Zum Inhalt der Seite

Balance Defenders

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Guten Morgen


 

Guten Morgen
 

„Tröste dich die Stunden eilen, und was all dich drücken mag;

auch das Schlimmste kann nicht weilen,

und es kommt ein andrer Tag.“

(Theodor Fontane, dt. Schriftsteller)
 

Justin kam zu sich. Erst allmählich begriff er, wo er sich befand.

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber er glaubte, draußen den Anfang der Morgendämmerung zu erkennen. Durch die immer noch eingeschaltete Zimmerbeleuchtung konnte er es allerdings nicht genau sagen.

Er spürte den Körperkontakt zu Vitali und Vivien.

An seiner Linken war Vitali mit seinem Kopf gegen Serenas Bett gelehnt eingeschlafen. Ariane hatte sich als einzige wirklich auf die Matratzen gelegt, nicht nur aufgrund des geringen Platzes, berührte sie dabei die anderen, während Serena ihren Kopf in Viviens Schoß gebettet schlief. Schützend hatte Vivien ihren Arm um sie gelegt. Sie selbst schlummerte gegen Justin gelehnt und hielt noch immer seine Hand. Normalerweise wäre ihm aufgrund dieses Umstands das Blut in den Kopf geschossen, aber in diesem Moment war er noch viel zu benebelt.

Eine wohlige Wärme und Geborgenheit, die von der Nähe zu den anderen herrührte, verführte ihn dazu, erneut in Schlaf zu sinken. Justin schloss wieder seine Augen. Die Dunkelheit und mit ihr die Angst waren geschwunden. Die Schatthen hatten nicht angegriffen, dieses Wissen erfüllte ihn mit einem feinen Glücksgefühl. Nichts weiter war wichtig. Und so vertraute er sich wieder dem Schlaf an.
 

Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er zurück in den Wachzustand geholt wurde. Vor sich erkannte er Vivien. Er fuhr auf. „Ist was passiert?“

Sie gab ihm zu verstehen, dass er leise sein sollte, allerdings legte sie dazu den Zeigefinger nicht auf ihre, sondern auf seine Lippen, was zwangsläufig dazu führte, dass Justin eine pochende Hitze in sich aufsteigen fühlte, die ihn einen Moment lang jedes klaren Gedankens beraubte.

Vivien konnte angesichts seiner Reaktion ein Grinsen nicht unterdrücken. Vielleicht hätte sie sich ihm zuliebe etwas zurückhaltender geben sollen, aber dazu genoss sie den Effekt ihres Verhaltens viel zu sehr.

Derweil versuchte Ariane, sich die Müdigkeit aus den Augen zu reiben, während Serena darum bemüht war, Vitali aus dem Schlaf zu reißen, und das um einiges harscher als Vivien es bei Justin getan hatte.

Bei Vitali handelte es sich aber auch um ein richtiges Murmeltier! Er wollte und wollte einfach nicht zur Besinnung kommen. Stattdessen brabbelte er nur irgendetwas Unverständliches.

Serena riss langsam aber sicher der Geduldsfaden. Aber sie musste leise bleiben, um auf keinen Fall jemanden zu wecken. Wenn jemand entdecken sollte, dass die Jungs bei ihnen geschlafen hatten… Wie sollte sie das bloß ihrer Mutter erklären??!

Natürlich war diese Besorgnis nichts im Vergleich zu der Angst, die sie in der Nacht verspürt hatte, aber dennoch war sie groß genug, um Serena ihre Gelassenheit zu rauben.

Vitali schlug im Schlaf mit dem Arm nach ihr. „Lass mich in Ruhe, Vicki!“

Noch etwas benommen fragte Ariane: „Ist das seine Freundin?“

Der Schock dieser Behauptung traf Serena unvorbereitet.

Die Eröffnung, dass Vitali nicht nur eine feste Freundin hatte, sondern offenbar auch noch das Bett mit ihr teilte, war zu viel für sie.

Eine so übermächtige Scham verheerte ihr Selbst, dass sie die unerträgliche Schmach nur ertragen konnte, indem sie sich stattdessen ihrer Entrüstung ergab.

Ungehalten sprang sie auf und trat Vitali gehörig gegen das Schienbein.

Vitali schrie auf.

„Klappe!“, fuhr Serena ihn an. „Verschwinde!“

Wutentbrannt spie Vitali aus: „Hast du sie noch alle!“

„Hör endlich auf zu schreien!“ Serena konnte ihre Stimme selbst nicht mehr unter Kontrolle halten.

Du schreist doch!“

Ariane, die hinter Serena getreten war, hielt ihr eilig den Mund zu, Gleiches tat Justin bei Vitali. Anders konnte man die beiden nicht zum Verstummen bringen.

Im Zimmer nebenan glaubten sie plötzlich Geräusche zu hören.

Gebannt horchten sie, darum bemüht, keinen Ton von sich zu geben.

Nach einigen Augenblicken der Stille atmeten sie schließlich auf.

„Ihr müsst hoch, bevor jemand merkt, dass ihr hier geschlafen habt.“, erklärte Vivien leise.

Ein genervtes Geräusch von sich gebend, stand Vitali auf, warf Serena, die sich demonstrativ von ihm weg gedreht hatte, seinen bitterbösesten Blick zu, und begab sich gefolgt von Justin zur Tür.

„Brutale Irre.“, knurrte er und ging dann hinaus.

Als die Jungs das Zimmer verlassen hatten, wandte sich Ariane mit tadelndem Blick an Serena. „Du kannst ihn doch nicht einfach so treten!“

Serena gab ein gleichgültiges Zischen von sich, ohne sich zu Ariane umzudrehen.

Vivien deutete Ariane mit einer schneidenden Handbewegung an ihrem Hals an, dass sie das Thema keinesfalls weiter verfolgen sollte. Ariane konnte das nicht wirklich nachvollziehen, hielt es aber ebenfalls für zwecklos, in übermüdetem Zustand mit Serena zu diskutieren. Sie nahm sich allerdings vor, dies später nachzuholen.
 

Vitali stapfte grummelnd die Treppe hinauf. „Die spinnt doch. Die hat sie doch nicht mehr alle. Diese Bekloppte!“

Nachdem sie das Büro betreten und die Tür hinter sich geschlossen hatten, wandte sich Justin an ihn. „Du hast im Schlaf einen Mädchennamen gesagt.“

„Hä?“ Vitalis Gesichtsausdruck zeigte deutlich, dass er nicht den blassesten Schimmer hatte, von was Justin da redete.

„Du bist nicht zu dir gekommen. Und als du den Namen gesagt hast, ist sie irgendwie wütend geworden.“

„Waaas??!! Das geht sie nen feuchten Dreck an! Ich kann so viele Mädchennamen sagen, wie ich will. Verstanden?! Ich kann ja wohl machen, was ich will! Klar?! Die ist doch gestört!! Gestört!!!“ Vitali schien sich überhaupt nicht mehr einzukriegen.

Glücklicherweise schlief er jedoch rasch wieder ein, nachdem Justin und er sich auf die Gästematratzen gelegt hatten.

Und so begann der neue Tag, anstatt mit Freude über die gut überstandene Nacht mit einem abermaligen Streit zwischen Serena und Vitali.
 

Ein nerviges Maschinengeräusch riss Vitali wieder aus dem Schlummer. Schon am Vortag hatte Serenas Mutter ihn und Justin gewarnt, dass sie und ihr Mann morgens im Büro ihren Kaffee tranken, aber dass die Kaffemaschine solche abartigen Missklänge produzierte, hatte sie eindeutig vergessen zu erwähnen. Vitali stöhnte, drehte sich auf die andere Seite und wollte weiterschlafen.

„Es ist schon halb zehn.“, informierte ihn Justin.

„Und?“, brummte Vitali.

„Vielleicht sollten wir schauen, ob die Mädchen schon aufgestanden sind.“

Vitali gab kein sehr begeistertes Geräusch von sich.
 

Die Mädchen hatten sich auf der Suche nach etwas zu Essen in die Küche begeben, wobei ihnen Leila Gesellschaft leistete. Ein Laut ließ die Hündin jedoch aufhorchen und hinaus in die Diele stürmen, wo Justin und Vitali die Treppe herunter kamen.

Überschwänglich stürmte Leila auf Vitali zu, als sei er ein langjähriges Mitglied der Familie. Vitali, der die Zuneigung offensichtlich erwiderte, kniete sich zu der Hündin und wurde sogleich von ihr abgeschleckt. Er lachte.

Der Anblick erheiterte Vivien und Ariane, die mit Serena der Hündin gefolgt waren.

Serena jedoch reagierte bissig. Wegen der Angelegenheit am Morgen war sie noch immer in Rage.

„Leila! Du sollst keine ekligen Sachen ablecken!“

Ruckartig sprang Vitali auf. Erst der Tritt gegen das Schienbein, ihr ständiges Rumgezicke und jetzt das. Es reichte!

Augenblicklich herrschte eine unglückverheißende Atmosphäre, die befürchten ließ, dass die beiden aufeinander losgingen

„Das geht zu weit.“, sagte Ariane missbilligend.

Vivien blieb gelassen, sie klang sogar nahezu belustigt. „Sie ist bloß eingeschnappt, weil er heute Morgen von Vicki geträumt hat.“

Am liebsten hätte Serena sie für diesen Satz erwürgt, doch Vitali gab ihr keine Zeit dafür.

Sein Gesicht verzog sich fürchterlich. Seine ganze Muskulatur schien sich anzuspannen.

„Vicki? … Vicki?!!!“ Dann brüllte er sie lauthals an, dass selbst Leila flüchtete. „Du dämliche Ziege!!! Für wen hältst du dich eigentlich?!!!“

Wie unter Hieben zuckte Serena zusammen. Erstarrt stand sie da und spürte, wie jähe Scham ihr die Luft abschnürte.

„Jetzt fang nicht auch noch an zu heulen!“, schrie Vitali wutschnaubend. „Die ganze Zeit spinnst du hier rum wegen diesem Scheiß! Du bist doch wirklich nicht mehr ganz richtig im Kopf! Geh mal zum Psychiater!“

Justin trat energisch dazwischen. „Hör auf zu schreien! Du bist hier nicht in einer Kneipe!“

„Was ist denn da unten los!“, drang die Stimme von Serenas Mutter von oben zu ihnen. Dann kam Anita heruntergerannt.

„Was ist?“ Anita erkannte, dass ihre Schwester den Tränen nahe war.

„Ein … Missverständnis.“, sagte Ariane kleinlaut.

Argwohn zeichnete sich auf Anitas Zügen ab. „Achja?“

Glücklicherweise stand Vitali mit dem Rücken zu ihr, denn sein von Zorn erfüllter Blick sprach Bände. Er biss die Zähne zusammen, um seine Wut, die sich mit aller Macht entladen wollte, zurückzuhalten.

Er wollte Serena anschreien, sie beschimpfen, sie richtig zur Sau machen! Das Verlangen danach war so groß, dass er fast platzte.

Vivien sprach in ruhigem Ton, als handle es sich um eine altbekannte Problematik, die sie schon öfter in den Griff bekommen hatten. „Wäre es okay, wenn wir die Sache erst mal unter uns klären?“

An Anitas misstrauischem Gesichtsausdruck war deutlich zu erkennen, dass ihr das nicht zusagte. Dennoch lenkte sie ein.. „Klärt das, sonst klär ich es. Oder Leila.“

Vivien nickte und schob Serena zur nächsten Tür, die zum Kaminzimmer und zum Wohnzimmer führte, Justin gab Vitali zu verstehen, dass er folgen sollte. Widerwillig kam er der Aufforderung nach. Ariane bildete das Schlusslicht.

Als sie im Wohnzimmer standen, fixierte Justin die beiden.

„Was ist nur mit euch los?“, forderte er von ihnen zu erfahren.

„Mit mir?“, entfuhr es Vitali. „Sie tritt mich, beleidigt mich und tyrannisiert mich! Und warum? Weil ich ‚Vicki‘ gesagt habe!“

„Wer ist Vicki?“, fragte Vivien neugierig.

„Das ist mein Bruder, okay?!“, schimpfte Vitali. „Vicki, von Viktor! Aber das geht Serena auch überhaupt nichts an! Wir sind ja kein Paar oder so! Da braucht sie sich nicht so aufspielen!“

Serena hatte den Kopf eingezogen und ballte die Hände zu Fäusten. Sie wusste, dass die anderen nun eine Stellungnahme von ihrer Seite verlangen würden. Aber sie hatte keine.

„Ich tu mir das nicht länger an!“, schrie sie und wollte flüchten.

Was hätte sie auch sagen sollen? Vitali hatte ja Recht. Es ging sie nichts an. Ihr eigenes Verhalten war so beschämend, dass sie sich am liebsten einfach in Luft aufgelöst hätte.

Justin versperrte ihr den Weg und wirkte ungewohnt aufgebracht.

„Hört mir mal zu. Ich werde nicht zusehen, wie wegen eurem Stolz und euren kindischen Meinungsverschiedenheiten dieses Team auseinanderbricht. Wir sind nicht mehr gefangen, aber genauso wenig können wir, so wie die Dinge momentan stehen, ein normales Leben führen. Es geht hier nicht allein um den Frieden zwischen euch beiden. Wir stecken ziemlich tief in der Tinte. Auch wenn die Schatthen heute Nacht nicht angegriffen haben, heißt das noch lange nicht, dass wir sie jetzt los sind. Wir müssen mehr über die ganze Sache herausfinden, als Team! Wir fünf können das nur gemeinsam schaffen.“

Seine braunen Augen wanderten zwischen Serena und Vitali hin und her. „Seht ihr eigentlich nicht, wie lächerlich euer Gestreite ist? Heute Nacht sind wir alle zusammen da gesessen und haben einander Halt gegeben. Und am nächsten Morgen, da fangt ihr schon wieder an, herumzukrakeelen! Nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben, solltet ihr doch etwas besser miteinander umgehen können.“

„Aber sie –“, wollte Vitali sich verteidigen.

„Ich habe nicht gesagt, dass du Schuld bist, oder?“, unterbrach ihn Justin.

„Ja, aber trotzdem werde ich immer geschimpft! Das ist unfair! Zu euch ist sie ja nicht so!“

Justin seufzte und wandte sich an Serena, die den Kopf eingezogen hatte. „Serena, tu mir den Gefallen. Spring endlich mal über deinen Schatten und entschuldige dich. Das wird dich schon nicht umbringen.“

Serena zog ein Gesicht, als würde sie das durchaus umbringen. Ihr Blick ging zu Boden.

Plötzlich spürte sie, wie ihre Rechte ergriffen wurde. Vivien war neben sie getreten und hatte mit der anderen Vitalis Hand ergriffen, um die Hände der beiden zusammenzuführen, wie man es bei kleinen Kindern tat, wenn sie sich vertragen sollen.

Entsetzt entriss sie Vivien ihre Hand.

„Serena!“, tadelte Ariane. „Wieso kannst du dich nicht einfach bei ihm entschuldigen?“

Serena spürte Tränen in sich aufsteigen. Sie wollte sich ja entschuldigen, aber …

Sie konnte einfach nicht. Sie brachte kein Wort heraus.

Ariane sprach weiter. „Das hat Vitali nicht verdient.“

Doch Serena reagierte nicht.

„Serena, was ist denn mit dir?“, fragte Justin nun besorgt.

Vorsichtig berührte Vivien sie am Oberarm. „Serena?“

Serena zuckte zusammen. Sie machte sich so klein wie möglich, wollte sich vor den anderen verstecken.

Grob wurde sie an den Schultern gepackt.

„Hey!“, rief Vitali.

Verängstigt starrte sie ihm ins Gesicht.

„Krieg dich wieder ein, ok?“

Nachdem sie immer noch nicht reagierte, fügte er eindringlich hinzu: „Alles halb so schlimm.“

Serena wusste nicht, was sie sagen sollte, sie kämpfte mit den Tränen.

Vitali stöhnte entnervt und ließ schließlich von ihr ab.

Sie sah ängstlich zu ihm.

„Ich hab Hunger.“, sagte Vitali. „Wir sollten was essen.“

„Das ist eine super Idee!“, rief Vivien. Sie lächelte Serena aufmunternd an.

Serena machte allerdings nicht den Eindruck, als würde der jähe Themenwechsel sie beruhigen.

Vitali wandte sich nochmals an sie. „Ich bin nicht mehr sauer, ok? Nur heul nicht.“

Auf diese Worte hin konnte Serena die Tränen nicht mehr zurückhalten und krümmte sich.

„Du machst immer das Gegenteil von dem, was ich sage, oder?“, kommentierte Vitali.

„Es tut mir leid.“, schluchzte Serena und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

Vivien holte eine Packung Taschentücher vom Wohnzimmertisch.

Vitali war mit der Situation überfordert. „Ey, wenn du nicht aufhörst zu heulen, schmeißt uns deine Mutter raus.“

Ariane war erfreulicherweise taktvoller. Sie sprach in sanftem Ton. „Es ist alles gut. Du bist wahrscheinlich nur unterzuckert und deshalb so empfindlich. Ja?“

Serena nahm die Taschentücher von Vivien entgegen und putzte sich die Nase.

Justin legte ihr die Hand auf die Schulter, wie sein Vater es schon bei ihm getan hatte, als er niedergeschlagen gewesen war. „Du brauchst dich vor uns nicht schämen. Wir sind für dich da.“

Serena ließ den Kopf hängen.

„Alter, wenn man nett zu dir ist, solltest du dich freuen und nicht wie ein Häufchen Elend schauen.“, beschwerte sich Vitali.

Ariane sah Vitali vorwurfsvoll an. „Du brauchst definitiv auch was zu essen.“

„Hab ich doch gesagt.“, antwortete er.

In fürsorglichem Ton sprach Justin nochmals Serena an, deren Schulter, er noch immer hielt. „Wollen wir zusammen essen?“

Serena nickte langsam.

„Gut.“ Er ließ sie los.

Vivien und Vitali gingen vor in die Küche.

Auf dem Weg dorthin fiel Vitali auf: „Wieso ist jetzt eigentlich sie getröstet worden? Ich wurde doch beleidigt!“

Vivien lachte.

Ariane seufzte.

Justin blieb an Serenas Seite und lief mit ihr den anderen nach.
 

Vivien hatte vorgeschlagen, bei dem schönen Wetter doch draußen zu essen. Da der Weg auf die Gartenterrasse jedoch durch Serenas Wellensittiche behindert war, und es einige Umstände bereitet hätte, sie in den Käfig zu bekommen, entschieden sie nach Rücksprache mit Serenas Mutter, auf dem Balkon zu frühstücken – so man es noch Frühstück nennen konnte.

Vitali hatte sich zwar darüber beschwert, dass sie noch extra den Balkon herrichten mussten, aber die Betätigung war gut gewesen, um Serena etwas aus ihrem Gedankenkarussell zu befreien.

Die Klappstühle und der Tisch waren mittlerweile abgewischt, Sitzkissen darauf gelegt und Geschirr und Besteck auf den Tisch gestellt.

Vivien wandte sich an Serena und Vitali. „Kümmert ihr euch um alles weitere. Wir anderen bringen den Rest.“ Sie packte Justin und Ariane und zog sie mit sich, ehe diese sich wehren konnten.

Überrumpelt wollte Serena noch die Hand nach ihnen ausstrecken, um sie davon abzuhalten, sie mit Vitali alleine zu lassen. Doch dazu war es zu spät.

Vitali begriff nicht. „Hä? Was will sie denn jetzt? Ist doch schon alles gerichtet.“

Serena zog ein banges Gesicht. Sie wusste, was Vivien bezweckte.

Zaghaft linste sie zu Vitali und senkte wieder den Blick.

Sie brauchte einen weiteren Moment, ehe sie die Worte über die Lippen brachte. „Tut mir leid.“

„Kannst du doch nix für.“

Es hätte ihr wohl klar sein müssen, dass er ihre Worte nicht mehr mit dem Vorfall von zuvor in Verbindung bringen würde. Sie brachte es aber nicht über sich, konkreter zu werden. Sie setzte sich auf einen der Klappstühle und hielt den Blick auf den Teller vor sich gerichtet.

Vitali war die Stille unangenehm und Serena sah schon wieder niedergeschlagen aus. Er schaute in eine andere Richtung, dann wandte er sich doch wieder an sie.

„Was war’n das vorhin? Ich mein… Du brauchst doch nicht gleich durchdrehen. Ich schrei dich halt an, weil du mich nervst. Kein Grund zu heulen.“

Serena starrte ihn ungläubig an. Hatte er das gerade ernsthaft in einem Ton gesagt, als hätte er etwas Nettes von sich gegeben?

„Was?“, fragte Vitali.

„Entschuldige, dass ich dich nerve.“, gab sie zurück.

„Ey, du hast mich getreten und beleidigt. Ist doch klar, dass du mich nervst.“

„Du nervst mich auch!“, rief sie in purer Notwehr.

„Alter, ich hab gepennt!“

Serena verzog das Gesicht.

Vitali setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber. „Die anderen kriegen nen Anfall, wenn wir noch mal streiten.“

Serena starrte auf die Tischplatte. Sie wollte sich ja gar nicht streiten. Sie wusste nur wirklich nicht, wie sie mit ihm umgehen sollte.

Wieder dieses Schweigen.

„Wo bleiben die anderen?“, nörgelte Vitali.

Serena seufzte und nahm ihren ganzen Mut zusammen. „Danke.“ Zu mehr als einem Flüstern hatte es nicht gereicht.

„Hä?“

„Dass du…“ Sie brach ab. „Im Schatthenreich. Und davor.“ Sie rang nach Worten. „Danke, dass du mir immer geholfen hast.“

Sie wartete darauf, dass Vitali etwas entgegnete, aber er blieb still. Daraufhin fühlte sie sich gezwungen, doch noch den Blick zu heben, um ihn in Augenschein zu nehmen.

Sein Gesichtsausdruck war absolut nichtssagend.

„Jo.“

War das alles?

Ihrer Mimik war die Frage wohl anzusehen, denn Vitali fühlte sich zu weiteren Worten genötigt.

„Alter, was willst du denn von mir hören?“

Serena wandte sich ab. „Nichts.“

Er stieß geräuschvoll die Luft aus.

Verstimmt verzog sich ihr Mund. „Du wolltest doch, dass ich Danke sage.“ Ihre Worte nahmen Bezug auf die Situation im Schatthenreich, als er gefordert hatte, sie solle sich für seine Hilfe bedanken statt zu weinen.

„Das ist ewig her.“

Eigentlich waren es nicht mal zwei Tage.

Serenas Stimme bekam wieder diesen schnippischen Ton. „Also soll ich mich nicht bei dir bedanken.“

„Das hab ich doch gar nicht gesagt!“, verteidigte sich Vitali. „Warum machst du immer alles so verdammt kompliziert!“

Serena ließ den Kopf hängen.

„Mann! Selbst wenn du dich bedankst, kann man‘s dir nicht recht machen. Was willst du denn?“

Das wusste Serena selbst nicht so genau. Es hatte sie so viel Überwindung gekostet, dass sie sich irgendwie darüber gefreut hätte, wenn ihre Worte nicht völlig belanglos für ihn gewesen wären.

Sie hörte die anderen durch ihr Zimmer zurück auf den Balkon kommen. Sie hatten sich eindeutig mehr Zeit gelassen, als nötig gewesen wäre.

„Einen Kuss.“, antwortete Vivien, während sie und die anderen Teller voller Brotscheiben und Belag auf dem Tisch verteilten.

„Hä?“, machte Vitali.

Vivien grinste ihn an. „Na, was sie von dir will.“

Serena kreischte verstört: „Halt die Klappe, Vivien!“

Vivien setzte sich ungerührt neben sie und nahm sich eine Brotscheibe. „Ich hab heute Morgen schon gedacht, du hättest ihn wachküssen sollen statt ihn zu treten. Das wäre viel effektiver gewesen.“

Äußerst verlegen sah Justin daraufhin in ihre Richtung. Das hatte Vivien doch nicht bei ihm gemacht, oder?

Vivien zwinkerte ihm zu.

Mit hochrotem Kopf versuchte er sich auf das angerichtete Frühstück zu konzentrieren. Sie machte doch nur Scherze. Wieso hätte sie ihn auch küssen sollen? Sie war ja nicht mal an ihm interessiert.

Seine Aufregung wandelte sich jäh in Frustration. Er seufzte.

Vivien konnte den Wandel in seinem Gesicht nicht nachvollziehen, vor allem da Serena ihren Gedankengang unterbrach.

„Du hast sie wohl nicht alle!“, schrie sie sie an.

Anstatt auf Serena zu reagieren, wandte sich Vivien übers ganze Gesicht grinsend an Vitali. „Das hätte dir doch auch besser gefallen.“

Vitali machte wieder dieses komische Gesicht wie eben nach Serenas Danksagung. Weder wirkte er von der Vorstellung besonders angetan noch angewidert.

Serena wurde davon noch beschämter. „Vivien!“, kreischte sie.

Vivien lachte ausgelassen.

Ariane stellte mit Verwunderung fest, dass die Unterstellung, sie hätten romantische Gefühle füreinander, bisher tatsächlich das einzige war, das Serena und Vitali von Streitigkeiten abhielt. Sie selbst hielt es zwar für fragwürdig, den beiden den Floh ins Ohr zu setzen, ihre Abneigung füreinander sei in Wirklichkeit eine spannungsgeladene Anziehung, die sie sich nicht eingestanden. Aber in Ermangelung einer Alternative waren sie wohl darauf angewiesen, dass Vivien diese Geheimwaffe immer wieder einsetzte.

Ob sich Vivien dessen bewusst war? Oder hatte sie bloß eine Vorliebe dafür, Serenas und Vitalis Grimassen angesichts dieser Behauptung zu sehen?

Ariane konnte es nicht sagen.

Die Hauptsache war, dass sie nun in Ruhe frühstücken konnten.
 

Der restliche Tag ging ohne weitere Zwischenfälle von statten.

Da der Schulbeginn bevorstand und sie bereits nachmittags nach Hause kommen sollten, machten sie sich direkt daran, ihre Lager wieder abzubauen

Anschließend tauschten sie ihre Kontaktdaten aus, um so einander immer erreichen zu können. Allerdings besaß Justin kein Handy und Arianes neues Zuhause hatte noch kein WLAN oder einen Festnetzanschluss.

Nicht allein aus diesem Grund verabredeten sie, sich mindestens einmal pro Woche persönlich zu treffen. Bereits für den nächsten Tag machten sie aus, um 15 Uhr zusammenzukommen, um ihre Nachforschungen fortzuführen.

Die Angst vor einem Angriff war vielleicht kleiner geworden, aber sie war nicht verschwunden.


 


 


 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Keine Sorge, das war der vorerst letzte größere Streit von Serena und Vitali. :D Es gibt ja noch andere Leute, die sich streiten können. XD Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (3)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  CMH
2022-06-24T20:00:00+00:00 24.06.2022 22:00
So cute die Interaktion zwischen Vitali und Serena. 💚💚💚
Antwort von:  Regina_Regenbogen
25.06.2022 01:01
🥰 Achja, die beiden mögen sich ja eigentlich. Aber es fehlt halt noch an Vertrauen.
Von:  totalwarANGEL
2020-08-21T22:42:28+00:00 22.08.2020 00:42
Nach diesem Kapitel muss noch ergänzen: Justins Reaktionen auf Vivien sind auch niedlich. ;)
Serenas Veralten macht mir Sorgen. Ich fühle, da ist etwas ziemlich Dickes, das früher oder später ans Tageslicht kommt...
Was den ihren Streit mit Vitali betrifft, sollte man sie in einen kleinen Raum einsperren und abwarten. Das "Problem" löst sich dann von selbst. So oder so. ;)
Antwort von:  Regina_Regenbogen
22.08.2020 09:10
Das freut mich, wo du Vivien doch so nervig findest, dass dir zumindest Justins Reaktionen auf sie gefallen. :D
Wie gesagt, dadurch dass sie immer noch mit der Frage, was das mit der Entführung auf sich hatte, beschäftigt sind, zieht sich die Frage nach Serenas Vergangenheit noch etwas hin. Aber man erfährt immer mal wieder ein bisschen. :)
Vivien wäre sofort dafür, die zwei einzusperren. Ariane und Justin hätten wohl Angst, dass das zum Death Match wird XD XD XD
Antwort von:  RukaHimenoshi
22.08.2020 12:53
Zum letzten Punkt: Finden irgendwann noch Wetten statt? :D
Antwort von:  Regina_Regenbogen
22.08.2020 13:51
@RukaHimenoshi: Wetten, wer es überlebt oder Wetten, auf welche andere Weise es ausgeht? XD
Antwort von:  RukaHimenoshi
22.08.2020 13:57
So viele Möglichkeiten! :'D
Von:  RukaHimenoshi
2020-08-21T20:03:06+00:00 21.08.2020 22:03
Vivien hat vollkommen recht, küsst euch einfach und alles ist in Butter! XD
Wobei ich echt irritiert war und erst einmal wieder hoch-scrollen musste, als Vivien da etwas von Kuss gesagt hatte... Gibt... gibt es etwas, was wir nicht wissen?!? /(°o°)\ (Ich habe mich übrigens extrem über diese Annäherung von Vivien gefreut. <3)
Ich bin immer so hin und her gerissen, was Serena betrifft. Einerseits nervt sie wirklich ein bisschen (und Vitalis Reaktionen sind voll nachvollziehbar) aber andererseits ist so deutlich sichtbar, wie zerbrechlich sie in Wahrheit ist. :( Und dieses "Jo." ... Mensch, Vitali!!! XD
Außerdem finde ich es cool, das Justin kein Handy hat. Das passt irgendwie zu ihm. :D
Der Kommentar in deinem Nachwort klingt schon fast wie eine Drohung. XD
Antwort von:  Regina_Regenbogen
22.08.2020 08:59
Dasselbe hat eine Freundin gemeint: Küsst euch einfach! XD
Vivien ist zwar nicht schüchtern, aber auch nicht so dreist, Justin im Schlaf mit einem Kuss zu überfallen. Zustimmung ist wichtig!!! XD Außerdem würde sie doch seine Reaktion sehen wollen. ;D
Ich denke, so geht es auch allen um Serena herum: Auf der einen Seite will man sie anschreien, aber dann will man sie wieder trösten.
:'D Ja, Vitali trägt auch nicht immer dazu bei, dass sein Verhältnis zu Serena besser wird.
Das freut mich. Ja, zu Justin passt das. :)
Das IST eine Drohung! XD
Antwort von:  RukaHimenoshi
22.08.2020 12:49
Ich stelle mir die beiden plus Vivien immer in so einem "And now kiss"-Bild vor. X'D
Das stimmt, Vivien würde einen nichts-ahnenden Justin nicht so dreist überfallen. (Wobei ich so einen Dornröschenkuss durchaus süß fände. <3) Aber ja, seine Reaktion zu sehen ist/wäre goldwert!!! :'D
Aber es war süß, wie Serena bei "Vicky" ausgerastet ist. XD Wobei es mich auch fasziniert hat, dass Vitali im Schlaf den Namen seines Bruders nennt. Es wirkte ja bisher nicht so, dass er ein wirklich herzliches Verhältnis zu ihm pflegt. (Wobei es vermutlich besser ist als bei Justin und seinem Bro.) Kann mir schon vorstellen, dass er seinen Bruder trotzdem lieb hat (das typische kleine Geschwister Phänomen :'D) aber im Schlaf seinen Namen zu sagen... °o°

Au wei, was da wohl noch kommt? X'D
Antwort von:  Regina_Regenbogen
22.08.2020 14:56
Ich musste jetzt erst mal "Now kiss" Bilder googlen. XD
Vitali würde es nicht zugeben, aber er hat seinen Bruder eigentlich sehr lieb. Sie teilen ein Zimmer, daher ist er es gewöhnt, dass Vicki da ist. Und als Vicki kleiner war, ist er öfter in Vitalis Bett gekommen, wenn er Angst hatte. Das sollte ich mal irgendwo erwähnen. :D
Antwort von:  RukaHimenoshi
22.08.2020 16:21
Ich würde mal stark vermuten, dass du die drei danach deutlich vor Augen hattest. X'D
Oooooh, wie süß!!! Ja, das musst du unbedingt erwähnen! <3


Zurück