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Eistränen

von

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Prolog

Ich denke dass alles aus einem gewissen Grund geschieht. Glück und Leid, Verlust und Erfolg. Und ich denke dass man alles im Leben schaffen kann. Mein Leben und so wie ich meine Lebensgeschichte schildere ist, so denke ich, ein gutes Beispiel dafür, dass man alles im Leben schaffen kann wenn man die nötige Kraft aufbringt, ganz gleich wodurch…

Wie alles begann...

Am 04.Februar 1984 wurde ich als zweites Kind und erste Tochter einer gutbürgerlichen japanischen Familie in Tokio geboren. Meine Eltern Toyo und Ayako haben sich laut ihrer Aussage immer ein kleines Mädchen gewünscht und schwupps war ich da. Ich habe noch einen drei Jahre älteren Bruder, Seiya, der sich seit ich denken kann um mich gekümmert und mich beschützt hat. Ich liebe ihn sehr. Alles was ich nun erzähle, kann ich nur aus den Erzählungen meiner Eltern widergeben, da ich mich logischerweise nicht mehr daran Erinnern kann.

Als ich noch ein kleines Mädchen war habe ich sehr viel mit meinem Bruder gespielt. Als Junge interessierte er sich natürlich für Jungenkram. Autos, Sport und Polizei spielte er gern, er wollte immer Polizist werden wenn er groß ist. „Damit ich meine kleine Schwester beschützen kann.“ Pflege er zu sagen.

Abends nach dem Essen gehörte es zur Angewohnheit dass mein Vater sich in den großen Sessel setze und sich die Nachrichten und Sportsendungen ansah. Meine Mutter saß oft dabei, nach dem sie das Geschirr abgewaschen hatte und nähte, oder stickte. Sie wollte mir das Nähen und Sticken nahebringen nur ich war ein aufgewecktes kleines Kind und immer in Bewegung. Fürs Nähen hatte ich keine Geduld. Ich war immer auf Achse und wie sagte mein Bruder, hatte „Hummeln im Hintern“. Ich hatte schon als Kind großes mit meinem Leben vor. Ich wollte Pilotin, Astronautin oder Stewardess werden, mein Vater sagte immer dass sich meine Berufswünsche täglich änderten. Aber das sei normal meinte meine Mutter immer. Eines Abends saßen wir wieder wie üblich vor dem Fernseher. Es war Dezember, das Haus war weihnachtlich geschmückt, überall duftete es nach Zimt und Tannenzweigen, Kerzen brannten und meine Mutter war gerade dabei mit meinem Bruder Plätzchen zu backen. Immer wieder schlich ich mich in die Küche zum Naschen aber mein Bruder erwischte mich dann doch immer wieder und schob mich aus der Küche. Bald darauf hörte ich die Stimme meines Vaters. „Yumi-chan, komm zu mir ich möchte nicht alleine Fernsehen.“ Da ich ein gehorsames Kind war trippelte ich mit kleinen Schritten zu meinem Vater. Ich war zwei Jahre alt, im Februar wurde ich drei und ich war mächtig stolz denn ich wusste dass ich mit drei Jahren in den Kindergarten gehen sollte. Ich war schon mächtig groß!

Also kletterte ich auf das Sofa, mein Papa hob mich auf seinen Schoß und sagte dass wir nun Sport schauen würden er wolle mir etwas zeigen. Meine Mutter hatte oft erwähnt dass sie wollte dass ich Eiskunstläuferin werde, nur konnte ich mir darunter nichts vorstellen. Nun war es an der Zeit dass ich lernte was eine Eiskunstläuferin ist, oder wie mein Papa immer sagte: „Eine kleine Eisprinzessin.“ Also wartete ich gespannt ab. Die große Eisfläche faszinierte mich doch schon und so fragte ich meinen Paps: „Papa, wie viele Eisdinger fahren da?“ Mein Vater lächelte: „Nur eine liebes, und es sind keine Eisdinger sondern Eiskunstläuferinnen und Läufer.“ „Soviel Platz für einen alleine? Wow!“

Er lachte. „Manchmal laufen auch ein Mann und eine Frau.“

„Ach so“ machte ich nur.

Der Kommentator der Eis Show erzählte etwas zu der Läuferin, die in diesem Moment aufs Eis glitt als würde sie schweben. Ich beobachtete sie gespannt. Sie trug ein wunderhübsches grünes Glitzerkleidchen und weiße Schlittschuhe. Dann stellte sie sich in Position und mit der Musik begann ihre Kür. Ich war so fasziniert von der Art wie sie lief, dass sie es fertigbrachte auf dieser glatten Fläche auf einem Bein zu laufen, sich unnatürlich zu verkrümmen, zu springen und wieder aufzukommen ohne hinzufallen. Und dabei so graziös aussah. Ich staunte. Meine blauen Augen müssen in dem Moment wie Teetassen ausgesehen haben so sehr sog ich alles was sie tat in mich auf. Nur leider dauerte ihre Kür nicht lange und mit Fachbegriffen wie Axel, Rittberger und Pirouetten, geschweige denn des Punktesystems konnte ich nichts anfangen. Ich sah meinen Papa an.

„Ich möchte das nochmal sehen das war so schön, sie sah aus wie eine Fee! Ich will auch eine Fee sein und fliegen!“

Seiya kam in dem Moment rein und prustete los: „Du willst fliegen kleine Schwester? Du bist doch kein Vogel.“ „Doch guck mal ich kann das auch!“ Ich breitete die kleinen Arme aus und sprang mehr wie eine Ballerina als wie eine Eiskunstläuferin im Zimmer herum. Ich muss ziemlich dämlich so ausgesehen haben aber früh übt sich. Mein großer Bruder konnte nicht mehr. Er hielt sich den Bauch vor Lachen und kriegte sich einfach nicht mehr ein. „Mama, Mama komm schnell gucken, Yumi glaubt sie ist eine Fee!“ Meine Mutter kam ins Zimmer während sie sich die Hände an ihrer Schürze abwischte. „Eine kleine Fee also, was hast du denn wieder für Flausen im Kopf Kimiko?“ „Ich will auch fliegen wie die Frau im Fernsehen.“ „Ach so, wie eine Eiskunstläuferin?“ Ich nickte so heftig dass ich dachte mein Kopf fällt ab und Seiya prustete wieder lauthals los. Doch mein Vater gebot ihm mit einem einzigen Blick zu schweigen, was er sofort tat.

„Ich verstehe,“ sagte meine Mutter lächelnd, wohlwissend dass sie mich genau da hatte wo sie mich haben wollte und darüber war sie äußerst entzückt. „Du möchtest Eiskunstläuferin werden. Nun dann musst du im Prinzip sofort beginnen, vielleicht schenkt das Christkind dir zu Weihnachten ein paar Schlittschuhe.“ „Dann möchte ich aber so welche wie die Frau im Fernsehen!“ plapperte ich sofort drauf los, ohne zu merken dass meine Mutter meinem Vater einen verschwörerischen Blick zu warf. „Krieg ich dann auch so hübsche Glitzerkleidchen?“ Mein Vater stand aus dem Sofa auf und nahm mich hoch. „Sicher Schatz aber erst mal kriegst du Plätzchen.“ Seiya war bekannt dafür dass er schon im zarten Alter von fünf Jahren seinen vorlauten Mund nicht halten konnte und so musste er natürlich einen Kommentar abgeben. „Nein gib ihr keine Plätzchen sonst wird sie fett und wenn sie dann im Glitzerkleidchen auf dem Eis steht sieht sie eher aus wie eine Christbaumkugel die zu viel Sake getrunken hat.“ Er lachte wieder lauthals los und mein Vater schickte ihn fort in die Küche. Ich stand betröppelt da. Dicke Tränchen kullerten über meine geröteten Wangen und ich war echt böse mit Seiya. Nur konnte er mich damit nicht ärgern. Das einzige was er damit erreicht hatte war, dass mein Ehrgeiz angestachelt wurde. Frech streckte ich ihm die Zunge aus. „Wirst schon sehen ich werde einmal eine große Eisprinzessin und verdiene viel Geld und kann mir ganz viele Süßigkeiten kaufen und du kriegst gar nichts ab! So!“ Aber er ließ sich gar nicht beirren. „Christbaumkugel, Christbaumkugel“ rief er mir immer wieder zu. Und ich schwor mir dass ich es schaffe. Ich würde reich und berühmt sein!

Meine ersten Schlittschuhe

Es war soweit Weihnachten stand vor der Tür. Den ganzen Tag wirbelte ich wie ein Taifun durch die Wohnung, so dass meine Mutter ganz nervös wurde. „Kimiko jetzt setz dich ruhig hin und spiel was oder mal ein Bild.“ Sagte sie leicht ungeduldig. „Ich will aber nicht malen, ich will dass das Christkind kommt!“ Sie lächelte. „Das Christkind ist den ganzen Tag unterwegs es wird erst Abends kommen.“

„Och Manno!“ Ich schmollte.

Meine Eltern haben schon sehr früh mit mir sprechen gelernt so dass ich mit zwei Jahren schon recht gut drauflos plappern konnte, wie mir erzählt wurde. „Es gibt gar kein Christkind.“ Mein Bruder betrat das Zimmer. „Es gibt gar kein Christkind!“ rief er wieder. Ich stand etwas verloren da. „Gibt’s ja wohl!“ meckerte ich wie eine kleine Ziege drauflos. „Nein gibt es nicht!“

„Doch!“

„Nein!“

„Doch!“

„Nein!“

„Doch!“

„Nein!“

„Schluss jetzt!“ tönte die tiefe Stimme meines Vaters. „Das reicht jetzt ihr Streithähne! Helft eurer Mutter lieber.“ Beide gingen wir mit eingezogenen Köpfen in die Küche um meiner Mutter zur Hand zu gehen.

Ich stellte mich auf einen Hocker und half meiner Mama. Seiya schnitt das Gemüse klein. Es sollte Fisch zum Abendessen geben. Als Vorspeise eine Miso Suppe, den Fisch mit Gemüse und Reis als Hauptgang, Salat als Beilage und als Nachtisch Eis. Als Kind konnte ich alles essen ohne dick zu werden, und ich war verfressen.

Als meine Mutter den Fisch soweit vorbereitet hatte um ihn zu Garen ging sie mit mir in mein Zimmer um mich fein zu machen. Ich sollte ein hübsches rotes Kleidchen bekommen. Darunter zog sie mir eine weiße Strumpfhose an und schwarze Lackschühchen. In die schwarzen Haare steckte sie mir eine Spange mit einem Schmetterling, Ich besitze diese Spange heute noch. Somit war ich fertig. Mein Bruder Seiya bekam einen schwarzen Anzug, wie mein Vater und meine Mutter trug ein weißes Kleid.

Kurz darauf saßen wir beim Essen und ich griff gut zu. Seiya sah mich an. „Du bist ne Schnabulierwanze! Wie kann man so verfressen sein? Du wirst fett.“ Mein Vater lachte. „Nein wird sie nicht, sie wird schlank bleiben, nicht wahr Yumi?“ Ich schlürfte meine Suppe. „Ja“ Zum damaligen Zeitpunkt wusste keiner wie es wirklich sein würde.
 

Ich aß auch alles andere brav auf. Zum einen weil ich Hunger hatte, zum anderen weil ich endlich Bescherung machen wollte. Meine Eltern hingegen ließen sich Zeit mit dem Essen weil sie plauderten. „Esst doch mal schneller!“

„Kimiko gedulde dich!“ mahnte meine Mutter.

„Aber ich will auspacken!“

Als Kind war ich vorlaut und aufmüpfig gewesen, heute als Erwachsene ist das anders. Meine Vergangenheit hatte darauf den größten Einfluss.
 

Kurz nach dem Essen war es soweit, Bescherung stand an. Ich war ganz nervös. Die Päckchen standen alle hübsch unter dem Baum und ich wartete sehr ungeduldig. Mein Vater reichte mir ein Päckchen was ich aufriss. Sehr ungezogen von mir ich weiß, aber mit zwei Jahren, was macht das schon? Meine kleinen Kinderaugen erblickten einen kleinen Karton unter dem hübschen Weihnachtspapier. Ich wurde nun ruhiger. Behutsam, ja fast vorsichtig öffnete ich den Karton und wurde dabei interessiert von meinen Eltern beäugt. Ich schlug sanft das transparente Papier zur Seite und erblickte sie. Meine ersten Schlittschuhe. Ich habe mich wie ein Schneekönig darüber gefreut. Ich sah zur Decke und dankte dem Christkind dafür dass es meinen Wunsch erhört hatte. Mein Vater sah mich an, er schien sich fast mehr zu freuen als ich. „Kimiko“ sagte er freudig. „Das sind keine gewöhnlichen Schlittschuhe, sondern ganz besondere.“

Damit nahm er einen Schuh aus dem Karton und hielt die silberne Kufe ins Licht. Auf der Kufe war etwas eingraviert doch ich konnte es noch nicht lesen. „In diese Kufen ist dein Name eingraviert. Kimiko Yumi Kudo. Sie sollen dir bei deinen ersten Schritten auf dem Eis Glück bringen. Ich freute mich und wollte sie direkt anprobieren. Meine Mutter half mir dabei. Es war ganz schön schwierig in die fest geschnürten Schuhe zu kommen und sie saßen recht fest und stramm auf meinen kleinen Füßen aber meine Mutter meinte das müsse so sein. „Kimiko, öffne auch deine anderen Geschenke“ sagte meine Mutter. Ich blickte ihr irritiert in die braunen Augen. „Aber ich habe mir doch gar nichts mehr gewünscht.“ Sagte ich. Sie lächelte und gab mir ein weiteres Päckchen, das ich öffnete. In diesem waren Süßigkeiten und Dinge die ich zum Eislaufen brauchte, wie Kufenschoner und allerlei Kleinigkeiten. Für mich war Weihnachten nun erledigt gewesen da ich mir damals nichts schöneres vorstellte als auf dem Eis zu sein.

Erste Schritte auf dem Eis

Nach meinen dritten Geburtstag war es endlich soweit, meine erste Unterrichtsstunde im Eisverein. Zum neuen Jahr hin hatten meine Eltern alles bereits geregelt, einen Trainer gefunden, der sich meiner annahm, die Halle in der ich trainiert werden sollte und für meine Kostüme war selbstverständlich auch gesorgt. Wie ich bereits erwähnte, hatte meine Mutter ein verdammt gutes Händchen im Nähen und nähte somit meine Eislaufkostüme selbst. Das fand ich sehr schön denn so konnte ich mir selbst aussuchen aus welchem Stoff und in welcher Farbe sie sein sollten.
 

Am 6 Februar 1987 war es so weit, die erste Unterrichtssunde. Ich wurde meinem Trainer Haku Chiba vorgestellt. Ein hochgewachsener, junger Mann, ich schätze ihn auf ungefähr 21 Jahre, mit dunklem vollen Haar. Er hatte schöne braune Augen und sah aus wie der durchschnittliche Japaner. Er ging vor mir in die Hocke. „Du bist also Kimiko Yumi Kudo. Möchtest du lieber mit Kimiko oder mit Yumi angesprochen werden?“ Ich stand etwas verschüchtert da. „Mit Kimiko, Herr Chiba.“ Sagte ich höflich. „Yumi sagen nur meine Mama, mein Papa und mein Bruder.“

„Ah du hast auch noch einen Bruder, wie alt ist er denn?“

Mit der kleinen Hand formte ich eine fünf. Seiya wurde im Juli sechs und kam dann in die Schule. „Fünf ist er schon, na dann ist er ja schon groß.“

„Ich bin auch schon groß“ sagte ich rasch und Herr Chiba legte die Hand auf meinen Kopf.

„Sicher bist du das Kätzchen.“

Kätzchen! Dieser Spitzname sollte mir während meiner gesamten Zeit bei ihm erhalten bleiben und anfangs störte es mich nicht weiter, ich mochte Katzen, aber hinterher wurde mir dieser Kosename verhasst.

Haku und meine Eltern hatten noch einiges zu besprechen denn klar war dass ich nun eine ganze Weile bei ihm bleiben würde.

„Wissen Sie Frau und Herr Kudo, ich werde mich nun eine ganze Weile um Kimiko kümmern und ich möchte dass sie sich hier wohlfühlt, und mit ihren Kameradinnen und Kameraden gut zurecht kommt. Es wird sicher immer mal wieder Zwischenfälle geben in denen es Unstimmigkeiten gibt, sowohl zwischen mir und Ihrer Tochter, als auch im Team untereinander. Ich möchte Sie eindringlichst darum bitten Kimiko in dieser Hinsicht nicht auszufragen, denn hier im Team herrscht Schweigepflicht. So wie ich verpflichtet bin zu schweigen was alles zu mir getragen wird, so behandle ich es auch andersherum. Das werde ich Kimiko nochmal erklären, und ihr sagen dass alles was in dieser Halle geschieht nicht zu Hause erzählt werden darf, also fragen Sie sie bitte nichts konkretes. Das müssten Sie mir auch unterschreiben. Ein Verstoß gegen die Vertragsklausel, würde dazu führen dass Kimiko aus dem Team ausgeschlossen wird.“ Ich stand etwas abseits, hörte somit nicht was sie besprachen, sondern sah nur wie meine Eltern nickten und etwas unterschrieben.
 

Zur ersten Unterrichtsstunde konnte ich sofort dableiben. Ich zog mir den warmen Pullover, den ich an diesem kalten Februar tag trug aus und bleib in meinem etwas dünneren Rollkragenpullover. Meine Eltern kamen zu mir und verabschiedeten sich, wobei mir mein Vater etwas Geld zusteckte damit ich mir etwas zu Essen und zu trinken kaufen könnte. Haku sah das. „Das ist nicht nötig Herr Kudo, Kimiko wird hier bestens versorgt werden.“ Er lächelte. Mein Vater sah ihn an. „In Ordnung.“ Dann küsste er mich auf die Stirn und meine Mutter band mir die Haare rasch zum Zopf. Dann verschwanden sie und versprachen mich bald wieder abzuholen.

Haku kam zu mir. „So Kätzchen fangen wir mal an. Normalerweise muss man bei einer neuen Sache immer erst die Grundlagen lernen, und beim Eiskunstlauf, ist die Grundlage erst mal das Eis.“ Ich hörte zu, wie er mir verschiedene Dinge erklärte. Zum Beispiel dass das Eis immer wieder aufbereitet werden müsste, dass unter dem Eis Eisenplatten seien damit ich nicht auf die Idee käme dass das Eis bricht und ich in den Abgrund stürze. Ich nickte und da er merkte dass ich es kaum erwarten konnte aufs Eis zu gehen half er mir in die Schlittschuhe und schnürte sie richtig zu. Dann sollte ich mich aufrecht hinstellen. Er nahm meine Hand, seine war warm und trocken und wie ich fand sehr groß.

Dann nahm er mich mit aufs Eis, zunächst sollte ich lernen zu stehen und mich auf den Kufen zu halten. Dann zeigte er mir wie man sich vorwärts bewegte und ein paar Kunststücke. Nun war klein Kimi an der Reihe. Er stellte sich hinter mich und nahm meine Hände. „Nun lauf, keine Angst ich halte dich“ Ich fing an zu laufen und hatte ziemliche Probleme damit, aber Haku war sehr geduldig mit mir. Das war meine erste Lektion. Vorsichtig auf dem Eis bewegen. Die ganzen zwei Stunden übten wir nur das. Als wir dann fertig waren hatte ich Durst und Haku holte mir eine Zitronenlimonade. „das ist eher die Ausnahme in der Regel musst du Wasser beim Training trinken. Kurz darauf kamen meine Eltern mit Seiya um mich abzuholen. „Na meine Süße, wie war das erste Training?“ fragte mein Papa. „Schööööööööön rief ich.“ Haku wechselte ein paar Worte mit meinen Eltern und gab ihnen einen Trainingsplan für mich mit. Er erklärte dass ich von Anfang an hart trainieren müsse und Kindergarten für mich nicht in Frage käme. Aber das war mir auch egal, ich wurde Eiskunstläuferin. Auf dem Weg zurück nach Hause schlief ich im Auto ein und mein Papa trug mich ins Bett. Ich schlief wie tot, so erschöpft war ich. Meine Mutter hatte meinen Trainingsplan an den Kühlschrank geheftet. Von nun an hieß es dreimal die Woche Trainieren, trainieren, trainieren.

Mein Traum wird wahr

Die erste Zeit beim Training verbrachte ich damit die Grundlagen des Eislaufes zu lernen. Vorwärts, Rückwärts, auf einem Bein und so weiter. Ich lernte schnell denn ich war ehrgeizig. Mein Trainer sagte immer dass ich früher als andere an Meisterschaften würde teilnehmen können. Dann würde ich Medaillen und Pokale gewinnen und reich und berühmt werden. Mal ehrlich, will das nicht jedes Kind? Ich hatte die Chance, sie war zum Greifen nah.
 

Im Alter von sieben Jahren – ich war gerade in die zweite Klasse gekommen durfte ich an einer kleinen Eisshow teilnehmen. Ich freute mich und war aufgeregt. Mein Trainer ging nochmal alles mit mir durch, doch ich verpatzte meine gesamte Kür. Dennoch blieb er ruhig und geduldig mit mir. Bis ich schließlich einen Abend, vor dem großen Tag, es war der 25. Oktober 1991 meine Kür beherrschte. Haku meinte ich sei bereit für das Schaulaufen der Kinder.
 

Da er wusste wie aufgeregt ich war, schickte er mich früh Heim. Mein Bruder holte mich ab, er war mittlerweile zehn Jahre alt. Ich erzählte Seiya vom Schaulaufen und dass ich mächtig nervös war aber er lächelte und beruhigte mich. „Das packst du schon Kimiko. Ich komme vorbei und feuer dich an.“ Ich kuschelte mich an ihn. „Danke, Bruder“

In der Nacht schlief ich so gut wie gar nicht, was mir Probleme machen würde beim Schaulaufen das wusste ich. Also schlich ich durchs Haus wie ein Dieb, suchte Möglichkeiten die mir halfen einzuschlafen. Die Klassiker, Schafe zählen, warme Milch mit Honig und andere Dinge halfen überhaupt nicht. Also drehte ich den Spieß um und versuchte nicht mehr mich zum einschlafen zu kriegen, sondern zum wachbleiben. Ein fataler Fehler wie ich am nächsten Morgen feststellen sollte.
 

Gegen Sechs Uhr morgens am Tag des Schaulaufens – ich hatte die gesamte Nacht nicht geschlafen – ging ich erst unter die Dusche. Meine Eltern waren schon auf, sie wollten mich zur Eishalle begleiten. Mein Vater hatte sich extra freigenommen. Meine Mutter war in der Küche und bereitete das Frühstück vor. Es war Samstag und mein Bruder schlief noch seelenruhig. Die Dusche tat mir gut, ich war hellwach und kam in die Küche. Meine Mutter lächelte und nachdem ich mich angezogen hatte und meine fertig gepackte Tasche auf das Bett stellte, kam sie ins Zimmer um mir die Haare zu machen. Sie band mir die Schulterlangen Haare zu einem Knoten und befestigte ihr Werk mit Spangen und Haarspray. „Komm nun frühstücken Schatz.“ Sagte sie sanft, aber ich verneinte. „Ich bin zu aufgeregt ich kriege keinen Bissen runter.“ „Trink wenigstens einen Tee ja?“ Ich nickte und setzte mich an meinen Platz am Küchentisch. Sie stellte mir die dampfende Tasse hin und ich trank in kleinen Schlückchen. Kurz darauf kamen auch mein Vater und mein Bruder in die Küche. Seiya war total zerknittert, die schwarzen Haare standen ihm wirr vom Kopf ab. „Morgen“ murrte er. Meine Mutter und ich schenkten ihm ein freundliches „Guten Morgen.“. „Stell dich nicht so an“, meinte ich zu Seiya. „Ich habe überhaupt nicht geschlafen und muss gleich auch noch vor Punktrichtern laufen, können ja tauschen.“ Mein Paps lächelte. „Meine kleine ist aufgeregt, was?“ Ich nickte nur.
 

Ich sah immer wieder auf die Küchenuhr die über der Tür hing. 7:30Uhr, wir mussten los. Ich zog mir Jacke und Schuhe an und wir gingen gemeinsam zum Auto. Um 8:00Uhr sollte das Schaulaufen beginnen und ich war in der Gruppe der Mädchen als vierte an der Reihe. Die Gruppen waren unterteilt in Mädchen von 7-14Jahre und Jungen im selben Alter. Sicherlich hatte Haku mehrere Läufer unter Vertrag aber die Jungen zum Beispiel bekam ich nie zu Gesicht da sie andere Trainingstage und –Zeiten hatten als ich. Nun würde ich alle aus dem Team Chiba zu Gesicht bekommen und ich freute mich darauf denn ich war neugierig. Ich wusste auch dass ich mit 15 Jahren zum ersten Mal mit einem der Jungen den Paarlauf üben sollte. Der der mir zugeteilt wurde, mit dem musste ich mich verstehen denn ich würde lange mit ihm Laufen, sofern es keine anderweitigen Probleme gab.

Wir machten uns also auf den Weg zur Eishalle und je näher wir kamen, desto nervöser wurde ich. Ich betete dass jede Ampel rot sein würde, damit ich Zeit schinden konnte, aber das Glück war da nicht auf meiner Seite.

Schließlich parkte mein Vater das Auto und wir betraten die Eishalle. In den paar Jahren die ich schon lief, wurde mir eingetrichtert gerade und selbstbewusst zu gehen, was mir den Titel einer arroganten Schnepfe einbrachte, dabei war ich gar nicht arrogant. Ich steuerte direkt zur Umkleide, nun hatte ich meine Glitzerkleidchen endlich. Meine Mutter hatte mir ein hübsches Zartrosafarbendes Kleidchen genäht, mit Perlen und Pailletten besetzt und am Rücken transparent. Die Strumpfhose trug ich unter meiner Hose und so zog ich mir das Kleidchen an und den Trainingsanzug darüber. Auf der Jacke stand in großen weißen Lettern „Tokyo Eisverein e. V, Team Chiba“ Mein Trainer betrat die Umkleide als ich gerade dabei war mir die Kufenschoner überzustülpen. „Na Kätzchen, bist du schon aufgeregt? Ich bin es.“ Er lachte, ich nickte nur. Er stellte sich hinter mich und massierte mir die Schultern. „Entspann dich.“ Sagte er freundlich. „Entspannen“, dachte ich „du hast leicht reden…“ „Geh dich bitte schon mal aufwärmen.“ Als ich gerade an der Tür stand pfiff er mich zurück. „ach und Kimiko – ich zähle auf dich.“ Ich nickte und lächelte, nicht wissend was das in der Zukunft für mich bedeuten würde.
 

Ich stellte mich aufs Eis und begann mich aufzuwärmen, ohne zu merken dass ich beobachtet wurde. Meine Kür zu üben, dazu hatte ich keine Zeit, aber beim Aufwärmen ließ ich einige Elemente mit einfließen. Als ich fertig war, hörte ich einen Applaus. Ich sah in die Richtung und erblickte einen jungen, ca ein Jahr älter als ich. Ich ging zu ihm. „Das war klasse, aber du bist zu nervös.“ Ich lächelte. „Du nicht?“ „Doch“ sagte er lächelnd aber es gibt eine einfache Methode das abzuschütteln. „Sag sie mir.“ Bettelte ich ungeduldig und er lächelte. „Stell dir vor, das Publikum und die Punktrichter sind nackt.“ Ich sah ihn schräg an und er lachte. „Hey das meine ich ernst kleine Kimiko.“ Ich sah ihn verdattert an. „Woher..“ „Woher ich deinen Namen kenne? Wir sind im selben Team, ich heiß Fujita.“ Er verneigte sich und ich tat es ebenfalls. „Also Kimiko, ich muss weiter, ich wünsch dir viel Glück.“ „Danke“ sagte ich nur und sah die schlanke Statur davonlaufen. Er war allein gekommen.
 

Irgendwann war es soweit ich war an der Reihe. Ich tat wie Fujita es mir geraten hatte und stellte mir vor alle seien nackt. Es half. Ich lief meine Kür ohne Fehler, aber technisch hatten die Punktrichter einiges auszusetzen. Immerhin belegte ich den dritten Platz und war somit schon mal nicht dazu verdammt das Team zu verlassen. Bis ich zu den Frühjahrsmeisterschaften konnte, war noch etwas Zeit. Ich wollte mich bewähren, was hieß weitertrainieren. Ich hatte es aber geschafft. Ich war dem Ziel eine große Läuferin zu werden ein Stück näher gekommen und das war mein Traum. Er wurde wahr.

Fujita O´Connor

Fujita war einer der ersten die mir gratulierten. Im Lauf der Jungen hatte er den zweiten Platz belegt und mein Trainer war mit uns beiden sehr zufrieden. Ich hatte das noch gar nicht richtig realisiert was passiert war, aber ich nahm seine Glückwünsche gern entgegen. Haku kam zu uns. „Kimiko aus dir wird noch mal ein richtiger kleiner Star, wenn du weiter so machst. Ich bin stolz auch euch.“ Er lächelte. Fujita freute sich für mich. „Du bist wirklich gut und wenn du weiter so machst, Haku ist ein guter Trainer.“ Ich nickte. „Ja, danke“ Ich merkte gar nicht dass ich leicht errötet war, aber Fujita lächelte. „Naja Kimiko, also, wir sehen uns Montag in der Schule.“ Moment, hatte ich was verpasst?? Fujita war auf derselben Schule wie ich?? Muss ich irgendwie nicht mitbekommen haben, aber er offensichtlich. Um mich nicht zu blamieren sagte ich rasch. „Ja, also bis Montag“ Ich bewegte mich in die Umkleideräume, zog mich um und packte meine Sachen ein. Dann schulterte ich meine Tasche und ging zum Ausgang wo meine Eltern schon auf mich warteten. Papa und Mama umarmten mich und gratulierten mir, „Das muss gefeiert werden!“ rief mein Vater. „Ich hab Hunger“ kam es nur von mir und Seiya lachte und nahm mir meine Tasche ab. „Ja, ja du kleine Schnabulierwanze, denkst wieder mal nur ans futtern.“ „Sie hat auch nichts gefrühstückt Seiya“ mahnte meine Mutter. Ich sagte nichts aber mein Magen knurrte laut und wir alle lachten. Wir gingen gerade zum Auto als mein Trainer kam. „Ihre Tochter ist hochbegabt“ sagte er zu meinen Eltern. „Sie wird’s sehr weit bringen. Ich werde schon dafür sorgen dass sie nur Goldmedaillen nach Hause bringt“ meinte er mit einem Lächeln, das keiner von uns deuten konnte. Aber keiner von uns machte sich auch nur die kleinsten Sorgen, da keiner von uns auf die Idee kam dass er etwas anderes meinen könnte. Ich muss gestehen dass ich nur kleine Goldmedaillen in den Augen hatte, denn ich wollte es zu etwas bringen. Mir war der Preis den ich dafür noch zahlen sollte nur nicht bewusst

Also gingen wir in ein kleines japanisches Restaurant und ich hatte so einen Hunger dass ich einen ganzen Wal hätte essen können. Ich wurde von klein auf dazu erzogen mich gesund zu ernähren und jetzt da ich Sportlerin war, musste ich besonders auf gesunde und ausgewogene Ernährung achten, wobei ich mir darunter damals nichts vorstellen konnte. Meine Mutter sagte sie stellt einen kleinen Ernährungsplan für mich auf, was von meinem Trainer abgesegnet wurde. Ich sollte die Speisen essen, die mich sättigten, mit Vitaminen und Mineralstoffen versorgten, mich gleichzeitig aber weder dick machten, noch schwer bekömmlich waren. Ohne zu wissen was sie überhaupt meinte, wählte ich allerdings instinktiv das richtige, Sukiyaki. Gemüse und Fleisch. Das Fleisch ist Eiweißhaltig und gut für die Muskeln und Gemüse ist gesund und macht nicht dick. Meine Eltern wählen Tempura und mein Bruder Fisch. Ich hatte ihm immer gesagt dass er eines Tages Kiemen bekommt wenn er soviel Fisch isst, aber ich selber bin eine Fischtante geworden und esse gern Fisch. Zur Vorspeise gab es Misosuppe. Mein Vater hatte ein drei-Gänge-Menü für alle bestellt. Also saßen wir zusammen und ich aß schweigend meine Suppe. Meine Eltern hatten Sake bestellt und ich durfte einen kleinen Schluck probieren. Ich nippte am Schälchen meines Vaters und verzog angewidert das Gesicht. Er lachte und meinte, wenn ich erst mal älter bin würde er mir schon schmecken, aber ich trinke ihn bis heute nicht.

Nach dem Essen fuhren wir heim und ich ging in die Wanne. Ich spürte dass ich müde war und bin tatsächlich in der Wanne eingeschlafen. Bis meine Mutter dann kam und mich weckte. Brrr das Wasser war mittlerweile eiskalt geworden. Also stieg ich aus der Wanne und machte mich Bettfertig. Es war noch nicht spät aber da ich ja schon früh auf war, fielen mir die Augen zu und so ging ich rasch ins Bett.

Montag morgen klingelte der Wecker und ich sprang aus dem Bett. Schnell anziehen, frühstücken und auf in die Schule. Fujita stand schon am Tor. „Guten Morgen Kimiko, ich dachte schon du hast verschlafen“ sagte er lächelnd. „Hab ich auch fast“ sagte ich keuchend.

Denn tatsächlich hatte ich meinen Wecker überhört. Ich rang um Atem, er lächelte. Fujita war ein hochgewachsener Junge, mit hellbraunem Haar und Haselnussbraunen Augen, die eigentlich wie ich fand immer freundlich waren. In seiner Schulunform, die meiner natürlich angepasst war, sah er schlanker und größer aus, als er eigentlich war. Dann läutete die Schulglocke und wir mussten ins Gebäude. Wir gingen selbstverständlich in unterschiedliche Klassen.

In der Schule war ich eigentlich ein ruhiges Mädchen gewesen, scheute mich aber auch nicht davor, meine Meinung zu sagen wenn mir etwas nicht passte. In der ersten Stunde hatten wir Sport. Ich liebte dieses Fach, nicht zuletzt auch weil ich Sportlerin war. Niemals hatte ich damit geprahlt dass ich Eiskunstlauf betrieb. Zu Trainingseinheiten beim Eislaufen gehörte auch Ballet und ich war sehr gelenkig. Mein Bruder der im Fernsehen mal einen Auslandsbericht über den Westen gesehen hatte, bei dem Brezeln hergestellt wurden sagte immer, ich könne mich verbiegen wie eine Brezel geflochten sei. Im Sportunterricht und auch beim Eislauf tat mir das gute Dienste. Unser Lehrer Herr Kayoka sagte heute sollen wir uns in Geräteturnen üben. Von Reck über Barren und Ringe, bis hin zu Bock und Pferd war alles dabei. Ich freute mich darauf und hatte auch wie beim Eislaufen mein Schema zum Aufwärmen was keiner verstand und zumeist belächelt wurde. Während des Sportunterrichtes ging plötzlich die Tür auf und Fujita stand da. Ich war gerade dabei auf dem Barren herumzuturnen und merkte nicht dass er mich beobachtete. Ich wunderte mich nur darüber dass die Mädchen in meiner Klasse förmlich Herzchenaugen bekamen und beinah sabberten. Ich verstand erst gar nicht was Sache war. Bis Herr Kayoka fragte: „Fujita, was machst du denn hier?“ ich drehte mich zu ihm um und lächelte. Fujita war betont höflich. „Wir haben gerade eine Klassenarbeit geschrieben. Ich bin eher fertig geworden und durfte schon mal rausgehen.“ Fujita betrat die Halle. „Darf ich mitmachen?“ Herr Kayoka nickte. „Fujita O´Conner ist ein herausragender Sportler, von ihm könnt ihr was lernen.“ Die Mädchen in meiner Klasse kicherten – mit Ausnahme von mir und die Jungs scheinen ihm ebenfalls sehr gemocht zu haben. Er ging in die Umkleidekabine der Jungs und zog sich um, bevor er dann am Unterricht teilnahm. Wie auch beim Training war er meistens bei mir, was mir hasserfüllte Blicke einbrachte und ein Mädchen, sie hieß Hitomi kam zu mir. „Ihr seid ja sehr dicke miteinander, was?“ Ich sah sie nur an, wusste darauf nichts zu erwidern. Fujita antwortete für mich. „Ja wir kennen uns vom Training.“ „Aha, ihr seid also Freunde.“ Fujita lächelte und nickte. „Ja sind wir.“ „Sind wir?“ dachte ich nur. Aber dann nickte ich. „Ja sind wir.“ Hitomi düste ab wie ein begossener Pudel. Ich musste lächeln, und einen Lachanfall unterdrücken.

Nach dem Sportunterricht war Pause und auch diese verbrachten Fujita und ich zusammen. Meine Mutter hatte mir ein hübsches Bento gepackt, voll mit lauter gesunden Sachen und Obst. Ich hielt es ihm hin. „Möchtest du?“ Er nahm sich ein Stück Karotte. „Danke“

Freundschaft

Fujita und ich verstanden uns prima. Nicht nur in der Schule, auch beim Training und privat verbrachten wir unsere wenige Freizeit miteinander. Wir waren – so kann man es sagen – wie Geschwister, eine Art siamesische Zwillinge. Wann immer man uns sah, wusste man einer von beiden war nie weit weg. Fuji und ich unterstützen uns gegenseitig. Hatte er Probleme in der Schule half ich ihm. Genauso half er mir wenn ich privat oder beim Training Schwierigkeiten hatte. Oft nannte uns man dann das „doppelte Lottchen“. Anfangs konnte ich damit nicht viel anfangen aber Seiya, der sich ja viel mit der westlichen Welt und seiner Kultur auseinandersetze, sagte dass es sich beim „doppelten Lottchen“ um eine europäische Erzählung, eine Art Märchen handelte. Mir gefiel der Gedanke, denn in gewisser Hinsicht sind Fujita und ich seelenverwandt. Er war mein bester Freund und ich war seine beste Freundin die er liebevoll „Kim“ oder „kleines“ nannte.
 

Auch Haku blieb unsere enge Freundschaft nicht verborgen denn Fuji ergriff oft Partei für mich, wenn Haku mich kritisierte. Er schien zu wissen dass Fujita ihn in der Durchführung seiner zukünftigen Pläne behindern konnte. Andererseits konnte Haku nicht immer auf mich aufpassen, dass ich keine „Dummheiten“ machte, wie er sagte. Aber ich war zu jung um zu verstehen was er mit „Dummheiten“ meinte, geschwiege denn Gefahr zu wittern.
 

Während ich Eiskunstlauf betrieb – man kann auch sagen von Anfang an – war ich kaum zu Hause. Ich ging morgens zur Schule, nahm am Unterricht teil, kam nach Hause, aß, erledigte Schulaufgaben und ging dann bis Abends zum Training. Das zog sich über die Jahre so hin. Immer dasselbe, der gleiche Trott, Tag für Tag für Tag für Tag….

Ich hatte keine Zeit darüber nachzudenken, obs mir langweilig wurde. Wenn ich mal Zeit hatte, zwischen Schule und Eiskunstlauftraining verbrachte ich sie mit Fuji. Wir wurden uns irgendwie nie überdrüssig.
 

Mehrere Jahre waren inzwischen vergangen. An einem Tag im November erinnere ich mich ganz genau. Es war der 13. November 1996 ich war gerade zwölf Jahre alt. Dieser Tag war sowohl der schönste, als auch der schlimmste meines Lebens. „Was denn nun?“ werden einige jetzt denken. Und damit beginnt meine eigentliche Geschichte. Die, die nur ansatzweise und teilweise völlig verdreht in allen Medien Japans breitgetreten wurde. Dreizehn ist daher meine Unglückszahl.

Meine erste Goldmedaille

Wie erwähnt wurde viel Müll über mich erzählt - Hier ist nun die Wahrheit.

Am 13.11.1996 war mein großer Tag. Die Herbstmeisterschaften gingen zuende. Begonnen hatten sie am 06.11.1996 unde nach einer Woche nun, waren sie vorbei. Der letzte Tag für mich war nun auch wieder mit einem letzten Lauf für diese Meisterschaft verbunden. Die Kür dafür hatte ich monatelang unter viel Schweiß und Tränen einstudiert und ich behauptete sie im Griff zu haben. Haku war meiner Meinung und auch Fujita sprach mir Mut zu. Ich wusste dass viele Punktrichter aus dem gesamten Land anwesend sein würden und war demnach nervös. Haku massierte mir die Schultern, wie er es oft tat um mir Entspannung zu verschaffen. Ich fand er war heute irgendwie anders als sonst. Er sah mich seltsam an, beobachtete fast jeden meiner Schritte. Seine ruhigen Blicke waren mir mehr als unangenehm und mein Instinkt gebot mir Vorsicht. Hätte ich auf den gehört, wäre mir vielleicht so einiges erspart geblieben, obwohl ich denke dass es zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich schon zu spät war.

Ich saß mit Haku hinter der Bande, hatte die Trainingsjacke offen gelassen, weil ich fürchterlich schwitzte, ausziehen durfte ich sie allerdiings nicht und so trank ich umso mehr. Haku nahm mir die Wasserflasche weg. "Hör auf zu trinken, sonst musst du gleich aufs Klo wenn du auf dem Eis stehst." Ich sah ihn an und nickte. Haku war ein sehr freundlicher aber auch sehr strenger Trainer und ich hatte - japanischer Höflichkeit wegen - gelernt stumm, brav und absolut gehorsam zu sein. Dass man das in Zukunft ausnutzen würde, wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht. Also ließ ich von meiner Wasserflasche ab und spielte stattdessen lieber am Reißverschluss meiner Jacke. Ich spürte Hakus genervten Blick auf mir aber ich ignorierte ihn.

Das Licht ging kurzzeitig aus und ich sah auf. Ein Mann mittleren Alters betrat elegant das Eis. Er trug einen schwarzen Smoking, ein Mikrofon in der Hand, die graumellierten Haare ordentlich, ja fast akkurat nach hinten gekämmt. "Meine Damen und Herren," begann er. "Ich begrüße Sie rechtherzlich zu unserer diesjährigen Herbstmeisterschaft im Eiskunstlauf. Sie werden heute die herausragendsten Talente auf Kufen zu sehen bekommen, von den Teenagern bis zu den "älteren Hasen", möchte ich mal sagen. Einzellauf der Damen und Herren, sowie der Paarlauf und der Eistanz stehen heute auf dem üppigen Programm. Dem Gewinner in allen Disziplinen winkt eine Goldmedallie, sowie die Teilnahme an einem Trainingscamp und einem Preisgeld von 100.000Yen. Ich wünsche allen Teilnehmern viel Glück und Erfolg und ihnen liebe Zuschauerinnen und Zuschauer eine wunderbare Darbietung der Künste unserer Eisprinzessinnen und Eisprinzen." Er verneigte sich und bekam Applaus. Dann glitt er wieder vom Eis und das Licht ging wieder an. Die ganze Zeit über schwieg ich. Ich kannte den Ablauf nur zu gut, Haku hatte ihn mir eingetrichtert.

Meine Gedanken schweiften ab, ich war nervös und wenn ich nervös bin, schweige ich mehr als ich es überhaupt schon tue. Plötzlich spütre ich eine Hand auf meinem Knie und ich fuhr erschreckt herum. "Kimiko, nun versuch dich zu entspannen, du schaffst das." Es war Haku. Seine Hand auf meinem Knie war mir mehr als unangenehm aber ich wagte nicht sie wegzunehmen. Heute hätte jeder der mich anfasst ohne dass ich es erlaube eine Ohrfeige bekommen. Ich nickte nur und seufzte hörbar auf. Dann erhob ich mich. "Ich muss mal.." sagte ich leise und ging Richtung Toiletten. Eigentlich war dieser Weg umsonst denn ich musste nicht zur Toilette aber ich sah keine andere Möglichkeit mich aus dieser Situation zu befreien. Als ich dann allein auf der Mädchentoilette stand dachte ich, es war alles nur Einbildung gewesen, aber ich hatte keine Zeit groß darüber nachzudenken, denn ich musste wieder raus. Zu meinem Glück, im Nachhinein aber zu meinem Unglück (das wusste ich damals aber noch nicht) war ich an der Reihe, als ich mich gerade setzen wollte. Also zog ich meine Trainingsjacke aus und legte sie auf die Bank neben Haku. Er erhob sich und spuckte mir symbolisch dreimal über die Schulter. Meine Mutter hatte mir für diesen wichtigen Tag meines Lebens einen Talisman mitgegeben den ich unter meinem Kleidchen trug. Ich zog ihn heraus und küsste die Kette bedächtig. Dann schob ich sie wieder unter mein grünes Glitzerkleidchen und nahm die Kufenschoner ab. Ich bewegte mich bedächtig aufs Eis, suchte in der Menge der Zuchauer nach meiner Familie. Totenstille in der gesamten Halle. In der gesamten Halle? Nein. Ein heller Ruf durchbrach die Stille. Es waren Seiya und mein Vater. Sie hatten Rosen in der Hand und winkten mir zu. "Du schaffst das meine Kleine!" rief mein Vater und Seiya schrie: "Schwesterherz du bist die Beste!" Meine Mutter schwieg lächelnd und überließ ihren Männern das Schreien. Plötzlich musste ich an Fujitas Tipp denken. "Stell dir vor alle seien nackt." Das tat ich wieder und erblickte gerade in dem Moment den sympathischen Jungen Mann mit den Haselnussbraunen Augen. Fujita. Er lächelte und formte mit seinen Fingern das Victory Zeichen. Dann schloss ich die Augen und stellte mich in meine Position. Völlige Ruhe - und so stellte ich mir vor ich sei völlig allein in der Eishalle. Die Musik begann und ich begann somit auch meine Kür. In die Kür hatte der Choreograh - ja es war auch Haku - mir viele Axel, Rittberger, Sitzpiruoetten und Ähnliches eingebaut. Ich lief zunächst vorwärts um mein Tempo zu bekommen, drehte mich dann in einem Axel um rückwärts zu Laufen. Von klein an war ich ja ein sehr gelenkiges Mädchen gewesen und ich hob das linke Bein hoch und bog meinen Katzenartigen Körper (weswegen Haku mich "Kätzchen" nannte) zurück. Ich lief die gesamte Kür ohne einen einzigen Patzer und schloss sie mit einer Sitzpirouette ab, blieb zum Schluss in einer mehr oder weniger lasziven Pose auf dem Eis sitzen.

Tosender Applaus, Pfiffe. Rosen flogen aufs Eis und ich erhob mich, verneigte mich vor allen und glitt dann vom Eis. Fuji und Haku stürmten auf mich zu. "Das war spitze!" "Meine Eisprinzessin." War alles was ich aus ihrem durcheinander sprechenden Stimmengewirr hören konnte. Ich lächelte glücklich und spürte wie mir eine riesen Last von den Schultern fiel. Ich setze mich erstmal denn nur für mich war die Tortour vorerst vorbei. Es mussten aber noch andere Laufen. Im Lauf der Jungen machte Fujita ebenfalls keine Fehler und unsere gute Leistung fiel natürlich auf Haku zurück.

Bald war es soweit. Siegerehrung. Zunächst wurden wir Mädchen aufgerufen. Eine Läuferin aus Sapporo machte den dritten Platz, eine aus Okinawa den zweiten. Dann wieder völlige Stille. Wir alle hielten hörbar den Atem an. "Und die Goldmedaille für die beste Kür wird verliehen an:" Schnellerer Trommelwirbel. "Kimiko Yumi Kudo." Ich hatte das gar nicht so schnell gerafft und stand auf. "Was???" Ich war völlig perplax. Meine erste Goldmedaille. Ich hatte es geschafft. Nur mit Fujitas Hilfe konnte ich aufs Treppchen steigen. Das schwere Metall wurde mir an einem blau-weißen Band um den Hals gehängt, man drückte mir einen Blumenstrauß in die Hand und es regnete Glitter. Ich konnte es nicht fassen: Meine erste Goldmedaille! Meine Famile, Haku, Fujita, und Mitglieder meines Teams drückten mich herzlich. Ich war glücklich über meinen Sieg - doch ich sollte ihn teuer bezahlen....

Der Preis des Sieges

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Leere

Mein Körper fühlte sich an wie der einer anderen. Wie in Trance zog ich meine Sachen aus, verstaute sie im Wäschekorb und hatte zuletzt mein Höschen in der Hand. Ich starrte auf den rostbraunen Fleck darin, hatte immer noch nicht wirklich begriffen was geschehen war. „Ein Traum, alles nur ein Traum“, flüsterte ich mir selbst immer wieder heiser zu. Auch dieses Kleidungsstück warf ich in den Wäschekorb und stellte mich in die Badewanne. Ich drehte das heiße Wasser auf und wusch mich ganz normal, wie ich es immer nach dem Training tat. Da meine Familie diese Angewohnheit kannte machte sie keine Anstalten mich zu stören und ich war heute unendlich dankbar dafür. Die Seife brannte an der intimen Stelle und ich sank in mich zusammen. Das Wasser prasselte mir auf Kopf, Schultern und den Rücken, ich fand es klang als ob Regen auf ein Wellblechdach fällt. Es vermischte sich mit den Tränen, die mir heißer als das Wasser aus der Brause über die Wangen liefen. Leise weinte ich vor mich hin, ich wusste man würde mich nicht hören. „Niemand hört dich wenn du schreist!“ kam mir plötzlich in den Sinn und ich weinte noch mehr. In diesem Moment fühlte ich mich unendlich allein und vor allem: Leer. Nichts in mir war mehr da. Haku hatte mir nicht nur meine Unschuld als Preis für seine Hilfe geraubt, nein er hatte mir viel mehr geraubt. Meine Freiheit, meine Lebenslust, mein Lachen. Ich war immer ein fröhliches Kind gewesen. Ja ich war ein Kind. Ein Kind, das nun mit Gewalt zu einer Frau gemacht wurde und ich war auf keinen Fall bereit dafür gewesen. Mit zwölf. Ich war ein Kind, Schülerin, auf dem Weg zur Eiskunstläuferin. Wollte ich je wieder aufs Eis? Wollte ich je wieder zu ihm? Ihn in meiner Nähe wissen? Nein. Aber ich musste. Ich hatte keine andere Wahl. Ich musste schweigen. Denn ich hatte Angst. Angst vor ihm, angst vor dem was er mit mir machte, wenn er erführe dass ich mich jemandem anvertraut hatte. Diese Angst lähmte mich, betäubte meinen inneren Schmerz und ich schwor mir zu schweigen. Aber wie konnte ich es geheim halten? Würde es nicht irgendwann auffallen? „Nein!“ sagte ich leise zu mir selbst denn in Inneren hoffte ich immer noch – töricht wie ich war – dass alles nur Einbildung war.

Ein Hämmern riss mich aus meinen Gedanken. Es war die Tür, jemand klopfte. Es war mein Bruder. „Yumi-chan, gib Gas ich muss mal!“ Ich öffnete die Augen und dachte nur. „Du Depp! Musst du jetzt kommen?“ Schnell wusch ich mir die Haare und stellte das Wasser aus. „Moment“ rief ich keuchend und kletterte aus der Wanne. Schnell warf ich mir meinen rosafarbenden Bademantel über und wickelte ein Handtuch um meinen Kopf. „Entschuldige“ sagte ich leise als ich die Tür öffnete und Seiya rannte an mir vorbei wobei er die Tür ins Schloss warf. Schweigend ging ich in mein Zimmer, und zog mich an. Die triefenden Haare ließ ich nass wie sie waren runter hängen. Mittlerweile war es dunkel draußen und ich warf einen Blick auf die Uhr. Fast zwei Stunden war ich im Bad gewesen, mir kam es nicht so lange vor. Wieder ein Klopfen, diesmal sanfter. Mein Vater kam herein. „Schatz wir dachten schon du bist ertrunken.“ //Wäre ich gern//, dachte ich mir im Stillen, setzte aber ein gekünsteltes Lächeln auf. „Essen ist fertig, kommst du bitte?“ Ich nickte und schickte ihn raus damit ich mich anziehen konnte. Da ich gut trainiert war, spürte ich keinen Muskelschmerz und so band ich meine Haare zusammen und begab mich zu Tisch. Es gab Spargelcremesuppe. Eigentlich aß ich sie gern aber heute musste ich einen Brechreiz unterdrücken. //Es sieht aus wie…// Ich wollte meinen Gedanken nicht zu ende führen und so saß ich da, minutenlang. Mein Magen verkrampfte sich zu einem ekelhaften Klumpen. „Was ist heute mit dir los Kimiko? Hast du keinen Hunger?“ Ich sah meine Mutter an, die mich angesprochen hatte und schüttelte den Kopf. „Das Training war hart heute was?“ sagte mein Vater und lachte, ich hingegen war den Tränen nah. Ich schluckte den Klumpen in meinem Hals herunter und stand auf. „Gomen Nasai Okasan…ich bin zu müde zum Essen. Ich gehe zu Bett“ Die Blicke meiner Familie waren ein weiterer Stich in meine zerrissene Seele, sie waren verwundert aber ich konnte es ihnen nicht sagen. Auf dem Weg zu meinem Zimmer ging ich ins Bad und sah in den Spiegel. Ein anderes Mädchen blickte mich von der anderen Seite des Spiegels an. Das war nicht ich und während ich mechanisch nach meiner Zahnbürste griff und mir die Zähne putzte spürte ich wieder den Brechreiz in mir aufkommen und übergab mich auf der Toilette.
 

Alles was ich von mir gab, war Wasser und Magensäure. Meine Speiseröhre brannte und ich musste husten. Tränen rannen über meine Wangen und ich legte den Kopf an die Kacheln. Inständig hoffte ich, dass niemand diese Kotzattacke mitbekommen hatte und so schlich ich mich wieder in mein Zimmer, kroch in mein Bett und wollte nichts und niemanden sehen. Die Decke zog ich bis ganz nach oben, weinte mich in den Schlaf und wünschte ich würde nicht mehr aufwachen. Tatsächlich schlief ich bis Montag morgen durch. Mehr als ich selber dachte, machte mir der sexuelle Missbrauch zu schaffen. Normalerweise stand ich morgens von selbst auf nur heute nicht und meine Mutter kam in mein Zimmer. „Kimiko, du schläfst ja immer noch. Raus aus den Federn, Schlafmütze!“ Ich öffnete die Augen, bleib aber liegen. „Was ist mit dir Kind, fühlst du dich nicht gut? Du hast zwei Tage durchgeschlafen mit dir stimmt doch was nicht.“ „Ich bin ok“ log ich müde. „Kimiko du hast nicht gegessen und nur geschlafen..“ sie legte die Hand an meine Stirn. „Gott bewahre!! Du glühst! TOYO KOMM SCHNELL!!“ schrie sie hysterisch. Mein Vater stürzte ins Zimmer. „Was ist denn?“ „Kimiko hat hohes Fieber, ruf nen Arzt!“ //Bitte kein Arzt!// Törichterweise glaubte ich dass er den Missbrauch aufdecken könnte aber ich konnte ja nichts sagen. Mein Vater tat wie ihm geboten und rief den Arzt an, dann entschuldigte er mich in der Schule und beim Training.

Unser Hausarzt, Dr. Kisanagi ist ein sehr guter Arzt und freundlicher Mensch. Ich ging gern zu ihm, und ich vertraute ihm, allerdings hatte ich diesmal Angst, nicht vor ihm, sondern der Diagnose. Er kam recht schnell und untersuchte mich. Mein Herz schlug wild, ich betete dass er nichts finden würde. Er horchte Brust und Rücken ab, machte Tastuntersuchungen an Bauch, Lymphdrüsen und ähnlichem aber auch wenn es schmerzte als er mir Bauch und Unterleib abtastete, schwieg ich und log dass ich keine Schmerzen hätte. Somit kam er zu dem Ergebnis dass ich mich auf dem Eis verkühlt habe und strenge Bettruhe bräuchte. Als er ging kuschelte ich mich wieder in mein Bett und schlief. Ich schlief wie ein Murmeltier, trank ab und zu, aß nichts, ich schlief nur und lag auf dem Laken im Keller der Eishalle. Wieder und wieder und wieder….
 

Nach ein paar Tagen war das Fieber gesunken, ich durfte dennoch weder zur Schule noch zum Training. Erst eine Woche später wieder. Nach der Schule beeilte ich mich zum Training zu kommen und war gerade dabei meine Schlittschuhe anzuziehen als Haku reinkam. Ich schwieg und wollte an ihm vorbei doch er stellte sich mir in den Weg. Er sagte nichts, sah mich nur an, eine ganze Weile lang. „Ich..“ begann ich, doch er gab mir eine so harte Ohrfeige, dass es mich von den Kufen riss und ich gegen die Bank gegenüber der auf der ich zuvor gesessen hatte knallte. „Wo warst du?“ herrschte er mich an. „Ich war krank.“ Ich hielt die Hand an meine Wange, die sofort seinen Handabdruck trug. „Krank, ach so nennt man das heute!“ Er zog mich hoch. „Du bist doch nicht schwanger?“ Ich zuckte heftigst zusammen. „N..nein.“ sagte ich schnell. „Ich hatte ne Grippe.“ Dann lächelte er wieder. „Eine Grippe, na dann bist du ja fit. Zieh die Schlittschuhe aus, du gehst in den Ballettraum.“ Ich tat was er sagte. Aber mit diesem Missbrauch war es nicht vorbei. Mein Märtyrium sollte erst beginnen und alles übertreffen was ich in den schlimmsten Filmen gesehen hatte….

Gute Miene zum bösen Spiel

Eher widerwillig ging ich in den Ballettraum. Wie immer begann ich damit mich an den Barren mit Dehnübungen aufzuwärmen. Mir tat alles weh und mein Kopf

dröhnte. Aber es war der seelische Schmerz der meinen körperlichen betäubte, wie eine Spritze. Haku kam kurz darauf zu mir und gab mir Anweisungen, wie

ich diese und jene Übung auszuführen hätte. Irgendwann spürte ich nur pure Hitze in meinem Gesicht, mein linkes Auge wurde immer kleiner, schwoll

an, bis ich kaum noch etwas sah. Ohne ein Wort verließ ich den Ballettraum. Haku sagte nichts. Ich ging zur Toilette um mein Gesicht zu kühlen und sah nun

im Spiegel was ich bisher nur vermutet hatte. Mein linkes Auge war zu geschwollen, ich hielt mir rasch ein mit kaltem Wasser getränktes Tuch ins Gesicht.

Ich hoffte, dass es kein Veilchen geben würde, legte mir aber für meine Eltern eine Ausrede zurecht. Ich würde einfach sagen, dass ich mit meinen Kufen

gestürzt sei und mich nicht hatte abfangen können. Lügen war das was ich am meisten hasste und das ist heute noch so, aber damals wusste ich mir nicht anders

zu helfen. Meine Angst zwang mich zum Lügen. Haku kam zu mir und legte die Hand um meine Hüfte. Mir kam der Ekel hoch. Ich spürte wie seine Hände über meinen

Körper wanderten, ich wusste ganz genau was er wieder mal von mir wollte aber ich wollte es ihm nicht geben. Nicht schon wieder.

Zaghaft wand ich mich aus seiner Berührung und tat als sei nichts aber er zog mich wieder an sich und küsste mich. Wieder entzog ich mich ihm und er schlug zu.

Kein Ton entwich mir. Mein Kopf flog zur Seite und ich verharrte in dieser Position, sagte nichts, weinte nicht, schrie nicht. Ich stand einfach nur da, und wartete. Wartete darauf dass er mich auszog, mich gewaltsam nahm bis ich es schließlich in mir spürte was er mir gab. Aber er tat nichts dergleichen. Er sah mich einfach nur an. "Zieh dich aus!" sagte er eiskalt und schroff, und wieder floh ich aus meinem Körper und tat was er verlangte. Ich wusste was er von mir wollte und ging auf die Knie. Dann entkleidete ich ihn und befriedigte ihn oral, bis ich schlucken musste was er mir gab. Mir kam das alles wie eine Ewigkeit vor. Nachdem er bekommen hatte was er wollte zog er sich an, aber damit war es nicht vorbei denn er wollte auch Geschlechtsverkehr, damit dass er sich wieder angezogen hatte, hatte er mich in Sicherheit gewogen und das war durchaus das was er wollte. Ich zog mich wieder an und fing mir wieder eine Ohrfeige ein. "Leg dich hin" fuhr er mich an, und ich war auch noch so töricht es zu tun.
 

Das alles ging über Jahre so weiter. Mit dreizehn Jahren befand es meine Mutter für notwendig dass ich zum Gynäkologen ginge und mich untersuchen lassen. Ich weigerte mich vehement dagegen und sehnte mich nach jemandem, dem ich anvertrauen konnte was geschehen war und doch wusste ich im Inneren, dass ich es nicht konnte. Meiner Familie war meine Veränderung aufgefallen und als mein Bruder einmal zu mir sagte, dass meine Augen traurig und leer wirken würden, wurde mir schlagartig klar, dass er etwas ahnen musste, aber ich schwieg. Ich fraß meinen Kummer einfach in mich hinein.

Aber alles half nichts meine Mutter wollte mich unbedingt zum Frauenarzt schleppen. An einem Novembertag war es soweit. Meine Mutter entschuldigte mich beim Training, da sie für mich einen Termin gemacht hatte. Sie telefonierte mit Haku und ich hörte nur, dass sie mit ihm diskutierte.

Sie sagte, es sei ihre Sache, wann sie es für richtig hielt mich untersuchen zu lassen. Natürlich wollte Haku nicht, dass ich zu diesem Termin gehe, denn dann würde sich herausstellen, dass ich keine Jungfrau mehr war und alles würde auffliegen. Davor hatte ich die meiste Angst. Ich begann damit mich über das Thema des sexuellen Missbrauchs zu informieren, surfte im Internet, war in der Bibliothek und verschlag jeden Bericht im Fernsehen darüber. Da ich meinen eigenen Fernseher im Zimmer hatte, war es ein leichtes für mich Reportagen und Dokumentationen aufzuzeichnen und sie mir, wenn ich alleine war anzusehen. Das tat ich oft wenn ich wusste dass meine Eltern oder mein Bruder später nach Hause kommen würden. Ich suchte immer nach Anzeichen, dafür, dass ich KEIN Opfer davon war, aber es brachte alles nichts, ich wusste es mit meinen mittlerweile dreizehn Jahren ganz genau. Es half nichts, ich wurde missbraucht und ich konnte nichts dagegen machen. Oft spielte ich mit dem Gedanken, einfach mit dem Eiskunstlauf aufzuhören, da das für mich die einfachste Methode war von Haku loszukommen, aber ganz so einfach wie ich es dachte war es leider nicht, denn es gab ja diesen hübschen kleinen Vertrag.
 

Nachdem ich mir an einem Abend wieder eine aufgezeichnete Reportage zu dem Thema ansah und mich tief im Inneren fragte, warum ich mir das antat, fiel mein Blick auf den Kalender in meinem Zimmer. Der zweite November. Morgen war es soweit, mein Termin stand an, direkt nach der Schule. Mir wurde plötzlich heiß und mein Herz fing an zu rasen. Schnell schaltete ich den Fernseher aus und nahm die Videokassette aus dem Recorder. Ich versteckte sie in einem kleinen abschließbaren Fach in meinem Schrank und machte mich fertig fürs Bett. Meine Schultasche war gepackt, mein Bento fertig und ich schlurfte ins Bad. Wie ein nasser Sack. Zähneputzen, Haare bürsten, waschen. Alles lief ab wie in einem Film, bis ich irgendwann im Bett lag und mich von einer Seite auf die andere wälzte. Irgendwann hörte ich den Schlüssel in der Tür. Meine Familie kam heim. Ich hörte die schweren Schritte meines Vaters vor meiner Tür, alles war dunkel, bis ein kleiner Lichtspalt in mein Zimmer drang. Mein Papa hatte die Tür geöffnet. „Yumi, schläfst du schon, liebes?“ hörte ich ihn flüstern, aber ich tat, als ob ich schlief und er ging auch in dem Glauben, dass es tatsächlich der Fall sei. Ich seufzte und wickelte mich in die Decke, ich fror aber ich wusste es hatte keinen Zweck ich musste ja zu diesem Termin und ich hatte so eine höllische Angst davor.
 

Um sechs Uhr riss mich der Wecker – meiner Meinung nach – brutaler als sonst aus dem Schlaf. Müde schaltete ich ihn aus und machte mich für die Schule fertig. Fujita wollte mich abholen, diese Sitte hatte sich schnell eingebürgert, also beeilte ich mich da ich wusste, dass er wie immer Über pünktlich sein würde. Kaum hatte ich diesen Gedanken zu ende gebracht, klingelte es. Ich ging raus und Fujita begrüßte mich mit bester Laune, ich war alles andere als gut gelaunt und schenkte ihm nur ein knappes „Morgen“. Fuji schaute schräg. „Himmel Kimi, was ist denn mit dir los?“ „Nichts“ versicherte ich, wusste aber ganz genau, dass er mir nicht glaubte. „Du bist total komisch in der letzten Zeit.“ meinte er besorgt, es ist also auch meinem besten Freund aufgefallen, war ja auch klar. Wir gingen gemeinsam ein Stück, es schneite, dann blieb ich stehen. Fuji drehte sich um. Ich starrte in den grauen Novemberhimmel. „Fuji“ sagte ich leise.

“Hm?“

Ich seufzte.

„Ein Arzt“ begann ich.

„Steht immer unter Schweigepflicht?“

„Wie kommst du jetzt darauf? Musst du zum Arzt?“

Ich nickte und war kurz davor ihm alles zu erzählen.

Fujita musterte mich eine Weile und lächelte dann. „Ja ein Arzt steht unter Schweigepflicht, er darf nichts von Untersuchungsergebnissen oder anderem erzählen.“ Ich sah ihn mit großer Erleichterung an, er lächelte nur, fragte aber nicht weiter. Dann fragte er aber doch. „Du bist doch nicht krank Yumi?“ sein Blick war besorgt. „Nein, nein, versicherte ich ihm. „es ist nur eine Routineuntersuchung du kennst das doch selber als Sportler.“ Er lachte und nickte und wir setzen unseren Schulweg schweigend fort. Ich fand die Stunden in der Schule flogen nur so davon, ich schwieg die meiste Zeit. Wie ich bereits sagte, war ich ein aufgewecktes Kind gewesen aber nachdem ich missbraucht wurde und dieser Zustand weiter anhielt, war ich stiller geworden, was niemandem verborgen blieb. Ich hatte nun das Image der kleinen Träumerin, aber das störte mich nicht weiter, mir war nur wichtig, dass keiner fragte, mich alle in Ruhe ließen und ich meine Maske halten konnte. Aber was nach dem Termin beim Frauenarzt? Wieder stieg die blanke Panik in mir auf, ich spürte wie mein Gesicht heiß wurde und ich angesehen wurde aber ich sagte nichts, antwortete auf Nachfragen nur, dass alles mit mir in Ordnung war. Nichts war in Ordnung verdammt!! Rein gar nichts. Aber ich konnte mich schlecht vor die Klasse stellen und es herausposaunen oder? Nein, unmöglich! Also schweigen, schweigen und abermals schweigen.
 

Die Schulglocke riss mich aus meinen Gedanken und ich ging in die Pause. Fuji sah mich an. „Hast du wieder kein Bento dabei Yumi?“ Ich sah ihn an und verneinte, woraufhin er mir seines entgegenstreckte. “Ich hab keinen Hunger“ sagte ich leise und aus dem Augenwinkel sah ich wie Fuji leicht enttäuscht sein Bento wieder zurückzog und es auf seinen Schoß stellte nachdem er sich auf den Mauervorsprung gesetzt hatte. Eine Weile herrschte betretenes Schweigen unter uns. Zwei Mädchen kamen auf mich zu. „Kimiko, stimmt es dass du wieder eine Meisterschaft gewonnen hast und eine Goldmedaille gewonnen hast? Deine wievielte ist das jetzt? Ich will auch Eiskunstlaufen, kann ich in dein Team, wie ist der Trainer?“ und all solche Fragen prasselten auf mich ein. Ich sah Sayumi an. „Ja ich hab wieder eine gewonnen, ist meine zweite, für den Eiskunstlauf seid ihr zu alt ihr müsst mit 3 Jahren anfangen“ antwortete ich knapp. Sayumi, eine kleine, etwas pummelige Mitschülerin sah mich etwas betreten an und irgendwie tat sie mir leid, aber andererseits dachte ich dass es besser sei wenn sie nicht unter Haku läuft, wer weiß, ob er sie nicht auch vergewaltigt und gedemütigt hätte. „Lass es besser, Eiskunstlauf ist ein harter Sport, mach das lieber in deiner Freizeit als Hobby.“ Sie sah mich an, lächelte dann aber und zeigte mir eine kleine Zahnlücke. Dann sagte sie dass sie uns nicht weiter stören würde und dackelte wieder ab. Mit ihrer Figur, sah sie in ihrer Schulunform seltsam aus. Ich wusste warum sie Eiskunstläuferin werden wollte. Ich war ein hübsches Mädchen, mit langen schwarzen Haaren, die ich meist in der Schule zu zwei Zöpfen geflochten trug, schlank und mit langen Beinen – offenbar Hakus Beuteschema – und ich schaffte es Schule, Sport und den Missbrauch zu bewältigen. Natürlich wusste niemand, dass Haku mich missbrauchte aber für alle war ich eine Art Vorbild und ich verabscheute es. Denn das führte dazu, dass alle sein wollten wie ich und ich selbst am liebsten niemand gewesen wäre nur hätte das niemand verstanden.
 

Es klingelte ein zweites Mal und wir gingen wieder in den Unterricht. Kunst stand auf dem Plan ich machte gern Kunstunterricht, aber ich mochte auch den Musikunterricht gern. Ich patschte mit den Farben, als mich jemand von hinten antippte. „Kimiko guck mal“ Ich drehte mich um und bekam eine Ladung Farbe ins Gesicht gekippt.

Das war Lavina, eine englische Mitschülerin – und sie HASSTE mich. Dabei hatte ich ihr gar nichts getan. Leicht verwundert sah ich sie an. die gelbe Farbe, die sie mit ins Gesicht gekippt hatte, tropfte an mir herunter. Fujita kam sofort um mir das Gesicht abzuwischen, als die Lehrerin Frau Nezu in den Raum kam. Sie sah mich und schickte mich mit Fujita in den Waschraum. Lavina und auch ich wussten nicht, dass sie schon länger in der Tür stand und gesehen hatte wie ich zu meinem Kükenoutfit kam, und zur Strafe musste Lavina den gesamten Kunstraum sauber machen, und damit meine ich ALLES. Jeden einzelnen Schrank, jeden einzelnen Tisch und jeden einzelnen Pinsel musste sie feinsäuberlich reinigen. Für mich war das ein kleiner Triumph und ich lächelte mir ins Fäustchen. Sie blieb den gesamten Nachmittag dort, während ich mich auf meinen Horrortermin vorbereiten musste.

Fliegt alles auf???

Diese Frage stellte ich mir die ganze Nacht ich wusste nicht was ich machen sollte. Ich sah keine Möglichkeit mich vor diesem Termin zu drücken. Alles mögliche hatte ich mir ausgemalt, ich würde so tun, als hätte ich gebrochen, einen Kreislaufkollaps vortäuschen – allerdings hatte alles das zur Folge, dass ich ohnehin zum Arzt musste, und einfach abhauen?? Das würde auffallen und ich wusste, dann wäre ich erledigt.

Dann fiel mir ein, was Fujita mir sagte. „Ein Arzt steht unter Schweigepflicht“ also nun musste ich nur darauf hoffen, dass der Arzt einfach nur die Klappe hielt aber wie konnte ich ihn von meiner ausweglosen Situation überzeugen, und dennoch meinen Mund halten und über diese ganze Missbrauchsgeschichte schweigen??

Das fragte ich mich solange bis ich in der Praxis saß, um dann festzustellen, dass das völlig unnötig war. Der Arzt war eine Ärztin, sehr lieb und einfühlsam und sie schien zu spüren, dass ich zurückhaltend, still und fast ängstlich war. Sie untersuchte mich und schickte dann meine Eltern raus um mit mir allein zu reden.

Inzwischen hatte ich mich wieder angezogen und saß ihr gegenüber in einem weißen

Büro mit einem großen Aquarellbild auf dem ein Chamäleon abgebildet war. Ich starrte die ganze Zeit auf dieses dämliche Chamäleon und wünschte mir auch die Farbe zu Tarnzwecken wechseln zu können. Gott was war ich töricht! Die Ärztin eine große junge Frau mit braunem, schulterlangem Haar musterte mich eine Weile. Ich wich ihrem Blick aus und sie merkte das. „Kimiko“ begann sie, „ich habe festgestellt, dass du keine Jungfrau mehr bist, du bist doch erst dreizehn.“ In ihrer Stimme schwang etwas bestürztes, besorgtes mit. Ich schwieg und merkte, wie ich nervös in dem großen Sessel hin und herrutschte. Auch sie merkte es. „Hast du einen Freund?“ Ich schüttelte den Kopf, später dachte ich, „du dumme Kuh! Sag doch einfach ja:“ aber es war zu spät. „Manchmal kommt es vor, dass das Jungfernhäutchen beim Sport reißt, oder dass ein Mädchen gar keins hat nur wenn du keinen Freund hast muss ich davon ausgehen, dass du~“ Ich unterbrach sie. „Es ist nichts und es spielt auch keine Rolle!“ Sie wurde plötzlich bleich und atmete tief durch. „Kommt dein Bruder oder dein Papa, manchmal nachts zu dir ins Bett?“ Ich sah sie nun an. Aus Berichten in den Nachrichten wusste ich worauf sie hinauswollte. Sie wollte wissen, ob mein Papa oder Seiya mich missbrauchten. Um diesen Gedanken schnell aus ihrem Kopf zu streichen, sagte ich ganz ruhig. „Ja ab und an krabbel ich zu meinem Bruder ins Bett wenn ich schlecht träume, oder wenn’s Gewittert draußen, dann beschützt er mich immer, er will nämlich Polizist werden, wissen Sie?“ Sie sah mich lächelnd an. „Dein Bruder würde nie zulassen, dass dir was passiert?“ Ich strahlte förmlich, ich liebte meinen Bruder abgöttisch. „Ja genau! Und ich bin so froh, dass ich ihn habe. Und mein Papa der arbeitet oft bis nachts dann geht er zu meiner Mama ins Bett oder schläft auf der Couch, wenn er sie nicht wecken will.“ Die Ärztin runzelte dann plötzlich die Stirn. „Was ist mit deinem Trainer? Du bist doch in einem Eiskunstlaufverein, oder?“ Plötzlich klingelten alle meine Alarmglocken. Die Frau war mir anfangs zwar sympathisch, aber sie fing an mehr und mehr nachzufragen und in meiner zerrissenen Seele zu wühlen und das wollte ich nicht. Mir wurde heiß und kalt und ich rutschte immer nervöser hin und her. Ich sagte gar nichts, ich glaube ich brauchte auch nichts mehr zu sagen, das war so offensichtlich. Sie stand auf. „Wenn du missbraucht wirst muss ich mit deinen Eltern~“ Ich sprang auf und zerrte sie an ihrem Kittel zurück. „NEIN!“

Ich muss eine furchtbare Angst in den Augen gehabt haben, glaube ich. Sie sah mich sanft an, fast mitleidig. “Es ist meine Pflicht Kimiko.“ Ich schüttelte heftig den Kopf. „Sie stehen unter Schweigepflicht!!!! Das hat mir mein Freund gesagt.“ Sie sah mich an, verstand meine Situation aber wohl nicht. „Ich muss deine Eltern, die Polizei und das Jugendamt informieren.“ Ich bekam Panik. Es ist das eingetreten, was ich am meisten befürchtet hatte. Ich wusste nicht mehr weiter. Was sollte ich denn nun machen? Haku würde mich umbringen! Ich fiel bettelnd vor ihr auf die Knie. „Bitten sagen sie meinen Eltern nichts ich habe so eine Angst!!!!!“ Ich brach in Tränen aus. //Wie blöd bin ich denn eigentlich??// dachte ich. Sie half mir auf die Beine und seufzte. Sie sah mich an und gab mir ein Taschentuch. „Du wirst sehr unter Druck gesetzt…“ Sie setzte sich wieder und sah mich an. Ich war ein Häufchen Elend. Dann nickte sie. “Gut ich werde deinen Eltern nichts sagen aber ich mache mich damit strafbar.“ „Wenn Sie das sagen, sage ich dass Sie lügen und mein Trainer wird das auch sagen, er wird ihre Praxis anzünden!“ Hatte ich das wirklich gesagt? Glaubte ich daran? Plötzlich sehnte ich mich nach einem Menschen, der so was für mich wirklich tun würde, der für mich töten würde nur um mich zu beschützen. Natürlich ahnte ich nicht, dass ich Jahre später einem solchen Menschen begegnen sollte, der eine Mischung aus Engel und Teufel verkörpern würde und dass ich vor dem was ich mir wünschte auch Angst haben sollte.

Jahre später (Zwischenkapitel)

Daran, dass Haku mich fast tagtäglich missbrauchte hatte ich mich makaberer weise gewöhnt – sofern man sich daran gewöhnen kann. Ich wusste mittlerweile genau was er wollte und wie er es wollte. Ich war inzwischen 16 geworden, eine junge Frau. Ich hatte Busen bekommen, einen knackigen Popo und lange Beine. Nachdem ich meine Frauenärztin solange beredet hatte, hatte sie den Mund gehalten und niemand hatte etwas von dem jahrelangen Missbrauch gemerkt. Ich war abgestumpft. Ich ließ es einfach alles über mich ergehen, verließ meinen Körper und mittlerweile spürte ich meinen Körper überhaupt nicht mehr. Ich suchte nach Möglichkeiten zu testen ob ich noch lebte. Ich begann mich zu ritzen, es tat nicht weh aber ich wusste, dass man die Narben, die zurückblieben sehen würde. Also hörte ich damit rasch wieder auf.

Aber irgendwann merkte ich dass ich nichts mehr an Nahrung bei mir behalten konnte, ich erbrach mich ungewollt nach jedem Essen. Das war nicht nur sehr unangenehm, sondern auch extrem schwierig denn Essen gehen mit meiner Familie konnte ich vergessen. Also versuchte ich Abhilfe zu schaffen in dem ich gar nichts mehr aß. Das war nicht sonderlich schwer und ich konnte das auch gut verbergen indem ich in der Schule mein Bento entweder abgab oder wegwarf. Ich brachte immer eine leere Bentodose zurück nach Hause, sagte ich hätte in der Schule oder beim Training gegessen wenn ich abends zurückkam. Nachprüfen konnte das niemand. Mittlerweile war ich eine Meisterin der Lüge und es machte mir auch nichts mehr aus zu lügen, denn das hatte nur zur Folge, dass ich einigermaßen verschont blieb vor weiteren Qualen. Ich magerte immer weiter ab, bis ich bei einer Größe von 1,57m nur noch etwa 42kg wog. Ich konnte meinen Gewichtsverlust durch den Sport gut erklären und log wieder und wieder um nicht noch mehr in Schwierigkeiten zu geraten. Mir war nämlich noch nicht ganz klar, in welchen Schwierigkeiten ich wirklich steckte. Alles was bisher vorgefallen war, sollte sich als das Paradies entpuppen, im Gegensatz zu dem was mich von nun an erwartete….

Höllenqualen

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Anorexia Nervosa

Das Szenario mit den Punktrichtern spielte sich in dieser Nacht unzählige Male in meinem Kopf und in meinen Träumen ab. In dieser Nacht zog ich mich viermal um, da ich jedes mal nass geschwitzt war, wenn ich aus einem der Albträume erwachte.

Am Morgen stand ich mit Kopfschmerzen auf, ging aber dennoch zu meinem Kleiderschrank um mir meine Schuluniform anzuziehen. Der Rock passte mir nicht mehr, ich hätte ein weiteres Mal hineingepasst. Also hieß es improvisieren. Ich zog mich so dick an, dass mein Gewichtsverlust nicht mehr groß auffiel. Allerlei Sache hatte ich mir unter meine Schuluniform gestopft und das tat ich täglich egal, welche Jahreszeit es war. Im Winter war das Zwiebelsystem, wie man es nannte, kein Prob-lem, problematisch wurde die ganze Aktion im Sommer wenn auch keine Läufe stattfanden. Die kurze Schuluniform, Kleider, Röcke, kurze Hosen und dergleichen mehr konnte ich kaum tragen. Vorteil meines starken Gewichtsverlustes war, dass ich fror – egal wie heiß es draußen war – und ich mich somit auch dick anzog, was wiederum dazu führte, dass ich mich dick anziehen konnte ohne dass es auffiel.
 

Im Sommer 2002 – ich war mittlerweile achtzehn - kam dann allerdings für mich der absolute Supergau. Es war einer der heißesten Sommer in Tokio gewesen und mein Blutdruck war aufgrund der Magersucht ohnehin ständig im Keller. Ich wollte mir allerdings nie eingestehen, dass ich wirklich magersüchtig war. Bis zu dem Zeitpunkt im Sportunterricht. Da ich ohnehin Sportlerin war, war meine Kondition top, ich stand in Sport glatt eins. Nur an diesem Tag war alles anders. Mir gings überhaupt nicht gut, ich hatte Kopfschmerzen, zitterte vor Kälte und mir war schwindlig. Trotzdem nahm ich am Sportunterricht teil. Ich hätte es besser lassen sollen. Da ich mich auch im Sportunterricht dick anzog, soweit das jetzt möglich war, schwitzte ich mehr, war eine Mischung aus rot und blass, das sagte mit jedenfalls Fujita, der wieder besorgt nachfragte und ich befürchtete dass er genauso gut wie ich Bescheid wusste. Wie immer lächelte ich und winkte ab, mit den Worten, dass mit mir alles bestens sei. Fujitas argwöhnischer Blick verriet mir allerdings, dass er mir kein Wort glaubte, aber ich ignorierte seinen bohrenden Blick und nahm weiter am Sportunterricht teil. Nach ein wenig warmlaufen war Bockspringen angesagt, balancieren am Reck und an den Ringen. Das Bockspringen meisterte ich noch mit Bravour – falls man das so sagen konnte – aber das balancieren am Reck gestaltete sich schon schwieriger. Ich spürte die Blicke meiner Klassenkameraden, hörte sie tuscheln, ich würde mager und kränk-lich aussehen. Aus den Gesprächsfetzen, die ich mitbekam, hörte ich heraus, dass man schon darüber spekulierte, wann ich in eine Klinik für Essstörungen eingeliefert werden würde, wie lange es dauern würde, bis ich verhungerte oder einsah, dass ich krank war und Hilfe in Anspruch nehmen würde, mir helfen lassen würde. Mit einem Seufzer hüpfte ich auf um mich an den Ringen festzuhalten. Körperspannung war das Zauberwort, Spannung bedeutete aber auch gleichzeitig Kraft und die hatte ich aufgrund meines hohen Gewichtsverlustes nicht. Bis zu dem Zeitpunkt war mir noch nicht klar, wie wenig ich wirklich wog, ich hatte mich schließlich nicht auf eine Waage gestellt und das seit Ewigkeiten. Ich konnte mich nicht an den Ringen festhalten, rutschte ab und knallte hart auf die Gummimatte. Ich war aus etwa zwei Metern gefallen, denn ich hatte mich zuvor auf eine Kiste gestellt um an die Ringe heran zu kommen.

Alles verschwamm vor mir, irgendwer drehte mich auf den Rücken und plötzlich standen scheinbar zwanzig Menschen um mich herum, die alle auf mich einredeten, ich verstand allerdings kein Wort, spürte auch keinen Schmerz. Durch meinen hohen Gewichtsverlust und den Aufprall (ich war flach mit dem Oberkörper aufgeschlagen) hatte ich mir eine Rippe gebrochen. Weder hatte ich mitbekommen, dass ich mir etwas brach, noch wo ich war, geschweige denn, dass man einen Rettungswagen gerufen hatte. Als ich einigermaßen wieder da war, hatte ich ein kühles Tuch auf der Stirn und ein junger Mann in weißen Sachen beugte sich über mich. Er sprach mit mir, und ich nickte nur, obwohl ich kein Wort verstanden hatte. Behutsam, von mehreren Armen meiner männlichen Klassenkameraden getragen spürte ich, wie man mich auf eine Trage legte und mir war schummrig. Ich hörte Fujitas Stimme. Nakazawa, eine Klassenkameradin war so freundlich mir aus der Umkleide meine Sachen zu bringen und Fujita, der die Erlaubnis vom Lehrer bekommen hatte, hatte sie in der Hand und ich hörte nur, wie seine sanfte Stimme sagte, dass er mein bester Freund sei und mich gern ins Krankenhaus begleiten würde, damit ich nicht so allein war, mein Sportlehrer würde meine Eltern informieren. Kurz darauf spürte ich schmerzhaft, wie man mich in den Krankenwagen einlud und durch das Ruckeln des Krankenwagens, der mir durch die zwangsläufigen Bewegungen meines Körpers Schmerzen zufügte, wusste ich wo ich war und wo ich hinkommen würde in ein Krankenhaus, weiter konnte und wollte ich nicht denken.

Im Krankenhaus angekommen, verabreichte man mir intravenös eine Koch-salzlösung. Die Flüssigkeit floss angenehm kühl durch meine Venen und ich schloss die Augen. Vermutlich gab man mir auch ein Schmerzmittel, denn ich hatte keine Schmerzen mehr.

Die Ärzte kümmerten sich gut um mich röntgten mich und schnürten mich in eine Art Korsett. Sie führten eine Reihe weiterer Untersuchungen an mir durch, unter anderem wurde ich auch gewogen. Der behandelnde Arzt runzelte besorgt die Stirn, und musterte mich eindringlich. Der ältere Herr sah mir tief in die Augen und ich hatte das Gefühl, dass er in meiner Seele las. Schnell wandte ich den Blick ab. In dem Moment kamen meine Eltern und meine Mutter beugte sich besorgt über mich ich lächelte glücklich denn ich freute mich meine Eltern zu sehen, Fujita hatte sie zu mir geführt. Nach einigen Fragen, wie es mir ginge und wie das passiert sei wollte der Arzt sie sprechen. Er warf mit Fachausdrücken um sich und mitten im Gespräch fiel „Anorexia Nervosa“. Ich hatte keine Ahnung was das bedeutete, erst als mein Vater verständnislos den Kopf schüttelte und der Arzt ihm das mit Magersucht übersetzte, war auch mir nun endgültig klar, dass ich nun keine Chance mehr hatte meine Fassade aufrechtzuerhalten. Irgendwann verschwand der Arzt aber meine Eltern machten keine Anstalten mich auszufragen. Ihre Sorge war ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben aber sie ließen mich in Ruhe.

Unter Schmerzen stand ich auf ich brauchte frische Luft. Ich verließ das Zimmer und ging raus in die kühle Luft des Nachmittages. Nicht weit von meinem Standpunkt entfernt – wobei ich ja eigentlich lief- erblickte ich einen jungen blonden Mann der einen schwarzen Mantel und einen Hut trug und mit seinem Handy telefonierte. Eine Weile stand ich einfach nur da und beobachtete ihn. Er sah nicht schlecht aus muss ich sagen. Der junge Mann stand mit dem Rücken zu mir da in der einen Hand das Handy, in das er mit ruhiger Stimme hineinsprach, in der anderen Hand etwas das aussah wie ein Schlüsselbund. Er muss gemerkt haben, dass ich ihn anstarrte (wie blöd und ungezogen war ich eigentlich? Hatte ich denn meine gute Kinderstube vergessen??) denn er drehte sich zu mir um und hielt einen Moment inne. Er sah mir direkt in die Augen und schenkte mir ein wirklich so bezauberndes Lächeln, dass ich unwillkürlich errötete. Das veranlasste den Blonden zu einem ausgeprägterem Lächeln und ich wandte den Blick ab.
 

Natürlich ahnte ich nicht, dass ich Jahre später eben diesem Herren im Mantel und Hut ein weiteres Mal begegnen sollte und dass dieser so vermutlich normale und unscheinbare Mann mein Leben nicht nur umkrempeln sondern meine komplette WELT, alles an das ich bisher geglaubt hatte, völlig aus den Fugen bringen würde.

Klinikaufenthalt

Vom Krankenhaus in die Klinik. So hatte ich mir das nicht vorgestellt.

Ich hatte meinen Rippenbruch auskuriert und meine Eltern, sowie mein Bruder holten mich ab. Meine Sachen waren gepackt und ich saß auf meinem gemachten Bett wie auf heißen Kohlen. Als sie reinkamen sprang ich auf wie ein Flummi, so sehr freute ich mich darauf, dass ich nach Hause könnte. Jedoch schien die Freude nur einseitig zu sein. Mein Vater erklärte mir, dass ich nicht nach Hause komme, sondern nach Okinawa in eine Klinik für Essstörungen. Ich wurde wütend:

„ICH HABE KEINE ESSSTÖRUNG!!!“ schrie ich ihn an, doch er blieb unerbittlich. Seiya und meine Mutter versuchten zu vermitteln.

„Kimiko sieh es ein“ sagte mein Bruder. „Du bist nichts weiter als Haut und Knochen, wo ist denn meine hübsche Yumi geblieben?“ Meine Mutter war den Tränen nah.

„Willst du sterben?“

Ich erinnerte mich an das was mir widerfahren war und dachte, wenn ich tot bin, kann Haku mich nicht mehr missbrauchen. „JA“ antwortete ich barsch und fing mir das erste und letzte Mal eine saftige Ohrfeige von meinem Vater ein. Geschockt und mit offenem Mund starrte ich ihn an. „Du wirst in diese Klinik gehen! Schon morgen werde ich dich persönlich dort abliefern. Ich will meine einzige Tochter nicht zu Grabe tragen müssen.“ Ich schwieg. Was sollte ich tun? Ich war noch nicht volljährig. „Wir haben dich bereits vom Training beurlauben lassen“ sagte mein Vater. „Ich verstehe dich nicht Kimiko. Wogegen rebellierst du? Ist deine Familie denn so schlecht zu dir?“ Ich schwieg. Ich erwartete nicht, dass mein Vater mich verstehen würde. Mir lag nur der Gedanke im Kopf: „Was wird Haku denken und mit mir machen, wenn ich wieder zurückkomme?“
 

Alles brachte nichts. Ich kam nach Hause und musste meine Sachen für die Klinik packen. Sechs Monate sollte ich dableiben, bis ich mein Mindestgewicht wieder erreicht hatte und ich wusste es wird ein Horrortrip, und das obwohl ich keine Ahnung hatte, dass ich nicht nur pures Fett essen sollte, sondern auch damit anfangen musste irgendwelchen Therapeuten zu erzählen, warum ich so rapide abmagerte.
 

Am nächsten Morgen weckte mich mein Vater und nach einem Glas Milch verfrachtete er mich ins Auto. Meine Mutter kam mit, mein Bruder musste in die Schule.

Zunächst fuhren wir mit dem Auto bis zum Hafen, eine Fähre sollte uns auf die Oki-nawa Inseln bringen. Mir war klar, dass mein Vater ganz bewusst diese Klinik aus-gewählt hatte, denn Okinawa ist eine weitere Insel von Japan die man nur mit dem Schiff überwinden kann. Er dachte nämlich auch daran, dass ich abhauen könnte.

Das war auch mein erster Gedanke, als ich das triste Gebäude nur von außen sah. Ich seufzte. Mein Gewicht war so weit unten, dass ich keine Kraft hatte meine Ta-sche zu tragen.

Die Klinik in der ich nun einige Monate verbringen sollte, bis ich mein Mindestgewicht erreicht hatte lag inmitten eines kleinen Wäldchens, hier war wenig vom Großstadtflair in Tokio zu spüren. Große Eichen, umsäumten die Klinik, von irgendwoher hörte ich einen kleinen Bach plätschern. Ich war immer gern am Wasser gewesen, Wasser hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. Mein Vater nahm meine Tasche, schloss den Wagen ab und ging voraus.

Meine Mutter und ich folgten ihm über einen Hof zu einem Gebäude an dem mit großen Schriftzeichen „Klinikverwaltung“ an eine weiße Tafel gepinselt worden war. Wir betraten die Steinstufen wobei ich mich immer wieder nervös umsah.

Ich hasste diese Klinik, die ich nur von außen gesehen hatte jetzt schon. Aber ich hatte nicht mal die Kraft zu rebellieren, geschweige denn mich am Treppengeländer festzuklammern. Das war doch irgendwie kindisch. Also folgte ich meinem Vater in die Klinikverwaltung. Der graue Linoleumboden war frisch gebohnert worden und glänzte fast wie Marmor. Überall hingen Bilder an den Wänden, die diesem tristen Korridor wohl ein bisschen Farbe verleihen sollten. Ich fand sie unpassend und fast bedrohlich, so wie ich diese gesamte Situation empfunden hatte. In diesem Korridor stand nichts weiter als eine Holzbank vor einer Tür auf der „Klinikbüro“ stand. Ich stellte mich an ein Fenster am Anfang des Korridors und sah in den hübschen kleinen Hof über den wir hereingekommen waren. //Ich bin im Knast// dachte ich frustriert und ich wollte nur eins: Schnell wieder raus hier.

Mein Vater klopfte an die Tür und eine weibliche Stimme bat ihn herein. Wir betraten wie die Entenfamilie ein großes Büro. Auf der linken Seite erblickte ich ein Regal das von oben bis unten mit Ordnern vollgestopft war auf denen Mädchennamen draufstanden. Eine Frau in den Vierzgern lächelte und erhob sich. „Guten Tag, ich heiße sie herzlich Willkommen, mein Name ist Kariko Tokoyama ich bin die Klinikleitung. Nehmen Sie doch bitte Platz.“ Sie deutete auf drei Stühle und setzte sich dann ihrerseits auf ihren eigenen. Wir setzten uns ebenfalls, mein Vater rechts, meine Mutter links und ich in die Mitte der beiden. Frau Tokoyama lächelte immer noch und plötzlich musste ich an den jungen Blonden vom Vortag denken, der mir ein so hinreißendes Lächeln geschenkt hatte. Die Klinikleitung musterte mich und ihrem Lächeln fügte sich ein Ausdruck von Mitleid hinzu. Ich überlegte ob der junge Mann mich auch mitleidig angesehen hatte aber ich kam nicht dazu meinen Gedanken weiter zu führen, denn Frau Tokoyama begann das Gespräch. „Ich hoffe Sie hatten eine angenehme Reise, das ist also unsere neue Patientin.“ Sie schaute in die Unterlagen. „Kimiko Yumi Kudo.“ Dann sah sie mich an. „Möchtest du auch Kimiko Yumi genannt werden, oder reicht es wenn ich Kimiko zu dir sage?“ „Nur Kimiko“ antwortete ich knapp. Sie schrieb sich was auf einen Zettel. Neben ihr stand lag ein Ordner und mehrere Formulare. „Gut, also. Es sieht folgendermaßen aus. Wir betreuen in unserer Klinik 63 Patienten mit verschiedenen Suchterkrankungen. Ich werde Ihnen nachher die Häuser zeigen. In Haus 1 werden Rauschgiftpatienten behandelt, derzeit haben wir 10 Patienten in diesem Haus, sie leben dort und bekommen dort therapeutische Unterstützung. In Haus 2 werden Patienten behandelt, die dazu neigen sich selbst zu verletzen, das ist das sogenannte „Karantäne-Haus“ dort haben wir 9 Patienten. In Haus 3 werden Schizophreniepatienten behandelt, das derzeit mit 11 Patienten belegt ist und Haus 4 ist das größte Haus für Essstörungen mit 33 Patienten die unter Bulimia Nervosa, also Bulimie und Anorexia Nervosa also Magersucht behandelt werden. Haus 4 ist in drei Stationen unterteilt. Station eins beinhaltet 8 Patienten mit dem Binge Eating Syndrom, der sogenannten Fresssucht, Station 2 ist die Station für Bulimische Patientinnen mit 10 Patienten und Station 3 ist die Anorexische Station mit 15 Patientinnen.“ Ich verstand nur die Hälfte von dem was sie erklärte, ich muss sagen, es interessierte mich auch überhaupt nicht, ich wollte nur eins: Weg hier. „Es wird nun so ablaufen. Ich werde Ihre Tochter untersuchen, Größe und Gewicht sind natürlich das wichtigste, dann bekommst du einen Fragebogen, den du mir ausfüllst und du musst ehrlich sein denn ich muss wissen ob du bulimisch oder anorexisch bist.“ Bulimisch, Anorexisch??? Scheiß doch drauf dachte ich, ich bin nichts dergleichen.

Nach einigen weiteren Formalitäten wie Versicherungstechnischen Dingen, Telefonnummern im Notfall usw. schickte sie meine Eltern raus und stellte mir einige Fragen. Wie lange,

Was ich täte – oder eben nicht täte,

wie es dazu kam usw. Aber ich antwortete nicht. Ich sagte ihr nur dass ich Sportlerin bin. „Sport ist absolut verboten!“ ermahnte sie mich. „Unsere Patientinnen haben allerlei Tricks entwickelt sich vor dem Essen zu drücken und sie sind dabei äußerst erfinderisch.“ //Na ganz große Klasse// dachte ich. Kurz darauf musste ich mich bis auf die Unterwäsche ausziehen und mich auf eine Waage stellen, an der man gleichzeitig meine Größe messen konnte. Sie notierte während sie sagte. „Du bist 1,62 groß und wiegst nur noch 34 Kilogramm. Das ist definitiv zu wenig. Wärst du nur eine Woche später gekommen, wärst du glaube ich tot.“ Sie machte noch ein Polaroid Foto von mir in Unterwäsche, was sie mir kurz darauf in die Hand drückte. Ich muss sagen ich war entsetzt darüber wie ich aussah. Wir Magersüchtigen sehen uns ganz anders. Der Spiegel sagt uns immer „Du bist zu Fett!“ egal wie mager wir wirklich sind. Ich hielt das Foto in der Hand, war entsetzt und gleichzeitig überrascht wie ich mit dieser Figur überhaupt überleben konnte. Von meiner einst Elfenhaften Gestalt um die mich viele beneidet hatten war nichts mehr übrig. Man sah Schlüsselbeine, Becken und die Rippen konnte man zählen. Das war nicht ich. Nun erkannte ich zum ersten Mal was die Krankheit aus mir machte – was Haku mit seinem Missbrauch aus mir gemacht hatte. Ich wollte das so nicht. Ich war nicht mehr hübsch, ich sah aus als käme ich gerade aus irgendeiner Gruft. Meine schönen blauen Augen hatten ihren Glanz verloren, dunkle Schatten umrahmten sie nun. Mein Kopf wirkte viel zu groß für meinen Körper, ebenso meine Hände. Sie passten überhaupt nicht zu mir. Meine Adern traten deutlich unter der gräulich wirkenden Haut hervor. Ich legte das Foto auf den Tisch; mit der trockenen Zunge fuhr ich über meine noch trockeneren Lippen und schluckte. „Du bist entsetzt, richtig? Das sehe ich in deinen Augen. Aber ich sehe noch etwas anderes, das viel beunruhigender ist. Deine Augen strahlen Angst, Schmerzen und Verzweiflung aus. Ich kann nur vermuten was dir so eine Angst macht und was dich in diese Krankheit getrieben hat. Das musst du dir eingestehen. Anorexia Nervosa ist eine schwere psychische Krankheit mit oft noch schwereren physischen Folgen.“ Ich nickte. „Wir werden schon dafür sorgen, dass du wieder auf dein gesundes Gewicht kommst.“

Nachdem ich mich wieder angezogen hatte, wobei mir jeder Knochen schmerzte und mir oft schwindlig wurde, setzte ich mich wieder. Nun merkte ich wie weh das Sitzen auf diesem harten Stuhl tat, denn meine Poknochen waren ebenso hervorgetreten wie alle anderen meines Körpers. Ich nahm den Kugelschreiber und füllte den Zettel wahrheitsgemäß aus. Sie las ihn sich durch und erklärte, dass sie vermutet hatte, dass ich Anorexisch war. Ich konnte dieses Wort nicht mehr hören. Sie rief meine Eltern wieder herein erklärte ihnen die vorläufige Diagnose und was das nun für mich und für die gesamte Familie bedeutete. Dann zeigte sie uns die Klinik und brachte mich dann in Haus 4 auf Station 3. Es roch nach Essen, mir wurde schlecht. Unterwegs drückte sie mir einen Tagesplan in die Hand.
 

6:00Uhr Aufstehen

7:00 Uhr Frühstück

8:00Uhr bis 10:00Uhr Gruppentherapie

Zwischenmahlzeit

10:30Uhr bis 11:30 Uhr Einzelgesprächstherapie

12:00Uhr Mittagessen

12:30Uhr bis 14:00Uhr Therapie

14:00Uhr Zwischenmahlzeit

14:15 Uhr bis 16:00Uhr Schule

16:00Uhr Zwischenmahlzeit

16:30Uhr bis 17:30Uhr Freizeit (verschiedene Aktivitäten werden angeboten)

18:00Uhr Abendessen

19:00Uhr Gruppentherapie

20:00Uhr Zwischenmahlzeit

20:00Uhr bis 22:00 Uhr Freizeit

22:00Uhr Nachtruhe
 

//Du meine Güte// dachte ich. So krass durchstrukturiert das ist ja Wahnsinn. Und dann auch noch – ich zählte – sieben Mahlzeiten!!! Wer zum Kuckuck sollte das denn bitte alles essen????

Mir wurde schlecht. Und dann auch noch Therapien – Gesprächstherapien!!! Ich musste mit den Leuten reden. Das ging gar nicht.

Ich war schon jetzt bedient. Aber das war noch gar nichts im Gegensatz zu dem WAS sie mir auf den Tisch stellen sollten und was ich dann auch komplett aufessen musste.

Der erste Abend

Nachdem alle Formalitäten geklärt waren, meine Eltern unterschrieben hatten, was zu unterschreiben war und meine Koffer auf dem Flur im Verwaltungsgebäude standen, hieß es für mich Einzug in die Hölle. Meine Eltern verabschiedeten sich und beide weinten. Ich riss mich zusammen.

Als sie losfuhren, wurde ich in mein Zimmer gebracht, das ich mir noch mit zwei anderen Mädchen teilen musste. Leyla war etwa so alt wie ich und Katsuki, wie sie mir erzähle gerade einmal zwölf. //Welch Mischung// dachte ich, blieb aber freundlich und verstaute meine Sachen im Schrank. Leyla machte mir von Anfang an klar, wer das Sagen in diesem Zimmer hätte, sie wies mir einen Platz im Schrank für meine Sachen zu und wo ich Schulsachen unterbringen könnte, denn ich würde ja weiter zur Schule gehen. Nur dass ich inzwischen achtzehn war und mit der Schule fertig. Deswegen war mein Tagesplan auch anders strukturiert, als der von Katsuki zum Beispiel, denn sie musst e ja noch in die Schule gehen. Ich blickte auf meine Armbanduhr. Es war inzwischen 17:30Uhr also würde es bald Abendessen geben. Wo war die Zeit geblieben? Dennoch freute ich mich, dass der erste Tag von vielen schon vorbei war. Nachdem ich alles im Kleiderschrank verstaut hatte, sprach Leyla mich an:“Ich weiß genau über dich Bescheid Kimiko Yumi Kudo“ sagte sie abwertend. „Du bist eine erfolgreiche Eiskunstläuferin, nicht wahr?“ Ich nickte nur. Ich hatte keine Lust zu erzählen. Dann sprach sie weiter und schwang dabei ihr langes, blondes Haar theatralisch zur Seite. „Du brauchst gar nicht zu glauben, dass du was besseres bist, nur weil du viele Medaillen gewonnen hast.“ Ich zog verwundert die Augenbrauen zusammen, ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. „Ich bin nichts besseres. Ich bin ich und ich bin aus demselben Grund hier wie du, also wie kommst du bitte auf diesen Gedanken?“ Sie lächelte „Das wollte ich nur mal klar gestellt haben. Denn ich bin hier schließlich die Älteste und am längsten hier, das heißt, ich habe hier das Sagen.“ Ich sah sie ruhig an, setzte mich aufs Bett und konterte. „Dass du am längsten hier bist, heißt noch lange nicht, dass du hier auch das Sagen hast, sondern dass du einfach nicht in der Lage bist zuzunehmen und die Therapien bei dir nicht anschlagen. Wenn du an deiner Krankheit sterben willst, bitte nur ich will hier so schnell wie möglich wieder raus.“ Sie sah mich mit einer Mischung aus Wut und Verwunderung an, sie war es offenbar nicht gewöhnt, dass man ihr widersprach und aus Katsukis Blick schloss ich, dass Leyla sie vollkommen im Griff hatte. Darauf wusste die kleine Diva nichts zu erwidern und das nahm ich mit seltsamer Befriedigung zur Kenntnis. Katsuki fragte mich wie viel ich wog. „Irgendwas um die 34kg antwortete ich wahr-heitsgemäß und promt kam ein verächtliches Lachen aus Leylas Richtung. „Ich wiege 27kg“ „Glückwunsch, dass du noch lebst“ meinte ich trocken und zog mich um. Das passte ihr wohl gar nicht. Katsuki mischte sich ein. „Sie wurde schon mehrere Male Zwangsernährt da bekommst du einen Schlauch in die Nase geschoben und sie flößen dir pures Fett ein. Entweder geschmolzene Butter pur, oder eben so Sachen wie Pommes Frites püriert.“ Ich verzog angewidert das Gesicht. Das würde mir nicht passieren schwörte ich. Ich schob meine Füße in meine Pantoffeln und wollte zum Essen gehen, Katsuki zeigte mir den Weg. „Mach dir nichts aus Leyla“ sagte sie lieb. Ich hatte sie vom ersten Moment an ins Herz geschlossen und ich nahm mir vor mich ein wenig um sie zu kümmern. Beim Essen setzte ich mich neben sie und wurde den anderen Patientinnen als Neuzugang vorgestellt.

Ich lächelte schüchtern und verneigte mich. Dann wurde das Essen aufgetischt.

Oh mein Gott!!

Es gab das pure Fett:

Tempura!

Aber keinen Fisch und Gemüse, wie ich es von zu Hause gewöhnt war, sondern Fleisch. Dabei bin ich überhaupt keine Fleischesserin.

Die Teller wurden uns vollgemacht, wir konnten nicht selbst entscheiden wie viel wir aßen. Jede einzelne Patientin bekam genau die Kalorienmenge, die sie ihrem aktuellen Gewicht entsprechend essen musste um zuzunehmen. Ich ertappte mich dabei, wie ich auf die Teller meiner Kameradinnen schaute und mich wunderte. Aber es half nichts, es musste aufgegessen werden. Die Dame die uns beim Essen betreute Frau Kawashima kam zu mir und ich musste ihr meine Hände zeigen. Ich trug meine Fingernägel grundsätzlich lang , aber gepflegt. Das durfte ich nicht. Ich musste aufstehen und mir die Nägel kurz abschneiden lassen. Die Haare musste ich zusammenbinden. Ich verstand den Sinn darin nicht, bis sie mir erklärte, dass es oft vorkäme, dass Patientinnen sich das Essen unter die Nägel oder in die Haare schmierten um es nicht essen zu müssen. Ich verzog angewidert das Gesicht, die Vorstellung war abartig. Ich war zwar nicht mehr so naiv, dennoch dachte ich, dass jeder doch gern so schnell wie möglich wieder hier raus wollte. Ich sollte erfahren, dass dem nicht so war. Nach einem Tischgebet sollten wir essen, (durften klingt für mich seltsam in diesem Zusammenhang). Jeder – auch ich – aß sehr, sehr langsam. Das Essen war widerlich. Ich war gute, gesunde Küche von daheim gewöhnt, also würgte ich es mit Müh und Not herunter und musste einen Brechreiz unterdrücken.

Mein Magen rebellierte, sowohl gegen die Menge, als auch die Art.

Aber ich behielt das Essen bei mir – Immerhin.

Therapieversuche

Nach dem Abendessen wurde der Tisch abgeräumt und der Tagesplan nahm seinen Lauf. Gruppentherapie stand auf dem Plan. Katsuki nahm mich mit und zeigte mir, wo diese stattfinden sollte. Wir betraten einen grau gestrichenen Raum mit einem blauen, wild gemusterten Teppich, in dem neun Stühle im Kreis aufgestellt waren und setzten uns. Der Therapeut Herr Nashi kam kurz darauf dazu. Neben uns noch sechs weitere Patentinnen. Lelya war nicht dabei. Herr Nashi sah aus, wie man sich einen Psychotherapeuten vorstellt, oder sagen wir, wie ICH ihn mir vorgestellt hatte.

Er war groß und schlaksig, trug ein scheinbar viel zu großes und aus der Mode ge-kommenes braunes Sakko und ein hellblaues Hemd mit einer rot-weiß gestreiften Krawatte. Auf der Knolligen Nase, die irgendwie nicht in sein schmales Gesicht passte, trug er eine übergroße Hornbrille, die er immer wieder nervös nach oben schob. Er setzte sich auf den letzten freien Stuhl und legte sich das Klemmbrett mit einigen leeren Blättern auf den Schoß. Dann sah er in die Runde und erblickte mich.“Ah einen Neuzugang. Stell dich doch erst mal vor, und schildere uns dein Problem“ Ich sah ihn an, fand das alles sehr unpassend. Warum war ich wohl hier?? Aber ich wollte hier aus, also stand ich auf und sah in die Runde. Mein Name ist Kimiko, ich bin achtzehn, und“ ich zuckte die Schultern. „Magersüchtig“ Das hatte für mich gereicht, ich wollte mich wieder setzen aber ich hatte die Rechnung ohne den Therapeuten gemacht, der natürlich weiter bohrte.

„Warum bist du magersüchtig,Kimiko?“

„Weil ich nichts esse.“ In meinen Augen eine logische Erklärung und dennoch kam ich mir unheimlich dämlich vor, aber niemand lachte über mich.

Der Therapeut hatte viel Geduld.

„Natürlich bist du magersüchtig, weil du nichts isst, aber Anorexia Nervosa ist eine psychische Erkrankung, also muss etwas vorgefallen sein, warum du aufgehört hast zu essen.“ Oh oh! Nun wurde es brenzlig. Ich wollte nie mit irgendwem darüber reden, nicht mal meine Eltern hatte ich aus Angst vor Haku eingeweiht und nun sollte ich einem wildfremden Mann und fremden Mädchen von meinem Schicksal erzählen? In mir stieg die Panik auf, ich fing an zu zittern, bekam Schweißausbrüche und wurde kreidebleich. Selbst wenn ich gewollt hätte, ich konnte nicht darüber sprechen. Mein Hals wurde trocken, meine Zunge war schwer wie Blei. Obwohl er mich geduldig ansah und wartete, dass ich etwas sagte, schwieg ich eisern. Schließlich gab er aber nach. „Gut, du bist den ersten Tag hier und ich denke es wäre besser wir klären das im Einzelgespräch, denn nur so können wir dir helfen. Du kannst dich wieder setzen.“ Das tat ich brav und hörte zu als er während der weiteren Therapie die anderen Mitglieder sprechen ließ. Ich war froh, als die Gruppentherapie beendet war aber – wir mussten uns wieder im Speisesaal versammeln denn Zwischenmahlzeit stand an. Schon wieder essen?? Ich war noch immer satt und hatte Magenkrämpfe von der widerlichen Tempura-Fett-Matsche.

Es gab so etwas wie Mousse au Chocolate mit einer dicken Sahnehaube. Ich bin eigentlich die totale Naschkatze, beschränke mich aber meistens auf Obst, wie Kir-schen, Melonen oder Ananas. Schokolade ist weniger meine Welt ich mag lieber Vanille. Man packte uns die braune Pampe, die mehr aussah wie das was man auf der Toilette verrichtet in meiner Ansicht nach, zu große Glasschälchen und stellte uns diese vor die Nase. Man sagt, das Auge isst mit und bei dem Anblick, hätte ich mich beinahe übergeben. Ich hatte auch überhaupt keinen Appetit und dass die Dame, die die Tische eindeckte unvorsichtig war, verschaffte mir einen Vorteil.

Ich begann zu mogeln. Langsam schob ich mir Löffel, für Löffel in den Mund, ließ die Pampe zergehen –sie schmeckte wirklich abartig – und immer wenn niemand hinsah, wischte ich mir den Mund mit der Servierte ab, das war die Unvorsichtigkeit, die ich eben erwähnte, denn eigentlich sollten keine Servierten auf dem Tisch liegen. Immer wenn ich die Servierte zum Mund führte, spuckte ich das Mousse au Ekel hinein. Irgendwann war mein Schälchen leer und ich ließ die volle Servierte in meiner Hosentasche verschwinden. Mit einem frischen Taschentuch putze ich mir die Nase, wobei ich mich von den anderen wegdrehte, steckte es zurück in die Ta-sche, damit es nicht auffiel und holte ein weiteres frisches Taschentuch heraus, mit dem ich mir den Mund abputze und es unter das Schälchen legte. Ich war nicht dumm, jeder hatte eine Servierte neben seinem Teller liegen, sodass es aufgefallen wäre, wenn ich als einzige keine daliegen hatte. Niemandem war das aufgefallen. Gott sei dank!

Da ich fertig mit dem Essen war, langweilte ich mich zu Tode und ich musste zur Toilette. Ich erhob mich und wurde direkt von Frau Kawashima angesprochen. „Hinsetzen Kimiko!“ sagte sie barsch. „Ich muss zur Toilette.“ Sagte ich entschuldigend. „Nichts da! Wir wollen doch nicht, dass du dich auf der Toilette übergibst.“ //Da gibt’s nichts zu übergeben// dachte ich und sagte, dass ich für kleine Mädchen müsse. Das entsprach der Wahrheit und bei dieser Gelegenheit wollte ich meine Mousse au Servierte verschwinden lassen. „Frau Hamaki wird dich begleiten, man hört ja, ob sich jemand übergibt.“ Ich nickte. Frau Hamaki war eine hochgewachsene, streng wirkende Person, die viel älter wirkte, als sie offenbar war. Das graumelierte Haar hatte sie zu einem strengen Knoten nach hinten gebunden. Sie trug eine frisch gestärkte Bluse und einen langen Rock. Für mich wirkte sie, wie jemand aus der 30er Jahren. Sie begleitete mich auf die Toilette und ich schloss mich in der Kabine ein um meine Blase zu entleeren, somit entsorgte ich gleichzeitig meine Taschentuchfraktion und überprüfte, ob ich Flecken des Mousse au Chocolate in der Hosentasche hatte. Das war nicht der Fall und so spülte ich meine Zwischenmahlzeit das Klo herunter, erleichtert, dass es geklappt hatte und ging ans Waschbecken um mir die Hände zu waschen. Frau Hamaki nickte zufrieden, als sie registrierte, dass ich wirklich nur Pipi machen war und so folgte ich ihr zurück in den Speisesaal. Sie flüsterte Frau Kawashima ins Ohr, dass ich mich nicht übergeben hätte und ich setzte mich wieder auf meinen Platz. Die anderen am Tisch zwängten sich das Essen herunter und ich beobachtete Onuma dabei, wie sie sich das Essen in die Haare schmierte. Angeekelt wand ich den Blick ab, aber Frau Kawashima hatte das gesehen und sprang auf wie von der Tarantel gestochen. „ONUMA!“ herrschte sie sie an. „KOMM SOFORT HER!“ Onuma erhob sich nicht. „ICH SAGS NICHT GERN ZWEIMAL!“ schrie Frau Kawashima weiter. Dann ging sie zu Onumas Platz, zog sie hoch und kontrollierte ihre Haare. Mit einer einzigen Handbewegung strich sie ihr durchs Haar und zog die Hand, die braun war von der Schokolade hervor. „Du weißt was das bedeutet!“ sagte sie ruhig, aber drohend. Onuma setzte sich, sichtlich enttäuscht, dass sie erwischt wurde, an einen Einzelplatz und die Küchenfrau brachte ihr die doppelte Portion der Mousse au Chocholate. Während Frau Hamaki uns weiter im Auge behielt, setzte sich Frau Kawashima direkt neben Onuma und befahl ihr, das Schälchen leer zu essen. Nun hatte das arme Ding keine Chance mehr zu mogeln und schob sich angewidert Löffel für Löffel in den Mund, bis sie schon fast grün vor Übelkeit aussah. Ich beobachtete die ganze Situation, niemand sagte ein Wort. Ich ertappte mich dabei, wie ich sichtlich schadenfroh zu ihr rüber sah. Stolz darüber, dass ich schlauer ge-wesen war. Mir war klar, dass ich das nicht jeden Tag machen konnte, ich musste mir etwas anderes einfallen lassen.

Not macht erfinderisch

Das war nach diesem Abend mein Motto. Die Taschentuch-Spuckaktion konnte ich nur ab und an anwenden, das war mir klar. Also suchte ich nach neuen Möglichkei-ten. Im Nachhinein ist mir nicht klar, warum ich so handelte. Ich wollte doch so schnell wie möglich da raus, wieso fing ich an zu mogeln? In späteren Therapien sagte man aber, dass das eine Sache der Gewohnheit, der Sucht ist, die man nicht mehr unter Kontrolle hätte. Ich hasste es, wenn ich keine Kontrolle über Dinge hatte, die meine Person, mein Wohlbefinden betrafen. Ich war nie der große Kontrollfreak gewesen, die Krankheit hatte so einen Kontrollfreak aus mir gemacht. Normalerweise ist es so, dass Frauen und Mädchen, die unter Anorexia Nervosa leiden, Kontrollmenschen sind. Sie achten auf gutes Aussehen, Haare, Kleidung, sind in der Regel totale Ordnungsfanatiker oder leiden zu der Magersucht noch unter anderen Zwängen, wie zum Beispiel dem Waschzwang. Ich war zur Ordnung und Sauberkeit erzogen worden, ich achte auch heute noch darauf, dass alles sauber und ordentlich ist, wahrscheinlich bin ich aber auch einfach nur Suchfaul. Ich hasse es wenn ich irgendetwas suchen muss, mir ist es immer lieber, wenn alles seinen festen Platz hat. Mein Bruder ist das totale Gegenteil, der geborene Chaot.
 

Am Anfang meines Klinikaufenthaltes, war mir das mit der Kontrolle allerdings nicht klar, die Sucht beherrschte mich. Also fand ich eine Möglichkeit, so gut wie nichts zu essen, das Essen verschwinden zu lassen und trotzdem jeden Morgen beim Wiegen mein Mindestgewicht zu erreichen. Ich war schon immer eine Frühaufsteherin gewesen und ich achtete, genau wie heute sehr auf meine Körperhygiene. Also stand ich jeden Morgen eine halbe Stunde früher auf und ging duschen. Da ich so früh aufstand, bemerkte kaum einer, dass ich relativ lange im Bad brauchte. Was machte das Kimi so lange? Ich trank Wasser! Während des Duschens schlürfte ich das Wasser buchstäblich aus der Brause. Ich trank soviel, bis ich mein Mindestgewicht hatte – und Magenkrämpfe. Es dauerte zwar eine Weile, bis ich herausfand, wie viel ich in etwa trinken musste, aber auch das hatte ich schnell heraus. Da ich keine Literanzeige hatte, formte ich meine Hände so, dass ich daraus trinken konnte und zählte. 25 volle Hände Wasser entsprachen so ungefähr einem bis eineinhalb Liter Wasser. Manchmal trank ich mehr. Ansonsten hatte ich es mir angewöhnt, mir zwei Schlüpfer anzuziehen und da ich beim Wiegen ein längeres Shirt tragen durfte, stopfte ich mir ein paar Batterien in den zweiten Schlüpfer – oder in den BH, je nachdem welche Art BH ich trug. Bei Push ups, war es einfacher die Batterien unterzubringen. Himmel war ich Naiv. Ich war stolz darauf, dass niemand mein Mogeln bemerkt hatte. Somit blieb mir auch die unangenehme künstliche Ernährung erspart. Ich hatte nur davon gehört und allein bei der Vorstellung jagte es mir einen kalten Schauer über den Rücken.
 

Mit Katsuki hatte ich mich im Laufe der Wochen richtig angefreundet, allein schon um sie tat es mir Leid, wenn ich irgendwann die Klinik verlassen müsste. Jeden Sonntag durfte ich mit meinen Eltern telefonieren aber besuchen durften sie mich erst, wenn ich so um die 45kg wog.
 

An einem ruhigen Abend saß ich auf meinem Bett und las in meinem Buch, das meine Eltern mir geschickt hatten.

Ich bekam viele Briefe von Fujita, meiner Familie und Freunden aus dem Eislauf-team. Ich freute mich über jeden Brief, jedes Foto, alles was ich geschickt bekam. Alles was für mich an Post kam oder bei uns zuhause abgegeben wurde, schickten meine Eltern mir zu. Wenn ich Briefe von zuhause bekam, so schrieb meistens meine Mutter. Ich kannte ihre geschwungene Handschrift. Sie erzählte dies und jenes und dass ich zuhause sehr fehlte. Manchmal spielte ich mit dem Gedanken einfach abzuhauen. Aber ich tat es nicht, weil ich wusste, was das bedeutet. Während ich an eben solchen ruhigen Abenden allein in meinem Zimmer saß, dachte ich über soviel nach. Alles was in meinem Leben passiert ist. Natürlich klügelte ich auch allerlei Pläne aus, wie ich weiterschummeln konnte. Allerdings änderte sich das abrupt durch einen Zwischenfall…

Die Wende

Bisher hatte ich immer versucht NICHT zuzunehmen. Mich vor dem Essen zu drü-cken, einfach alles dafür zu tun, herauszukommen, ohne an Gewicht zuzulegen. Diese Einstellung war sowas von dumm und änderte sich schlagartig.
 

Ich weiß es noch genau wie heute, es war Oktober. Wir gingen unserem Tagesplan nach und nachdem ich aufgestanden war, mich anzog und zum wiegen ging war ja Frühstück angesagt. Mein Gewicht hatte sich nicht sonderlich geändert. In der Zeit in der ich in der Klinik war hatte ich nur drei Kilo zugenommen. Nicht viel aber für mich war es ZUVIEL. Ich wunderte mich schon, dass Lelya nicht beim wiegen war aber vielleicht hatte sie auch nur verschlafen. Ich wunderte mich über mich selbst, dass ich mir überhaupt über diese Schnepfe Gedanken machte, die mir den Aufenthalt noch schwerer machte, als es ohnehin schon war. Nachdem ich fertig mit wiegen war, ging ich ins Bad um mir die Batterien aus den wenigen Klamotten, die ich an meinem mageren Leibe trug herauszunehmen und mich anzuziehen. Dabei lief ich an einem Spiegel vorbei. Es gab nur wenige Spiegel hier in der Klinik, da magersüchtige immer denken sie seien zu dick und wenn sie sich im Spiegel betrachten, wird dieser Eindruck nur noch verstärkt, das wiederum könnte dazu führen, dass sie sich noch sehr viel mehr gegen die Therapiemaßnahmen der Klinik auflehnen würden.

Wie dem auch sei. Ich machte mich schließlich auf den Weg in den Essensraum. Katsuki saß schon am Tisch und wartete. Ich setzte mich zu ihr und schaute in die Runde. Irgendwie schien es mir, dass es heute anders war als sonst. Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen, Leyla war auch hier nirgends zu sehen. Stattdessen fiel mein Blick auf Frau Kawashima und Frau Hamaki die sich angeregt aber gedämpft unterhielten. Frau Kawashimas Stirn hatte tiefe Sorgenfalten und auch Frau Hamaki wirkte bedrückt. Die Stimmung im gesamten Raum war sehr bedrückt, jedenfalls empfand ich es so und meine Brust zog ich zusammen. Irgendetwas schlimmes war passiert, das spürte ich und ich befürchtete, dass es etwas damit zu tun haben könnte, dass Leyla nicht anwesend war.
 

Leider sollte ich Recht behalten. Bevor wir unser Essen bekamen, stellte sich Frau Kawashima so hin, dass wir alle sie ansehen konnten. Ihr besorgter Gesichtsaus-druck hatte sich nicht verändert.

„Ich bitte um eure Aufmerksamkeit.“

Wir schauten sie neugierig an und ich hatte das Gefühl, als würde sich meine Brust mit jeder Sekunde, die sie schwieg nur noch enger zusammenzog. Dann sprach sie endlich weiter.

„Wie euch sicher aufgefallen ist, ist Leyla heute weder beim wiegen erschienen, noch ist hier sie hier anwesend. Leider muss ich euch mitteilen, dass Leyla heute morgen um 4:23Uhr an ihrem starken Untergewicht verstorben ist.“ Plötzlich ging ein angeregtes, aber doch bedrücktes Raunen durch den Raum. „Ruhe bitte!“ bat Frau Kawashima. „Die regulären Therapiestunden verschieben sich heute um eine halbe Stunde, wir werden in der Kapelle eine kleine Trauerfeier für Leyla geben, denn sie war genau wie ihr: Anorexisch. Ich finde es immer besonders tragisch einen jungen Menschen an diese teuflische Krankheit zu verlieren, deshalb appelliere ich an euren gesunden Menschenverstand. Esst! Nehmt zu! Werdet gesund und führt ein normales Leben. Danke für eure Aufmerksamkeit.“ Niemand sagte auch nur ein Wort, man hörte nur das Klappern von Geschirr und Besteck. Bei einigen löste Leylas Tod teilweise so große Betroffenheit aus, dass sie sich weiter weigerten zu essen. Nicht bei mir. Es war, als wäre mit Leylas Tod ein Schalter in meinem Kopf umgelegt worden. Ich dachte an meine Eltern, meinen Bruder, Fujita und viele die mich mochten und die meinen Verlust betrauern müssten. Das wollte ich ihnen nicht antun. Und plötzlich fing ich an zu essen. Wie eine wahnsinnige futterte ich drauflos und ließ mir zweimal Nachschlag geben. Auch vom Nachtisch aß ich reichlich. Meine Tischnachbarn und auch Frau Hamaki und Frau Kawashima sahen mich an, als sei ich eben vom Mars gekommen und aus einem Raumschiff gestiegen. Ich aß bis ich satt war, ich hatte Magenkrämpfe und mir war schlecht aber ich wollte nicht brechen. Ich wollte nur noch eins: zunehmen und raus! So schnell wie möglich.

Auch die weiteren Mahlzeiten verputzte ich wie eine Termite. Das führte dazu dass ich relativ schnell zunahm und auf meine 45kg kam. Und ich aß weiter solange bis ich mein Normalgewicht hatte. Das dauerte nicht lange. Nur zwei Wochen nach Leylas Tod und eine Woche nach der Beerdigung wurden meine Eltern informiert, dass ich erfolgreich therapiert worden war und sie mich abholen könnten. Sie freuten sich unheimlich, vor allem mein Vater.

An dem Tag meiner Entlassung hatte ich allerdings ein unheimliches Problem: Was sollte ich anziehen?? Inzwischen wog ich 51,2kg, das war ja schön und gut aber meine Sachen, die ich trug als ich eingeliefert wurde und die, die ich eingepackt hatte waren alle zu klein, denn die trug ich mit 34kg. Ich betrachtete mich im Spiegel. Plötzlich fand ich dass ich mit meinem jetzigen, gesunden Gewicht viel hübscher war. Ich hatte ein wohlgeformtes Gesicht, nicht zu rund und nicht zu kantig, einen schönen Busen, einen flachen Bauch und muskulöse Beine. Meine blauen Augen strahlten wieder, mein Haar hatte wieder Fülle und Glanz bekommen, meine Locken schimmerten in der Novembersonne, die an diesem Tag matt durchs Fenster fiel.

Es klopfte an der Tür und Frau Hamaki trat ein.

„Hallo Kimiko, ich bin froh, dass du wieder gesund bist und nach Hause kannst“

„Ich auch“ sagte ich lächelnd „aber mir passen meine Sachen nicht mehr.“

„Das ist kein Problem“ erwiderte sie freundlich. „Jedes Mädchen, dass uns gesund verlässt, bekommt neue Garderobe von uns geschenkt“ Erst jetzt bemerkte ich, dass sie ein Päckchen auf dem Arm trug. Sie stellte es aufs Bett. „Schau rein, ich weiß nicht ob ich deinen Geschmack getroffen habe“

Ich öffnete das Päckchen, und nahm die Sachen heraus.

Darin enthalten waren:

eine weiße Jeans

ein dunkelrosa Rollkragenpullover

ein Unterwäscheset

ein Schal

Winterschuhe

Und ein Wintermantel

„Ich weiß nicht ob ich deinen Geschmack getroffen habe“ wiederholte sie „aber ich habe ja beobachtet, was du die Monate, als du hier warst immer getragen hast.“ Ich zog die Sachen sofort an und sie strahlte. „Die sind dir wie auf den Leib geschnitten. Und nun komm, deine Eltern warten bereits auf dich“

Ich umarmte sie und bedankte mich. Dann packte ich rasch alles zusammen und rannte die Treppe zum Foyer runter. Ich konnte es kaum erwarten endlich meine Eltern wieder zu sehen und dieser verdammten Klinik den Rücken zu kehren.

Falsch gedacht

Meine Eltern erwarteten mich bereits im Foyer. Ich hüpfte die Treppen herunter, als hätte ich einen Flummi gegessen und fiel meinen Eltern in die Arme. Mein Vater fing mich auf. „Yumi-chan!! Endlich bist du wieder gesund!“ rief er feierlich aus. Ich begrüßte meine Mutter und mein Vater strahlte. „Dreh dich mal um, lass dich ansehen.“ Ich lächelte und drehte mich einmal um meine eigene Achse. „Du meine Güte! Ayako, sieh sie dir an. Ist unsere Tochter nicht eine bezaubernde junge Frau geworden? Viel hübscher als noch vor ein paar Monaten.“ Meine Mutter wischte sich die Freudentränen aus den Augen und nickte stumm. Frau Kawashima war zu uns gekommen, sie lächelte zufrieden. Sie war immer froh, wenn ein Mädchen die Klink gesund und nicht in einem Leichenwagen verließ. „Ich störe Ihre Familienidylle nur ungern“ sagte sie, „aber ich muss noch ein Abschlussgespräch mit ihrer Tochter führen, wenn das erledigt ist möchte ich noch einmal mit ihnen gemeinsam sprechen.“ Ich sah zu ihr, mein Vater nickte. „Gut, dann geh eben Kimiko und wir bringen deine Sachen ins Auto.“ Ich nickte und folgte Frau Kawashima in ihr Büro. Sie bot mir einen Platz an, ich setzte mich auf denselben Stuhl wie damals als wir das Einweisungsgespräch führten. Sie setzte sich mir gegenüber und legte meine Akte vor sich auf den Tisch. „Kimiko. Ich bin sehr, sehr froh, dass du endlich gesund bist. Erinnerst du dich noch an den Tag, als du zu uns gekommen bist?“ .Ich nickte und seufzte. „Ja leider. Es ist nicht so, dass Sie nicht gut für meine Genesung gesorgt hätten, nur~“ Sie unterbrach mich und winkte lächelnd ab. „Nein nein ich verstehe das schon. Ich bin auch immer froh, wenn ich eine Patientin gesund entlassen kann und sie hier nicht wiedersehen muss, wenn sie nicht gerade zu Besuch kommt. Aber kaum eine Patientin, die gesund wird, kommt freiwillig hierher, nur um mich zu besuchen. Viele der Gesichter, die ich wiedersehe, sind leider rückfällig geworden.“ Ich zog die Augenbrauen zusammen. Damals konnte ich mir nicht vorstellen, wie jemand wieder anorexisch werden könnte und zurück in diese, oder eine andere Klinik gehen müsste. Heute bin ich natürlich klüger, was das Thema angeht. Aber dazu später mehr.

„Ich denke nicht, dass ich wieder rückfällig werde.“ Sagte ich lächelnd. Ich war der festen Überzeugung, dass mein Ausfall beim Training und Turnieren, während meinem Aufenthalt hier Aufsehen im Eissportverband erregt hatte, und ich somit vor Haku sicher wäre. Ich wollte um jeden Preis wieder aufs Eis. Naja…um fast jeden. Um ehrlich zu sein, verschwendete ich in dem Moment in dem ich vor Frau Kawashima saß, nur wenige Minuten von meiner absoluten Freiheit entfernt, keinen Gedanken an Haku, die Qualen, die Demütigungen und die Folgen meines Missbrauches. Ich wollte nur raus aber Frau Kawashima musste ja noch das Abschlussgespräch mit mir führen. Sie nahm einen Bogen Papier aus meiner Akte, ich sah, dass sie Protokolle über mein Essverhalten, mein Therapieverhalten und detaillierte Listen über die Änderungen meines Körpergewichtes zusammengetragen hatte. Sie blätterte eine zu dem ersten Blatt der Akte, das ganz unten lag. Das war der Bogen, den ich an meinem ersten Tag hier ausfüllen musste. Ich konnte mich noch genau daran erinnern. An diesen Bogen Papier hatte sie mit einer Büroklammer ein Polaroid angebracht. Sie nahm es ab. „Kimiko,Kimiko, Kimiko ich bin sehr froh über deine Genesung Mädchen.“ Sie reichte mir das Foto. „Erinnerst du dich noch an diese junge Frau?“ Ich nahm das Polaroid und starrte erschrocken auf das magere Wesen mit dem viel zu großen Kopf. „Du lieber Himmel“ stöhnte ich.

„Bin das wirklich ich??“ Ich war entsetzt, noch entsetzter als damals, als ich mich selbst das erste Mal auf diesem Foto sah.

„Nein“ sagte sie „Das WARST du und ich hoffe, dass du nie wieder so aussiehst.“

Ich schüttelte den Kopf „Nie im Leben“ sagte ich.

Sie lächelte. „Behalt das Foto und hol es ab und an heraus. Sieh es dir öfter mal an, glaube mir, dann sehen wir uns nicht mehr wieder – und das meine ich positiv. Nun kommen wir aber zum ernsten Teil dieses Gespräches, dann will ich dich nicht länger aufhalten und dich zu deiner Familie entlassen.“

//Oh oh was kommt nun?//

„Wie du sicher weißt, halte ich wöchentlich Rücksprachen mit den Therapeuten, über jedes Mädchen. Auch über dich haben wir gesprochen und mich wundert, dass du mit keinem einzigen Wort explizit erwähnt hast, was der wahre Grund für deine Erkrankung war.“ Ich schluckte. „Ich möchte dich nicht entlassen ohne diesen Grund zu kennen. Ich stehe unter Schweigepflicht und darf niemandem etwas sagen, wenn du es nicht willst. Nur ich befürchte, dass du schnell wieder Rückfällig wirst, wenn du es weiter mit dir herumträgst.“ Einen Moment sah ich sie schweigend an. Innerlich tobte ein Kampf. Ich wusste nicht wie viel ich ihr anvertrauen konnte, denn ich hatte mich nicht mal meiner Familie anvertraut, wobei ich wusste, dass ich auch das irgendwann tun musste. Ich seufzte hörbar, dann begann ich meine Geschichte zu erzählen.

„Sie wollen also wissen, warum ich magersüchtig wurde?“ Sie nickte, ich seufzte erneut. „Also gut“ sagte ich ruhig und begann damit meine Geschichte zu erzählen.

„Wie Sie wissen bin ich Eiskunstläuferin. Ich wollte…die beste werden und ich dachte, dass ich dies nur mit hartem Training erreichen würde, jedenfalls trichterte mir mein Trainer das ein. Bis zu meinem 12.Lebensjahr, ich gewann meine erste Goldmedaille bei den Herbstmeisterschaften 1996. Ich war so stolz…Und ich wollte weitere gewinnen…Mein Trainer wollte zunächst etwas anderes. Er vergewaltigte mich, raubte mir brutal meine Unschuld als Preis dafür, dass er sich meiner annahm…Und von da an…tat er es immer wieder…Vor zwei Jahren zwang er mich dazu mit den Punktrichtern zu schlafen um den Sieg gesichert zu bekommen….Es war die Hölle…“ Frau Kawashima sah mich mitleidig an. „Deswegen hast du also aufgehört zu essen, es war eine Rebellion gegen das was dir widerfahren ist.“ Ich nickte. „Bitte…ich flehe sie an, meine Familie weiß von nichts!!“

„Natürlich wissen sie nichts, aber was willst du machen? Wieder in dieses Team zurückkehren?“ Ich nickte. „Ja ich denke nicht, dass er es wieder tut“

Frau Kawashima lächelte und sah mich freundlich an. „Ich hoffe es für dich und wünsche dir alles gute.“ Damit stand sie auf und begleitete mich zurück zu meinen Eltern. Ich verneigte mich zum Abschied und ging mit meinen Eltern zum Auto. Ich bereute, dass ich Frau Kawashima die Wahrheit gesagt hatte….

Willkommen zu Hause

Ich spürte wie nervös ich war, als ich auf dem Rücksitz unseres Autos saß und die Landschaft, die auf der Autobahn an mir vorbeizog beobachtete. Ich war voller freudiger Erwartung. Ich freute mich auf meine Eltern, meinen Bruder, Fujita und meine gewohnte Umgebung. Unterwegs mussten wir ja in die Fähre umsteigen, aber das war mir egal, ich wollte nur noch eins: Nach Hause kommen, mich in mein Zimmer zurückziehen und mein neues Leben genießen.

Denn das war das, was ich durch den Klinikaufenthalt neu gewonnen habe war: Ein Leben.

Ich war voller neuer Lebensenergie- und Lust. Ich wollte so viel machen, alles was ich in der Klinik nicht machen konnte. Ich wollte wieder in die Schule gehen, ich wollte ausgehen, neue Leute kennenlernen. Alles das, was für einen Teenager in meinem Alter völlig normal ist. Aber eins nach dem anderen, dachte ich. Ich wollte alles was ich vorhatte, bewusst tun, bewusst erleben und genießen.
 

Nachdem wir endlich ankamen, nahm ich meine Taschen aus dem Auto und nahm meinem Vater den Hausschlüssel ab und wie es aussah, war es genau das, was mein Vater wollte.

Als ich die Haustür aufschloss und sie öffnete, trat ich langsam, fast vorsichtig ein. Ich sog alles, womit ich aufgewachsen war, den vertrauten Geruch der Wohnung ein. Ich zog meine Jacke und meine Schuhe aus und ging durch den Korridor ins Wohnzimmer. Mich wunderte, dass das Licht ausgeschaltet war. Also schaltete ich das Licht ein und bekam einen Heidenschreck, als ein mehrstimmiges und lautes „Willkommen zuhause!“ mir entgegen schlug und mir Konfetti und Luftschlangen entgegenflogen. Meine Familie hatte eine Willkommensparty für mich organisiert. Eine bunte „Willkommen“ –Girlande war von einer Wand zur anderen gespannt worden, überall hingen Luftballons und ich schaute in die Gesichter von Seiya, Fujita und einigen Mädchen aus meinem Team. Zunächst war ich total verdattert. Ehe ich realisieren konnte, was hier los war, kam Seiya auf mich zugestürmt, nahm mich hoch, knutschte und knuddelte mich ab und drehte sich einmal mit mir. „Ich bin so froh, dass du endlich wieder da bist kleine Schwester.“ rief er feierlich. Dann ließ er mich herunter und ich knuddelte ihn. Auch Fujita und die anderen begrüßte ich herzlich. Eine weitere Person stand etwas mehr abseits von all dem Trubel. Er hatte ein Sektglas in der Hand und lächelte mich an. Mir wurde schlecht, denn meine Familie hatte in ihrer Unwissenheit auch Haku eingeladen. Damit hatte ich nicht gerechnet und ich war alles andere als glücklich über DIESEN Besuch.

Auf dem Rückweg von den Okinawa Inseln war ich so glücklich und euphorisch gewesen, das hatte sich mit Hakus Anblick erledigt. Zunächst war ich entsetzt, dass er hier war, dann schlug meine Stimmung plötzlich um. Ich war gesund, ich hatte mit meinem neuen gesunden Gewicht auch neuen Lebensmut und neue Kraft gewonnen. Mir platzte der Kragen. Haku hatte mich sechs Jahre lang missbraucht, gequält, verraten und verkauft und damit war nun Schluss – endgültig, das schwor ich mir. Ich ging auf ihn zu und bleib unmittelbar vor ihm stehen. Wütend kniff ich die Augen zusammen, dann nahm ich das volle Sektglas, das auf dem Tisch stand und kippte ihm den kalten Brausealkohol ins Gesicht. Nicht nur Haku schaute mich verwundert an, auch meine Familie war mehr als entrüstet über das was ich tat. Meine Mutter rannte in die Küche um ein Tuch zu holen, Seiya, Fujita und mein Vater rannten zu mir.

„Kimiko bist du übergeschnappt?? Was ist denn los mit dir?“ Ich hörte sie zwar, reagierte aber nicht. Ich musterte Haku weiter voller Hass, ich war fest entschlossen die Bombe platzen zu lassen, ich wollte nicht mehr unter Haku leiden. Ich sah in die Runde, während Haku sich das schleimige Gesicht mit dem Tuch abwischte. „Ich denke es ist an der Zeit euch die Wahrheit zu sagen, warum ich so komisch war, und magersüchtig wurde.“ Sämtliche Farbe wich aus Hakus Gesicht und es verzerrte sich zu einer wütenden Fratze. Nun zeigte er sein wahres Ich. Er kam einen Schritt auf mich zu „Du wirst das Maul halten Kimiko, hast du mich verstanden? Sonst~“ Mein Bruder ging dazwischen und hielt ihn von mir fern. „Was dann?“ fragte er drohend. „Warum drohen Sie meiner Schwester?“ Auch die anderen Anwesenden starrten ihn an und meinem Vater schien einiges klar zu werden.

Die Wahrheit kommt ans Licht

Nun war die Katze endlich aus dem Sack. Haku konnte sich nicht mehr herausreden. Mein Vater schickte die Mädchen nach Hause und geschützt von Seiya, Fujita und meinem Vater konnte ich endlich reden. Das tat ich auch, es war so nötig gewesen.

Seiya sah mich an. „Yumi-chan, was ist hier los?“ Ich schaute Haku in die verhassten Augen und ließ seinen Blick nicht los, als ich endlich aussprach, was schon jahrelang fällig war. „Haku hat mich vergewaltigt.“ Diese Worte hallten noch etliche Male im Raum wider, als hätte ich in einen Hohlraum gesprochen. Alle schwiegen entsetzt, offenbar hatte keinen von ihnen realisiert, was ich eben gesagt hatte. Mein Bruder ergriff als erstes das Wort. „Wie bitte?“

„Ihr habt richtig gehört, Haku hat mich vergewaltigt, das erste Mal mit zwölf am Tag, als ich meine erste Goldmedaille gewann, erinnert ihr euch?“ Meine Mutter war so geschockt, dass sie fast umkippte und meinem Vater knallte die Sicherung raus, er zweifelte keine Sekunde an meinen Worten, denn, wie er mir später sagte, war das die Erklärung für meine rapide Veränderung gewesen. Er ging auf Haku los und packte ihn am Kragen. „DU HAST DIE HÄNDE AN MEINE TOCHTER GELEGT? DU PERVERSES SCHWEIN!!!“ Dann schlug er ihm mit der Faust ins Gesicht und Haku fiel zu Boden. Er versuchte sich herauszureden. „Die spinnt doch! Sie lügt!! Kimiko, ich habe mich all die Jahre deiner angenommen und dir zum Sieg verholfen, wie kannst du mir das antun?“

„Wie ich DIR das antun kann?? Hast du dich gefragt, wie du es mir antun kannst mich zu vergewaltigen? Mich zu zwingen mit den Punktrichtern zu schlafen??“ Ich rannte in mein Zimmer und sammelte alle gewonnenen Medaillen ein. Dann kam ich zurück und schleuderte sie ihm entgegen. Sie knallten hart und laut auf den Holzfußboden. „Diese Medaillen habe ich mit meiner Unschuld, meinem Blut und meinem Körper bezahlt! Es ist vorbei! Ich schweige nicht mehr!!!“ Seiya und Fujita waren die einzigen, die in diesem Moment einen mehr oder weniger klaren Gedanken fassten, sie packten Haku rechts und links an den Armen, beförderten ihn zur Tür und warfen ihn raus.
 

Als Haku weg war und ich nun endlich mein Schweigen gebrochen hatte, sank ich auf die Knie, ich war so erleichtert. Seiya hatte Fujita wohl gebeten zu gehen, denn er kam allein zurück ins Wohnzimmer und half mir auf. Der erste Schock war überwunden und wir setzten uns auf die Couch. Man sah meiner Familie deutlich an, dass sie sich schuldig fühlten, weil sie nichts wussten und mir somit auch nicht helfen konnten.
 

Meine Mutter ergriff das Wort. „Was war das eben? Ist es wahr, was du uns erzählt hast? Warum hast du solange geschwiegen?? Und wir haben es nicht bemerkt!“ Sie fing an zu weinen. „Euch trifft nicht die geringste Schuld Mama. Ich habe mich geschämt und Haku hat mich unter Druck gesetzt. Ja es ist wahr“ Somit begann ich zu erzählen, Detail für Detail vom ersten Missbrauch, über die Punktrichter, bis hin zur Entstehung der Magersucht bis hin zum Klinikaufenthalt. Keiner unterbrach mich, drei Stunden hatte ich gebraucht um alles zu erzählen und die Gesichter meiner Familie spiegelten dreierlei Gefühle wider. Im Gesicht meiner Mutter sah ich Verzweiflung, im Gesicht meines Vaters sah ich Wut und im Gesicht meines Bruder Schuldgefühle und Rachedurst. Er hatte mir immer geschworen mich zu beschützen, aber seinen Schwur nicht halten können, als Haku sich an mir verging.

Ich schloss meine Erzählung ab in dem ich sagte: „Die Frauenärztin weiß Bescheid ich hab sie aufgrund ihrer Schweigepflicht angefleht, dass sie niemandem etwas sagt, aber ich glaube, sie hat alle Unterlagen noch.“ Daraufhin griff mein Vater zum Telefon und rief in der Praxis an. Er verlangte meine Krankenakte, man sagte ihm aber, dass sie diese nicht hergeben dürften, bevor ich meine Ärztin nicht von ihrer Schweigepflicht entbunden habe. Somit vereinbarte er einen Termin für denselben Nachmittag, bei dem er mit anwesend sein wollte, wenn ich meine Unterschrift leistete und er die Beweise in Händen hielt.

Aus Mangel an Beweisen

Als mein Vater und ich in die Praxis kamen, hatte ich ein komisches Gefühl. Irgendwie glaubte ich nicht daran, dass Haku für das was er mir jahrelang angetan hatte endlich zur Rechenschaft gezogen werden konnte. Die Arzthelferin sah uns und schickte uns gleich durch zur Ärztin. Nachdem ich geklopft hatte, betraten wir das Gesprächszimmer. Die Ärztin bot uns sofort die beiden Plätze vor ihr an, meine Krankenakte und ein Formular lagen vor ihr auf dem Tisch. „Kimiko Sie wollen mich also von der Schweigepflicht entbinden.“ Ich nickte. „Ja“ Mein Vater sah sie an. Nun kennen wir die Wahrheit, stimmt es, dass meine Tochter vergewaltigt wurde?“ Sie sah mich an und ich nickte erneut, dann wand sie sich meinem Vater seufzend zu. „In der Tat. Leider muss ich das bestätigen. Auch wenn die Untersuchungen eindeutig waren, so hat ihre Tochter allerdings nie bestätigt, was passierte, ich nehme, dass das nun endlich eingetreten ist.“ Sie sah mich an, ich hatte den Kopf gesenkt, denn ich schämte mich immer noch. „Kimiko es gibt rein gar nichts, für das du dich schämen musst. Im Gegenteil, du solltest stolz auf dich sein, dass du endlich dein Schweigen gebrochen hast, ich denke wäre es eher passiert, wäre es besser gewesen aber Missbrauchsopfer schweigen jahrelang, das ist völlig normal. Sie schämen sich und manche reden niemals.“ Ich seufzte, es störte mich nicht, dass sie von der Anrede „Sie“ in die Anrede „Du“ übergegangen ist. Im Gegenteil, das gab mir irgendwie nicht das Gefühl „nur“ eine Patientin zu sein. Wieder nickte ich. Mein Vater warf mir einen kurzen Blick zu, dann streckte er die Hand nach den Unterlagen aus, die die Ärztin ihm aushändigte. „Ich wünsche Ihnen von Herzen, dass Sie mit diesen Unterlagen genügend Beweise haben um diesem Schwein das Handwerk zu legen.“ „Das hoffen wir auch“ sagte mein Vater, stand auf und verneigte sich vor der Ärztin.
 

Als wir die Praxis verließen, regnete es. Ich seufzte, denn ich hasste Regen und tu es noch heute. Wir stiegen ins Auto und mein Vater startete ohne zu zögern den Motor. „Wir fahren sofort zur Polizei, sagst du aus?“ Ich sah ihn an. „Meinst du das bringt was, Papa?“ Plötzlich war mein Vater total empört. „Natürlich wird das was bringen und wenn nicht, kastrier ich ihn persönlich. Niemand legt die Hand an meine Prinzessin!“ Ich sah ihn an, mein Vater liebte mich abgöttisch, so wie ich ihn liebte und es zerfraß ihn, dass er mitansehen musste, wie ich litt und mir nicht helfen konnte. Ich legte meine Hand auf seine, die auf dem Schaltknüppel unseres alten Toyota lag. „Danke Papa!“ sagte ich leise. Er sah mich an „Meine kleine Kimiko…ich hoffe du wirst irgendwann ein normales Leben führen, einen liebevollen Mann finden, der dich nach Strich und Faden verwöhnt und dir niemals wehtut.“ Ich schwieg kurz bevor ich antwortete. „Ich hab noch genug Zeit, ich will keinen Mann, ich hab von Männern die Nase voll, alles Schweine, außer Papa und Seiya“ Er musste lächeln.
 

Den Rest der Fahrt schwieg mein Vater, und da ich das als unangenehm empfand, schaltete ich das Radio an. Im Radio lief „Ban me no Tsumi“ von Nittle Grasper und ich drehte das Radio lauter. Ich schloss die Augen und lauschte dem Intro. Auch während des gesamten Liedes, sagte keiner was, ich hatte gar nicht bemerkt, dass wir schon längst am Polizeipräsidium geparkt hatten. Nach dem Song öffnete ich die Augen und sah in das lächelnde Gesicht meines Vaters. „Du magst diese Band, nicht wahr Kimiko?“ Ich lächelte ebenfalls. „Oh ja Nittle Grasper sind klasse!“

„Was findest du an dieser Musik?“ „Ich glaub das verstehst du nicht, aber ich mag den Stil, entweder total ruhig und schmusig, oder eben peppig.“ „Wer sind die eigentlich?“ Ich konnte nicht glauben, dass mein Vater allen ernstes ein Gespräch mit mir über meine Lieblingsmusik anfing. Kimi war nun voll in ihrem Element und ich fing an drauflos zu plappern. „Es gibt drei Bandmitglieder: Ryuichi Sakuma ist der Sänger, dann gibt’s da Tohma Seguchi, er spielt Keyboard und Noriko Ukai, sie spielt Synthizier. Wusstest du dass Herr Seguchi nicht nur Bandmitglied ist, sondern gleichzeitig Produzent und Chef der Plattenfirma „NG Records“?“ Mein Vater machte große Augen, eigentlich interessierte ihn mein Wissen nicht, er wollte mich nur lockern, bevor wir zur Polizei gingen, aber er hatte das so geschickt gemacht, dass ich das nicht gemerkt habe. „Wirklich? Wie alt ist der denn?“ Ich sah ihn einen Moment ratlos an. „Um ehrlich zu sein, weiß ich das nicht so genau, ich glaube so um die Mitte oder Ende zwanzig.“ „Und dann schon Plattenboss?“ Ich zuckte die Schultern. „Tja wahrscheinlich.“ Er lächelte und stieg aus. Ich tat es ihm gleich. „Warst du schonmal auf einem Konzert?“ Ich sah ihn an, als sei ich der Meinung, er wolle mich auf den Arm nehmen. „Wann denn Papa? Ich war entweder auf dem Eis oder in der Klinik.“ „Aber du würdest gern!“ Ich nickte. „Ja sicher aber weißt du wie schwer es ist an Karten zu kommen?? Die sind meistens am ersten Tag schon ausverkauft.“ „Oh wie Schade“ meinte mein Vater nur und wir betraten das Präsidium. Mit dem Moment als die Tür hinter uns sich leise schloss vergaß ich Tohma, Nittle Grasper und das Konzert. Wir meldeten uns an und mussten dann eine ganze Stunde warten, bis ein Beamter endlich mal Zeit hatte. Als wir aufgerufen wurden, wurden meine Knie weich. Was war, wenn diese Aussage ungeahnte Folgen für mich haben würde? Oder wenn alles gar nichts brachte, es schon zu spät war?
 

Wir betraten den Raum und ich musste mich ausweisen, dann erklärte mir der Beamte alles und stellte ein Diktiergerät ein. „Wir nehmen Ihre Aussage auf, Fräulein Kudo, ja?“ Ich nickte und nach dem der Beamte mir ein Zeichen gab, dass die Aufnahme läuft, begann ich meine Geschichte erneut zu erzählen. Zwischendurch stellte der Beamte Fragen, die ich beantwortete. „Gibt es Zeugen?“

Ich antwortete mit Nein.

„Gibt es ärztliche Gutachten?“

„Ja“ sagte ich und gab ihm meine Akte. Er schaute sie durch. Viel zu lange. Schließlich sagte er dass das alles nicht ausreiche, ich hätte eher kommen sollen. Das war wie ein Schlag ins Gesicht und so sah ich ihn auch an. Er beteuerte, dass es ihm Leid täte, der Fall sei verjährt. Das war zuviel für mich. Niedergeschlagen erhob ich mich und ging einfach ohne mich zu verabschieden. Ich kam mir so dumm vor. Was sollte ich denn machen? Warten, bis Haku eine weitere Gelegenheit bekam? Das konnte ich nicht.

Kurz darauf kam mein Vater zurück und nahm mich einfach in den Arm ohne etwas zu sagen. Wir fuhren dann nach Hause, es dämmerte bereits und ich war bedient. Ich wollte nur noch meine Ruhe haben. Aber da machte mir mein Bruder einen Strich durch die Rechnung. Freudestrahlend kam er auf mich zu. „Yumiiiiiiiiiiiiiiiiiii“ Ich hasste es, wenn er meinen zweiten Vornamen so in die Länge zog, als sei er Kaugummi. „Was willst du?“ zischte ich genervt. „Ich hab was für dich!“ Er strahlte, als ob ihn ein Geschenk erwarten würde. Ich sah ihn an „Für mich?“

„Ja“

„Und was? Weihnachten und Geburtstag sind vorbei.“

Dann reichte er mir einen Umschlag. Ich sah ihn an, murmelte ein Danke und öffnete den Umschlag. Ich griff hinein und holte etwas raus, das ich erst nur als zwei Schnipsel Papier identifizierte.

Verwundert zog ich die Augenbrauen zusammen, doch als ich las, was auf den Papierschnipseln stand, war ich von den Socken. Die Papierschnipsel waren Eintrittskarten:

„Nittle Grasper – live on Tour in Japan

Freitag, 24. März 2002, 19:00Uhr im Tokyo Dome

Reihe 1, Stehplatz”

Ich sah meinem Bruder in die lächelnden Augen.

„Ein kleines Willkommensgeschenk, ich wusste, dass du da gern hingehen würdest, also habe ich sofort als die Tickets rauskamen zwei bestellt, ich geh mit dir dahin“

Ich freute mich wie ein kleines Kind an Weihnachten und fiel meinem Bruder um den Hals. Er drückte mich und als er mich losließ nahm er mir die Tickets ab und deutete auf die Uhr. „Geh dich fertig machen kleine Schwester.“ Meine Eltern sahen mich lächelnd an und so schnell wie ich im Bad war, konnte wohl keiner gucken. Der Ärger über die Situation bei der Polizei war vergessen und ich duschte rasch und machte mich fertig.

Nittle Grasper live

Ich brauchte ziemlich lange. Im Bad war ich zwar rasch fertig, aber was sollte ich anziehen? Ich wühlte in meinem Kleiderschrank aber fand echt nichts Passendes. Mein Bruder machte schon Stress. „Mach hin Yumi!“ „Ja doch!! Ich weiß nicht was ich anziehen soll!“ Mein Bruder seufzte genervt. „Komm ich helf dir“ ich stand nur in Unterwäsche da und mein Bruder musterte mich einen Augenblick. „Was ist?“ „Ich bin froh, dass du endlich wieder dein gesundes Gewicht hast. Du siehst richtig hübsch aus, und um deinen wieder gesunden und schönen Körper zu betonen, such ich dir was raus“ Ich nickte wenig begeistert, denn wir beide haben bis heute einen sehr unterschiedlichen Geschmack was die Kleidungsfrage angeht. Während ich mir Socken aus der Kommode holte, hatte Seiya aber schon etwas Passendes rausgesucht, das er mir aufs Bett legte. „Eine Jeans und ein bequemes Top mit einer Jacke, die kannst du dir später um die Hüften binden, es wird warm.“ „Ja ist gut“. Schnell zog ich mir die Klamotten an, schlang mir eine Kette um den Hals und zog Sneekers an. Das war die bequemste Lösung, denn ich wusste nicht wie lange das Konzert dauern würde. „Ich bin fertig!“ „Na endlich und du siehst gut aus, nun komm.“ Ich nickte, nahm nur schnell meine Tasche und hastete die Treppen herunter. „Langsam Kimiko!“ ermahnte mich meine Mutter. Mein Vater lächelte. „Sie ist wieder ganz die alte, ein kleiner Wirbelwind.“ Seiya kam auch runter, mein Vater sollte uns fahren. „Bis später Mama“ Meine Mutter lächelte und nickte nur.
 

Auf dem Weg zum Tokyo Dome war ich total nervös. Ich rutschte dauernd auf meinem Sitz herum. Diesmal sagte dazu aber keiner was.

Auf der Hauptstraße war die Hölle los, es war offensichtlich, dass wir nicht die einzigen waren, die zum Tokyo Dome wollten. Immer wieder schaute ich nervös auf meine Uhr, mir kam es vor als würden die Zeiger rasen, aber wir kamen nicht einen Zentimeter vorwärts. Je später es wurde, desto unruhiger wurde ich. Würden wir rechtzeitig ankommen? Mit jedem Blick auf die Uhr zweifelte ich daran. Seiya verdrehte die Augen. „Kimiko wenn du alle zwanzig Sekunden auf die Uhr schaust, kommen wir auch nicht schneller voran.“ „Ich weiß“ seufzte ich und damit ich nicht ständig auf die Uhr schaute, wendete ich meinen Blick dem Fenster zu. Dann endlich, eine gefühlte Ewigkeit später fuhren wir auf den überfüllten Parkplatz. Nicht nur, dass dieser mit Autos überfüllt war, auch duzende Menschen tummelten sich mit „Nittle Grasper“ T-Shirts auf dem Parkplatz. Ich war froh, dass mein Papa keinen Parkplatz suchen musste, da er uns nur ablud, daher fuhr er direkt bis zum Eingang vor, damit wir dort aussteigen konnten. Ich schaute aus dem Fenster und traute meinen Augen nicht. Hier waren bestimmt über zehntausend Menschen versammelt, die teilweise schon in Schlagen an der Kasse standen. //Du meine Güte!“ dachte ich. Ich stieg hinter Seiya aus dem Auto und er griff sofort nach meiner Hand, damit wir uns nicht verlieren. Er versuchte sich einen Weg durch die Menschenmassen zu bahnen und nach etwa fünf Metern, die wir gehen konnten, blieb er stehen. Ich reckte den Hals um zu sehen, warum es nicht weiter ging. Eine Traube Menschen hatte sich versammelt, die schrien und pfiffen, ich konnte zunächst nur Securityleute sehen, die mit ihren breiten Kreuzen die Menschenmasse im Zaum zu halten versuchten. Ich ging mit Seiya an der Menschenmasse vorbei, den Hals langgestreckt wie der einer Giraffe und da standen sie.

Tohma, Ryuichi und Noriko. Noriko machte schon vor dem Konzert Stimmung, Tohma stand nur da und lächelte und während wir weitergingen wurde ich von Ryuichi angerempelt, der sich einen Weg zu bahnen versuchte. Dann ging alles ganz schnell, plötzlich spürte ich keinen Boden unter meinen Füßen, ich sah mich nur fallen und in dem Moment in dem ich darauf wartete auf den gepflasterten Weg zu knallen, spürte ich wie jemand meinen Unterarm packte und mich daran hinderte mich übel auf die Nase zu legen. „Danke Bruder!“ sagte ich automatisch und war total irritiert, dass er zu meiner linken stand, mein rechter Unterarm aber noch immer festgehalten wurde. Ich wand mich vom verständnislosen Gesicht meines Bruders zu meiner rechten und dachte, ich würde jeden Moment tot umfallen. Tohma war derjenige, der mich festhielt. Er muss direkt hinter Ryuichi gestanden haben und ich bin ihm sozusagen vor die Füße gefallen. „Ist dir was passiert?“ fragte der blonde Keyboarder mich mit einem besorgtem Gesichtsausdruck. Ich muss entweder kreidebleich, oder Tomatenrot gewesen sein, ich weiß es nicht mehr. „Nein“ sagte ich, „ich danke Ihnen“ sagte ich höflich. Er lächelte lieb. „Nichts zu danken, viel Spaß beim Konzert“ sagte er noch, bevor er ging. Einen Moment nahm ich gar nichts um mich herum wahr, bis Seiya mich anstubste. Der Mann der die Eintrittskarten löste, wartete darauf, dass ich ihm die Karten hinhielt, damit er die Ecke an der Perforation abreißen konnte. Wir gingen in diese riesige Halle und ich ging gemütlich zu meinem Platz in der ersten Reihe.

Ich schaute mich nach meinem Bruder um, der stand aber hinter mir. Dann ging das Licht aus und die Vorgruppe trat auf, das interessierte mich aber nicht sonderlich, ich war ja für Nittle Grasper gekommen. Nachdem die Vorgruppe fertig war, ging das Licht erneut aus und drei schemenhafte Gestalten betraten die Bühne. Es war mucksmäuschenstill, man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Dann erklang das Keyboard mit der Melodie von „Lost Complex“ und mit einem Feuerwerk ging die sanfte Musik in ein powervolles Intro ein, bis Ryuichi anfing zu singen. Es war der Hammer, die Menge rastete total aus. Ich hatte alles was vorher an diesem Tag passiert war vergessen und hüpfte und sang den Text mit, es war mir total egal, dass mein Bruder mir einen komischen Blick zuwarf. Ich ertappte mich dabei wie ich bei jedem Lied in dem es ein Solo von Tohma gab die Augen schloss. Du lieber Himmel, war ich so verknallt in ihn???? Das war mir schon wirklich peinlich. Dennoch, ich hatte meine alte Energie wieder, jedes Lied sang ich mit, ich hüpfte und tanzte herum, als hätte ich nie was anderes gemacht. Es war der Wahnsinn. Ich merkte gar nicht wie schnell die zwei Stunden herum waren. Die Menge schrie „Zugabe“, als Nittle Grasper von der Bühne gingen. Ich schaute mich um und hoffte, dass sie nochmal rauskommen würden. Dann gingen wieder die Spots an und ich – die sowieso nur Augen für Tohma hatte – sah wie er lächelnd und leichtfüßig die Bühne betrat, sich im Laufen den Mantel auszog, ihn in eine Ecke legte und sich wieder ans Keyboard stellte. Irgendwie tat der Mann mir furchtbar Leid, der musste doch total schwitzen! Mit Hut, einem Anzug und dem Mantel, und er bewegte sich schnell und geschmeidig, wenn er die Hände von einem auf das andere Keyboard legte. Dann tat ich etwas sehr, sehr dummes. Ich hatte noch eine Packung Feuchttücher in meiner Tasche und ohne nachzudenken nahm ich sie heraus, zielte und warf sie auf die Bühne. Ich sah nur wie Ryuichi der fliegenden Packung irritiert nachsah, wahrscheinlich war er es gewohnt Schlüpfer und Teddys auf die Bühne geworfen zu bekommen und die Feuchttücher unter Tohmas Keyboard rutschten. Sein Blick war Gold wert. Er schien erst gar nicht zu verstehen, was da gerade passiert war, aber er bückte sich nach der Packung und lächelte. Dann nahm der das Mikrophon in die Hand. Er war überhaupt nicht verärgert, er schien das lustig zu finden und ich war froh, dass die Halle so dermaßen voll war, dass man nicht sagen konnte, wer geworfen hatte. „Ich bin beeindruckt, da denken die Fans doch besser an uns als unser Backstage Team. Wir kriegen nur trockene Handtücher, wenn ihr einen kleinen Moment entschuldigen würdet.“ Dann öffnete er die Packung und gab auch seinen Bandmitglieder ein Tuch damit sie sich einen kurzen Augenblick erfrischen konnten. Ryuichi war ganz aus dem Häuschen. „Wow ich find das klasse, wer hat denn geworfen?“ Plötzlich schrien alle durcheinander und hoben die Hände. Ich, diejenige die WIRKLICH geworfen hatte, wurde in meiner ersten Reihe immer kleiner und schaute mich unschuldig um damit man mich nicht sah. „Naja, egal wer es war, vielen Dank!“ sagte Ryuichi, warf die Packung jemandem hinter der Bühne zu und startete die Zugabe. Ich feierte weiter und Seiya hatte auch seinen Spaß.
 

Nach zwei Zugaben war das Konzert aber leider vorbei und wir mussten gehen. Mein Vater wartete schon auf uns an der Stelle, an der er uns abgeladen hatte und wir stiegen ein. „Na wie wars denn?“ Ich plapperte sofort drauflos. „Es war der Hammer, einfach nur der reine Wahnsinn!“ Mein Bruder lachte. „Yumi hat der Band eine Packung Feuchttücher auf die Bühne geworfen.“ Papa drehte sich zu mir um. „Was hast du gemacht??“ Ich errötete. „Naja…ich hab gesehen, dass alle und vor allem Tohma total geschwitzt haben und da hab ich nicht weiter nachgedacht.“ „Wissen sie denn, dass du das warst?“ Ich schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht Papa, das würde Yumi doch niemals zugeben.“ Ich zuckte die Schultern und wir fuhren los. Mit einem Blick in den Rückspiegel sagte mein Vater plötzlich: „Kimiko hattest du nicht eine Kette um den Hals, als du zuhause die Treppen herunter gekommen bist?“ //Hatte?// Ich schaute an meinen Hals, die Kette war weg. „Du lieber Himmel ich hab meine Kette verloren!“ rief ich aus „ich will nochmal reingehen und danach suchen.“ „Das ist Wahnsinn weißt du was da los ist? Abgesehen davon lässt dich keiner mehr rein, die machen sauber. Es ist zwar schade um die Kette, aber nicht zu ändern.“ Verärgert lehnte ich mich zurück, Seiya hatte recht, ich konnte nichts ändern.
 

Zuhause angekommen wollte ich nur eins: Ins Bett. Meine Uhr zeigte schon kurz vor zwölf an, also ging ich rasch duschen und fiel danach wie ein Stein ins Bett. Ich muss auch sofort eingeschlafen sein und ich träumte süß…

Zeitraffer

Nach dem Konzert von Nittle Grasper hatte ich das Gefühl, dass mein Leben im Zeitraffer weiterlief. Alles ging unheimlich schnell. Seiya hatte seine Schulausbildung beendet und auch seine Ausbildung zum Polizisten. Auch ich hatte die Schule beendet und war mit meinem 21. Geburtstag von zuhause ausgezogen. Ich bezog nun ein kleines Apartment im Herzen von Tokio. Haku hatte ich angezeigt und er wurde zu drei Jahren Haft verurteilt. Ich lief weiter im Team unter einem anderen Trainer, der unheimlich geduldig und freundlich war und verdiente mein Geld, denn ich hatte den Eiskunstlauf inzwischen zum Beruf gemacht. Mein Leben schien perfekt zu sein. Ich liebte es allein zu leben, und meine Unabhängigkeit zu genießen. Aufgrund meiner Erfahrungen mit Männern hatte ich keinen festen Freund und ich wollte auch keinen. Ich war mit meinem Leben zufrieden wie es war.
 

Das änderte sich aber Anfang Dezember. Unser Trainer war mittlerweile zu alt für seinen Job und musste gehen. Alle im Team waren unheimlich traurig darüber, auch ich. Aber als uns der neue Trainer vorgestellt wurde, dachte ich, ich würde die Eishalle zusammenschreien, denn Haku wurde doch tatsächlich wieder als Trainer zugelassen! Und dann auch noch für unser Team! Ich konnte es nicht fassen! Er kam rein und lächelte sein widerliches Lächeln. Er faselte, dass er sich freue wieder dieses Team zu trainieren und warf mir einen wissenden Blick zu. Was er nicht wusste, war, dass nun eine andere Kimiko vor ihm stand. Nicht mehr das ängstliche, schüchterne Mädchen, sondern eine starke Frau von 24Jahren. Ich ignorierte ihn. Er sagte uns, wir sollten aufs Eis gehen, und als ich meine Kufenschoner abnahm und als letzte das Eis betreten wollte fasste er mich am Arm. „Ich kann nicht glauben, dass du mich tatsächlich angezeigt hast Kätzchen.“ Kätzchen! Wieder dieses verhasste Wort. „Tja, ich kann nicht glauben, dass du tatsächlich den Mut hast wieder hier aufzutauchen“ sagte ich eiskalt und Haku war so überrascht von meiner Reaktion, dass er mich losließ. Ich drehte mich zu ihm um. „Fasst du mich noch ein einziges Mal an, schwöre ich dir, dass ich dein Leben zur Hölle mache!“ Ich drohte nicht nur, ich meinte es ernst, und das schien er zu bemerken. „Ach und noch etwas, wage es dich nicht das bei einem anderen Mädchen zu versuchen, wie du weißt, ist der Eissportverband informiert und sie haben ein besonderes Auge auf dich.“ Was willst du damit sagen?“ Ich lächelte nur. „Das bleibt mein kleines Geheimnis“ und mit diesen Worten ging ich aufs Eis. Denn Haku erfuhr erst später, dass um und in der gesamten Eishalle Kameras installiert wurden.

Das Attentat

Dass nun überall Kameras hingen machte mich beim Training, bei Schauläufen und auch bei allem was ich in der Eishalle zu erledigen hatte sicherer. Ich wusste, dass ich vor Haku keine Angst mehr haben musste. Das beruhigte mich ungemein, ich spürte, wie ich mit jedem Tag ausgelassener, ja fast fröhlicher wurde. Ich hatte wieder Spaß mir die Schlittschuhe anzuziehen und über das kalte Eis zu sausen. Ich genoss es wieder. So freute ich mich auch darauf, als Haku kam und uns mitteilte, dass bald die Qualifikationen für die Olympischen Winterspiele im Januar stattfinden würden. Ich war fest entschlossen mindestens eine Bronzemedaille zu gewinnen, denn ich hatte mit Haku ein Abkommen getroffen: Er versprach mir, mich in Ruhe zu lassen, wenn ich siegen würde. Auch wenn ich wusste, dass diese Vereinbarung im Prinzip sinnlos war, da er genau wusste, dass er mich auch nicht anrühren durfte, wenn ich verlor, stachelte das meinen Ehrgeiz noch mehr an und ich trainierte wie eine bescheuerte. Ich hatte ja nun meinen Job auf dem Eis, das hieß auch, dass ich keine Schule mehr hatte, auf die ich mich hätte konzentrieren müssen. Wenn ich wollte und es für nötig hielt, konnte ich von morgens acht, bis Abends 20Uhr laufen. Das tat ich auch, zuhause war ja ohnehin niemand der auf mich wartete. Ich lief stundenlang, machte zwischendurch einige Pausen um zu essen und zu trinken. Meistens war ich allein in der Halle und ich genoss es.
 

Allerdings änderte sich das am achten Dezember. Ich lief wie immer, hatte alles um mich vergessen und so merkte ich nicht, dass ich diesmal nicht allein in der Halle war. Ich hatte keine Ahnung wie lange sie da stand und mich anstarrte, aber während einer Pirouette, die ich drehte, sah ich Maya Todaji dastehen. Ich kannte sie schon von anderen Anlässen bei denen wir uns begegneten. Wir waren Konkurrentinnen, sie lief für das Team von Shinjuku. Ich brach meine Pirouette ab und glitt zu ihr. „Hallo Maya, was machst du denn hier? Willst du meine Kür ausspionieren?“ sagte ich lachend, ich meinte das im Scherz. Ihre Augen waren kalt, ihre Miene schien zu Stein gemeißelt und doch umspielte ihre Lippen ein kleines Lächeln, das nicht zum Rest ihres Ausdrucks passte, aber ich wurde nicht argwöhnisch. „Nein“ sagte sie lächelnd. „Im Gegenteil. Ich hab gehört, dass du jeden Tag hier allein bist, wenn die reguläre Trainingszeit beendet ist. Und da es schon dunkel ist und ich gerade in der Nähe war, dachte ich, ich begleite dich einfach. Wir haben ja denselben Weg.“ Ich schaute sie erstaunt an, ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. „Ähm ok, dann geh ich mich eben umziehen.“ Maya lächelte. „Ist gut.“ Ich verließ das Eis und zog mir die Schlittschuhe aus. Auf Socken lief ich zu den Umkleidekabinen, die Schlittschuhe band ich im Laufen zusammen und hängte sie mir um die Schultern. Ich betrat die Kabine und schloss die Tür hinter mir und als ich mich auf die Holzbank setzte, hörte ich ein leises Kichern. Ich wand meinen Kopf den Toiletten zu, die in der Umkleidekabine vorhanden waren. Aber dann hörte ich nichts mehr, also beschäftigte ich mich wieder mit mir selbst.

Wieder Kichern.

Es war wie in diesem Horrorfilm: „The Grudge“ und als ich aufsah, stand Maya vor mir und neben ihr zwei ihrer Freundinnen, wie ich annahm. „Du lieber Himmel, hast du mich erschreckt.“ Sie lächelte. „Entschuldige bitte.“ „Macht ja nichts, warst du nicht eben noch allein?“ Nun veränderte sich ihr Ausdruck. „Nein, DU bist allein!“ Sie schnippte und ihre Freundinnen packten rechts und links einen Arm. „Was soll das?“ fragte ich irritiert.

„Nun sagen wir es mal so…wir werden dir ein wenig beim Training helfen.“ „Wie wollt ihr mir denn helfen?“ Sie bückte sich und war aber blitzschnell wieder da. Sie hob den Arm und in ihrer Hand hatte sie eine der Hanteln mit denen wir trainierten. So wie ich das erkennen konnte, war das einer der 5kg Hanteln. Ich sah sie immer noch an, meine Augen waren geweitet und obwohl ich nicht genau wusste, was sie mit der Hantel nun vorhatte, hatte mein auf Gefahren geschulter Instinkt Alarm geschlagen. „Du gehst mir so dermaßen auf die Nerven Kimiko Kudo. Du mit deiner elfengleichen Gestalt, deinem Puppengesicht und deiner Perfektion. Ich hasse dich! Ich wünschte du hättest nie mit dem Eiskunstlaufen angefangen! Wenn du nicht wärst, würden an MEINEN Wänden Medaillen hängen!“ „Ah ich verstehe du bist neidisch!“ Ein verachtendes Schnauben folgte auf meine Feststellung. „Ich werde dafür sorgen, dass du nicht an den Qualifikationsläufen teilnehmen kannst.“ „Und wie willst du das anstellen? Willst du mich an die Hantel binden?“ Ich wünschte ich hätte meinen vorlauten Mund gehalten. Ich war trotz des langen Zeitraumes der seit Hakus Verhaftung vergangen war immer noch größenwahnsinnig und wie ich leider auch gestehen muss, sehr arrogant geworden. Der Triumph über meinen Peiniger hatte mich verändert. Offensichtlich zum negativen, jedenfalls in dieser Situation, denn ich wusste, dass alle drei, die mir gegenüberstanden wie ich auch Sportlerinnen waren und entsprechend stand ich der dreifachen Kraft meiner eigenen entgegen. Ich spürte wie eines der Mädchen mir einen Stoffballen in den Mund stopfte und dann hob Maya die Hand mit der Hantel über meinen Kopf. Ich hatte die Augen weit aufgerissen, nicht fähig mich zu bewegen, geschweige denn zu schreien, ich dachte //Jetzt schlägt sie dir mit der Hantel den Schädel ein!// und mein Leben flog an mir vorbei, wie in einem Film im Schnellvorlauf. Ich sah nur noch, wie die schwere Hantel herabschnellte und ich schrie einen qualvollen und zugleich überraschten Schmerzenslaut, der durch den Stoff in meinem Mund gedämpft wurde. Ich hörte es nur noch entsetzlich laut krachen, spürte den unbeschreiblich entsetzlichen Schmerz dann verlor ich das Bewusstsein.
 

Als ich wieder zu mir kam war ich allein. Ich lag auf dem Boden in der Umkleidekabine. Das Licht von der Decke reflektierte in meinen Kufen, die auf der Bank lagen und blendete mich. Ich fasste mir reflexartig an den Kopf und war überrascht, dass ich kein Blut an der Hand hatte, als ich sie zurückzog. Langsam versuchte ich mich zu erinnern, was passiert war, aber es war, als hätte ich einen Filmriss. Langsam richtete ich mich auf und sah, dass an meinen weißen Schlittschuhen Blut klebte. Mein Blut. Mein Blick suchte nach der Wunde, aus der das Blut kam und als ich meinen Fuß sah, dachte ich, ich müsste mich übergeben. Nicht nur, dass mein Fuß blutüberströmt war, er sah auch unnatürlich verdreht aus und aus der roten Stelle ragte etwas weißes, wie ein Schiff auf dem Meer, das man nur weit am Horizont sehen kann. Es dauerte einen Moment, bis mich der Schmerz wieder einholte und ich begriff, dass dieses weiße Etwas, das aus meinen Fuß herausragte mein Knochen war. Mit einem Schlag war ich voll da. Maya hatte nicht vorgehabt mir mit der Hantel den Schädel einzuschlagen, sie hatte damit meinen Fuß zertrümmert. Nun fiel mir auch wieder ein, dass sie sagte, dass ich nicht bei den Qualifikationen dabei sein würde.
 

Ich weiß nicht, wie ich es schaffte zu meinem Handy zu kommen und einen Krankenwagen zu alarmieren. Aber kurz nachdem ich meinen zerschmetterten Fuß bemerkt hatte, kamen schon Sanitäter, die meinen Fuß schienten, und mich auf eine Trage legten. Ich schaute an die Decke, mir war übel und alles drehte sich, dann wurde es um mich herum schwarz.

Ausgeknockt

Als ich zu mir kam, sah ich über mir eine weiße Zimmerdecke und ich hatte den beißenden Geruch von Medikamenten und Desinfektionsmitteln in der Nase. Irgendwie fühlte ich mich wie benebelt und konnte mich zunächst an rein gar nichts erinnern. Ich war auf der Suche nach einer Uhr um festzustellen welche Tageszeit es war. Ich hoffe so, das woran ich mich noch nicht erinnern konnte rekonstruieren zu können, aber in dem weißen Zimmer hing nirgends eine Uhr. Ich richtete mich ein wenig auf und wunderte mich über das Gewicht an meinem Fuß. Als ich an mir herabsah, bemerkte ich, dass mein Fuß in einen Gipsverband gewickelt war und langsam kehrte die Erinnerung zurück. Maya hatte mich mit ihren Freundinnen in einen Hinterhalt gelockt und mir den Fuß zerschmettert wie eine Porzellanfigur. Aus dem Gipsverband an meinem Bein ragte ein Schlauch, in dem ich mein eigenes Blut sehen konnte. Eine Drainage wie ich vermutete. Resigniert ließ ich mich zurück in das Kissen sinken und schloss die Augen. Nur einen kleinen Moment…. Dann öffnete ich die Augen wieder und nahm die Situation mit messerscharfer Klarheit wahr. Die Qualifikationsläufe waren für mich erledigt, soviel stand fest. Plötzlich überkam mich eine Panik. Was war, wenn ich nie wieder würde laufen können? Bei diesem Gedanken ging es mir erstaunlicherweise nur um das Eislaufen, dass ich auch so laufen können musste um mich fortzubewegen, war zweitrangig. Mir ging es einzig und allein um meine große Leidenschaft, den Eiskunstlauf. Was konnte ich auch sonst? Ich hatte zwar eine sehr gute Schulbildung genossen, aber keinen „richtigen“ Beruf gelernt. Alles in meinem Leben drehte sich nur um den Sport und ich glaubte auch nie daran, dass sich das jemals ändern würde.

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als die Zimmertür aufging und eine Krankenschwester den Raum betrat. „Ah Fräulein Kudo Sie sind wach, wie fühlen Sie sich?“ Ich schaute die junge Frau an, die in meinem Alter sein musste und beneidete sie fast darum, dass sie eine „richtige“ Ausbildung genossen haben musste. Im Gegensatz zu mir. Allerdings muss ich zu meiner Schande eingestehen, dass es für mich nie etwas wichtigeres gab, als den Eiskunstlauf und ich mir auch nicht hätte vorstellen können irgendwo an einer Supermarktkasse zu sitzen, Putzen zu gehen, fremde Kinder zu hüten, oder Tabletts mit Bier und Essen durch die Gegend zu balancieren. Ich sah sie an und als ich sprechen wollte, stellte ich fest, dass mein Hals so trocken war, dass ich keinen Ton herausbrachte. Deshalb gab mir die Schwester ein Glas Wasser, dass ich dankbar annahm und in einem Zug leerte. Als meine Stimme wieder befeuchtet war, bedankte ich mich und fragte sie als erstes was mit meinem Fuß sei und wann ich wieder aufs Eis könne. Sie lächelte mitleidig. „Das müssen Sie mit dem behandelnden Arzt besprechen, aber ich fürchte, dass Sie einige Monate aussetzen müssen.“ Das war wie ein Schlag ins Gesicht für mich. Schon wieder so lange aussetzen? Das würde bedeuten, dass meine Karriere beendet wäre, bevor sie richtig begonnen hat. Ich muss ziemlich entsetzt ausgesehen haben, denn die Schwester meinte, sie werde sofort dem Arzt sagen, dass ich aus der Narkose erwacht sei und ihn sprechen wolle. Damit verschwand sie.

Ich stutzte. Narkose? Das bedeutete, dass ich operiert worden war, das bedeutete, dass es sich nicht einfach um einen offenen Bruch gehandelt haben kann, das bedeutete, dass eine Abheilung ewig dauern würde. Oh Mann, konnte es noch schlimmer kommen? Ich hoffte nicht.

Aber doch es konnte. Denn tatsächlich kam der Arzt ein paar Minuten später zu mir und brachte mir die Hiobsbotschaften, die ich eigentlich gar nicht hören wollte.

Ich hatte einen offenen, ziemlich komplizierten Trümmerbruch davongetragen. Eine sogenannte „Weber-B-Fraktur“ das Sprunggelenk sei völlig zertrümmert worden. In einer mehrstündigen Operation hatten mir die Ärzte mehrere Titanplatten und Schrauben implantiert. Ich würde noch mindestens zwei Wochen im Krankenhaus bleiben müssen und dürfe sechs Wochen den Fuß nicht groß belasten.

Super dachte ich. Aber alles verheilte besser als ich erwartet hatte, denn ich hatte meine Methoden.

Lebensretterin

Wie gesagt hatte ich meine Methoden entwickelt um schneller als geplant wieder aufs Eis gehen zu können. Zu Weihnachten war ich schon so weit, dass ich mein erstes Training nach dem Anschlag absolvieren konnte. Ich hatte einfach den Arzt solange bebettelt, bis er mir erlaubte den Fuß einfach sehr fest zu tapen und das Training auf eine halbe Stunde statt bis zu acht täglich zu absolvieren.

So war ich wieder bester Laune und ich freute mich auf Weihnachten. Wir wollten alle gemeinsam mit der Familie essen. Also machte ich mich relativ früh auf den Weg zum Training. Ich wollte danach direkt zu meinen Eltern zum Essen gehen, dass alles anders kommen würde und dieser Tag mein gesamtes Leben komplett ändern sollte, ahnte ich nicht, als ich hinter mir die Haustür zufallen ließ und mich an diesem kalten 24. Dezember auf den Weg machte. Es war bitterkalt, es schneite und die Straßen und Bürgersteige waren Spiegelglatt. Allerdings hatte ich auch ohne Schlittschuhe an den Füßen keine Probleme mich fortzubewegen, ich war es gewöhnt. Also setzte ich meinen Weg Richtung Eishalle fort. Ich lief an Ständen vorbei, die heißen Sake, frisch duftende Waffeln und andere Süßigkeiten anboten, aber ich ging stur vorbei. Ich habe bis heute eine Schwäche für Schokolade, Kuchen, Plätzchen und vor allem alles mit Vanille oder Kokos, gönne mir aber in Beachtung meines Gewichtes solche Naschereien nur selten. So auch an diesem Tag. Es würde genug Süßes für mich geben, wenn ich nach dem Training zu meinen Eltern rüber ging. Allerdings muss ich hierbei auch betonen: Trotz, dass ich so eine Naschkatze bin, ist Seiyas Prophezeiung, ich würde mal aussehen wie eine Christbaumkugel, die zu viel Sake getrunken hat, hat sich nie bewahrheitet.

So machte ich mich also auf den Weg. Ich stand gerade an der Ampel an der Ginza, die zu meiner Überraschung außer mir fast Menschenleer war und wartete darauf, dass die Ampel auf grün sprang. Das tat sie auch und ich setzte verträumt meinen Fuß auf die Straße. Ich hörte ein Auto heranrasen und als ich in die Richtung schaute, brauste eine Luxuskarosse mit viel zu hoher Geschwindigkeit in meine Richtung. Und dann ging alles rasend schnell. Ich sprang zur Seite, landete auf dem Hintern, wollte gerade noch „IDIOT!“ schreien und sah wie der Wagen wegen der überhöhten Geschwindigkeit von der Fahrbahn abkam, den Bordstein rammte, sich ein paar Mal überschlug und schließlich auf dem Dach liegenblieb. Zunächst war ich wie elektrisiert, ich konnte mich nicht rühren, aber einige Sekunden später rannte ich zu dem Wagen. Ich wusste nicht warum ich das tat, ich glaube, ich hatte überhaupt nicht nachgedacht, mein erster Gedanke war nur: „Du musst helfen. Schließlich war es deine Schuld.“ Das es nicht meine Schuld war, wusste ich damals noch nicht. Das alles sollte ich erst viel später erfahren. Alles geschah in einem Bruchteil von Sekunden. Ich versuchte mit aller Kraft die Fahrertür zu öffnen, schaffte es auch, kroch in den Wagen und nahm den Geruch von Benzin wahr, das bald eine hoch gefährliche Pfütze im Schnee hinterlassen hatte. Ich tastete nach dem Knopf mit dem sich der Sicherheitsgurt öffnen ließ, fand ihn und drückte darauf in der Hoffnung, dass sich der Gurt auch löste. Das tat er und ich packte den Mann, der bewusstlos in seinem Fahrzeug eingeklemmt war unter den Armen und hievte ihn aus dem Wrack. Ich zog ihn ein paar Meter weiter weg vom Wagen, der kurz darauf mit einem ohrenbetäubenden Knall explodierte. Ich beugte mich über den Mann, um ihn zu schützen, warum ich das tat, wie ich es überhaupt schaffte ihn herauszuziehen wusste ich nicht. Ich dachte auch gar nicht darüber nach. Erst später wurde mir klar, dass es das Adrenalin gewesen sein musste.

Schnell rief ich mit meinem Handy einen Krankenwagen an und sprach den jungen Mann an, der mir zwar bekannt vorkam, mir aber partout nicht einfallen wollte woher. „Können Sie mich hören?“ Er antwortete nicht, stattdessen aber eine junge Frau, die mit einem jungen Mann angerannt kam. Da sie ihn mit „Dad“ ansprach, war mir klar, dass es sich um seine erwachsene Tochter handeln musste und ich fühlte mich fehl am Platz. Ich entschuldigte mich bei ihr und sagte ihr, dass ich bereits einen Krankenwagen angerufen hatte. Ich fühlte mich schrecklich, ertappt, wie damals, wenn ich als Kind abends nach dem Zähneputzen noch Kekse aus der Dose in der Küche stibitzte. Ich beteuerte meine Schuld, sagte, dass ich nicht aufgepasst hätte aber zu meiner Überraschung schrie sie mich nicht an, sie schlug mich nicht, nein sie nahm mich in den Arm. Ich zitterte, ich schämte mich und obwohl sie mir sagte, es sei nicht meine Schuld, wollte ich nicht daran glauben. Ich stand unter Schock und schaffte es irgendwie noch mich vorzustellen. Warum ich das tat, weiß ich nicht. Der Krankenwagen kam und man kümmerte sich bereits um den Verletzten. Ich betete zu Gott, dass er nicht sterben würde. Die junge Frau stellte sich mit Tsuki Seguchi vor und fragte mich belangloses. Noch immer hatte ich nicht realisiert, wem ich da eben geholfen hatte. Auch nicht, als der Name „Seguchi“ fiel. Ich stand einfach noch zu sehr unter Schock. Sie sprach mit dem jungen Mann, der erstaunlich locker gewirkt hatte, und sagte mir, wenn ich wolle, könne ich mitfahren. Ich nickte, ich fühlte mich schuldig, ich musste mitfahren. Während der Fahrt ins Krankenhaus nahm ich um mich herum nichts wahr. Nicht das Telefonat, das Tsuki führte, nicht das war der junge blonde sagte,– nichts. Während der junge blonde, der, wie ich in Gesprächsfetzen mitbekam, Kai hieß hinter dem Krankenwagen herfuhr und Tsuki telefonierte – vermutlich mit ihrem Mann – sah ich nur raus und fühlte mich elend.
 

Im Krankenhaus angekommen, war der Mann, dem ich das Leben gerettet hatte bereits in den OP gebracht worden und langsam setzte ich die Puzzleteile zusammen. Die junge Frau hatte den Mann mit „Dad“ angesprochen. Sie hieß Seguchi, Tohma hieß Seguchi. Gab es den Namen öfter, oder war es tatsächlich Tohma Seguchi, dem ich das Leben gerettet habe? Der der mich auf dem Konzert festgehalten hatte, damit ich nicht auf den Asphalt knallte? Der, der mir ein bezauberndes Lächeln schenkte? Der, den ich angehimmelt hatte, als ich ein junges Mädchen war? Konnte das möglich sein? Ich wollte nicht daran glauben.
 

Schweigend betrat ich mit den beiden mir fremden das Krankenhaus und Kai, der die Hände in die Taschen seines Mantels vergraben hatte, fluchte irgendwas gegen seine Mutter, daraus schloss ich, dass es sich um eine Familienangelegenheit handeln musste, mit der ich nichts zu tun hatte und in die ich mich auch nicht einmischen wollte. Ein weiterer blonder, großer Mann rannte auf uns zu und erkundigte sich nach Tohmas befinden, sie blieben stehen und sprachen miteinander, ich hatte mich an die Wand in eine Ecke gestellt, wie gesagt, dachte ich an eine Familienangelegenheit und es ging mich nichts an, was sie besprachen, also hielt ich mich im Hintergrund. Ich dachte nur „Wenn er wirklich stirbt, ist das meine Schuld“ Der Gedanke, ein Menschenleben auf dem Gewissen zu haben, nur weil ich so unachtsam gewesen bin, war unerträglich für mich. Andererseits dankte ich Gott dafür, dass seine Familie anwesend war. Während ich beobachtete, wie der große blonde auf die junge Frau einredete, und klarzumachen versuchte, dass ihr Vater nicht sterben würde, hielt ich es nicht weiter aus, schweigend dazustehen, denn eigentlich ging es mich doch etwas an. Ich kam aus meiner Ecke, wie ein geprügelter Hund. „Haben Sie denn schon etwas gehört?“ Tsuki schüttelte den Kopf und sah mich an „Nein noch nicht, na komm wir beide gehen ein bisschen raus“

Der große Blonde musterte mich und irgendwas war in seinen goldenen Augen, das mich zwang wegzusehen. Obwohl ich noch nie solche Augen wie die seinen gesehen habe und die Farbe faszinierend fand, war ich nicht imstande ihm in die Augen zu sehen. „Wer ist die kleine?“ fragte er und irgendetwas abschätzendes lag in seiner rauhen Stimme. Obwohl ich von Anfang an glaubte, dass er mich nicht leiden konnte – warum auch immer, ich kannte diesen Mann nicht (jedenfalls erkannte ich ihn nicht gleich) – verneigte ich mich höflich und stellte mich vor, noch bevor Tsuki mich den Gang entlang führen konnte und mich fragte ob ich lieber Kaffee oder Tee trinken wolle. Ich endschied mich für Tee (ich trinke nur sehr, sehr selten Kaffee) und so setzen wir uns in die kleine Cafeteria des Krankenhauses, wo Tsuki mir eine Tasse dampfenden Tee hinstellte. Ich trank den Tee und erfuhr etwas mehr über Tsuki. Sie war bereits Mutter von vier Kindern, das konnte ich nicht glauben, sie sah sehr jung aus. Sie erzählte mir, dass sie mit Eiri Yuki verheiratet sei, der eigentlich ihr Onkel war. Dieses Familienverhältnis war mir zwar etwas suspekt, aber ich sagte nichts. Aber nun war mir auch klar, wer der blonde gewesen war, der mich so kalt angesehen hatte. Eiri Yuki. Ich hatte jedes Buch dieses Autors im Schrank und sie in meiner wenigen Freizeit nicht gelesen – ich hatte sie fast gefressen.
 

Nachdem wir den Tee getrunken hatten machten wir uns wieder auf den Weg zum Patienten. Ich weiß nicht wieso, aber Tsuki mochte mich vom ersten Tag, ich sie aber auch, sie war mir sehr sympathisch, was man von ihrem Mann nicht behaupten konnte, Eiri und ich konnten uns von der ersten Sekunde an nicht leiden, und das ist immer noch so. Tsuki erzählte dem Arzt irgendwas und so durfte ich mit auf die Intensivstation. Als ich Tohma sah war mein erstes Gefühl Erleichterung, dass er am Leben war. Eigentlich hatte ich hier nichts mehr zu suchen, doch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, ging die Tür auf und eine betrunkene Brünette betrat den Raum. Ich verabscheue Alkohol. Allein schon deswegen, weil ich das mit säuerlichem Champagner und den wiederum mit dem Beginn meines Missbrauchs durch Haku in Verbindung bringe. Frauen die trinken, verabscheue ich umso mehr. Sie lallte irgendwas und ich erfuhr, dass es sich um Tsukis Mutter, somit um Tohmas Ehefrau handelte, und ich bedauerte den armen Mann, dass er mit so einer widerlichen Person verheiratet war. Ich beobachtete schweigend ein Handgemenge zwischen Mutter und Tochter und wollte eigentlich gehen. Das wurde mir zu viel. Aber Tsuki endschied, dass Mika, so hieß die betrunkene Frau gehen solle, und ich bleiben. Das alles war irgendwie völlig surreal wie ich fand, aber ich sagte nichts und kurz darauf verließ ich aber doch das Zimmer und wurde fast von Eiri Yuki umgerannt, der sich mit einem knappen „Sorry“ seinen Weg zum Zimmer bahnte. Ich sah ihm zwar nach, aber verstand nicht, weswegen er so rannte. Eine Krankenschwester ermahnte ihn.

Enthüllungen

Ich verbrachte viel Zeit bei Tohma. Auch wenn ich eigentlich nichts mit ihm zu tun hatte, fühlte ich mich irgendwie verpflichtet bei ihm zu sein. Wenigstens solange, bis er aufgewacht war. Jeden Tag war ich bei ihm, brachte ihm immer irgendwelche Kleinigkeiten mit, lernte seine große Familie kennen und schaffte es immer wieder meine Trainingseinheiten und die Krankenbesuche unter einen Hut zu bringen.
 

Eines Nachmittages war ich wieder bei ihm. Ich saß einfach nur da und beobachtete den schlafenden Patienten. Mein Training hatte ich für diesen Tag beendet und somit hatte ich Zeit. Plötzlich ging die Tür auf und Yuki Eiri betrat den Raum. Er setzte sich und kurz darauf öffnete Tohma endlich die Augen. Gott sei dank! Mein Herz machte einen erleichterten Sprung. Dass er aufgewacht war, war ein Zeichen dafür dass er außer Lebensgefahr war und keine Gefahr mehr bestand, dass er Sterben würde.

Zunächst war Tohma noch etwas desorientiert aber Eiri erklärte ihm was passiert war und deutete dann auf mich "Die kleine hier hat dir das Leben gerettet." Tohma sah mich an, ich verneigte mich, lächelte und stellte mich vor, nachdem Tohma mich nach meinem Namen gefragt hatte. Für mich war die Sache vom Tisch. Ich hatte meine Bürgerpflicht getan, Tohma lebte und alles war in bester Ordnund, ich konnte gehen. Ich hörte auch dem weiteren Dialog von Yuki und Tohma nicht weiter zu, ich wollte nur gehen. Ich hasse Krankenhäuser, allein schon wegen meinem Klinikaufenthalt.
 

Ich hatte mich bereits verabschiedet und wollte gehen, aber Tohma hielt mich zurück. Er wollte, dass ich blieb. Warum? Ich wusste es nicht.

Er streckte die Hand aus, wollte meine Hand nehmen. Ich wusste nicht was das sollte, aber ich dachte, dass ich ihm diesen Wunsch nicht abschlagen wollte, also gab ich ihm meine Hand und der Patient bedankte sich, war aber der Meinung, dass ein einfaches Dankeschön nicht angemessen sei. Mir reichte das vollkommen, ich hatte nichtmal einen Dank erwartet, denn für mich war die Sache selbstverständlich. Dennoch küsste Tohma - ganz Gentleman - meine Hand und ich errötete, mein Herz schlug mir bis zum Hals, ich konnte nichts dagegen machen, ich war völlig verknallt. Es hat mich einfach umgehauen, völlig erwischt. Boing! Amors Pfeil hatte ins schwarze getroffen...

Moment, moment meine liebe. Ich ermahnte mich selbst, denn ich wusste, dass dieser Mann verheiratet und Vater von zwei Kindern war. Dass Tohma drei Kinder hatte, erfuhr ich erst später.

Umso überraschter war ich, als auf den Handkuss ein Wangenkuss und auf den Wangenkuss ein Lippenkuss wurde. Wieso tat er mir das an?? Ein kleines verliebtes Ding, das wusste, dass es keine Chance hatte, so zu verwirren?? Das war nicht nett. Aber - wie ich zugeben muss - eine äußerst schöne Erfahrung, nach allem, was mir widerfahren ist.
 

Kurz darauf musste ich aber zum Training und ich hatte überhaupt keine Lust auf Haku. Ich verstehe im Nachhinein nicht, warum ich immernoch unter ihm trainierte. War ich wirklich so naiv, dass ich glaubte, er würde sein Versprechen mich nicht mehr anzurühren, halten, wenn ich weiter Goldmedaillen absahnte? Irgendwie war ich so traumatisiert von allem was mir passiert ist, dass ich überhaupt nicht daran dachte, mir einen neuen Trainer zu suchen. Jetzt weiß ich, dass sich viele Trainer und Vereine um mich gerissen hätten, aber damals dachte ich da überhaupt nicht dran. Ich kann nicht erklären, wieso ich mir das weiterhin antat. War es Abhängigkeit? Brauchte ich es gedemütigt zu werden? Brauchte ich es, jemanden zu haben, der mir überlegen war? Jemanden, an dem ich mich orientieren konnte? Im Nachhinein kann ich sagen ja, aber dann würde ich vieles meiner Erzählungen vorwegnehmen.
 

Ich hatte Tohma versprochen ihn am darauffolgenden Tag zu besuchen und ich hielt mein Versprechen ein. Ich hatte Blumen dabei und Tohma freute sich. Ich setzte mich und im Gespräch stellte sich heraus, dass er das Krankenhaus schon am nächsten Tag verlassen könnte. Mir fiel ein Riesenstein vom Herzen.

Wieder lächelte Tohma sein Schmelz-Lächeln und ich schmolz. Wie Eis in der Sonne. Um schnell abzulenken, lenkte ich das Thema auf das Abendessen, das Tohma mir zum Dank angeboten hatte. Also holte ich Zettel und Stift heraus und schrieb ihm Adresse und Telefonnummer auf. Im weiteren Gespräch mit ihm sagte Tohma mir, dass seine Ehe am Ende ist. Ich war mir nicht sicher, ob er das nur sagte, um mich zu beruhigen, da ich mich niemals auf einen verheirateten Mann einlassen würde, oder ob die Ehe wirklich kaputt war, obwohl ich seine Frau erlebt hatte.

Und ich kam viel schneller wieder in diesen "Genuss" als mir das lieb war, denn diese platzte kurz darauf hinter einer Krankenschwester ins Zimmer.

Du lieber Himmel, wieder diese Hexe! Und sie machte meiner Bezeichnung für sich auch wieder alle Ehre, denn sie zeterte wie ein altes Waschweib herum. Gott war mir das peinlich! Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken. Ich war völlig überrascht, als sie mich plötzlich am Kragen packte und mich anfuhr, ich solle die Finger von ihrem Mann lassen. Ich war nie ein Mensch, der großes Theater schätzt, also nahm ich einfach ihre Hände weg, sah etwas irritert zu Tohma und versuchte das was hier passierte zu ordnen. Das musste ich aber auch gar nicht mehr, denn da die beiden sich in Diskussionen verzettelten und ich damit nichts zu tun hatte, zog ich es vor den Raum zu verlassen.

Eine neue Freundin

Ich wartete eine ganze Weile, hörte Diskussionen und Stimmen, die lauter wurden und dann ging die Tür auf und Tohmas Frau verließ das Zimmer und ging schnellen Schrittes und mit knallenden Absätzen den Flur entlang Richtung Ausgang. Ich sah ihr einen Moment nach, fand sie irgendwie Overdressed und ihr Verhalten mehr als unpassend. Ich empfand – wie ich leider gestehen muss – einen Funken Eifersucht wenn ich sie sah. Aber ich machte mir nichts weiter daraus, stand auf, klopfte an Tohmas Zimmertür und öffnete diese einen Spalt breit mit der Frage, ob ich reinkommen dürfe. Tohma nickte und ich setzte mich wieder hin, stellte aber keine Fragen. Tohma fing von selbst an zu reden.

„Tja..ich..bin...bald ein freier Mann.“ Sagte er mit einem Anflug von Traurigkeit, aber ich lächelte.

„Das klingt als stündest du davor aus einer langen Haft entlassen zu werden.“

Tohmas Blick veränderte sich immer mehr, er war so traurig, offenbar verletzte ihn sehr, wie seine Frau sich verhielt. Er tat mir unheimlich leid. Ich nahm seine Hand und versuchte ihn aufzuheitern: “Hey Tohma! lass den Kopf nicht hängen...das macht dich nur noch mehr fertig, sieh nach vorn.“ Ich versuchte ihm Mut zuzusprechen. Ich sah eine Träne in seinen Augen glitzern, offenbar versuchte er sie vor mir zu verbergen. Er brachte ein leises „Danke“ zustande und ich beugte mich zu ihm und küsste ihm die Träne von den Augen. Im Nachhinein muss ich sagen, war ich ja unheimlich unverschämt, ich habe mich ihm ja regelrecht an den Hals geworfen, aber in dieser Situation war es mir wichtig ihn aufzuheitern und was besseres fiel mir nicht ein. „Tränen stehen dir nicht“ sagte ich leise „wenn was ist, ich bin immer zum reden da wenn du möchtest.“ Tohma sah mich mein einem seltsamen Ausdruck an. „Würdest du mich in deinen Arm nehmen?“

„Natürlich“ sagte ich, „gute Freunde machen das so.“ Ich setze mich auf die Bettkante und legte die Arme um ihn. Er tat mir so unheimlich leid. Wie sehr muss seine Frau ihn emotional vernachlässigt haben, wenn eine Umarmung soviel Bedeutung für ihn hatte? Als ob er meine Frage hatte hören können, spürte ich wie sein Körper rhythmisch anfing zu beben, als er in Tränen ausbrach. Ich kraulte seinen Kopf und wog ihn sanft. Ich summte eine leise Melodie und sagte sonst nichts. Ich wollte nur für ihn da sein.
 

Nachdem er sich ein beruhigt hatte, wischte ich ihm die Tränen ab und reichte ihm ein Glas Wasser. „Geht’s wieder Tohma?“ sagte ich besorgt. Er trank, nickte und bedankte sich. Dann nahm er meine Hände. „Du bist ein Engel.“ Ich schaute auf meinen Rücken – natürlich wissend, dass das metaphorisch gemeint war und meinte nur: „Ich fühle mich sehr menschlich, oder sind mir Flügel gewachsen.“ Tohma erwiderte darauf nichts, er lächelte nur, zog mich an sich und küsste mich wieder.

Ich war im Zwiespalt: Einerseits hoffnungslos verknallt, andererseits wissend, dass dieser Mann verheiratet war und so löste ich mich. „Nein.. das darf nicht...du ...bist...verheiratet.“ „Nicht mehr“ sagte Tohma. „Mika war schon beim Scheidungsanwalt.“ Ich sah einen Mann vor mir, der in der Öffentlichkeit so souverän war, aber nun völlig gebrochen wirkte. Ich seufzte und beobachtete wie Tohma seinen Ehering abnahm und ihn auf das Tischchen neben sich legte. Offensichtlich hatte er wirklich mit seiner Ehe abgeschlossen und er machte mir klar, dass er genauso fühlte wie ich. Er wollte es tatsächlich mit mir probieren. Auch wenn ich etwas skeptisch war, war mein Herz stärker als mein Verstand und man kann sagen, dass wir von diesem Tag an mehr als nur Freunde waren.

einfach Liebe

Tohma durfte das Krankenhaus noch am selben Tag verlassen und nachdem wir seine Sachen gepackt und seine Papiere abgeholt hatten, verließen wir Hand in Hand das Krankenhaus. Man sah ihm deutlich an, dass er darüber mehr als erleichtert und froh war. Heute war ich ausnahmsweise nicht gelaufen, sondern mit dem Auto zum Krankenhaus gefahren. Also gingen wir ins Parkhaus. Ich fuhr einen kleinen aber schnellen Minicooper in quietschgelb. „Sag mir nur wo ich lang muss“ sagte ich, während ich Tohmas Sachen im Kofferraum verstaute. Tohma fand den kleinen wohl ganz putzig und wollte fahren. Wahrscheinlich hätte jeder andere, der wusste, dass er seinen Wagen zu Schrott gefahren hatte und wegen der schweren Verletzungen eben erst aus dem Krankenhaus entlassen wurde ihm den Vogel gezeigt und seinen Schlüssel nicht herausgegeben. Ich jedoch vertraute Tohma und gab ihm meinen Autoschlüssel.

Wir fuhren zu seiner Zweitwohnung, ich sagte während der Fahrt nicht viel. Ich hatte wieder einmal vor mich hingeträumt.

Die Fahrt dauerte nicht lange. Etwa zehn Minuten nachdem wir losgefahren waren, parkte Tohma und wir stiegen an einer Penthousesiedlung aus. Ich war doch schon beeindruckt, muss ich zugeben. Er gab mir den Autoschlüssel wieder und ich sah hoch. „Hier wohnst du also…“

„Mein zweiter Wohnsitz“ antwortete er lächelnd und führte mich zu einer Garage, die er öffnete. Drei nagelneue Superschlitten inklusive einer schwarzen Harley Davidson standen in der Garage. Ich zog die Augenbrauen hoch „Wow, beeindruckend. Du fährst Motorrad?, mein Bruder auch.“ Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit.

Tohma sagte aber, dass er nur ab und zu führe. Ich habe ihn aber noch nie fahren sehen.

Ich merkte am Rande an, dass ich Motorrad fahren für zu gefährlich hielte, mein Bruder hatte schon zwei Unfälle. Er meinte, er wisse das, daher würde er sie später noch checken, er tat es allerdings nicht.

Mir wurde kalt und ich wollte reingehen, das sagte ich ihm und kurz darauf standen wir in einer geräumigen aber sehr gemütlichen Penthousewohnung. Ich hatte viel Prunk, Gold, Glitzer und allerlei Schnickschnack erwartet, den sich reiche Menschen so anschaffen, wenn sie sonst schon alles haben. Umso überraschter war ich, als ich eine ziemlich „normale“ Wohnung betrat. Der Grund, weswegen Tohma eine zweite Wohnung besaß, war mir allerdings nicht klar und da ich ja neugierig bin, fragte ich ihn auch, woraufhin er mir antwortete, er nutze sie für Notfälle. Was diese Notfälle waren, konnte ich mir lebhaft vorstellen. Ich hatte seine Furie von Ehefrau erlebt und dachte schon daran, dass er es vorzieht hier zu bleiben, wenn sie ihm auf die Nerven geht. Das sagte ich allerdings nicht. Tohma zündete den Kamin an, während ich mich auf das Sofa ziemlich weit an die Kante setzte. Ich sah mich um, spürte, dass er sich zu mir setzte und mich beobachtete. „Komm her“ sagte er sanft. „Ich beiße nicht.“. Ich musste schmunzeln: “Krieg ich das schriftlich?“ Er lächelte wieder sein Schmelz-Lächeln. „Gern“ und umarmte mich. Ich genoss es entgegen meiner Gewohnheit sehr. Für gewöhnlich mied ich die Nähe eines Mannes immer, aufgrund meiner Erfahrungen mit Haku und den Punktrichtern. Er war warm und roch unglaublich gut, wie ich gestehen muss. Bis heute liebe ich seinen Duft. Diese Mischung seines Körperduftes, mit der Mischung seines Aftershaves.

Ich hatte unheimliches Glück, dass Tohmas Geschmack, was Eu de Toilette betrifft, meilenweit, von dem Hakus entfernt war.

Hätte ich dieses billige Aftershave an Tohma gerochen, wäre ich entweder hysterisch weggelaufen, oder hätte auf ihn eingeprügelt, ohne dass dieser Mann etwas dafür könnte und zu dem Zeitpunkt wusste er ja auch noch nicht, welches Schicksal mir widerfahren war.
 

Tohma riss mich aus meinen Gedanken, als er mich bei knisterndem Kaminfeuer wieder küsste. Ich hatte eine Million Schmetterlinge im Bauch. Ich ließ ihn gewähren, ließ mich liebkosen und streicheln, mich ausziehen und berühren. Spätestens hier, hätte eine andere Frau in meiner Situation die Notbremse gezogen, allein wegen dem was mir widerfahren war, aber ich zog sie aus einem anderen Grund, denn mir kam ein schrecklicher Gedanke. Was war wenn er glaubte, dass ich es auf sein Geld abgesehen hätte, auf ein kleines Abenteuer, mit dem ich angeben konnte, dass ich durch die ganze Stadt liefe und herumerzählen würde, dass ich mit dem großen – und verheirateten, denn niemand wusste von seinen Eheproblemen – Tohma Seguchi eine Nacht verbracht hätte?

„Ich bin kein Flittchen“ sagte ich ohne einen erkennbaren Zusammenhang. Der Ausdruck in Tohmas Gesicht zeigte mir, dass er meinem Gedankengang, dem diese Aussage folgte, selbst nicht folgen konnte. Er hörte auf.

„Habe ich das gesagt?“

„Nein...aber ich möchte auch nicht, dass du das denkst..weil ich...nun ja hier liege..“

Er schien zu verstehen.

„Ich denke das nicht und würde es nie tun.“

Ich entspannte mich und gab mich ihm wieder hin. Eigentlich wollte er aufhören, aber ich wollte es ausnahmsweise mal nicht. Lange Jahre wollte ich nicht berührt werden, diesmal wollte ich es und das sagte ich ihm auch.

Er küsste mich wieder, streichelte mich und sah mir tief in die Augen.

„Ich liebe dich“, sagte er zärtlich.

„Ich dich auch“ gab ich zur Antwort und es stimmte. Ich war noch nie in meinem Leben verliebt gewesen aber ich wusste, ich war es – und wie verliebt ich war!

Er sah mich an: „Sag mir warum.“

Oh, oh! Wie bitte?? Was war los? Hallo? Versteckte Kamera?? Jetzt war ich offensichtlich ins Fettnäpfchen getreten. Das war schon kein Fettnäpfchen mehr, es war ein Fettnapf und ich stand mit beiden Beinen bis zu den Knien drin. Plötzlich war ich, trotz meiner rosaroten Brille, felsenfest davon überzeugt, dass er mich in eine Falle gelockt hatte. Dass er testen wollte, ob ich nur aus Gewohnheit entsprechend geantwortet hatte, dass ich so geantwortet hatte, um ihn ruhigzustellen, bis ich mein Ziel erreicht hatte, (es gab kein Ziel, ihn betreffend, aber woher sollte er das wissen?) dass das alles nur eine miese Masche meinerseits war um ihn – wie seine Frau – auszunutzen, emotional und vielleicht auch finanziell? Vielleicht war er es auch, der mich wie alle anderen Männer in meinem Leben (abgesehen von meinem Vater, meinem Bruder und Fujita) ausnutzen wollten. Diese Gedanken schnellten in einem Bruchteil von Sekunden durch meinen Kopf, allerdings antwortete ich trotz meiner Verwirrung relativ schnell, aber stotternd: „Ich...es ist passiert...du warst mir von Anfang an..sehr sympathisch.“ Er strich mit dem Daumen über meine Lippen. Sollte das ein Zeichen von Zärtlichkeit sein, oder ein Zeichen dafür, dass ich den Mund halten sollte? Wieder küsste er mich und es kam wie es kommen sollte. Er zog mich Stück für Stück aus, liebkoste, streichelte mich, war einfach anders als die anderen Männer. Auch ich tat es, freiwillig und obwohl mein Körper bereit dazu war mit ihm zu schlafen, meine Seele war es noch nicht.

Zweifel plagten mich, ob er es ernst mit mir meinte, oder ob ich nur ein kleines Spielzeug für ihn war, wie für die anderen.

Ich verkrampfte mich innerlich und er merkte es. Ich musste ihm meine Zweifel mitteilen, alles andere wäre in meinen Augen eine Lüge gewesen und ich wollte ihn nicht belügen, also musste ich ihm die Wahrheit sagen. „Ich bin lediglich verunsichert, ob du es wirklich ernst mit mir meinst, oder ich nur Ersatz für deine Frau und Balsam für deine verletzte Seele bin. Man hat mir einfach zu oft wehgetan....“ Tohma sagte nichts. Er stand auf, setzte sich ans Klavier und spielte. Ich stellte mich hinter ihn und lauschte seinem Spiel. Ich schlang die Arme um ihn und kraulte ihn, hörte ihm einfach nur zu und es tat mir gut. Leider war es mittlerweile sehr spät geworden und es war Zeit mich zu verabschieden. Ich hatte am nächsten Morgen Training und musste fit sein, schließlich wollte ich Haku nicht verärgern, ich wusste, was mir sonst blühte und ich vermied tunlichst alles was ihm einen Grund geben könnte mich für fehlende Disziplin zu bestrafen. Also verabschiedete ich mich schweren Herzens, denn ich wollte nicht gehen, aber ich musste. Es gab so viel, das Tohma nicht von mir wusste und das war auch erst mal gut so.

Der neue Trainer

Haku war natürlich stinksauer auf mich, dass ich ihn angezeigt und vor Gericht gebracht hatte und das ließ er mich beim Training deutlich spüren. Als ich morgens in die Eishalle kam, war ich schon etwas spät dran und schaute mich ein nach ihm um, konnte ihn aber nirgends entdecken, also nutzte ich die freie Eisfläche für eine Art freies Training. Ich genoss es wieder das Eis unter den Kufen zu spüren. Mein Liebesglück trug natürlich auch zu meiner Euphorie beim Training bei. Dass Haku inzwischen an der Bande stand merkte ich erst nicht. Ich setzte zum Sprung an und in dem Moment machte er sich harsch bemerkbar. „Wenn du so weitermachst wirst du die Meisterschaft niemals gewinnen!!“ Ich war so erschrocken, dass er mich so anherrschte, dass ich stürzte. Ich sah ihn an, um ehrlich zu sein, stieg Panik in mir auf, sodass ich nicht mehr als ein „Trainer…“ zustande brachte. „Steh auf und lauf weiter!!“ Sein Ton war extrem hart. Ich stand auf und lief weiter, ich wollte ihn unter keinen Umständen verärgern. „Na los! Schneller!“ Warum er mich so triezte, war mir nicht ganz klar, aber ich tat, was er verlangte und gab Gas. Irgendwann konnte ich aber auch nicht mehr und bewegte mich vom Eis um eine kurze Pause zu machen und einen Schluck zu trinken. Natürlich motzte er mich wieder an. „Habe ich was von Pause gesagt??“ „Nur nen Schluck trinken“ mopperte ich zurück, ging an meinen Platz, trank einen Schluck und ging dann zur Toilette. Freiheit. Auch wenn es nur für ein paar Minuten war. Als ich zurückkam, hatte sich mein Schreck über seine plötzliche Anwesenheit gelegt und ich wurde schon wieder frech. „Zufrieden?“ Dann ging ich wieder aufs Eis und lief meine Kür – ohne Patzer. Das wurde mit Applaus belohnt und ich dachte schon, Haku wäre derjenige, der geklatscht hätte, aber als ich in seine Richtung sah, merkte ich, dass auch er irritiert in eine andere Richtung blickte und ich folgte seinem Blick. Tohma stand da und applaudierte! Ich habe mich so sehr über seinen Besuch gefreut. Ich wollte zu ihm um ihn zu begrüßen, wurde von Haku aber abgefangen. „Was?“ Während er mich zurück aufs Eis zerrte, motzte Tohma seinerseits meinen Trainer an. Haku ließ das relativ kalt. Er wusste ja nicht wer da vor ihm stand und welche Gefahr von dem blonden ausgehen konnte – ich wusste das allerdings auch nicht. „Haben sie ein Problem mein bester? Dann können sie das Trainings Gelände gern verlassen.“ Während ich meine Kür lief, beobachtete ich, wie die beiden ein Gespräch miteinander begannen, konnte aber nicht hören, worum es ging. Durch die Interaktion der beiden abgelenkt, stürzte ich erneut und blieb auf dem Eis sitzen. Ich war geschafft und die Kälte der Eisfläche erfrischte mich und tat mir gut. Haku kam zu mir aufs Eis, ich sah in seinem Gesicht, dass er rasend vor Wut war und zog mich hoch. Vor Tohmas entsetzten Augen gab er mir eine harte Ohrfeige. Mein Kopf flog zur Seite und ich hatte größte Mühe mich nicht von den Kufen reißen zu lassen. „So und jetzt läufst du die komplette Kür fehlerfrei!“ Meine Wange brannte, wieder hatte er mich gedemütigt und das auch noch vor Tohma! Ich schämte mich abgrundtief und wäre am liebsten mit dem Eis verschmolzen. Aber ich nahm es hin und lief meine Kür. Tohmas Stimme wurde lauter. „Sie sollten vorsichtig sein wie sie mit mir reden!! Lassen sie das Mädchen in Ruhe.“ Er sagte das völlig cool, aber mit einem drohenden Unterton. Während ich meine Kür weiterlief, ging Haku zurück zu Tohma und da sie mittlerweile lauter miteinander sprachen konnte ich auch jedes Wort verstehen, das in der Eishalle widerhallte. Haku war fast vorm Explodieren und dass Tohma völlig unbeeindruckt und cool war, regte ihn noch mehr auf. Er war es von mir gewöhnt, dass ich kuschte, und ihm nicht die Stirn bot.

Jetzt stand ein für ihn völlig fremder Mann in „seiner“ Eishalle, der offenbar keine Ahnung vom Eiskunstlauf hatte und machte ihm Vorschriften, wie er dies oder jenes zu tun hätte. Das machte Haku fuchsteufelswild. Er baute sich fast drohend vor Tohma auf, der, trotz dass er einen guten Kopf kleiner und wesentlich schlanker war als Haku, dessen Statur nach dem Gefängnisaufenthalt eher dem eines Türstehers, als einem Sporttrainer entsprach, völlig unbeeindruckt war. „SIE sollten aufpassen, Mister! Wie ich mit meinen Schützlingen umgehe, überlassen Sie bitte mir und jetzt halten sie ihren Mund und stören Sie das Training nicht weiter sonst werde ich sie entfernen lassen!“ „Sie kennen mich also nicht?“ fragte Tohma. Er sah gekonnt – und immer noch völlig cool - an ihm vorbei und rief mich zu sich. Ich kam vom Eis und wischte mir das Eis von den Kufen. „Ja na sicher kenne ich sie Seguchi! Das gibt Ihnen aber noch lange keine Sonderrechte, was haben sie überhaupt mit Kimiko zu tun?“ Tohma zog mich zu sich und antwortete wie aus der Pistole geschossen: „Sie ist meine Freundin. Außerdem wird sie einen neuen Trainer bekommen denn ich denke bei ihnen wird sie nicht besser.“ Ich zuckte zusammen und dachte nur //Das hättest du nicht sagen dürfen.// Ich war davon überzeugt, dass Haku Tohma was antun könnte, wenn er mich treffen wollte. Natürlich hätte er tausend andere Möglichkeiten gehabt, mir direkt wehzutun, aber ich kannte ihn lange genug und wusste, dass es grausamer für mich war, wenn er Tohma etwas antat und das wollte ich unter allen Umständen verhindern. Ich kannte Haku ja mittlerweile gut genug und wusste, dass seine Grausamkeit keine Grenzen kannte. Ich war mir sicher, dass er sich noch an mir rächen würde, wegen der Anzeige und seiner Verurteilung. Haku reagierte entsprechend. „Ihre Freundin? Das ist ab sofort vorbei! Kimiko hat nur eine Liebe und das ist der Eiskunstlauf!“ Haku schien eine Art Rivalität zu Tohma zu spüren, er hatte mich jahrelang für sich „beansprucht“ und wollte mich offenbar nicht an Tohma verlieren. Tohma lachte: „Ach wirklich? Wer sagt das?“

„Ich sage das!“

„Schön, das interessiert mich nicht. Kimiko geh dich bitte umziehen.“

Ich wollte mich schon lösen, aber Haku zog mich weg. „Das Training ist noch nicht beendet, sie geht wieder auf s Eis.“ Ich wusste nicht was ich machen sollte, ich hatte Angst vor Haku, wollte Tohma aber auch nicht in den Rücken fallen. Also blieb ich zunächst einfach wo ich war. Tohma lächelte schon fast triumphierend, ich verstand nicht warum aber er ließ es sowohl mich, als auch Haku wissen. „Wie ich gerade sagte hat sie einen neuen Trainer und der wartet.“ Ich war total baff. Haku noch wütender, er grenzte an einen absoluten Kontrollverlust. „ICH bin ihr Trainer, kein anderer.“ Dass Tohma auf diesen Satz erneut lachte, brachte Haku zur Weißglut. „Ach wirklich? Das glaube ich nicht mehr.“ In diesem Moment betrat ein weiterer Mann die Halle und ich kam gar nicht mehr mit. Ich hatte diesen Mann noch nie gesehen, was wollte er hier? War er auf Tohmas, oder auf Hakus Seite? „Herr Seguchi, da bin ich.“ Aha, also auf Tohmas Seite. Haku schien sich zusammengerissen zu haben, obwohl er wusste, seine Felle schwimmen ihm davon. „Wer sind sie denn nun wieder??“ Tohma antwortete prompt. „Das ist ihr neuer Trainer.“ Der sich mit „Herr Yoshida“ vorstellte. Nun kam ich gar nicht mehr mit. Tohma hatte mich doch das erste Mal beim Training besucht, wie hatte er so schnell einen neuen Trainer für mich organisieren können? „Aber ich…“ ich war so verdattert, dass ich keinen anständigen Satz zustande brachte. Haku schnitt mir das Wort mit einem patzigen „Schnauze!“ ab und ich schwieg. „Das geht nicht so einfach!“ Hakus Stimme klang nun nicht mehr so fest, sondern deutlich verunsichert, das kannte ich gar nicht von ihm. „Das haben sie nicht zu entscheiden Herr Seguchi das macht der Eissportverband.“ Tohma ging gar nicht darauf ein und bat mich, mich umziehen zu gehen.

Die Situation war für mich ohnehin undurchschaubar, also tat ich, worum er mich bat und ging mich umziehen, und kam kurz darauf mit geschulterten Schlittschuhen wieder. Nun war mir auch klar, warum Haku zwar wirklich kurz davor war auszurasten, es aber nicht tat: Er hatte Respekt, ja fast schon Angst vor Tohma. Um diese Angst zu verbergen und seine Autorität zu wahren galt seine wiedergekehrte Fassung und dem damit verbundenen drohenden Ton mir. „Was soll das?? Kimiko!“ Keiner antwortete ihm. Tohma legte mir die Hand um die Hüfte und wir verließen mit dem neuen Trainer die Eishalle. Plötzlich brach die gesamte Wucht meiner Qualen durch Haku über mir zusammen und ich brach in Tränen aus. Tohma tröstete mich. Ich deutete zwar an, dass Haku mich all die Jahre gequält hatte, wurde aber nicht konkret. Es musste einfach nur raus. Tohma erklärte mir unterdessen, dass Matt Yoshida – der neue Trainer – ein alter Schulfreund von ihm sei, und er mich nun trainieren würde. Matt sprach mich an. „Du bist also Kimiko. Was hältst du davon wenn wir in meine Privateishalle fahren und du zeigst mir was du kannst

vielleicht kann ich dir helfen dich noch zu verbessern.“ Eine private Eishalle? Sowas gabs?? Ja die gabs und ich absolvierte von nun an dort mein Training. Das Training unter Matt war lockerer, entspannter. Er ließ mich zeigen, was ich konnte, gab mir Tipps, ohne mich anzuschreien, mich zu hetzen, oder mir anderweitig klar zu machen, dass ich schlecht sei. Endlich konnte ich mich entfalten. Ich nahm seine Tipps gern an und so entfaltete ich mich nicht nur, nein ich entwickelte mich weiter und ich musste leider erkennen, dass ich noch viel zu lernen hatte. Hakus Aufgabe war es zwar gewesen mich zu fördern, aber er forderte mich nur und das nicht nur im Sport. Endlich konnte ich angstfrei trainieren und das gab mir ein völlig neues Lebensgefühl. Er lief sogar mit mir im Paarlauf und seine Berührung, als er mir die Hand auf die Hüfte legte, empfand ich zum ersten Mal nicht als unangenehm. Bisher hatte ich Eis, gekoppelt mit der Berührung des Trainers mit Panik verbunden, und ich hatte mir ja eigentlich ja geschworen, wenn ich Haku loswürde, würde ich niemals wieder unter einem männlichen Trainer laufen. Da hatte ich Tohma aber noch nicht kennengelernt und erfahren, dass es auch anders geht. Matt spornte mich mit Zurufen an und das nur, weil er mich damit aufbaute, statt niederzumachen. Ich lernte wieder das Eis zu fühlen. Allerdings hörte ich auf. „Ich muss mal für kleine Mädchen.“ Kein Problem. Ich glitt vom Eis auf der Suche nach den Toiletten, ich musste mich ja neu orientieren. Ich ahnte nicht, dass Haku uns gefolgt war und bekam einen Riesenschreck als ich seine Stimme hörte. Als ich ihn dann sah, lief es mir eiskalt den Rücken runter. Ich kannte ihn, ich wusste wozu er fähig war. „Was willst du hier?“ fragte ich erschrocken, während ich instinktiv einen Schritt zurück ging. Er näherte sich mir, wie er sich mir schon viele Male. Viele Male in denen er mir wehtat und ich zweifelte daran, dass er mich diesmal verschonen würde.

„Du gehörst mir kleines.“ Sagte er kalt und ich ging weitere Schritte rückwärts. „Nein... das ist nicht... wahr! Ich gehöre nur...mir selbst.“ Ich versuchte meine Stimme fest klingen zu lassen, wusste aber, dass mir das in dieser Situation nicht gelang. „Oh nein kleines.“ Seine Stimme war wie so oft eiskalt. Damals konnte er mich damit einschüchtern. Er versuchte es wieder und ich hätte mich auch fast wieder einschüchtern lassen aber ich tat es nicht. „Was willst du von mir?“

„Du bist in meinem Verein, kleines.“ Warum war das so wichtig?? Ich verstand es nicht. „Du hast zehn andere die besser laufen als ich, nimm die.“ Er antwortete nicht, sondern packte mich nur hart am Arm. „Du kommst jetzt mit.“ Er tat mir weh, aber ich hatte einen Trumpf im Ärmel und den spielte ich aus. „Lass mich los!

Wenn ich schreie bist du ein toter Mann, die Halle ist leer Tohma und mein neuer Trainer würden mich sofort hören!“ Haku drohte sofort wieder. „Das wirst du nicht.

Ansonsten gehts ihm schlecht.“ Er hatte mich in der Falle. Damals wusste ich noch nicht, wie Tohma wirklich war. „Wenn ich einfach mitgehe wird, Tohma mich suchen.“

Haku schien einen Moment darüber nachzudenken. „Na und?“ Nun musste ich lachen. "„Glaubst du er überlässt mich dir einfach??“ Wieder musste ich lachen, und wandte mich ab. Er ließ mich gehen und ich ging zurück zu Tohma und Matt. Tohma stand auf dem Eis. Das verwunderte mich schon ein wenig. „Du kannst eislaufen?“ Tohma lief rückwärts. „Sicher, ich war auch mal jung.“ Naja, das hieß ja nichts. Ich lief dann mit ihm, passte mich seinem Rhythmus an. Ich war den Paarlauf gewöhnt und ich liebte es. Ich liebte ihn. „Wir beide wären gut im Paarlauf.“ Aber plötzlich ging ich in die Knie und hielt mir den Knöchel. Ich hatte vergessen den Fuß fest genug zu tapen. Autsch, das tat weh.

Tohma machte sich sofort Sorgen, aber so schlimm war es nicht. Aber er kam sofort zu mir. „Kimiko… ist alles ok?“

„Ja soweit schon…“ Ich richtete mich auf. „Ich sollte dem Trainer den Grund dafür nennen weswegen ich nicht so perfekt laufe, wie es meiner Erfahrung angemessen wäre....“ Ich rief ihn zu mir und glitt dann mit ihm vom Eis. „Dass ich so fehlerhaft laufe, hat einen bestimmten Grund.“ Ich schnürte den Schlittschuh auf, zog ihn aus, und nahm das Tape ab. Dann suchte ich in meiner Tasche nach neuem Tape. Tohma und Matt starrten auf die etwa zehn Zentimeter lange Narbe am Knöchel. „Das ist der Grund. Ein Anschlag einer Konkurrentin.“ Matt hatte volles Verständnis dafür und meinte schon, dass ich weniger trainieren sollte, aber ich musste. Allein damit mein Fuß schnell wieder voll einsatzfähig wurde. Ich tapte den Fuß neu und ging dann wieder aufs Eis. Diesmal lief ich meine Kür ohne einen einzigen Patzer. Danach durfte ich auch gehen. Ich war echt kaputt.

Unverhoffte Zusammenhänge

Als Tohma und ich die Eishalle verließen, sah ich es an der Zeit mich bei Tohma zu bedanken. Er hatte mir mit dem Trainerwechsel soviel ermöglicht.

Nicht nur, dass ich die Chance hatte weiter zu laufen und mich weiter zu entwickeln, er hatte mich auch aus Hakus Fängen befreit, er hatte dafür gesorgt, dass ich endlich Leben konnte. Mein ganzes Leben hatte ich unter Haku gelitten und war in meiner Karriere nicht durch mein Können weitergekommen, sondern dadurch, dass ich die Beine für ihn und seine Komplizen breit machen musste. Obwohl ich mir damals schwor, dass ich, sollte ich von Haku wegkommen, nie wieder unter einem männlichen Trainer laufen würde, wusste ich, dass Matt mir niemals etwas antun würde. Nicht nur, weil er Tohmas Bekannter war, Tohma hätte auch ihn dafür zur Rechenschaft gezogen. Mir wurde klar, dass ich mit Tohma nicht nur einen Partner und Liebhaber gefunden hatte, sondern auch einen Leibwächter, der ohne mit der Wimper zu zucken für mich töten würde. Die Gefahr, die von diesem gutaussehenden Mann ausging, der ständig lächelte war mir allerdings nicht hinreichend bewusst, das sollte ich noch im Verlauf unserer Beziehung lernen.
 

Wir fuhren gemeinsam zu einem kleinen hübschen Lokal in der 72sten Straße, ich hatte Hunger, mein Magen knurrte. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich bewusst diesem Knurren nachgegeben hätte und einfach etwas aß. Tohma beobachtete mich die Fahrt über. „Kimiko, wenn du reden willst…“ Ich sah auf die Straße, mein Entschluss ihm die ganze Wahrheit zu sagen stand fest. Aber nicht im Auto. „Später, wenn wir gegessen haben und alleine sind, werde ich dir alles sagen.“ Antwortete ich ruhig. In einem öffentlichen Lokal hätte meine Geschichte niemals meine Lippen verlassen. Als wir vor dem Lokal hielten, verließ allerdings ein erstauntes „Oh“ meine Lippen. Tohma sah mich an. „Was oh?“ Ich lächelte. „Mein Cousin arbeitet seit kurzem in diesem Lokal als Kellner.“ Tohma lächelte. „Oh das ist ja witzig.“

Dass dieser Umstand nicht wirklich witzig werden würde, ahnten wir beide nicht, denn Tohma kannte meinen Cousin nicht – jedenfalls glaubte ich das bisher – aber die Welt ist manchmal doch kleiner, als man vermuten mag.
 

Wir betraten also das Lokal, Tohma nahm mir meinen Mantel ab und wir setzen uns an einen der freien Tische, während ich nach meinem Cousin Ausschau hielt. Ich enddeckte ihn auch relativ schnell. „Da ist er ja. Yaten!“ Ich rief nach ihm und der gutaussehende Mann mit den Limongrünen Augen drehte sich zu mir um. „Kimiko! Hey kleines!“ Er strahlte, er freute sich mich zu sehen. Dann wandte er sich zu Tohma. „Ach Tohma, alter Freund.“ Das überhörte ich und umarmte meinen Cousin. Er und seine Brüder waren die Söhne meiner Tante mütterlicherseits. „Wie geht’s dir, wir haben uns ja ewig nicht gesehen.“ Erst als ich Tohmas eiskalten Blick sah, bemerkte ich bewusst den Umstand, dass diese beiden Männer sich kannten. Ich war sichtlich verwirrt. „Ihr kennt euch?“ Diese Frage stammelte ich eigentlich mehr. Yaten lächelte. „Wir waren mal gut befreundet.“ Waren?? Das wunderte mich schon. Tohmas Blick verriet mir, dass Yaten umgefallen wäre, wenn Blicke hätten töten können. Dennoch blieb der ruhig und souverän und bat mich, mich zu setzen. Er wollte keinen Aufstand machen, mir den Abend nicht verderben, schätzte ich. Yaten allerdings bewies wieder einmal das Feingefühl einer Kettensäge. „Naja, ich hatte was mit seiner Exfrau“ sagte Yaten kühl und mir fiel alles aus dem Gesicht.

Dass Yaten sich in eine Ehe einmischen würde, hätte ich ihm niemals zugetraut. Und die Art, wie cool der dastand. Als sei das das Normalste der Welt. „DU warst das?!“ stieß ich entsetzt hervor. Es war eine Frage und eine Feststellung zugleich und mit diesem Moment war mein Hunger passé. Ich wollte nur noch weg. „Lass uns woanders hingehen Tohma.“ Ich war entschlossen, ich war enttäuscht, ich war…ja…regelrecht wütend. Tohma verließ vor mir das Lokal, Yaten bat mich zu warten. Obwohl ich fuchsteufelswild war, schaffte ich es irgendwie meine Emotionen unter Kontrolle zu halten, sodass ich flüsterte: „Was sollte das? Du hast seine Ehe zerstört!!!! Hast du denn gar kein Gewissen???“ Yaten schien das relativ kalt zu lassen. Er stand cool an die Theke gelehnt. „Oh tut mir Leid, aber seine Frau hat nun mal Bedürfnisse. Er ist ein Arbeitstier.“ Dass er damit ins Schwarze traf, wusste ich damals natürlich noch nicht. Aber im Moment war da nur meine Wut. „Erzähl mir nichts! Ich glaub nicht dass es dir Leid tut! Aber ich versteh dich nicht...wie auch immer. Viel Spaß mit der Furie.“ So verließ ich wutentbrannt das Lokal und stieg zu Tohma ins Auto. Er weinte und mir zerriss es das Herz. Ich fühlte mich schuldig. „Es tut mir Leid, Tohma…Ich wusste nicht…“ begann ich aber Tohma weinte und ich zog ihn in meinen Arm. Er tat mir Leid aber ich dachte auch weiter. Weinte er um sie? Liebte er sie immer noch? Was war mit mir? Mit uns? Hatten wir beide eine Chance?

„Verzeih mir…“ begann ich. „Wenn ich das gewusst hätte…“

„Schon gut, ich muss es verdrängen.“

„Verarbeiten wäre besser“ antwortete ich. Und dann sagte ich etwas, das ich in diesem Moment ernst meinte, aber ich wusste, es würde mich zerreißen. „Soll ich doch lieber wieder Platz für eine mögliche Rückkehr deiner Frau machen?“ Tohma schüttelte den Kopf. „Nein, ich will sie nicht zurück“
 

Wir fuhren zu Tohma nach Hause und er macht den Vorschlag, dass wir bei ihm kochen und essen könnten. Mir gefiel der Gedanke sehr. Die Atmosphäre wäre sicher viel entspannter. Während er sich ans Werk machte, schaltete ich das Radio ein und ging ihm mit Kleinigkeiten, wie spülen, Tisch decken und abtrocknen zur Hand. Tohma war seit wir in seiner Wohnung waren nicht sehr redseelig, was mir zwar auffiel, mich aber nicht weiter störte. Wir waren zusammen und die Aussicht auf einen gemeinsamen, gemütlichen Abend bestand, was wollte ich mehr? Ich war ohnehin kein Mensch, der viel erwartete, oder verlangte. Ich gab mich mit dem zufrieden, was man mir bot. Tohma sagte mir wieder, dass er mich liebte, bei Gott ich liebte ihn auch und wie ich ihn liebte. Ich zog ihn über mich, das Essen war für mich plötzlich nebensächlich geworden, aber das machte mir nichts, Essen hatte nie einen hohen Stellenwert in meinem Leben gehabt. Mir war es wichtiger bei ihm zu sein und ich hatte das Gefühl nach der Begegnung mit Yaten wäre das auch viel wichtiger als irgendein Fraß. (Auch wenn Tohma gut kochen kann), aber wie gesagt, ich lege keinen großen Wert aufs Essen. Also widmeten wir uns lieber uns.
 

Nach diesem kleinen Stelldichein (das ich natürlich nicht weiter erläutern werde), wärmte Tohma uns das Essen auf. Er hatte mir eine Mordsportion auf den Teller gepackt. Ich wusste, dass ich schlank war, dass ich es aber nötig hätte SOVIEL zu essen, war mir nicht klar, und das wollte ich auch nicht. Von meiner Anorexie hatte ich noch nichts gesagt, und das hatte ich auch nicht vor. Ich wollte nicht, dass Tohma denkt, dass er mit einer Irren zusammen ist.

Dummerweise flüsterte ich den Satz „Ich werde nie wieder magersüchtig“ etwas zu laut und so kam es dann doch dazu, dass ich etwas andeutete. Mich wunderte schon, dass er so cool darauf reagiert hatte, normalerweise war ich es gewohnt in entsetzte Gesichter zu blicken, wenn die Themen sexueller Missbrauch und Anorexia Nervosa auf den Tisch kamen. Bei Tohma hatte ich das Gefühl, er hätte das gar nicht zur Kenntnis genommen und für einen Moment bereute ich es, ihm das erzählt zu haben, andererseits war Ehrlichkeit und Vertrauen in einer Beziehung doch das A und O, oder sah ich das falsch. Fakt war jedoch, dass ich niemals vorhatte Aufmerksamkeit mit meiner Geschichte zu erregen oder im Mittelpunkt zu stehen, denn das hasste ich und das ist auch heute noch der Fall.

Jedenfalls wenn es um negative Dinge in meinem Leben ging.

Doch als ich ihm alles erzählt hatte, von Haku, der ersten Goldmedaille und den Punktrichtern, wich ihm doch die Farbe aus dem Gesicht und er war genauso entsetzt wie alle anderen. Er nahm mich in den Arm und das konnte ich in diesem Moment echt gut gebrauchen.

Ich sagte ihm, dass ich sogar mit dem Gedanken spielte das Eislaufen komplett aufzugeben. Tohma sagte, ich sollte das nicht tun, ich wusste damals noch nicht, dass sich seine Meinung Jahre später radikal ändern würde und was mir damit dann noch bevorstand.
 

Aber erst mal hatte ich andere Sorgen, die sich erst Tage später bemerkbar machen sollten.

Eine Mami?!?

Eines Nacht wurde ich aus einem Albtraum wach. Ich schreckte hoch, schrie und hielt mir keuchend den Brustkorb. Der Traum war so real. Ich spürte, wie ich versuchte mich selbst zu wecken, damit der Traum aufhörte, aber es gelang mir einfach nicht, weswegen ich wahrscheinlich schweißgebadet aus diesem Albtraum aufwachte.

Ich hatte geträumt, dass Haku mich fand, dass er sich an mir rächen wollte, dafür dass ich ihm nun nicht mehr zur Verfügung stand, dafür, dass ich sein Team verließ und nun unter einem anderen Trainer lief, dafür dass ich glücklich war. Für all das wollte er mich bestrafen. Auf seine Art. Auf die Art mit der er mein Leben ruiniert hatte.

Ich erlebte im Traum alles noch einmal nur intensiver – schlimmer. Sodass ich klitschnass geschwitzt und schreiend aufwachte. Ich spürte wie etwas meine Speiseröhre hochkam und ich stürzte ins Bad. Ich nahm schnell meine Haare zusammen und beugte mich über die Toilettenschüssel um mich zu übergeben. Ich bekam nur am Rande mit, wie Tohma hinter mir her stolperte und das war mir alles andere als Recht. Mich zu übergeben war eine Sache, die ich gern – wenn man das so sagen konnte, denn wer übergibt sich schon gern? – alleine tat. Aber Tohma folgte mir und machte sich wohl Sorgen. Während ich kotzend und würgend über der Schüssel hing, brachte ich nur ein „Geht schon“ zu stande. Tohma streichelte mir den Rücken und das passte mir eigentlich gar nicht. „Was ist los mit dir?“ Sah man das nicht?

Ich richtete mich auf und zog die Toilette ab. Meine Beine zitterten und ich hangelte mich zum Waschbecken um mir den Mund auszuspülen und die Zahne zu putzen. Der Geschmack und Geruch von Erbrochenem ist alles andere als angenehm, das muss ich wohl keinem genauer erklären. „Ich weiß es nicht“ antwortete ich auf Tohmas Frage, die schon einige Minuten her war. „Vielleicht zuviel gegessen. Tohma, der hinter mir stand sah besorgt aus. „Möchtest du einen Tee?“ Ich nickte und trocknete mir den Mund ab. Ein Tee war eine gute Idee. Ich ging Richtung Küche. „Geh wieder schlafen Schatz.“ Ich wollte ihn nicht unnötig wach halten. Ein Blick auf die Küchenuhr verriet mir, dass ich mich ein wenig in der Zeit verschätzt hatte. Es war bereits halb sechs Uhr morgens. Nur war es ja Winter und da ist es ja morgens dunkel, als ob es Nacht wäre. Tohma machte schon Anstalten mir den Tee zu kochen. „Ich mach das schon Liebster, ich muss eh bald zum Training.“

„Sicher, dass du das schaffst?“

Ich sah ihn an, während ich mir meine typischen drei Zöpfe aus dem Pferdeschwanz heraus flocht. „Ja sicher, das bisschen übergeben.“

„Wenn was ist, ruf an, ich hol dich dann ab“

War er nicht einfach zum Knuddeln süß? Ich lächelte, nickte und ging ohne Frühstück zum Training. Zwar auch mit Bauchschmerzen, aber diese Bauchschmerzen kamen nicht von meiner Angst vor dem Trainer, sondern von etwas ganz anderem, etwas an das ich gar nicht gedacht hatte, was ich gar nicht in Betracht gezogen hatte.
 

Gut gelaunt wie ich meistens bin kam ich zum Training, begrüßte Matt und begann sofort mit Aufwärmübungen und meiner eigentlichen Kür, die ich begonnen hatte zu trainieren.

Die Umdrehungen allerdings machten mir diesmal – anders wie sonst – etwas aus und mir wurde wieder schlecht.

Ich brach mitten in der Kür ab entschuldigte mich bei Matt zur Toilette. Anders als bei Haku war das kein Problem. Ich übergab mich wieder. Nur Magensäure, ich hatte ja nichts gegessen und plötzlich durchfuhr es mich wie ein Blitz. Ich schreckte hoch und schaffte es irgendwie mich aufzurappeln und meine Schlittschuhe auszuziehen. Ich schlüpfte in meine Turnschuhe und verließ mit meinem Portemonnaie unter dem Arm unbemerkt die Eishalle um in den Drogeriemarkt gleich um die Ecke zu gehen.

Ohne nach links oder rechts zu schauen, überquerte ich die Straße und betrat den Drogeriemarkt. Außer mir war um diese Zeit nur die Verkäuferin im Laden und das war mir sehr recht, denn ich verschwand sofort in die Damenkosmetikabteilung und suchte zwischen Damenbinden und Tampons nach einem Schwangerschaftstest. Ich hatte ziemliches Glück, denn es war nur noch ein einziger Test da. Mechanisch nahm ich die dunkelblaue Packung vom Haken und ging damit zur Kasse. Knappe 750Yen kostete dieses Ding aber das spielte keine Rolle, alles was mir wichtig war, war das Ergebnis und während ich zur Kasse ging und den Test auf das Band legte, überlegte ich wann ich meine letzte Periode hatte und wann die nächste kommen sollte. Die Kassierern musste mich wohl schon einmal angesprochen haben. Sie klang etwas genervt. „742,51¥ bitte!“ „Oh Entschuldigung.“ Ich zahlte und steckte den Test unter meine Trainingsjacke. Dann ging ich schnellen Schrittes zurück zur Halle und zog mich rasch wieder aus. Ich war barfuß und schloss mich auf der Toilette ein um den Test zu machen. Ich las nur oberflächlich die Anleitung des Testes und befolgte die Anweisungen um den Test machen zu können. Nachdem ich auf das komische Stäbchen gepullert hatte, setzte ich mich auf den geschlossenen Toilettendeckel und wartete auf das Ergebnis. Die wenigen Minuten kamen mir vor wie Stunden und als der zweite Streifen auf dem Test erschien, der mir ein positives Ergebnis bescheinigte schaute ich verwirrt und ungläubig auf das abgebildete Symbol auf dem Beipackzettel. Mein Blick wechselte vom Beipackzettel und dem positiven Schwangerschaftstest hin und her und dann kam mir alles vor wie ein schlechter Film. Tausend Gedanken kamen mir in den Sinn. Hatte ich die Pille vergessen einzunehmen, Alkohol getrunken, Antibiotika eingenommen?? All diese Fragen konnte ich mit „Nein“ beantworten. Ich hatte oft gehört, dass es vorkam, dass man trotz Pille schwanger werden konnte aber warum wieder ausgerechnet ich??? Ich setzte mich auf den Boden und brach in Tränen aus. Was sollte ich denn jetzt machen?? Diese Schwangerschaft war nicht geplant, aber was war, wenn Tohma das dachte? Was war, wenn er meinte, dass es mein Ziel war schwanger zu werden um eine satte Unterhaltszahlung zu kassieren? Ein Kind von Tohma Seguchi – welche Frau wollte das denn bitte nicht? Ich! Jedenfalls jetzt noch nicht. Ich war erst 25. Was war mit meiner Karriere? Wollte ich das Kind überhaupt behalten? Konnte ich es wegmachen lassen? Es töten und diese Schuld dann mein Leben lang mit mir herumtragen? Wäre ich eine gute Mutter?? Würde Tohma mich jetzt immer noch lieben? Oder würde er mich verlassen, weil ein uneheliches Kind seinem Image schadete? All diese Fragen und noch viele mehr rasten durch meinen Kopf und so merkte ich nicht, dass ich schon über eine Stunde weg war. Logischerweise bemerkte Matt meine Abwesenheit und so hörte ich seine Stimme. „Kimiko? Hey mach auf Kleines“ Seine Stimme klang besorgt und so sprang ich auf, wusch mein Gesicht und kam aus der Toilette. Ich muss weiß wie die Wand gewesen sein, oder grün ich weiß es nicht. Jedenfalls lächelte ich und ließ mir nichts anmerken. Dachte ich. Aber Matt war nicht blöd. Er nahm mich in den Arm. Aber er tat es auf eine freundschaftliche Art. Nichts was meine Alarmglocken klingeln lassen müsste, oder was mir unangenehm war. „Du hast geweint, was ist los?“ Ich klammerte an meinem Trainer wie ein kleines Kind. „Herr Yoshida…ich…“ Ich brachte die Worte kaum über die Lippen und flüsterte fast unhörbar. „Ich…Ich bin schwanger…Gott…“ Mir kam es vor, als kämen die Worte nicht aus meinem Mund, sondern aus dem einer anderen. Ich kam damit überhaupt nicht zurecht. Ich und Mutter sein? Das war zu dem Zeitpunkt für mich unvorstellbar. Ganz zu Schweigen von der Vorstellung Tohma die „frohe Botschaft“ zu überbringen. Matt reagierte sehr einfühlsam auf mein Megaproblem. Seine Stimme war sanft, aber keineswegs schleimig. Nicht wie bei Haku. „Hey, was ist so schlimm daran?“ Das hatte er doch jetzt nicht echt gefragt oder? Weinend legte ich die Hände vor mein Gesicht und nuschelte Matt meine Sorgen zu. Dass die beiden sich ewig kannten, bedachte ich nicht. Matt versuchte einfühlsam meine Gedanken und meine Angst zu zerstreuen indem er mir Mut zusprach und mich für den Rest des Tages vom Training befreite. Ich hatte ohnehin keinen Kopf dafür mich aufs Training zu konzentrieren. Matt war sogar so lieb und fuhr mich nach Hause und den ganzen Weg über dachte ich darüber nach, wie ich Tohma sagen sollte, dass wir ein Kind erwarteten.
 

Obwohl ich einen Schlüssel hatte, klingelte ich. Ich wusste, ich würde den Schlüssel nicht ins Schloss stecken und umdrehen, Tohma hingegen würde so schnell an der Tür sein, dass ich keine Chance hätte mich zu drücken. Natürlich öffnete er mir und war sichtlich verwundert, dass ich so früh wieder da war. Er dachte sicher, es sei irgendwas passiert, immerhin sah man mir deutlich an, dass ich mir die Augen aus dem Kopf geweint hatte. Mir kam es so vor, als schwang Verwunderung und ein wenig Misstrauen, sowohl in Tohmas Gesicht, als auch in seiner Stimme mit. „So früh daheim?“ Ich nickte, blieb auf Distanz, stellte meine Schlittschuhe in die Ecke und sah ihn an, bereit die Karten gleich auf den Tisch zu legen. „Ich muss mit dir reden.“ Ich klammerte an ihm, warum ich das tat, weiß ich nicht mehr, vielleicht war das so ein Reflex. Ich wollte ihn festhalten, damit er nicht gleich aus der Tür stürzte und mich mit meinem „Problem“ alleine zurückließ. „Bitte Tohma, denk nichts falsches, oder gar schlechtes von mir, ich wollte die nie ausnutzen!“ Seiner Verwunderung wich Verständnislosigkeit. Er war völlig ruhig, jedenfalls machte er nach Außen hin diesen Eindruck. „Warum sollte ich das denn denken? Beruhig dich bitte.“ Seine Stimme beruhigte mich nur unwesentlich. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen und flüsterte ähnlich wie bei Matt dass ich schwanger bin.
 

Seine Reaktion war jenseits von allem, was ich erwartet hatte. Er strahlte wie ein besoffener Mond und trat dann hinter mich um mich zu umarmen. Dabei legte er mir die Arme um den Bauch, ich schätze, dass das ganz bewusst war. „Na und? Dann sind wir eben bald zu dritt.“ Ich hatte mit allem gerechnet. Damit, dass er mich anfuhr, dass er mich links liegen ließ, ja sogar damit, dass er einfach ging, aber nicht DAMIT. Ich fror und sah ihn verweint an. „Du bist nicht sauer und denkst ich wollte dich nur ausnutzen?“ Er lächelte – Nein – es war kein Lächeln. Es war ein Strahlen.

Er zog mich an sich und legte den Kopf auf meine Schulter. „Da ich weiß das dies nicht der Fall ist bin ich nicht sauer. Außerdem finde ich kann das Kind nichts dazu es wird ja nicht gefragt gezeugt zu werden. Ich liebe Kinder und dich und das Kind kriege ich auch noch groß.“ So einfach war das für ihn? Und ich blöde Kuh mache mir so einen Kopf. In diesem Moment kam ich mir wirklich mehr als dämlich vor.
 

Alle meine Sorgen waren mit einem Mal weggewischt. Nun freute ich mich auf unser Baby und unsere kleine Familie. Meine Welt war wieder völlig in Ordnung. Ich schwebte auf rosa Wolken. Noch…

Irgendwas ist immer

Einige Tage vergingen, in denen Tohma und ich um die Wette strahlten. Ich war so unglaublich glücklich. Wir gingen gemeinsam zu den Arztterminen und selbst wenn wir Mika begegneten, die kaum eine Gelegenheit ausließ um uns das Leben zu vermiesen, ließen Tohma und ich uns nicht beirren und genossen weiter die Vorfreude auf unser erstes gemeinsames Kind.
 

Als wir von einem Arzttermin kamen, bei dem alles in Ordnung war, war ich von Mika mehr als genervt. Ich wollte nur noch duschen und mit Tohma den Tag in aller Ruhe ausklingen lassen.
 

Da ich sowieso ein wenig fror und meine Fingernägel bereits blau angelaufen waren, dachte ich eine heiße Dusche sei genau das Richtige für mich. Also zog ich zuhause angekommen die Schuhe aus und ging ins Bad, wo ich mich auch meiner restlichen Kleidung entledigte. Oh Mann, wie ich mich auf diese heiße Entspannung freute. Also schlüpfte ich schnell unter die Brause und drehte das heiße Wasser auf.

Ich duschte mich also wie immer und achtete auch nicht groß auf meine Füße. Während ich mir den Kopf ein shampoonierte, rutschte ich aus und fiel.

Ich merkte, dass ich mit dem Kopf auf den Wannenrand knallte und um mich herum wurde es schwarz.
 

Tohma erzählte mir nachher was passiert war.

Ich war gestürzt, hatte mir den Kopf schwer angeschlagen und mir so eine Platzwunde zugezogen. Das war noch nicht das seltsamste, was Tohma mir erzählte. Gut ich war gestürzt, das war eine Sache. Aber das Dumme an der Sache war, dass ich auf der Seite des Abflusses gestürzt war. Meine langen und dichten Haare verstopften den Abfluss und das Wasser lief natürlich kontinuierlich weiter. Das muss eine ziemliche Weile gedauert haben, denn mein Kopf lag bereits unter Wasser, als Tohma eher durch Zufall ins Bad kam. Er war es natürlich, der mich aus der volllaufenden Badewanne holte und mich so vor dem Ertrinken bewahrte.
 

Als ich zu mir kam, lag ich im Wohnzimmer auf der Couch. Ich hatte unheimliche Kopfschmerzen. Tohma lief hektisch hin und her. Telefonierte. Ich legte die Hand an meinen schmerzenden Hinterkopf. „Was ist passiert?“

Ich bemerkte, dass ich Blut an der Hand hatte. Autsch! Tohma küsste mich nochmal kurz und dann klingelte es. „Ich hab mich langgelegt…

Ich kannte Tohma mittlerweile. Ich wusste wer geklingelt hatte und Tatsache. Ein Sanitäter kam mit einem großen Koffer auf mich zu und ich ließ mich – eigentlich widerwillig – untersuchen. Wobei ich durch die Schwangerschaft ohnehin vorsichtiger und wie ich auch sagen muss einsichtiger geworden bin.

Also ließ ich die Untersuchung mit höllischen Kopfschmerzen über mich ergehen, dabei wollte ich eigentlich einfach nur meine Ruhe haben.

Der Arzt stellte eine Platzwunde – wie kam, er bloß DARAUF? – und eine Gehirnerschütterung fest. Offenbar hatte ich auch etwas Wasser geschluckt. Das war aber echt nicht weiter tragisch. Das Problem an der Sache war: Tohma hatte damals einen leichten Hang zur Übertreibung.
 

Obwohl es mir weiß Gott nicht gut ging, konnte ich mir meinen Humor nicht verkneifen.

„ich bin zu blöd zum Duschen“ bemerkte ich lächelnd und stand auf.

Tohma meinte ich solle noch liegen bleiben.

„Ich brauche noch eine Kopfschmerztablette“ mopperte ich und Tohma hatte nichts besseres zu tun, als mich zu bedienen und ich hasste es bedient zu werden, das machte ich ihm auch deutlich klar.
 

Etwa zehn Minuten später klingelte mein Handy. Es war mein Vater. Dass er mich anrief freute mich aber an seiner Stimme hörte ich, dass er Sorgen hatte und ich stellte mir die Sorgenfalten in seinem Gesicht bildlich vor. Ich kannte diesen Gesichtsausdruck, ich hatte meinen Eltern schon viele Sorgen bereitet.

Ich fragte natürlich nach und nach kurzem Zögern erklärte er mir, dass er und meine Mutter derzeit eine, wie er es nannte „schwierige Phase“ hatten und meine Mutter ausgezogen war. Eine schwierige Phase? Das klang nach ernsten Problemen. Ich machte mir ernste Gedanken um meine Eltern und das war mit meinem dicken Kopf trotz Tablette gar nicht so einfach. Doch dann schlug meine Sorge plötzlich in Wut um. Durch die Schwangerschaft litt ich unter Stimmungsschwankungen und die ließ ich nun an meinem armen Vater aus. Ich fauchte ihn an, was denn nun schon wieder los sei, als ob ich ständig Streitereien mitbekommen hatte, was natürlich nicht wahr war, denn die Ehe meiner Eltern schien mir immer harmonisch gewesen zu sein. Natürlich weiß ich heute, dass keine Ehe immer nur unter rosaroten Wolken steht, aber ich hatte echt überreagiert. Ich sagte meinem Vater allerdings nicht, dass er Großvater wurde, sondern nur, dass ich im Bad gestürzt war und mir den Kopf gestoßen hatte, ich wollte meinem Vater nicht noch mehr Sorgen bereiten, das hätte er in seiner derzeitigen Situation nicht gebrauchen können und das war mir trotz meiner Wut bewusst und ich versuchte mein Temperament zu zügeln.

Meine Stimmung schlug aber im nächsten Moment wieder schlagartig um. Ich fing plötzlich an zu weinen. Die ganze Situation wuchs mir über den Kopf. Mir wurde klar, dass ich sehr egoistisch gewesen bin. Ich war so glücklich mit Tohma und über unser Kind, dass ich meine Familie – und auch meine Freunde – völlig vernachlässigt hatte und ich schämte mich dafür. Meine Familie hat alles für mich getan, ohne sie wäre ich jetzt wahrscheinlich tot und könnte nicht über mein Leben berichten. Mein Vater hatte natürlich Verständnis für mich und obwohl ich mir viele Gedanken machte, schaffte es Tohma mich liebevoll abzulenken.

Zu dritt

In den darauffolgenden Monaten hatten Tohma und ich alle Hände voll zu tun. Wir beschlossen meine Wohnung zu kündigen und in Tohmas alte Wohnung zu ziehen. Ich wollte das noch erledigen, solange ich noch keine große Kugel vor mir her trug und noch mit anpacken konnte. Ich war richtig glücklich. Wir erwarteten ein Baby und wohnten nun auch zusammen. Ich gab mir größte Mühe eine gute Hausfrau zu sein. Ich putzte und dekorierte und Tohma gab sich viel Mühe mit dem Kinderzimmer. Ich wusste mittlerweile, dass ich ein Mädchen unter dem Herzen trug und ich zerbrach mir Tag für Tag den Kopf nach einem Namen. Mit Tohma hatte ich wenig darüber gesprochen, er hatte viel zu tun mit dem Umzug und der Arbeit, da wollte ich ihn nicht damit belasten. Ich hatte ja auch noch Zeit bis zum Stichtag.
 

Über die Namensfrage musste ich mir schneller Gedanken machen, als es mir und wahrscheinlich auch Tohma lieb war, denn eines Nachts erwachte ich mit Schmerzen und ich musste mal. Also stand ich leise auf und ging ins Bad. Kaum hatte ich die Badezimmertür hinter mir geschlossen, spürte ich etwas wie einen Ruck und zwischen meinen Beinen wurde es nass. Zunächst war ich irritiert, allerdings wurde mir relativ schnell klar, dass meine Fruchtblase geplatzt war. Ach du Schreck, was sollte ich denn jetzt machen? Alles was mir in dem Moment einfiel, war, die Sauerei wegzuwischen, mich zu waschen und frische Sachen anzuziehen aber die Wehen setzten ein. Ich bekam Panik. Das konnte doch gar nicht so schnell gehen. Keuchend hockte ich auf dem Badezimmerboden, aber ich wollte mein Kind doch nicht zwischen der Klobürste und Bodylotion zur Welt bringen. Tohma kam gähnend ins Bad, „Was ist denn los Schatz?“ brachte er gähnend hervor und ich presste ein „Ich glaube es geht los....“ heraus. Tohma war schlagartig wach und zog sich an. Er wollte mich fahren. Im Auto kam Tohma mir mit Sprüchen, die ich wirklich nicht gebrauchen konnte. Ich sollte atmen. Was sollte das denn? Ich hatte garantiert nicht die Luft angehalten und ich fragte mich ob er das nun nur als irgendwelchen Filmen aufgeschnappt hatte, oder ob er das seiner Ex Frau auch schon gesagt hatte. Er sollte einfach nur die Klappe halten und fahren. Männer!! Nur Männer konnten mit so blöden Sprüchen kommen. Das konnte ja heiter werden.
 

Im Krankenhaus angekommen war die Krankenschwester an der Information relativ ruhig. Ob die Fruchtblase schon geplatzt sei. Nein natürlich nicht, deswegen war meine Hose auch wieder nass. Ich hatte für einen kurzen Moment auf den Lippen: „Nein ich hab Pipi in die Hose gemacht.“ Aber in dem Moment hatte ich echt anderes im Kopf als mit einem Spruch zu kontern.

Die Krankenschwester verfrachtete mich in eine Art Rollstuhl und schob mich mit den Worten „Geplatzte Fruchtblase“ in die gynäkologische Abteilung. Zu meiner Verwunderung stand schon ein Arzt da und der konnte sich auch noch an mich erinnern. Ich konnte das nicht mehr. Ich wusste nicht woher der Arzt mich kannte, aber obwohl mir das eigentlich egal war, dachte ich schon darüber nach.

Viel Zeit blieb mir dafür nicht. Ich wurde in den Kreißsaal gebracht, ausgezogen und auf eine Liege gelegt. Tohma platzierte sich hinter mir und der Arzt und die Schwester bereiteten sich auf die bevorstehende Entbindung vor, schlossen mich am CTG an und jagten mir eine Nadel durch die Hand. Allein dafür hätte ich die Schwester leicht wegtreten können. Ich hatte Schmerzen, wollte das alles hinter mich bringen und alles was vom Arzt kam war „Versuchen Sie sich zu entspannen.“ Ich hatte das Bedürfnis ihn wegzutreten. „Auf sowas können nur Männer kommen!“ keuchte ich. Alles ging rasend schnell. Ich musste bald anfangen zu pressen. Oh mein Gott!!!! Wie sollte ich das Kind denn hier rauskriegen? Ich musste an den Spruch denken, den ich in einem amerikanischen Film gehört hatte, denken. „Versuchen Sie mal was von der Größe einer Wassermelone aus einer Öffnung so groß wie eine Zitrone zu pressen.“ Ich zerquetschte Tohmas Hand, das schien ihn aber nicht groß zu stören.

Der Arzt und auch Tohma meinten, ich würde das toll machen. Toll?? Naja.
 

Dann ging alles ganz fix. Ich presste einmal fest und Schwupps, war die kleine da.

Sie schrie natürlich und ich war fertig mit der Welt.

Nur am Rande bekam ich mit, dass Tohma die Nabelschnur durchschnitt und ich fragte ihn, ob er sich über einen Namen Gedanken gemacht hatte.

Unsere erste gemeinsame Tochter sollte Sakura (Kirschblüte) heißen. Sie kam etwas zu früh am 14. Juni um genau 3:33Uhr zur Welt.

Sakura


 

 

Nun war ich Mutter.

Ich konnte es gar nicht fassen. Viele Frauen hatten womöglich den Traum ein Kind von Tohma Seguchi zu bekommen und ich, eine Eiskunstläuferin mit beschissener Vergangenheit und einer ganz normalen Familie war sozusagen die „Auserwählte“.

Ich war so groggy von der Geburt, ich wollte einfach nur schlafen.

Und ich war glücklich.

Ich wollte immer Mutter werden, so wie jedes Mädchen heiraten und Kinder bekommen wollte. Und nun war es soweit.

Die kleine war da.

 

Ich wurde von den Geräten abgestöpselt und beobachtete Tohma, der die Kleine im  Arm trug. „Ich bin glücklich, dir ein Kind geschenkt zu haben..“ sagte ich müde. Er küsste mich und erwiderte „Und ich bin glücklich dich zu haben.“ Dieser Satz verstärkte mein Glück noch mehr. Müde schloss ich die Augen und Tohma meinte, es sei besser, wenn ich mich ausruhe, das hielt ich für eine gute Idee. Dennoch streckte ich die Arme nach der Kleinen aus „Darf ich sie auch mal halten?“ Hallo?? Warum fragte  ich eigentlich? Schließlich hatte ich sie zur Welt gebracht. Tohma legte mir den winzigen Säugling in die Arme. „Sie ist wunderschön“ murmelte ich. Klar sie war mittlerweile sauber, es gab auch Mütter, die ihre Kinder sofort in die Arme gelegt bekamen, ich nicht. Ich bekam ein Baby ohne Käseschmiere und Blut auf der Haut. Sie war zwar noch etwas zerknautscht, aber dennoch fand ich sie war das Schönste Mädchen der Welt. Tohma meinte, sie sei genauso schön wie ich. Klar, ich muss ausgesehen haben, als sei ich gerade aus einer Gruft gekommen aber er meinte ich sei schön. Naja das sei mal dahin gestellt, wie schön oder unschön eine Frau nach einer Entbindung aussieht.

 

Der Arzt trat an meine Seite und beglückwünschte uns als frisch gebackene Eltern. Ich hätte platzen können vor Glück und Stolz. Die Gedanken, die ich hatte, als ich von meiner Schwangerschaft erfahren hatte, die Schmerzen, alles schien vergessen, wobei ich sagen muss, dass ich keine großen Schmerzen hatte, trotz, oder weil die Geburt so blitzschnell ging. Vielleicht war ich mir dessen auch einfach nicht bewusst.

Der Arzt meinte unsere kleine Sakura ist kerngesund und wir könnten das Wochenbett schon morgen verlassen und auf Station verlegt werden. Ich wäre herumgesprungen wenn ich gekonnt hätte aber das konnte ich nicht. Ich bat Tohma darum mir die Tasche zu bringen. Ich hatte sie schon vorher gepackt und in der Eile im Schlafzimmer stehen lassen. Er nickte und küsste mich noch einmai.

Tohmas Handy vibrierte, er hatte eine Nachricht bekommen, tippte auch, verließ aber kurz darauf den Kreißsaal, ich schätze um zu telefonieren. Und ich weiß bis heute nicht wer dran war, wobei ich mir das denken konnte. Eiri….

 

 

Als Tohma wieder rein kam, war ich gerade dabei, Sakura zu füttern. Ich wollte von Anfang an stillen, aber meine Brust tat so weh, dass die Schwester die Muttermilch abpumpte und in eine Flasche abfüllte. Ich war dankbar, dass er kam, denn ich musste dringend zur Toilette und gab Tohma seine Tochter, damit er weitermachen konnte.

Ich brauchte offensichtlich ziemlich lange, denn als ich wieder kam, war Sakura schon fertig mit Essen. Sie lag gerade auf Tohmas Schulter fürs Bäuerchen. Ich hätte das zu gern fotografiert. Sie lag mit ihrem Köpfchen seitlich auf Tohmas Schulter, machte ein Bäuerchen und spuckte. Tohma interessierte das nicht weiter. Muss feucht gewesen sein.

„Entschuldige bitte, sie hat dich vollgesabbert“ sagte ich lächelnd, während ich das Spucktuch holte und diesem Moment ging die Tür auf und Mika schneite herein. Woher sie wiedermal wusste was los war, war mir ein Rätsel. Erst im Nachhinein glaube ich, dass sie in Tohmas Firma angerufen hatte, oder mit ihrem Bruder Eiri telefoniert hatte. Tohma würdigte die Brünette nur eines kurzen Blickes, bevor er sie aus dem Zimmer beförderte und ihr folgte.

Sie wechselten ein paar leise Worte draußen, die ich nicht verstehen konnte, es war mir auch egal, ich hatte nur Augen für Sakura.

Mika kam vor Tohma zurück ins Zimmer und begrüßte mich freundlich. Etwas zu freundlich für meinen Geschmack. Ich war misstrauisch, und gab Sakura zu Tohma.

Sie hatte einen hübschen Blumenstrauß bei sich, den sie mir überreichte und für den Bruchteil einer Sekunde, war mein Misstrauen verschwunden – bis ich den Strauß in Händen hatte. Ich spürte ein Brennen und kurz darauf eine heiße Flüssigkeit zwischen meinen Fingern hindurchlaufen. Ich zog meine Hände aus dem Strauß zurück und warf die Waffe mit dem Wort „Heuchlerin“, das ich ihr fast entgegenspuckte, zu Boden. Mika verschwand und ich sah auf meine Hände die Blutüberströmt waren. Zunächst war mir die Herkunft meines eigenen Blutes unerklärlich aber als ich den Schmerz spürte, brachte ich das sofort mit diesem Strauß in Verbindung. Dieses Dreckstück hatte diesen so hübschen Blumenstrauß mit Rasierklingen, oder was auch immer für Klingen gespickt. Mein Hass wuchs. Wobei – es war kein Hass – es war eher Unverständnis  darüber wie ein Mensch so sein kann. „Kann sie sich doch denken, hat ja genug durchgemacht“ werden einige vielleicht denken, aber trotz meines Misstrauens war ich ein gutgläubiger Mensch.

            Mika hatte sich natürlich aus dem Staub gemacht und Tohma seinerseits rasend vor Wut – es aber versteckend – eine Krankenschwester gerufen, die meine Wunden säuberte und mir Verbände um die Hände wickelte. Er redete kurz, leise aber bestimmend mit ihr. Ich gehe davon aus, dass er der Schwester sagte, dass diese Frau sich dem Krankenzimmer, geschweigedenn der Säuglingsstation nähern dürfte, und sollte seine Anweisung nicht Folge geleistet werden, er dafür sorgen könne, dass das gesamte Personal sich das Geld für ihr Essen erbetteln müsste.

 

Kurz darauf kam die Schwester erneut rein, die Besuchszeit war beendet und Tohma musste gehen. Ich verabschiedete mich und machte erst die Kleine, dann mich selbst für Nacht frisch. Ich war froh zur Ruhe zu kommen und wollte nur schlafen. Ich hoffte, Sakura würde die Nacht ruhig durchschlafen. Aber was ich mir viel sehnlichster wünschte war, dass Tohma nicht zu Mika fahren würde, um sie für den Strauß-Anschlag zur Rechenschaft zu ziehen, wobei mein Instinkt mir sagte, dass diese Hoffnung hoffnungslos war, mittlerweile kannte ich Tohma ja auch schon ein bisschen um zu wissen, dass er das nicht einfach auf sich sitzen lassen würde.

 

Was genau in Mikas Wohnung passiert ist, weiß ich nicht, ich kann es nur aus dem wiedergeben, was Tohma mir erzählt hatte. Sie hat versucht ihn zu verführen, mich ihm auszureden, aber soweit ich weiß, ist er ihr gegenüber standhaft gewesen, wie standhaft erfuhr ich erst später. Ich sollte vorher noch die Bekanntschaft eines sehr unangenehmen Zeitgenossen machen…..

Yuki Kitazawa

Nachts hatte ich Sakura noch einmal gefüttert nachdem ich von ihrem kleinen gemopper aufgewacht war. Sie schrie nicht, sie schrie eigentlich überhaupt nicht, auch in der kommenden Zeit, oft ging ich zu ihr wenn sie schlief, um zu kontrollieren, ob sie überhaupt noch atmete. Ich nahm den Säugling aus seinem Bettchen und gab ihr die Flasche. Die Krankenschwester hatte mir alles was ich brauchte bereitgestellt und mir erklärt wie ich dies und jenes zu machen hatte. Ich wollte Sakura unbedingt bei mir haben – ständig. Nicht nur um die Krankenschwestern zu entlasten, sondern auch um die Bindung zu meinem Baby so weit zu vertiefen wie möglich. Oft legte ich sie nachts auch auf meine Brust, wenn sie nicht schlafen konnte und schon schlummerte das kleine Wesen seelig und ruhig atmend bei mir ein. Ich war so überwältigt von meinen Muttergefühlen und die Zweifel, die ich in meiner Schwangerschaft hatte, ob ich überhaupt eine gute Mutter sein könnte, waren so, als ob sie nie dagewesen wären.

Ich saß nun also mit dem Baby im Arm in einem Stuhl und während ich sie fütterte, lauschte ich auf jedes Geräusch auf dem Flur. So hörte ich auch die Schritte, die sich schnell, aber leise meiner Zimmertür näherten.

Ich blickte auf und tatsächlich wurde der Türknauf umgedreht und ein großer und breitschultriger Mann betrat das Zimmer. Ich kannte ihn nicht und es war kein Arzt oder Krankenpfleger. Er sprach perfektes Englisch, obwohl er japaner war und das wunderte mich schon ein wenig. Mit ruhiger Stimme warf er mir ein „Good Evening little Lady“ entgegen. Irgendwas in seiner Stimme beunruhigte mich. Ich weiß nicht warum aber trotz, dass ich sein Kommen bemerkt hatte, erschreckte ich mich fürchterlich und ließ das Fläschchen fallen. Zum Glück war diese Flasche keine meiner eigenen, denn ich hatte Glasfläschchen gekauft und so zerbarst sie auch nicht. Im Nachhinein wünschte ich dass ich die Glasflasche benutzt hätte, denn ihr zerbersten auf dem Linoleumboden hätte das Krankenhauspersonal auf mich aufmerksam gemacht. Ich sah also wieder zu dem Mann. „Gott haben Sie mich erschreckt. Wer sind Sie?“ Er brachte ein knappes und nicht ernst gemeintes „Sorry“ über die Lippen und kam auf mich zu. Ich fragte ihn erneut wer er ist aber er meinte sein Name täte nichts zu Sache und dann wollte er mir das Kind aus den Armen nehmen. Ich zog Sakura rasch zurück und fauchte ihn an er solle ja die Hände von meinem Kind nehmen! Ich war eine richtige Furie, denn ich spürte, dass dieser Mann nichts Gutes im Schilde führte und ich wollte Sakura instinktiv schützen. Er nahm  sie mir aber dennoch aus den Armen und legte sie behutsam in ihr Bettchen. Ich für meinen Teil ging einen Schritt zurück. „Immer Vorsicht. Du willst doch nicht, dass Tohma was passiert oder?“ Ich wurde aufmerksam. „Sie kennen Tohma? Sagen Sie mir auf der Stelle wer Sie sind, verdammt nochmal!“ Ich hätte schreien, um Hilfe rufen können aber mit der Information, dass er Tohma etwas antat, wenn ich nicht die Füße still hielt, war ich gezwungen ruhig zu sein. Ich kannte diesen Mann nicht, konnte ihn nicht einschätzen und wusste nicht wozu er fähig war. Womöglich hatte er irgendjemanden, der bei Tohma war, und wirklich in der Lage ihm etwas anzutun, wenn er den Befehl dazu bekommen würde. Der Mann ging um mich herum wie ein Raubtier um seine Beute und das kam mir von Haku so bekannt vor, dass ich Panik bekam. „Unglaublicher Körper“ hauchte er und ich konnte mir einen frechen Spruch nicht verkneifen. „Machen Sie Sport, dann bekommen Sie auch so einen Körper.“ Noch wägte ich mich in einer relativ sicheren Situation, ich glaubte, ich hätte sie im Griff, doch plötzlich packte mich der Mann und drückte mich auf das Bett.

„Shut up girl!“ fuhr er mich an und drohte mir, es würde mir schlecht ergehen, wenn ich schreien würde. Erst in diesem Moment war mir klar, was er vorhatte und in mir steig die Panik auf. Trotzdem fragte ich was er von mir wollte, obwohl ich es genau wusste. Ich find an zu betteln. „Nein...bitte...bitte nicht, ich tue alles aber tun Sie mir das nicht an!“ Er fing an die Hand unter mein Hemdchen zu schieben und ich griff ihm instinktiv in die Hände. „Ich habe gerade entbunden das können Sie nicht machen!“ ich hoffte er ließe dann von mir ab, aber das schien ihn nur noch mehr aufzugeilen. Dieser Typ kannte kein Erbarmen. Er packte meine Hände mit der einen Hand, mit der anderen zog er mich aus und drang gewaltsam ein.

Der Schmerz der durch meinen Körper fuhr war grausamer als alles was ich bisher an Schmerzen erfahren hatte. Ich dachte mein Körper würde von innen zerrissen. Lichtpunkte tanzten vor meinen Augen, ich hatte das Gefühl dass mein Gehirn die Information an mein Schmerzzentrum so schnell nicht verarbeiten konnte. Es fällt mir schwer diesen Schmerz in Worte zu fassen und zu beschreiben aber es war das schlimmste was ich bisher erlebt hatte und ich hatte einiges erlebt. Man darf hierbei nicht vergessen, dass ich gerade frisch entbunden hatte, mein Körper war sensibilisiert und geschwächt. Für einen Moment dachte ich, dass ich während er sich brutal an mir verging das Bewusstsein verlieren würde. Mein Kreislauf schien im Keller zu sein, ich hatte Schwierigkeiten zu atmen und meinen Körper so mit Sauerstoff zu versorgen. Ich hatte mir gewünscht, dass ich das Bewusstsein verlieren würde, aber nur für eine Zehntelsekunde, denn mir schoss in den Kopf, dass Sakura, die immer noch mit uns im Zimmer war, ihm dann hilflos ausgeliefert sein würde, wenn ich das Bewusstsein verlor. Ich konnte nicht einschätzen was er ihr möglicherweise antun würde, ich musste sie beschützen!

Die Tränen liefen mir haltlos über die Wangen, aber ihn interessierte es nicht, im Gegenteil, es gefiel ihm sehr, wie machtlos ich war.

Irgendwann kam er in mir.

Ich stieß ihn von mir und sprang auf.

Ich musste mich übergeben.

Hätte er in diesem Moment nicht von mir abgelassen, ich glaube, ich hätte ihm den wenigen Mageninhalt entgegengespuckt.

Immer noch hatte ich das Gefühl, als sei alles nur ein böser Traum. Ich kam von der Toilette, zog mich an und nahm Sakura aus dem Bettchen. Weinend presste ich das kleine Menschlein an mich. Sie gab mir soviel Kraft. Nicht nur in dieser Nacht, auch in den weiteren Jahren unseres Lebens.

Der Mann verließ sichtlich zufrieden den Raum und ich blieb mit meinem Säugling zurück. Ich wiegte Sakura wieder in den Schlaf und legte sie zurück in ihr Bettchen. Dann nahm ich wie in Trance mein Handy aus der Schublade meines Nachtschränkchens und wählte Tohmas Nummer.

Erst als ich mich aufs Bett setzte, merkte ich, dass etwas zwischen meinen Beinen feucht klebte.

Ich blutete….und das nicht gerade wenig.

 

Es dauerte eine gefühlte halbe Ewigkeit bis ich am anderen Ende der Leitung die rettende Stimme meines geliebten Tohma hörte. Ich war nicht in der Lage viel zu sagen, alles was ich hauchend zu Stande brachte war sein Name.

Spurensuche

Ich wusste ziemlich genau was ich tat und was ich hätte besser nicht tun sollen.

Nachdem der Kerl gegangen war, ging ich unter Schmerzen ins Bad und stellte mich unter die Dusche. Ich wusch mich und zerstörte damit sämtliche Spuren. Ich war mir dessen sehr bewusst, aber es war mir egal. Ich wollte ihn nur von mir abwaschen. Aber dazu war ich nicht in der Lage. Ich rutschte an den Kacheln herunter und weinte bitterlich. Nicht dass es was gebracht hätte, aber ich konnte nicht anders.

Ich fasste mich aber relativ schnell und stand auf. Ich musste stark bleiben – für meine Tochter.

Also wusch ich mich fertig, zog mir einen Bademantel über und verließ das Bad. Tohma war inzwischen eingetroffen. Er stürmte zu mir und nahm mich fest in den Arm. Er murmelte ständig, dass es seine Schuld sei und es ihm leid täte. Ich verstand rein gar nichts von dem was er stammelte. Ich reagierte nicht, erst eine Weile später legte ich meine Arme um ihn und krallte mich in seinen Mantel. Immer wieder entschuldigte er sich und ich begriff nicht warum. Was hatte er denn damit zu tun?

Das fragte ich ihn auch und er erklärte mir dann was Sache war.

Mika dieses kleine Biest und dieser Yuki kannten sich, woher wusste ich zunächst nicht, aber das spielte auch keine Rolle. Tohma erzählte mir mehr oder weniger ruhig, dass er zu ihr gegangen ist. Er wollte sie für das Blumenstraßattentat zur Rede stellen. Er bekam jedoch nur halbherzige Antworten und dann versuchte sie ihn zu verführen. Sie erpresste ihn. Würde er nicht spuren, würde sie dafür sorgen, dass Yuki mir sehr wehtat. Ich schluckte, ich hatte das Gefühl ich konnte ihn immer noch in jeder Pore meiner Haut riechen. Sie tat alles um sich dafür zu rächen, dass Tohma sie angeblich meinetwegen verlassen hatte. Dabei war das gar nicht meine Schuld. Der Raffzahn selbst war für diese Trennung verantwortlich.

Ich wollte mir nicht weiter anhören, was Tohma und Mika taten, er selbst erzählte mir nicht die ganze Wahrheit, wie ich später erfahren sollte, aber glauben Sie mir, das war mir in diesem Moment so dermaßen egal. Viel wichtiger war, dass Tohma jetzt bei mir war.

Sakura knötterte ein wenig und so löste ich mich von Tohma und ging zu ihr ans Bettchen. Ich steckte ihr den Schnuller wieder in den Mund, den sie ausgespuckt hatte. Mein ganzer Unterleib brannte wie Feuer, ich musste mich beherrschen nicht umzukippen. Das hätte jetzt auch noch gefehlt.

Das Blut, das mir zwischen den Beinen in einem Rinnsal hinab lief bemerkte ich erst, als Tohma bemerkte, dass es besser sei, wenn sich das ein Arzt ansehe. Ich schloss die Augen. „Ich habe Angst“ flüsterte ich. Ich hätte keine Angst zu haben brauchen, aber daran dachte ich gar nicht. Ich hatte ja auch angenommen, dass ich in einem Krankenhaus sicher sein würde, und dass niemand einfach so mir-nichts-dir-nichts in mein Zimmer kommen und mich brutal vergewaltigen könnte. Das wievielte Mal war das denn inzwischen? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich glaube, wenn mich bei einer Anzeige – sollte es jemals so weit kommen – fragen würde, wie oft ich insgesamt vergewaltigt wurde, ich könnte keine konkrete Antwort darauf geben. Was spielte das auch für eine Rolle? Warum stellte ich mich eigentlich so an?

Plötzlich kam mir ein mehr oder weniger absurder Gedanke. Ich meine keiner der Männer, die sich bisher an mir vergangen haben, haben mir irgendetwas bedeutet. In keinster Weise, selbst wenn ich wie mit Haku mit ihnen zu tun hatte. Also warum konnten sie mich so verletzen? Konnten sie das überhaupt? Je öfter sich Haku an mir vergangen hatte, desto mehr hatte ich mich – wie ich bereits erwähnte – daran gewöhnt, dass man sich nahm was man wollte und mich dann wegwarf.

Man wollte im Prinzip nur meinen Körper, meine Seele war denen doch völlig egal also warum ließ ich das alles überhaupt zu?

Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl stark zu sein, nicht weil ich es musste, nein, weil ich es wollte! Sollte sich Yuki doch über seinen kleinen Triumph freuen. Ich war wie Bambus man konnte mich biegen, aber ich würde niemals brechen.

 

Tohma hatte inzwischen dem Raum verlassen um einen Arzt – oder wie ich es verlangte eine Ärztin – aufzutreiben, die mich untersuchte, Spuren sicherte und mich mit Medikamenten versorgte. Ich hörte ihn schon auf dem Flur fluchen wie einen Rohrspatz. Aber in keinster Weise nervös oder unruhig geschweige denn laut, an der näherkommenden Stimme erkannte ich die Wut – auf sich, auf Yuki und das Krankenhauspersonal – sowie Hass, Rachedurst und schon fast Mordlust. Tohma kam mit der verwirrten Ärztin ins Zimmer. Er erklärte ihr zunächst erst einmal ruhig was passiert war. Nur einmal wurde Tohma für einen kurzen Moment laut, das kannte ich überhaupt nicht von ihm. Offensichtlich war ihm die Ärztin entweder zu begriffsstutzig, oder er musste seinen Worten so Nachdruck verleihen.

Sakura war vom Schrei ihres Vater aufgewacht, sie hatte sich wohl erschrocken und weinte. Ich nahm sie aus dem Bettchen und wiegte sie in meinen Armen, bis sie sich ein wenig beruhigt hatte. Tohmas Gesichtszüge entspannten sich abrupt und er streichelte sein Töchterchen liebevoll.

Zum ersten Mal ist mir da schleierhaft bewusst geworden wie unberechenbar Tohma sein konnte. In der einen Sekunde voller Hass und in der nächsten so zart wie eine Rosenblüte. Dass diese auch Dornen hatte, merkte ich relativ schnell.

 

Die Untersuchung die folgte, war mehr als unangenehm, aber ich ließ sie schweigend über mich ergehen, während Tohma sich mit Sakura beschäftigte. Ich fand diese Situation äußerst bizarr. Er stand da, hielt sein Kind im Arm, und lächelte sie zärtlich an, während sie am Finger seiner freien Hand nuckelte und war gleichzeitig so eiskalt als er der Ärztin erläuterte, dass er wisse, wer mir das angetan hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich, dass er den Blick von Sakura abgewandt hatte und aus dem Fenster starrte, während seine Augen unruhig blitzten. Seine so schönen grünen Augen waren eiskalt, zitterten nervös, es wirkte als suche er im Dunkel draußen etwas. Dann wandte er sich wieder ganz seiner Tochter zu und lächelte. Wäre ich nicht dabei gewesen hätte ich niemals geglaubt, wie sich das Gesicht eines Menschen im Bruchteil von Sekunden so verändern kann.

 

Nach der Untersuchung verließ die Ärztin das Zimmer und ich zog mich wieder an. Ich stellte mich zu den beiden und ließ schwer seufzend meinen Kopf auf Tohmas Schulter nieder. Sakura schien das zu freuen, sie setzte ein lächeln auf. Tohma registrierte das sofort. „Schau mal Schatz, sie lächelt uns an.“ Mir kamen die Tränen. Einerseits fand ich es so wunderschön und ich war so stolz und andererseits war mir klar, dass dieses kleine Wesen noch gar nichts von dieser grausamen Welt verstand. Wir mussten sie beschützen und in diesem Moment war ich mir nicht sicher, ob ich das auch konnte.

 

Ein Klopfen riss mich aus meinen Gedanken und ich sah auf. „Herein?“ Zwei Polizisten betraten den Raum. Sie kamen auf uns zu. „Tohma Seguchi?“ sagte einer der beiden. Tohma nickte- „Ja der bin ich, was gibt es denn meine Herren?“

„Gegen Sie wurde Anzeige wegen sexuellem Missbrauch erstattet, kommen Sie bitte mit.“ Mir fiel alles aus dem Gesicht. Dieses Dreckstück kannte keinerlei Skrupel.

Sie hatte ihn doch tatsächlich angezeigt!!! Wie konnte man nur so schäbig sein?

Tohma erklärte ihm die Situation aber der Polizist wollte ihm anscheinend nicht glauben. Ich schätze Mika hat bei der Polizei ordentlich auf die Tränendrüse gedrückt. Der Polizist sah mich an und meinte nur, dass ich für ein Vergewaltigungsopfer erstaunlich fit aussehen würde. Was für eine Demütigung! Und das von der Polizei. Mein Bruder war Polizist geworden, wie es schon als kleiner Junge sein Traum gewesen war. Ich war mir sicher, würde er davon erfahren würde er Amok laufen.

 

Einer der beiden verließ den Raum und ging zum Ärztezimmer, wohl um die Ärztin, die mich untersucht hatte zu befragen. Der andere blieb da.

 

Tohma blieb die ganze Zeit nah bei mir. Er war der einzige, den ich an mich heranließ. Ich spürte, wie er innerlich kochte. „Sie ist zu weit gegangen.“

Ich sagte nichts dazu, ich stand auf um Sakura zu wickeln, obwohl ich todmüde war.

Draußen dämmerte es bereits und ich legte mich auf das kalte, blutverklebte Bett. Die Nachtschwestern hatten sich nicht die Mühe gemacht, das Bett frisch zu beziehen. War mir auch egal, ich wollte schlafen – und vergessen. Das konnte ich jedoch nicht, sobald ich wieder in diesem Bett lag und die Augen schloss sah ich diesen widerlichen Yuki vor mir, ich wollte es nicht, aber ich schrie.

Nur noch nach Hause

Das war alles was ich wollte. Weg aus diesem Krankenhaus.

Schlafen konnte ich ja sowieso nicht. Vielleicht tat mir die vertraute Umgebung meines Zuhauses gut. Ich brauchte jedoch nichts zu sagen, Tohma sorgte sofort dafür, dass ich auf eigene Verantwortung entlassen wurde. Ich musste ja am nächsten Tag trotzdem wieder in die Klinik zur Kontrolle.

 

Schnell packte ich meine Sachen und machte Sakura abreisebereit.

Es dauerte auch nicht lange, bis Tohma mit den flatternden Papieren hereinkam. Ich stibitzte einen Kugelschreiber aus Tohmas Brusttasche und unterschrieb die Entlassungspapiere hastig. „So.“ Ich steckte den Kugelschreiber zurück an seinen Platz und zog mir meine Jacke über. „Wir sind soweit.“

Ich wollte nur schlafen.

Tohma sah mich zärtlich an. „Und zuhause legst du dich schlafen und ruhst dich richtig aus.“ Ich nickte. Das war ja genau das was ich wollte. Ich nahm den Maxicosi mit der kleinen und ging mit ihr und Tohma zum Auto. Hinten setzte ich sie rein und sicherte sie mit dem Gurt. Dann setzte ich mich neben Tohma und fuhr mit ihm nach Hause.

 

Während der Fahrt starrte ich aus dem Fenster. Ich hatte den Kopf an die kalte Scheibe gelegt und starrte raus. Alles was in den letzten Stunden passiert ist, kam mir so unwirklich vor. Tohma parkte kurz darauf vor dem Haus und ich stieg aus und holte die Kleine aus dem Auto. „Willkommen zuhause kleiner Sonnenschein “ Ich versuchte enthusiastisch zu klingen, aber ich glaube, das gelang mir nicht. Wobei ich mich eigentlich freute nach Hause zu kommen.

Vor allem: Zuhause duschen. Ich ging ins Schlafzimmer um mich umzuziehen, entschloss mich dann aber anders und zog mich komplett aus und ging ist Bad, wo ich noch einmal ausgiebig duschte.

 

Als ich wiederkam, saß Tohma mit Sakura auf der Couch und beschäftigte sich mit ihr. Ich stellte mich in den Türrahmen und beobachtete die beiden lächelnd. Dann kramte ich mein Handy aus meiner Handtasche und knipste ein Foto. Die beiden waren so herzallerliebst zusammen.

 

Ich wollte uns etwas zu essen machen, obwohl ich überhaupt keinen Hunger hatte und ich war dankbar, dass Tohma mein Angebot zu kochen, dankend mit derselben Begründung ablehnte. Essen war das letzte, an das ich jetzt denken wollte. Ich wollte Ablenkung, und die kam wie gerufen, als Tohmas Handy klingelte. Ich lauschte gespannt und aus den Gesprächsfetzen hörte ich dass er mit Eiri telefonierte. Glücklicherweise hatten er und Tsuki sich angemeldet, die beiden würden sicher auch mit ihren Kindern kommen, das bedeutete eine Menge Abwechslung für mich.

 

Außerdem hieß es für mich auch „Zusammenreißen“. Ich wollte nicht, dass man gleich an der Nasenspitze ansah, was passiert ist. Vor allem wollte ich mir nicht ausgerechnet vor Eiri die Blöße geben. Wie auf Kommando klingelte es an der Tür aber ich blieb mit Sakura auf der Couch sitzen. Tsuki und Eiri kamen mit Präsenten für uns. Tsuki begrüßte mich freundlich wie immer, Eiri hingegen wirkte reserviert – wie immer. Tsuki setzte sich gleich zu uns und ich sah wie ihre Augen zu leuchten begannen. „Gott was ist sie süß!“ Sie war vom ersten Moment Feuer und Flamme für die Kleine.

„Darf ich sie mal halten?“ Ich nickte. „Sicher.“ Damit legte ich ihr behutsam das Kind in die Arme.

Tohma und Eiri tuschelten, sie waren noch nicht ganz wieder zurück ins Wohnzimmer gekommen. Eiri seinerseits steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Ich sah ihn verstört an, er wollte doch jetzt nicht allen Ernstes in Gegenwart eines Säuglings rauchen? Er besann sich aber wohl eines besseren und ging auf den Balkon. Soviel Mitgefühl hatte ich ihm gar nicht zugetraut. Tsuki war immer noch ganz fasziniert von Sakura. „Möchtest du nicht auch wieder so was kleines?“ fragte ich sie. Sie errötete dezent „Ja schon“ Mir schien, als sei ihr das unangenehm von Eiri Yuki Kinder zu haben. Ich fand das sehr seltsam. Kurz nachdem Eiri wieder vom Balkon kam, tuschelte er erneut mit Tohma und dann verschwanden die beiden. Ich hatte die vage Befürchtung, dass Tohma ihm die Sache mit Yuki erzählen könnte und ich betete zu Gott, dass er das nicht tat. Mein Gebet wurde nicht erhört denn zu meiner Erschütterung sagte Eiri, während er mich ruhig mit seinen goldenen Augen musterte: „Wir sorgen dafür dass er dafür bezahlt!“ Er hat es ihm also tatsächlich erzählt! Ich war entsetzt.

 

Eiri hatte es plötzlich eilig zu gehen. Er flüsterte Tsuki etwas ins Ohr. Ich wusste genau was und ich war kurz davor ihn zu fragen, ob er es nicht sofort in die Zeitung setzen wollte, dass er das mehr oder weniger herumerzählte, war ein weiterer Schlag in meine Seele.

 

Als am nächsten Morgen der Wecker klingelte, dachte ich, der will mich ärgern. Ich wollte nicht aufstehen aber ich musste ja zu diesem Termin im Krankenhaus.

Als ich in den Spiegel sah hatte ich wieder dieses Gefühl, wie damals, als Haku mich das erste Mal vergewaltigt hatte, es war wieder so, als schaute mich eine andere Person von der gegenüberliegenden Seite des Spiegels an. Mein Gesicht sah seltsam eingefallen aus, meine Haut war grau. Ich wusste was das hieß, aber ich

Redete mir ein, dass das einfach nur die Strapazen der Entbindung waren. In Wirklichkeit wusste ich was es war. Natürlich war ich nach meiner Entbindung nicht mehr so dick, wie im neunten Monat aber ich hatte noch nicht mal eine Schwellung, wie sie viele Frauen nach der Entbindung hatten. Als ich mich auszog, um mich zu duschen, wagte ich einen Blick in den Spiegel und mir gefiel ehrlich gesagt überhaupt nicht was ich sah. Ich zog Kleidung an, die trotz des heißen Wetters zu warm war, aber ich wollte meinen Körper verbergen. Ich bildete mir ein, dass ich das tatsächlich konnte und blickte auf die Armbanduhr, die mir verriet, dass wir los mussten, also kippte ich schnell ein Glas Wasser herunter und beeilte mich. Tohma hatte Sakura schon fertig gemacht und dafür war ich ihm sehr dankbar.

 

Die Fahrt zum Krankenhaus kam mir unendlich lang vor, der Verkehr an diesem Morgen war wieder mehr oder weniger zum Erliegen gekommen. Ich saß hinten bei Sakura und seufzte ich war gespannt wann wir ankommen würden.

 

In der Ambulanz des Krankenhauses meldete ich mich am Empfang und ging gleich durch in den Wartebereich, lange musste ich aber nicht auf diese erneute unangenehme Untersuchung warten.

Diese verlief wie immer. Noch bevor ich aus dem gynäkologischen Stuhl aufstehen konnte, meinte der Arzt, es sähe zwar noch immer etwas merkwürdig aus, aber es sei nichts ernstes, meine Wunden würden schnell heilen. Ich wünschte mir, dass seelische Wunden genauso schnell heilten wie körperliche.

 

Nach dem Termin bestand Tohma darauf frühstücken zu gehen. Ich hatte irgendwie das Gefühl, er wollte mein Essverhalten kontrollieren und das gefiel mir ganz und gar nicht. Ich hatte keinen Hunger. Er schleppte uns in das erstbeste Cafe, was normalerweise gar nicht seine Art war, aber er wusste, dass ich es hasste wenn er mit seinem Reichtum prahlte, was mich im wesentlichen von Mika unterschied.

 

Also setzte ich mich mit ihm in das gemütliche, kleine Cafe, ich saß mit dem Rücken zur Tür, so bemerkte ich die neuen Gäste, die das Cafe betraten nicht. Tohma aber sehr wohl und als ich sah, wie sich sein Blick verfinsterte, war ich natürlich neugierig und folgte seinem Blick.
 

Ich wünschte, ich hätte das nicht getan, denn zu meinem Entsetzen betraten Mika und Yuki das Cafe. Ich begann zu zittern, alles kam wieder hoch. Hatte das denn nie ein Ende? Zum Glück hatte ich Sakura im Arm und fütterte sie, so konnte ich meine ganze Aufmerksamkeit ihr zuwenden.

Tohma beschwor mich ihn anzusehen und nicht auf die in meinen Augen unerwüschten Gäste. Das fiel mir nicht schwer, aber ich spürte ihre Anwesenheit in meinem Rücken und das machte mich wahnsinnig. Der Kellner kam und wie sich herrausstellte, kannte er Tohma. Er unterhielt sich kurz mit ihm, während er mir die Karte reichte und mich freundlich begrüßte. Ich grüßte ebenso höflich zurück und schaute dann in die Karte. Schnell fiel mein Blick auf ein üppiges Frühstück für zwei Personen. Ich bestellte wie Tohma einen grünen Tee dazu und nahm dankend das Angebot des Kellners an, Sakuras Fläschchen warm zu machen. Ich fand dieses Cafe sehr kinderfreundlich, was natürlich jeder Mutter gefällt. Ich griff mit einer Hand in die Windeltasche und gab dem Kellner die Flasche.

Er kam wenige Minuten später wieder und brachte uns schonmal den Tee.

Mit zitternden Händen griff ich nach der Teetasse und achtete darauf nicht mit der heißen Flüssigkeit auf meine Tochter zu kleckern. Die Anwesenheit von Mika und Yuki beunruhigte mich zusehens und ich glaube sie wussten es und schlimmer: sie genossen es!

 

Aufgebrochene Narben

Nach der Begegnung mit Mika und Yuki im Cafe folgten die beiden uns, nachdem wir an diesem Nachmittag das Lokal verlassen hatten. Mir war die Nähe der beiden mehr als unangenehm. Ich wollte nur weg und ich sah zu, dass ich schnellen Schrittes zum Auto kam. Den Maxicosi mit der schlafenden Sakura hatte ich mir über den Arm gelegt. Ich setzte das Kind ins Auto, schnallte sie an und stieg dann schnell ein. Tohma tat es mir gleich und ich warf einen prüfenden Blick in den rechten Außenspiegel. Mika und Yuki gingen weiter in unsere Richtung, ließen uns nicht aus den Augen und unterhielten sich offenbar miteinander. Irgendwie hatte ich das dumpfe Gefühl, dass sie wieder irgendwas ausheckten, aber ich wollte mir darüber keine Gedanken machen.
 

Trotzdem ließ mir das keine Ruhe.

Wir kamen zuhause an und ich legte Sakura schlafen. Ich setzte mich in die Küche und trank ein Glas Wasser. Tohma hatte sich ein Bad eingelassen und war dementsprechend eine Weile im Bad beschäftigt. Zeit genug für mich, aus dem Telefonbuch Mikas Nummer herauszusuchen. Sicher hätte ich auch in Tohmas Unterlagen wühlen können aber das wollte ich nicht.
 

Tohma war inzwischen in der Badewanne, was mir genug Zeit ließ, Mika anzurufen. Tatsächlich ging dieses Miststück ans Telefon und ich fragte mich eine Zehntelsekunde, ob unsere Nummer im Display ihres Telefons angezeigt wurde, und sie hoffte, dass Tohma sie anrief.

Ich meldete mich höflichst und sagte ihr, dass ich mich gern mit ihr treffen würde, da ich gern mit ihr unter vier Augen sprechen wollte. Ich wollte einfach nur dass dieser ganze Terror aufhört und wir in Frieden leben konnten, aber ich hatte ehrlich gesagt keine Hoffnung, dass ein freundliches Gespräch von Frau zu Frau (oder sollte ich sagen von Frau zu Biest) stattfinden, geschweigedenn erfreuliche Ergebnisse liefern würde. Allerdings willigte sie ein und ich gab ihr die Info, dass ich Sakura mitnehmen würde. Heute frage ich mich, weswegen ich ihr diese Information gegeben hatte, was ich mir davon versprach, ihr das zu sagen und vor allem wie verantwortungslos ich hatte sein können? Diese Fragen stellte ich mir öfter aber ich fand keine Antwort darauf.

Ich vereinbarte mir ihr, dass wir uns in 20 Minuten an der Ginza trafen. Die Ginza ist eines der belebtesten Orte in Tokio und das zu eigentlich jeder Tages- und Nachtzeit. Sollte Mika irgend einen Plan den sie im Kopf hatte umsetzen wollen, so war sie definitiv nicht unbeobachtet bei der Durchführung.

Nach dem Telefonat, klopfte ich an die Badezimmertür und informierte Tohma ehrlich über mein Vorhaben. Begeistert war er nicht, aber ich schätze, er wusste, dass er mich ohnehin nicht davon hätte abbringen können. Er wusste sicherlich auch, dass ich nicht wollen würde, dass er mich begleitete, also versuchte er erst gar nicht mir das vorzuschlagen. In seinem Gesicht stand allerdings deutlich eines geschrieben: Sorge.
 

Ich nahm mir ein Taxi und fuhr das kurze Stück zur Ginza. Ich war etwas zu früh, aber das machte mir nichts aus. Ich stellte mich mit dem Rücken an eine Hauswand, den Maxicosi mit meiner Tochter in Bauchhöhe. Ich wollte vermeiden, dass sie, oder möglicherweise auch Yuki mich von hinten attackierten.

Ich war auf fast alles gefasst, ich wusste, dass weder Mika, noch Yuki zimperlich waren. Aber wie gesagt ich war eben auch nur auf fast alles gefasst.
 

Mika erschien tatsächlich und ich nahm mir einen Moment Zeit sie mir genauer anzusehen. Eigentlich war sie eine sehr hübsche Frau, wie ich fand. Wie Tohma sah sie viel jünger aus, als sie eigentlich war und sie war sehr gepflegt und geschmackvoll gekleidet. Dennoch konnte ich im Gesicht dieser hübschen Person einiges erkennen. Hass, Wut, Neid, Arroganz und am allerschlimmsten Verletztkeit.

Weswegen sie verletzt hätte sein können, ist mir bis heute ein Rätsel aber ich war auf der Hut, denn Menschen – besonders auch Frauen – die verletzt sind, sind gefährliche Wesen, denn sie kennen den Schmerz und haben ihn überlebt.

Theoretisch träfe das auch auf mich zu, vielleicht tut es das auch in gewisser Hinsicht, das kann ich selbst nicht beurteilen, das müssen Sie schon meinen Mann fragen.

Aber das spielte auch keine Rolle.

Wichtig war, dass sie sich überhaupt dazu herabließ, sich mit mir zu treffen. Diesen Eindruck hatte ich nämlich, sie behandelte mich seit jeher sehr abwertend und von oben herab. Nicht, dass mich das gestört hätte, aber ich wollte ihr das auch nicht zeigen. Niemand konnte wissen was sie möglicherweise dann erst tat.

Also tat ich besser daran meine – ich möchte es einfach mal so ausdrücken – Gegnerin nicht zu unterschätzen.

Ich druckste auch gar nicht lange herum, sondern kam direkt zum Punkt.

„Ich möchte wissen, was dieses ganze Theater soll! Sie haben mit doch diesen Typen geschickt! Was haben Sie gegen mich? Hassen Sie mich so abgrundtief?“

Mika sah mich ruhig aber arrogant an.

“Kleines ich spiele in einer anderen Liga als du.” sagte sie ruhig und ich musterte sie einen Moment. Sie trug ein schwarzes Lederkleid mit einem roten, breiten Lackgürtel, war stark geschminkt und roch nach billigem Parfüm. Offenbar hatte Tohma ihr gleich nach der Trennung den Geldhahn abgedreht und kein Interesse daran sie weiter durchzufüttern, so dass sie nun auf Parfüm aus dem Kaufhaus, statt einer Parfümerie zurückgreifen musste.

“Richtig, Sie spielen in einer Liga, die meine weit unterschreitet” konterte ich keck und stand auf. Ich legte mir den Griff des Maxicosi über den Arm und war im Begriff zu gehen. Diese Frau und ich waren so dermaßen verschieden, dass der Vergleich Tag und Nacht noch weit untertrieben gewesen wäre. Ich konnte nicht begreifen, was Tohma mal an dieser Frau fand, dass er sich sogar dazu entschloss, den heiligen Bund der Ehe mit ihr einzugehen. Für mich war offensichtlich, dass diese Ehe nur einseitig funktioniert haben musste. Er liebte sie und gab ihr alles was sie wollte: teuren Schmuck, Kleider, eine große Villa, Kreditkarten und Kosmetikbesuche. Ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass die ein oder andere Schönheits OP gemacht wurde, mit mäßigem Erfolg. Sie liebte nur sein Konto und so schienen sie sich irgendwie zu einigen....

Mika ging noch einen Schritt weiter. Ich war schon fast aus der Tür als sie mir hinterhersäuselte: “Er schlägt sogar seine eigene Frau.” Eigentlich wollte ich diese Bemerkung ignorieren, aber ich konnte einfach meine Klappe nicht halten. “Wenn er sie geschlagen hat, haben Sie es mit Sicherheit auch verdient.” war alles was ich sagte. Ich zahlte die Rechnung und verließ mit dem Maxicosi auf dem Arm das Lokal. Ich rief mir ein Taxi und fuhr nach Hause, froh von dieser Frau wegzukommen. Ich war so erleichtert, als ich endlich im Taxi saß, nicht wissend, was mich zuhause erwartete.
 

Ich schloss die Tür zu unserem Haus leise auf, da ich vermutete, dass Tohma schlief und gleich im Eingangsbereich stieg mir der widerliche Geruch in die Nase. Es war Aftershave, das mich die Nase kaus ziehen ließ. Ich wusste nicht warum, aber ich war alarmiert und stellte den Maxicosi mit meiner schlafenden Tochter ins Wohnzimmer. Ich schnupperte wie ein Hund, der eine Fährte verfolgt. Ich griff in meine Manteltasche nach dem Tränengas, das ich seit Yukis Überfall ständig bei mir hatte. Ich war auf alles vorbereitet – dachte ich.

Ich ging die Treppe zum Schlafzimmer hoch und vergewisserte mich, dass niemand in irgendeiner Ecke des Hauses auf mich lauerte. Ich stieß die Tür zum Schlafzimmer auf und was ich da sah ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Tohma lag bäuchlings auf dem Bett, zuckend. Über ihm Yuki und es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was da gerade passierte. Yuki verging sich an Tohma, wie damals an mir. Ich musste einen Würgereiz unterdrücken und dann handelte ich einfach nur noch. Ich stürzte mich auf Yuki und riss ihn von Tohma herunter. Ich schrie ihn an, er solle verschwinden, meine Stimme überschlug sich schrill. Yuki muss genauso überrascht gewesen sein, wie ich, denn er schaffte es noch nicht einmal sich die Hose hochzuziehen, als er aus dem Schlafzimmer stolperte. Im Nachhinein ist es mir ein Rätsel, wie ich es geschafft habe, einen Mann von etwa einen Meter neunzig der praktisch in einem anderen “verkeilt” zu sein schien so überwältigen konnte, doch in dem Augenblick, als es geschah, dachte ich darüber überhaupt nicht mehr nach.
 

Ich wusste wie es Tohma ging und ich wickelte ihn schnell in eine Decke und rief dann auf sein bitten hin seine Tochter Tsuki an. Tohma wollte Eiri sehen und ich musste dafür sorgen, dass der auch seinen Hintern hierherbewegte, mehr konnte ich im Augenblick nicht für ihn tun.
 

In dieser Zeit stand mir auch meine beste Freundin Kaori, genannt “Koko” bei. Ich habe sie noch nicht erwähnt? Ich werde ihr noch ein eigenes Kapitel in dieser Autobiografie widmen.



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Kommentare zu dieser Fanfic (52)
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Von:  Christian-Grey
2016-05-31T19:55:51+00:00 31.05.2016 21:55
Krass aber daran erinnere ich mich noch gut
Sehr gut geschrieben
Von:  Christian-Grey
2013-09-26T11:53:58+00:00 26.09.2013 13:53
irgendwie kann ich mich an einiges nicht mehr erinnern XDD
sie hat ein foto geschossen???
lol
Von:  Laghagua
2013-07-04T22:47:07+00:00 05.07.2013 00:47
Das ist mega süß udn toll geschrieben. Richtig aus Kimis kindlicher Sicht - da fühlt man so mit! Am Anfang beschreibst du die Idylle so schön, das ich die Schneeflocken fallen gesehen hab, die du gar nicht beschrieben hast. ^ ^
Von:  Laghagua
2013-07-04T22:31:53+00:00 05.07.2013 00:31
Wunderschönes Intro - macht neugiereig ^ ^
Von:  Christian-Grey
2013-06-07T12:54:07+00:00 07.06.2013 14:54
wie du ihn beschrieben hast mir dem wechsel dich blick finde ich sehr gut
Von:  Christian-Grey
2013-05-20T15:45:05+00:00 20.05.2013 17:45
immoment hasse ich diese szene wäre ich bloss nicht drauf gekommen aber da zeigt sich wieder kimikos lebenswillen
und wirklich gut zusammengefasst
Von:  Christian-Grey
2013-05-09T17:38:17+00:00 09.05.2013 19:38
hach herrlich vollgespuckter anzug XD
aber schön geschrieben
Von:  Christian-Grey
2012-06-22T12:17:03+00:00 22.06.2012 14:17
Hach mein Töcherchen *.*
Was waren das noch für Zeiten^^
*gerührt*
Aber ich finde das sehr süß zusammen gefasst^^
Von:  Christian-Grey
2012-06-22T06:07:15+00:00 22.06.2012 08:07
Jaja Kimi zu blöd zum duschen würd ich nicht sagen aber ein wenig "ungeschickt" XD
Und eine Platzwunde ist gottseidank halb so wild, alle mal besser als wenn sie anders geflogen wäre und dem kind was passiert wäre
Also alles gut^^
Von:  Christian-Grey
2012-04-13T12:42:53+00:00 13.04.2012 14:42
Er sah aus wie ein besoffener Mond??
Wie sieht das denn aus??
Aber ich finde es total süß wie du das zusammengefasst hast vorallem Tohmas Freude konnte ich beim lesen richtig spüren^^


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