegenständen seine Aufmerksamkeit. Er stand langsam auf, trat zu der Kommode, auf dem die Schatulle stand, sah sie einige Augenblicke zögernd an und nahm sie dann mit sich, als er sich wieder im Sessel niederließ. Er stellte sie in seinen Schoß - sollte er... Er zögerte einige Augenblicke, öffnete dann aber doch den Deckel. Die Holzschachtel enthielt einige Briefe. Otto holte sie hervor und faltete wahllos einen von ihnen auseinander. Er blickte auf die eng geschriebenen Zeilen - das Ordnen der Buchstaben zu Wörtern und Sätzen und das Begreifen ihres Sinnes fiel ihm nicht leicht und er tat sich schwer mit dem Lesen, doch gab er sich alle Mühe.
 

"Liebster Otto..." las er halblaut. Otto? Er stockte beim Lesen seines eigenen Namens, las aber weiter. "Erneut schreibe ich Dir einen Brief, ohne ihn dir wohl jemals zu senden. Ich bringe es nicht übers Herz, ihn abzuschicken, und weiß doch selbst nicht, weshalb. Ungefähr einem Monat wird es soweit sein, sagte mir der Arzt, dann wird unser Kind zur Welt kommen. Sollte es eine Tochter werden, so möchte ich sie Marie Luise nennen. Ich denke oft darüber nach, welchen Namen Du unserem Kind wohl geben würde. Aber es naive Träumereien, Du würdest unser Kind doch niemals anerkennen. Ich möchte Dir damit nicht zur Last fallen. Keine Sorge, niemals wird jemand erfahren, dass Du der Vater des Kleinen bist! Es ist besser so, ganz gewiss! Ich liebe Dich noch immer, Otto, aber ich weiß, dass unsere Beziehung niemals eine wirkliche Chance hatte. Sicherlich hast Du mich schon vergessen, wie sollte ich Dir dies auch verübeln können. Es gibt in Deinen Kreisen sicherlich viel hübschere Frauen als ich, die gebildeter sind und viel besser zu Dir passen als ein kleines Mädchen vom Ballett. Trotzdem werde ich Dich nie vergessen, den stolzen Offizier, mit dem ich so wunderbare Stunden verleben durfte.

Deine Dich ewig liebende

Hermine
 

Otto ließ den Brief sinken und musste erst einmal dessen Inhalt im Geiste ordnen. Er schüttelte den Kopf - offensichtlich eine unglücklich verliebte junge Frau. Hermine... Dieser Name weckte eine unbestimmte Erinnerung in Otto, die er jedoch nicht einzuordnen vermochte. Er überflog noch zwei weitere Briefe, die ebenfalls an diesen Otto gerichtet waren und alle von dem noch ungeborenen Kind handelten. Offenbar waren sie alle nicht an den Empfänger abgeschickt worden. Schließlich legte er die Briefe beiseite und entdeckte unter ihnen in der Schatulle noch einen weiteren Umschlag. Er holte ihn nicht ohne Neugier hervor und öffnete ihn. Zum Vorschein kamen zwei Fotographien. Otto betrachtete sie interessiert - und erstarrte. Auf der ersten Fotographie war er selbst zu sehen - als junger Mann in Uniform, vielleicht 25 Jahre alt, lächelte er nicht ohne Stolz den Betrachter an. Aber was machte diese Fotographie bei den persönlichen Gegenständen einer jungen Frau? Er nahm das zweite Foto - auf ihr war eine junge, schlicht gekleidete Frau, kaum 20 Jahre jung, mit einem Säugling im Arm zu sehen. Auf der Rückseite des Bildes stand: "Dies ist Dein Sohn Johann, Otto. Eigentlich wollte ich Dir diese Fotographie zusenden, aber ich wage es nicht." Otto drehte das Foto noch einmal um und betrachtete die Frau. Plötzlich wurden ihn im längst vergessene Erinnerungen wach. "Oh Gott..." flüsterte Otto entsetzt. Auf einmal wusste er, wer diese Frau war. "Hermine..." murmelte er bestürzt. "Ein Kind..." Aber das konnte doch nicht sein! Das war unmöglich! Nervös sprang Otto auf und ging unruhig im Zimmer auf und ab, ohne den Blick von der Fotographie zu wenden. Es war doch nur eine Affäre gewesen.... Ja, er hatte sie geliebt, so oft hatte er ihr von seiner Loge aus abends auf der Bühne zugesehen, ihr zugelächelt.... Sie hatte ihm gefallen und schließlich waren sie sich näher gekommen... Sehr nahe... Aber er hatte sie wieder verlassen, auch wenn er in der ersten Zeit noch oft an sie hatte denken müssen. Wie hätte er wissen sollen, dass.... "Er ist mein Sohn!" dachte er panisch. Warum hatte Hermine diese Briefe nie abgeschickt? Weshalb hatte sie ihm verschwiegen, dass er Vater eines Sohnes geworden war? Voller Panik stopfte Otto die Briefe zurück in die Schatulle und stellte sie wieder auf die Kommode. Nur das Bild von Hermine und dem kleinen Johann behielt er in der Hand und betrachte es lange. Mit der Zeit veränderte sich sein zu Beginn noch ängstlicher Blick und er betrachtete liebevoll lächelnd das kleine Kind, das so friedlich in den Armen seiner Mutter lag. Mit der Fingerspitze strich er zärtlich über das Bild und flüsterte: "Hermine... Johann..."
 

Johann! Otto riss seinen Blick von dem Foto fort und steckte es in die Hosentasche. Er blieb kurz zögerlich am Tisch stehen, doch dann ging er langsam aus dem Raum, um den Jungen zu suchen. Im Nebenzimmer fand er ihn schließlich - Johann stand mit dem Rücken zu ihm an der geöffneten Balkontüre und lauschte verzückt dem Klavierspiel, das aus einem der benachbarten Häuser klang. Otto stand einige Zeit schweigend hinter dem Kind, dann trat er zu ihm und legte Johann die Hand auf die Schulter. Der Junge sah erst erschrocken, dann aber lächelnd zu Otto: "Hörst du das?" fragte er leise. Otto nickte lächelnd. So standen sie schweigend nebeneinander und hörten gemeinsam dem Klavierspiel zu. Als es endete, setzte sich Johann auf das Sofa und ließ die Beine baumeln. Otto ließ sich neben ihm nieder, und das Kind lehnte sich scheu und zögernd an ihn. Otto wusste erst nicht, wie er nun reagieren und was er tun sollte, und saß so einige Minuten eher steif und verkrampft neben seinem Kind. Dann wurde er jedoch gelöster und legte Johann den Arm um die Schulter. "Johann..." sagte er zögernd. "Weißt du...wer dei-dein...dein Va-ter ist?" Johann sah Otto zuerst unsicher an, dann nickte er langsam. "Mama hat es mir einmal gesagt, als ich geweint habe. Aber...aber ich darf es niemandem sagen! Aber du...dir vertraue ich - Mama hätte doch nichts dagegen, wenn ich es dir sage, oder?" Otto schüttelte ein wenig wehmütig den Kopf. "Es ist jemand aus der Familie des Königs! Sie heißen Wittelsbacher, nicht?" fragte er Otto unsicher, und dieser nickte, nun sehr aufgewühlt. "Er ist ein Wittelsbacher.... Dann ist er ganz bestimmt sehr reich.... Ich habe mir oft meinen Vater vorgestellt... Ein Adliger..." murmelte Johann ehrfürchtig. Aber Mama sagte, dass er nicht in Bayern sei und deshalb auch nicht zu uns kommen könne. Aber weshalb hat er denn nie einen Brief geschickt?" Fragend sah Johann Otto an. "Johann..." erwiderte Otto völlig aufgelöst. Er wusste nicht, wie er es dem Jungen erklären sollte, seine Gedanken flogen nur so durcheinander. Einen Augenblick war er versucht, aufzuspringen und panisch aus dem Raum zu flüchten, doch er nahm sich zusammen, ergriff die Hände des ihn fragend ansehenden Jungen und versuchte dann, völlig klar zu denken. "Johann...Dein...dein Vater nie...hat dir nie geschiebn...geschrieben, weil...weil er...nicht wusste..." Er stockte, stammelte und suchte nach den richtigen Worten. Einige Augenblicke schwieg er, schloss die Augen und versuchte, seine wirren Gedanken zu ordnen. "Er wusste nicht, dass...er einen...einen Sohn hat." "Nicht?" Johann sah ihn mit großen Augen an. "Aber warum hat er es nicht gewusst?" Ihm schien dies völlig unmöglich, dass ein Vater nichts von der Existenz seines Kindes wissen konnte. "Hermine...Deine... Mutter hat nie...hat es ihm nicht ges-gesagt. Johann..." Otto drückte die Hände des Kindes, er zitterte nun. "Ich...Deine Mutter...und ich, wir...wir haben uns ein-einmal geliebt...Aber...wir durften nicht... Ich bin dein Vater!" Die letzten Worte hatte er hastig hervorgestoßen. Er sank etwas in sich zusammen und wagte nicht, das Kind anzusehen. Johann sah ihn völlig durcheinander an und verstand zuerst gar nicht, was Otto ihm eben erzählt hatte. "Du bist...mein Papa?" Otto reagierte nicht - er fühlte sich so leer und müde und brachte kein Wort mehr hervor. Das Kind sah Otto einige Zeit schweigend an und fragte dann leise: "Hast du mich denn gern?" Otto sah verdutzt auf. Auf einmal brachen all seine Gefühle hervor - er umarmte das Kind und drückte es an seine Brust. Die Tränen liefen ihm die Wangen herab, doch er lachte. "Ja, ja, ja! Ich habe dich gern!" Er schob Johann ein Stück von sich und betrachtete ihn. Immer deutlicher erkannte er die Ähnlichkeit zwischen dem Kind und sich - die schmalen, dunklen Augen, das blonde, glatte Haar, die schmalen Lippen, die Johann unsicher und ein wenig ängstlich zusammenpresste. Otto lächelte zu ihm herab und strich ihm über den Kopf. "Mein Sohn..." flüsterte er mehr zu sich selbst. Auf einmal fühlte er sich glücklich, stark und völlig klar im Kopf. Die Nebel und dunklen Schatten in seinem Kopf waren für einige Augenblicke verschwunden, die Stimmen, die ihn plagten, verstummt. "Ich...ich hätte mir...kein...keinen besseren Sohn... wünschen können." sagte er leise. "Ich habe dich sehr...sehr gern, glaub mir." Johann lächelte und umarmte zögerlich seinen Vater. "Ich mag dich auch sehr!" flüsterte er und vergrub sein Gesicht in Ottos Hemd. Es war ein noch so neues, aber wunderbares Gefühl, auf einmal jemanden zu haben, in dessen Arme er sich kuscheln konnte. Es fühlte sich warm und geborgen in Ottos Armen an. In den Armen seines Vaters!



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2006-12-10T10:16:27+00:00 10.12.2006 11:16
@Kodou: Die ersten Anzeichen einer Geisteskrankheit traten bei Otto bereits mit 17 Jahren auf, aber die Schizophrenie/Paranoia kam dann eher schleichend - manchmal hatte Otto zumindest in den 70ern auch Phasen, in denen er völlig "normal" handelte. Nach Fürstenried kam er 1880, als man keine Aussicht mehr auf Besserung sah. Aber wie klar Otto auch dort zumindest ab und zu noch denken konnte, dazu gibt es recht unterschiedliche Quellen und Berichte. Darum habe ich mir ein wenig die "künstlerische Freiheit" genommen, Otto doch etwas klarer sein zu lassen. ~.^ Danke für deinen Kommi!
Von: abgemeldet
2006-12-09T20:25:45+00:00 09.12.2006 21:25
ein schönes kapitel. :D
aber war otto nicht viel jünger als er verrückt geworden war? ich weis es zwar nicht genau aber im film meine ich ist er irgendwo zwischen 20 und 23 als er verrückt wurde. aber ist ja auch eingeltich egal. :D
ich mag otto. xD~ aber ich finde es komisch das jemand der nicht ganz klar im kopf ist, doch noch so eh klar denken kann. *drop* ach auch egal xD~
ich werde auf jedenfall die nächsten kapitel auch noch lesen ^^


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